Zeit der Ungewissheit - Astrid Ross - E-Book

Zeit der Ungewissheit E-Book

Astrid Ross

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Beschreibung

Als Renald Wareck schwer verletzt von einer Auslandsreise zurückkehrt, stehen seine Töchter vor der Gefahr ohne Versorger und mittellos auf der Straße zu landen. Zusätzlich ist ihre traumatisierte Cousine Nesetta auf der Reise verschollen und der unbekannte Erbvetter hat sich auch noch angekündigt. Doch für Veranni Wareck ist aufgeben keine Option. Es wäre doch gelacht, wenn sie ihre schöne Schwester Dorika nicht bald verheiratet bekommen würde. Der Erbvetter hat sie noch nicht herausgeworfen und um nach Nesetta suchen zu lassen, reist Veranni höchstpersönlich in die Hauptstadt. Dort wird sie nicht nur mit dem charmanten Leutnant Tallalus Teskan bekannt, der gänzlich unerwarteten Gefühle und Hoffnungen in ihr weckt, sondern sie wird auch mit dem unterkühlten Beamten Tarius Wienjeck konfrontiert, der ihre Bitte um einen Suchauftrag rundweg abschlägt. Kein Grund sich geschlagen zu geben, doch Veranni gehen die Optionen aus und ihrem Vater geht es einfach nicht besser. Währenddessen kämpft Nesetta im Ausland um ihr Überleben. Verletzt in der Fremde, nur unterstützt von einem ehemaligen Attentäter ohne eigenes Ziel und Lebensinhalt.

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Für alle, denen diese eine Welt nicht genug ist

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog Die Einladung

Kapitel 1 Familie Wareck

Kapitel 2 Unbeherrscht

Kapitel 3 Große Sorgen

Kapitel 4 Der Nachbar

Kapitel 5 Der Ball in Durak

Kapitel 6 Der Plan

Kapitel 7 Mitten im Kampf

Kapitel 8 Eine Neue Bekanntschaft

Kapitel 9 In der Stadt

Kapitel 10 Der Erbvetter

Kapitel 12 Familie

Kapitel 13 Auf dem Ball

Kapitel 14 Angriff

Kapitel 15 Landpartie

Kapitel 16 Erneute Rückschläge

Kapitel 17 Kein Grund zum Feiern

Kapitel 18 Menschenhändler

Kapitel 19 Vergangenheit

Kapitel 20 Konfrontation

Kapitel 21 Entscheidung

Kapitel 22 Devona

Kapitel 23 Ein Ausblick

Epilog Zurückgekehrt

Anhang: Glossar

Familienstammbaum

Danksagung

Vorwort

Geschätzter Leser,

mit dem Kauf dieses Buches hast du dich für eine Mischung aus Familiendrama, Nachkriegsgeschichte und dem Zusammentreffen verschiedener Kulturen entscheiden.

In einer solchen Mischung den Durchblick zu behalten ist nicht immer leicht. Viele Dinge erschließen sich ganz einfach in dem man weiter liest. Manche Dinge lassen sich mit kleinen Informationstexten bereits verständlich machen.

Um aber eine weitere Hilfestellung anzubieten, findet Du, geschätzter Leser, am Ende des Buches ab Seite 263 ein Glossar, der über Orte, Länder, Familien und einige Zusammenhänge noch einmal aufklärt.

Nach dem das gesagt ist, bleibt mir nur noch, Dir ein angenehmes Leseerlebnis mit diesem Buch zu wünschen.

Ich hoffe das Dir die Welt der Familie Wareck, die Länder Durak und Neu-Westan genauso viel Freude bereiten wie mir.

Hochachtungsvoll,

die Autorin

Astrid Irene Ross

Prolog Die Einladung

Kirae blieb vor einem großen Gebäude stehen. Es wirkte fremd und ebenso falsch. Ein Neubau, im Merianischen-Stil. Das Haus war groß und klobig, es hatte mehr als zwei Stockwerke – glatte Stuckverzierungen und breite Säulen anstelle von verschnörkelten Holzschnitzereien, wie es in Durak üblich war.

Er legte den Kopf schief, aber auch das änderte seinen Eindruck nicht. Es war falsch. Seufzend wandte er sich ab. Wenigstens gab es nicht allzu viele dieser Gebäude hier. Das meiste sah vertraut aus. Die Häuser waren aus Holz und etwas niedriger. Meistens hatten sie nicht mehr als zwei Stockwerke. Gebaut dafür eine Familie, vielleicht noch einen Geschäftsraum, zu beherbergen. Holzrahmen für Fenster und Türen, verziert mit Schnitzereien, manchmal auch mit Farben, und an jedem Haus stand ein Steinmäuerchen, auf dem man sich ausruhen konnte. Auch der große Platz, auf dem Kirae stand, war noch nicht fest gepflastert, sondern bestand aus fest gestampfter Erde.

Es waren einige Leute auf der Straße, Männer genauso wie Frauen in schlichten, farblosen und abgetragenen Kleidern.

Kittelartige Kleider und Tuniken aus grobem Stoff, schlichte Hosen und klobige Schuhe. Sie strebten über den Platz und verschwanden in den Gassen, die zu den Wohnvierteln oder zum Hafen führten.

Normalität kehrte ein, auch wenn immer noch die meisten Leute besorgt um sich schauten. Drei Jahrzehnte Bürgerkrieg konnte man nicht einfach so vergessen. Die Sorgen hatten sich tief in die blauen und grauen Gesichter eingegraben und die Leute schneller altern lassen. Und doch – es sah so friedlich aus, dass es Kirae irgendwie mit dem hässlichen Rathaus hinter ihm versöhnte.

Es war Frieden – Endlich.

Es hatte viel zu lange gedauert und alle Bewohner des Kaiserreichs Durak mehr als genug gekostet. Kirae fuhr sich mit dem Finger über die Stirn – über das Narbengeflecht, das seine Haut von der Augenbraue bis hin zum Haaransatz verunzierte.

Es war nicht sein höchster Preis gewesen, aber die Erinnerung daran.

„Herr Aenn, dass ich Sie noch einmal wiedersehe.“

Kirae seufzte leicht, bevor er sich umdrehte und Searon Vezord, den Polizeichef, ansah.

Der Mann verbeugte sich respektvoll.

„Lassen Sie das“, bat Kirae sachte. Der Mann vor ihm war ungefähr so alt wie er selbst. Seine Haut war leicht gräulich und seine grünschwarzen Haare inzwischen kurz geschnitten. Wie üblich für Merianer und ihresgleichen und ganz unüblich für Durker. Für Kirae war der Anblick ungewohnt, als er Vezord das letzte Mal gesehen hatte, hatte dieser noch sehr lange Haare getragen. Hochgebunden wie die meisten anderen adeligen Militärs.

„Es geht das Gerücht um, dass Sie tot seien“, sprach sein Gegenüber in lockerem Plauderton weiter.

„Wie Sie sehen, bin ich am Leben.“

„Eine Tatsache, die mich sehr freut.“

„Da sind Sie einer der Wenigen, schätze ich.“

„Ohne Sie und Ihre Geschwister hätte dieser Krieg noch viel länger gedauert!“, widersprach der Beamte entschieden.

Kirae lächelte traurig.

„Sie und alle unsere großen Kämpfer werden schmählich verkannt!“, bekräftigte Vezord noch einmal.

„Zum Großteil waren wir Attentäter und Mörder“, warf Kirae ein.

„Krieg ist immer ein dreckiges Geschäft. Dabei ist es nicht wichtig, ob man jemanden auf dem Schlachtfeld erschlägt oder in seinem Schlafzimmer erdrosselt.“

„Es gibt Leute, die das anders sehen würden.“

„Sie sind viel allein, nicht wahr?“ Der Blick Vezords wurde prüfend. „Meine Frau und ich geben heute Abend ein Fest. Ich bitte Sie, beehren Sie uns doch mit Ihrer Anwesenheit“, bat er, als Kirae nicht direkt reagierte.

Kirae zögerte, er schätzte Ansammlungen nicht. Dunkelheit und Einsamkeit waren seine Weggefährten. Begleitet hatten ihn nur seine Geschwister – oder er hatte sie begleitet.

Inzwischen war es über zehn Jahre her. Seufzend schüttelte er den Kopf.

„Ich bestehe darauf“, sein Gegenüber ließ keinen Einwand gelten. „Es wäre mir eine Ehre, Ihnen meine Frau vorstellen zu dürfen.“

Das brachte Kirae zum Schmunzeln.

„Jetzt erpressen Sie mich“, stellte er ruhig fest.

„Das tue ich“, gab Vezord lächelnd zu.

Kirae wusste, dass er eigentlich annehmen musste. Es war der Gipfel der Unhöflichkeit, eine Einladung abzulehnen, bei der einem die Familie vorgestellt werden sollte.

„Dann werde ich anwesend sein, aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich lange bleiben werde. Große Versammlungen liegen mir nicht“, gab er sich geschlagen.

Kapitel 1 Familie Wareck

“Die Tugenden einer Dame sind Sanftheit, Gehorsam und Sittsamkeit. Zu den wichtigsten Fähigkeiten gehört es, eine gepflegte Unterhaltung zu führen, einen geordneten Haushalt zu leiten und ihrem Vater, Bruder, Ehemann oder Vormund stets den Rücken zu stärken. Eine Dame, die all diese Tugenden vereint und all diese Fähigkeiten erworben hat, wird in der Lage sein, das höchste Ziel, den Ehestand, zu erreichen.”

Auszug aus dem Lehrbuch >Erziehung junger Damen der Bürgerschicht<

Die Stadt Verment lag in einer malerischen Flussbiegung. Umgeben von blühenden Wiesen, stehenden Feldern und einigen verteilten Höfen und Landhäusern.

Die umliegenden Höfe hatten den Grundstein für die Besiedlung dieser Gegend gelegt. Als der Kontinent Neu-Westan entdeckt und kolonialisiert wurde, hatten einige Auswanderer sich hier niedergelassen. Die alten Häuser lagen nicht in der Talsenke am Fluss, sondern allesamt auf Erhöhungen und Hügeln, um bei Hochwasser nicht in Gefahr zu geraten. Verment selbst war gut dreißig Jahre später gegründet worden, an der Brücke über den Fluss, welcher inzwischen so eingedämmt wurde, dass Hochwasser kaum noch eine Bedrohung war. An den Ufern führten Spazierstraßen entlang, welche Landpartien und Picknickgesellschaften eine wunderschöne Kulisse boten. Und kleine, heimelig wirkende Landhäuser standen in angemessenen Abständen am Wegesrand. Umgeben von blühenden Gärten, wie kleine, bunte Gemälde, umrahmt von feinen Holzzäunen, welche einen guten Blick auf die schöne Aussicht ermöglichten.

Die ehemaligen Farmen wurden durch schmale Nebenstraßen an das Straßennetz angeschlossen. Ausgenommen waren die fünf ehemaligen Haupthäuser der Gründerhöfe: Gerian, Zuan, Sellsan, Hesten und Velvet. Diese lagen alle an der Hauptstraße und wurden noch von den Nachfahren der ersten Siedler – den Gründerfamilien – bewohnt.

Seit der Stadtgründung war Verment das Zentrum des Tals. Der Ort, an welchem die meisten Leute lebten, die Geschäfte aufgezogen wurden, der Markt stattfand und die Poststation war.

Und so war es auch nicht verwunderlich, dass sich gegen Mittag eines sonnigen, warmen Herbsttages eine Gruppe Frauen von den Gründerhöfen Gerian und Zuan auf den Weg in die Stadt machte.

Die Damen des Haushalts Wareck hatten sich mit den Nachbarsfrauen, Mutter und Tochter Kerast auf den Weg gemacht.

„Zu schade, dass euer Vater und die Mädchen noch nicht aus Durak zurück sind”, stelle Edirta Kerast gerade fest. Die jüngere und unverheiratete Kerast-Tochter lief untergehakt bei den ältesten Wareck-Schwestern vorneweg. Die drei Freundinnen setzten sich gerne von der großen Gruppe ab, um ungestört reden zu können. Mehr aus Gewohnheit, denn aus Notwendigkeit, um leise miteinander sprechen zu können, hatten die drei sich beieinander untergehackt. Behindert wurden sie dabei von den ausladenden Reifröcken, welche zu ihrer Garderobe gehörten.

Darin aufhalten, ihren Gewohnheiten zu folgen, taten die Kleider aber nicht.

„Liawe wird schäumen vor Wut, wenn sie erfährt, dass sie einen Stadtball verpasst”, amüsierte sich Veranni, die Zweitälteste der Wareck-Schwestern über ihre jüngste Schwester, „aber immerhin haben wir dadurch etwas Ruhe.”

Ihre ältere Schwester, Dorika, verzog zweifelnd das Gesicht.

Edirta lachte amüsiert auf.

„Na, dass Liawe schäumen wird, glaub ich dir sofort”, meinte sie fröhlich, „aber ob euch das wirklich etwas Ruhe verschafft, glaube ich wiederum kaum.” Bezeichnend blickte sie über die Schulter, wo ihre Mutter neben Verannis und Dorikas Tante Perla herlief und sich eifrig mit ihr unterhielt. Worüber die beiden älteren Damen sprachen, konnten die Mädchen nicht hören, aber erahnen.

Dorika – nicht nur die Älteste, sondern auch die Hübscheste der Wareck-Schwestern – seufzte schwer.

„Oh nein”, stimmte sie leise zu, „ruhig wird die Zeit nicht. Und wenn Papa mit Liawe und Nesetta zurückkommt, wird es eher noch schlimmer – gerade, weil Liawe sauer sein wird.”

Jetzt lächelte auch Veranni gequält.

„Na stimmt schon. Wenn man bedenkt, dass wir jetzt alle in die Stadt müssen, um unsere Garderobe aufzubessern”, gab sie halbherzig zu.

„Müssen”, echote Edirta und zwinkerte Veranni verschwörerisch zu, „du gehst doch gerne zu Meister Reckar und schaust dir die Kleider an.”

„Schuldig im Sinne der Anklage”, gab Veranni unverblümt zu.

„Sie bekommt aber nur neue Schuhe”, scherzte Dorika, „die hat sie nämlich vollkommen durchgetanzt.”

„Was?”, fragte Edirta. Als Veranni zustimmend nickte, brach die quirlige, junge Frau in Gelächter aus. „Unglaublich.”

„Was denn? Ich mag schöne Kleider und ich tanze gerne”, verteidigte sich Veranni amüsiert.

„Und trotzdem ist Solaina die Einzige, die ein neues Kleid bekommt”, erinnerte Dorika.

Dieses Mal sah sich Veranni um. Nicht nach Frau Kerast und ihrer Tante Perla, sondern nach ihrer mittleren Schwester, die lustlos neben ihrer Tante herlief.

Solaina Wareck war die größte der fünf Schwestern, die einzige mit glatten, blonden Haaren – und vor allem die Einzige, die nichts für gesellschaftliche Anlässe übrighatte.

Einen totalen Kontrast zur unmotivierten Solaina bot die zweitjüngste Wareck-Schwester Edoli. Aufgeweckt sah die Siebzehnjährige sich um und schien sich nur dadurch zügeln zu können, dass sie bei ihrer Tante untergehakt war.

„Sola war so begeistert, als Tante Perla bestimmt hat, dass sie ein neues Kleid braucht”, murmelte Veranni betreten.

„Glaub ich dir sofort”, antwortete Edirta. „Aber wartet nur ab, wenn eure Tante erst erfährt, dass wir einen neuen Nachbarn haben, wird Solainas Garderobe zweitrangig.”

„Ein neuer Nachbar?”, fragte Veranni sofort.

„Mein Vater hat es in der Stadt gehört. Für diesen Nachbarn wird der Stadtball veranstaltet – als Willkommensfest”, erklärte Edirta, „Genaueres wissen wir auch nicht, aber er hat wohl Hof Rown gekauft.”

„Hof Rown?”, fragte Dorika ungläubig, „das ganze Anwesen?”

„Das ist doch ein kleines Vermögen wert!”, entfuhr es auch Veranni.

„Allerdings”, stimmte Edirta überlegen zu, „bei dem neuen Nachbarn ist Geld. Ich will ja niemandem was unterstellen – aber kann es sein, dass Tante Perla mehr als begeistert sein wird?”, fragte Edirta unschuldig und wackelte mit den Augenbrauen.

„Och bitte”, wehrte Dorika ab.

Veranni lachte unverblümt.

„Natürlich, ein wohlhabender Mann wäre ihr am liebsten – der kann im Ernstfall helfen und unverheiratete Schwestern besser unterstützen”, erklärte sie keck, „tut mir leid, Edirta, ich weiß nicht, ob dein Bruder da mithalten kann.”

Edirta lachte gequält auf.

„Ich versteh schon, auch wenn es schön wäre, wenn wir durch eine Heirat zu Verwandten werden würden.” Schelmisch lächelte sie Dorika an, welche sanft errötete. Zu der versteckten Äußerung, dass Edirtas Bruder Anseln eine Schwäche für sie hatte, sagte Dorika nichts.

Veranni und Edirta ließen sie.

Unter fröhlichem Geplauder erreichte die Damengesellschaft die Stadt und schlenderte durch die breite Hauptstraße von Verment.

Ladenlokale säumten die Straße, begleitet von breiten Gehwegen, welche den Einkäufern genügend Platz boten, gemütlich zu lustwandeln. Baldachine schützten Schaulustige an den Schaufenstern vor der Sonne.

Edoli vergaß jegliche Zurückhaltung, löste sich von ihrer Tante und schwirrte um die Gesellschaft herum. Von einem Schaufenster eilte sie zum nächsten und betrachtete die Auslagen.

„Sie kriegt nur neue Bänder”, stellte Veranni kopfschüttelnd fest, „immerhin scheint es ihr gutzutun, dass Liawe nicht da ist.

Sie ist zwar immer noch aufgedreht, aber nicht so albern wie sonst.”

„Worum geht es eigentlich bei dieser Geschäftsreise von eurem Vater?”, fragte Edirta, „ich dachte immer, das wäre etwas mit Bildung, wie kommt es da, dass Liawe mitgefahren ist?”

„Es ist im Ausland”, spottete Veranni, „für Liawe ist das ein Abenteuer. Das hat ausgereicht, um sie zu locken.”

„Sie hat sich aufgeführt wie ein kleines Kind”, seufzte Dorika.

„Bis Papa dann nachgegeben hat, damit sie Ruhe gibt.” Veranni verdrehte die Augen, „Er wollte ja eigentlich nur Nesetta mitnehmen, da sie Duraki spricht.”

„Letzten Endes bekommt Liawe wohl immer, was sie will.”

Edirta schüttelte seufzend den Kopf. „Hoffentlich haben wenigstens euer Vater und eure Cousine etwas von der Reise.”

„Ganz bestimmt”, erwiderte Veranni, „zumindest mehr als Liawe, Nesetta kann sich zumindest mit den Leuten unterhalten und versteht die Kultur und Papa ist ja schon glücklich, wenn er sich nicht mit unserem Heiratsdrama befassen muss.”

Dorika lachte freudlos auf.

Edirta seufzte verständnisvoll.

„Muss schon hart sein, mit fünf Töchtern und einer Nichte”, sinnierte sie nachdenklich.

„Das Schlimmste ist immer noch Tante Perla. Sie übt den meisten Druck aus”, stellte Dorika fest. Veranni verkniff sich einen Kommentar aus der Richtung, dass Tante Perla bei Dorika auch die meisten Möglichkeiten hatte Druck aufzubauen. Anseln Kerast war nicht der einzige junge Mann in Verment, der ihr den Hof machte.

„Aber manchmal würde ich mir wünsche, dass Papa sich etwas mehr dafür interessiert, was aus uns wird”, murmelte Dorika dann noch leise.

„Aber Papa interessiert sich doch dafür”, protestierte Veranni sofort.

Dorika sah sie kurz an, als wolle sie widersprechen, doch dann lächelte sie nur.

„Vermutlich hast du recht”, lenkte sie sofort ein.

„Na ja, wenn ich ganz offen sein darf”, Edirta sah vorsichtig zwischen den Schwestern hin und her.

„Du darfst immer offen sein”, ermutigte Veranni sie.

„Meine Eltern haben sich auch schon darüber unterhalten, warum euer Vater sich nicht etwas mehr darum bemüht, eine Ehe zu arrangieren”, stellte Edirta vorsichtig fest, „ich möchte jetzt nicht falsch verstanden werden – es ist absolut Dorikas Sache, wen sie heiratet – aber es gibt einige Bewerber und es sind auch sehr nette, anständige Männer darunter. Dorika ist bereits fast fünfundzwanzig und wenn man eure Erblage bedenkt…” Sie ließ den Satz offen.

„Das ist Teil des Problems. Es sind fast alle nette Männer – freundlich, verantwortungsbewusst – wie soll ich mich da für einen entschieden?”, versuchte Dorika sich zu rechtfertigen.

„Ich versteh dich ja”, versicherte Edirta, „wenn man nun mal nicht verliebt, ist, fehlt der Grund, sich für einen zu entscheiden.” Müde lächelnd hob sie die Schultern, „hat meine Mutter so analysiert.”

„Das trifft es ganz gut”, murmelte Dorika peinlich berührt.

„Und du meinst, Papa sollte die Entscheidung für Dorika treffen – oder hätte schon eine Entscheidung für sie treffen sollen?”, fragte Veranni vorsichtig nach.

„Es wäre in eurer Situation auf jeden Fall nicht abwegig”, gab Edirta zu bedenken.

„Nur was aus dem Haushalt würde, das wäre eine gute Frage”, versuchte Dorika es mit einem Scherz.

„Oje, vielleicht sollte ich zuerst nach einem Ehemann suchen”, ging Veranni darauf ein.

„Oder einen Haushalt führen lernen, damit dich überhaupt einer nimmt”, triezte Edirta liebevoll. Doch so ganz wollte sich die Stimmung nicht wieder lösen.

Veranni störte es, dass man sich bei ihren Nachbarn bereits Gedanken darüber machte, warum bei Warecks noch keine Tochter verheiratet war. Es war Sache der Familie und ging niemanden etwas an. Auf der anderen Seite hatten die fünf Schwestern keinen einzigen Bruder und ihr Großvater hatte, mit der Überschreibung seines Besitzes an seinen dritten Sohn und der Auszahlung der anderen Söhne, klar verfügt, was mit dem Erbe geschehen sollte. Würde einer der vier Wareck-Söhne ohne Erben – also ohne Sohn – versterben, ging dessen gesamter Besitz an einen Erbvetter über, den weder Veranni noch eine ihrer Schwestern je gesehen hatten.

Kerasts hatten nicht unrecht, wenn sie sich wunderten, dass Dorika mit fast fünfundzwanzig Jahren noch nicht verheiratet war und es weder romantische noch vernünftige Überlegungen für die zwanzigjährige Veranni gab. Eigentlich hatten Warecks mit den Mädchen keine Zeit zu verlieren.

„Tja, dann sollte sich eine von uns vielleicht den neuen Nachbarn schnappen, dann ist eine gesichert und mit dem Geld kann man sicher viele Feste feiern, um auch die anderen unter die Haube zu kriegen – für den Fall, dass Papa auf der Heimreise von Durak verunglückt”, versuchte Veranni sich an einem Scherz.

Edirta lachte ungläubig, doch Dorika löste sich abrupt von ihrer Freundin und ihrer Schwester.

„Beschreit es nicht”, verlangte sie ärgerlich, „die Reise nach Durak ist immerhin nicht ungefährlich – fast eine Woche mit der Kutsche ist ja noch eine kalkulierbare Zeit, aber der Seeweg hinüber nach Durak ist unberechenbar. Sowohl in der Länge als auch in seinen Gefahren.”

Veranni und Edirta tauschten betretene Blicke.

„Tut mir leid”, entschuldigte sich Veranni vorsichtig, „daran habe ich jetzt nicht gedacht – und bisher ist die Fahrt doch auch immer gut gegangen.”

„Ja, ich weiß”, seufzte Dorika schicksalsergeben, „ich mache mir nur immer Sorgen, wenn er nach Durak fährt. Dieses Land bringt unserer Familie einfach kein Glück.”

„Euer Onkel”, nickte Edirta verstehend.

„Aber das ist doch etwas Anderes”, protestierte Veranni halbherzig, „Onkel Karel hat als Arzt im Durakischen Bürgerkrieg gedient, als er gestorben ist. Dieser Krieg ist jetzt zehn Jahre vorbei und Papa bleibt doch in den friedlichen Zonen.

Da wo sich das geregelte Leben schon wieder eingependelt hat und Recht und Ordnung herrscht. Ihm kann nichts passieren”, versicherte sie Dorika und hackte sich wieder bei ihr ein. Die Ältere hob nicht überzeugt die Schultern.

„Im Moment mache ich mir wohl einfach zu viele Gedanken”, murmelte sie entschuldigend.

Veranni überlegte kurz, ob sie es noch einmal mit einem Scherz über den neuen Nachbarn versuchen sollte, ließ es dann aber lieber. Der letzte Versuch, die Situation aufzulockern, war ja gründlich schiefgegangen. Und außerdem standen sie jetzt vor der Schneiderei.

Die Auftragsschneiderei Reckar war mit der Stadtgründung zusammen eröffnet worden und beinahe einzigartig in ihrer Art.

Da die Schneiderfamilie ihre regelmäßige Kundschaft gut kannte, gab es immer eine Vielzahl an Kleidern, die beinahe fertig im Geschäftsraum hingen und im Grunde nur darauf warteten, dass jemand vorbeikam und sie anprobierte. Wenn eine Kundin sich zum Kauf entschied, konnte sie sich darauf verlassen, dass ihr das Kleid nach allen Regeln der Kunst und mit allen Sonderwünschen passgenau verändert wurde. Edirta trat vor, um die Tür zu öffnen und Dorika folgte ihr in das Innere des Geschäfts. Veranni sah noch einmal zurück. Tante Perla und Frau Kerast waren bei Edoli an einem Schaufenster stehen geblieben und diskutierten über etwas.

Solaina trat mit Begräbnismiene auf Veranni zu.

„Wehe, das zieht sich heute ewig”, drohte sie düster, „darauf habe ich echt keine Lust.”

„Wir haben Edirta dabei, sie hat ein gutes Auge für Farben und Kombinationen”, versicherte Veranni aufmunternd, kassierte dafür aber nur ein ärgerliches Grummeln.

„Also ein Kleid für die junge Dame?”, empfing Edirta sie freundlich, „na dann lass mich mal machen.” Edirta schnappte sich Solainas Arm und zog sie mit sich vor einen Spiegel.

„Wenn du dich jetzt noch daneben stellst...“, scherzte Veranni und stellte sich selbst neben Dorika, die an der Tür stehen geblieben war. Die Ältere warf ihr einen spöttischen Blick zu und schüttelte ihren blonden Lockenkopf. Dorika hatte schon verstanden, worauf Veranni anspielte.

„Ich würde das Bild ruinieren”, erwiderte sie dann aber.

Solaina war über einen Kopf größer als Edirta, aber genauso blond. Dafür hatte Edirta sehr dünne und stark gekräuselte Locken, Solainas Haare hingegen waren so glatt, dass sie wie gebügelt aussahen. Der Anblick war faszinierend.

„Ich glaube, sie braucht etwas Schlichtes“, murmelte Dorika und musterte Solaina im Spiegel.

„Aber sie sollte doch mehr auffallen, um einen Mann für sich zu interessieren“, warf Edoli ein, die gerade das Geschäft betrat und sich neben ihre Schwestern stellte. Tante Perla und Frau Kerast schienen so in ihr Gespräch vertieft, dass sie tatsächlich vor der Tür stehen geblieben waren.

„Eher schlicht und hell“, kommentierte Edirta vom Spiegel aus.

„Das passt besser zu Solainas Persönlichkeit und sie sollte durch kleine, passende Accessoires auf sich aufmerksam machen.“

Sie ließ Solaina los und sah sich prüfend im Laden um.

„Ah, meine Damen, es tut mir furchtbar lei-“, der Verkäufer und Schneidermeister kam in den Ladenraum, blieb stehen und brach ab.

„Ah, Sie sind es, meine Damen“, stellte er dann breit lächelnd fest. „Wie schön, dass Sie heute den Weg hierher gefunden haben. Sehen Sie sich nur gründlich um und zögern Sie nicht, mich anzusprechen.“

Wohlwollend sah er sie an, sie gehörten schließlich zu seinen Stammkunden.

„Vielen Dank, Meister Reckar, ich denke vorerst kommen wir zurecht“, bedankte sich Dorika artig.

„Probier mal das hier.“ Edirta nickte dem stämmigen Schneidermeister knapp zu und hielt Solaina ein cremefarbenes, glattes Kleid mit langen Ärmeln hin.

Solaina maß das Kleid mit einem Blick, als wolle der Stoff sie gleich erwürgen, nahm es aber an. Ihr Blick traf den von Veranni.

„Schnellste und stressfreieste Methode“, versicherte die Ältere.

Solaina seufzte und begab sich nach hinten zu den Umkleiden.

Dorika folgte ihr, um ihr beim Anprobieren zu helfen. Edirta war bereits wieder ganz in ihrem Element, ein zweites cremefarbenes Kleid hatte seinen Weg auf Edirtas Arm gefunden, es folgte ein Kleid in blassgrün, eines in hellblau und ein viertes in zartviolett.

Die Tür wurde geöffnet und Tante Perla und Frau Kerast traten ein.

„Edirta!“, entfuhr es Frau Kerast. „Du sollst dir selbst ein neues Kleid aussuchen und nicht die Nachbarstöchter ausstatten!“

Edirta, mitten in ihrem Tun unterbrochen, sah ihre Mutter kurz erstaunt an. Dann nickte sie langsam, als wäre sie in Gedanken sofort dabei, die Farben heraussuchen, die zu ihr selbst passten.

„Selbstverständlich, Mutter“, gab sie direkt zur Antwort und drückte Veranni die Kleider für Solaina in die Arme.

„Und was brauchst du?“, fragte Veranni neugierig und gab die Kleider an Tante Perla weiter, die sofort nach hinten, zu Solaina und Dorika rauschte.

„Einmal komplett neu einkleiden“, erklärte Edirta und sah sich suchend um.

„Einmal komplett? Für den neuen Nachbarn?“, scherzte Veranni und zwinkerte Edirta amüsiert zu.

„Natürlich, schließlich plant meine Mutter meine Hochzeit schon”, scherzte Edirta, „als hätte ich jemals eine Chance gegen Dorika.” Sie lachte fröhlich auf.

„Der richtige Mann wird dich tausendmal schöner finden als jede andere”, gab Veranni im gleichen Tonfall zurück.

„Ja, denn in der Liebe soll es ja nicht um Aussehen, sondern um Charakter gehen”, lachte Edirta. Veranni stimmte in ihr Lachen ein.

Kapitel 2 Unbeherrscht

“Die Bewohner des Wasserkontinents wurden Ursprünglich als Meermenschen bezeichnet. Dies ist im weitesten Sinne irreführend. Die verschiedenen Völker leben weder im Meer, noch sind sie wie die meisten Meerestiere fähig, längere Zeit ausschließlich im Wasser zu überleben. Ihre sowohl optische als auch physische Affinität zum Wasser ist jedoch nicht von der Hand zu weisen: So sind ihre Haare und Haut für gewöhnlich in Blau-, Grau- oder Grüntönen gefärbt, in allen möglichen Farbabstufungen und Nuancen. Physisch fällt zunächst ihre Größe auf, die durchschnittlich bei 1,80 Metern bei den Frauen und 2 Metern bei den Männern liegt. Hinzu kommen deutliche, wasserverbundene Merkmale, wie Schwimmhäute zwischen den Fingern und Zehen, längliche Füße, die als Schwimmflossen dienen können und ein zweites, durchsichtiges Augenlid, das ihnen das Öffnen der Augen unter Wasser ermöglicht.”

Aus dem >Almanach der Völker<, Internationale Bibliothek vonSoltan

Es klopfte. Nesetta öffnete die Augen und setzte sich langsam im Bett auf. Ihre Cousine Liawe, die neben ihr lag, regte sich im Schlaf.

„Herein”, rief Nesetta auf Duraki.

Vorsichtig öffnete ein Dienstmädchen die Tür und sah sich suchend um, bis sie Nesettas Blick begegnete. Für Nesetta war die junge Frau mit der hellblauen Haut und den schwarzen Haaren ein alt vertrauter Anblick. Ein scheues Lächeln bildete sich auf den zartblauen Lippen des Dienstmädchens, bevor sie mit einem Tablet in den Händen das Zimmer betrat. Wie fast alle Frauen in Durak trug sie ein hochgeschlossenes Kleid mit langen, enganliegenden Ärmeln. Die Farbe war grau, der Rock eng – zumindest im Vergleich zur merianischen Mode, denn genügend Bewegungsfreiheit bot das Kleidungsstück noch immer. Die Haare des Mädchens waren kurz geschnitten und zurückgesteckt, sodass ihr beim Arbeiten keine Haarsträhnen in die Augen fielen.

Nesetta nickte dem Mädchen zu, um ihr zu signalisieren, dass sie weiter eintreten durfte. Das Dienstmädchen brachte Tee und leichtes Gebäck, ein zweites Dienstmädchen brachte Wasser, Seife, Lappen und Handtücher. Sie stellten alles auf eine Kommode an der Wand, neben der Tür.

Die Kommode bot die einzige Abstellfläche, außer einem Nachttisch neben Nesetta. Auf der anderen Seite des Bettes stand ein Wandschirm, dahinter über die ganze Länge der Wand ließen Fenster das sanfte Morgenlicht ein. An der Wand gegenüber dem Bett stand ein breiter Kleiderschrank. Das Zimmer war klein und pragmatisch eingerichtet.

Nesetta stand auf und weckte Liawe dabei, diese gähnte und streckte sich ausgiebig.

„Himmel, hab ich gut geschlafen“, verkündete sie und ließ sich wieder in die Kissen sinken. Zufrieden sah sie sich aus den Kissen heraus um, bis sie die beiden Dienstmädchen, welche ihre Tabletts auf der Kommode abstellten, sah. Sie verzog verächtlich den Mund und richtete sich auf. Nesetta ahnte bereits, dass sie noch etwas sagen wollte und ungeachtet der Tatsache, dass die Dienstmädchen Liawe nicht verstehen konnten, wollte Nesetta ihnen das gerne ersparen. Ohne ein Wort zu sagen, gab sie den beiden ein Zeichen, dass nichts weiter gebraucht wurde. Beide verbeugten sich artig und verließen das Zimmer schnell und lautlos. Liawe seufzte theatralisch, warf ihre Decke mit einer ausladenden Bewegung beiseite, stand auf, streckte sich und trat zur Kommode. Kritisch betrachtete sie die Teekanne und den Gebäckteller. Dann rümpfte sie abfällig die Nase und nahm den Deckel der Teekanne ab, um an dem Inhalt zu schnuppern.

„Also wirklich, sie sollten wenigstens Kaffee servieren!“, beschwerte sich Liawe kopfschüttelnd.

„Viele Teesorten wirken genauso wie Kaffee“, murmelte Nesetta. Sie nahm einen Lappen und ein Handtuch für sich zur Seite, bevor sie anfing, sich aus ihrem Nachthemd zu schälen, um sich zu waschen.

„Du kannst dich doch nicht einfach ausziehen!“, protestierte Liawe sofort und sah sie schockiert an. Nesetta erwiderte den Blick ausdruckslos, sie würde nie verstehen, warum es in Merian gesellschaftlich akzeptiert war, auf Festen und bei gesellschaftlichen Anlässen mit nackten Armen und tiefen Ausschnitten zu erscheinen – manchmal sogar mit Kleidern, die den halben Rücken frei ließen oder die Schultern nicht bedeckten – aber ansonsten Nacktheit, selbst wenn es sich um Personen des gleichen Geschlechts handelte, geradezu verboten war.

„Ich kann mich ja schlecht waschen, wenn ich das Nachthemd anhabe“, versuchte sie sich pragmatisch zu erklären.

„Es gehört sich trotzdem nicht – geh wenigstens hinter den Wandschirm!“, widersprach Liawe und sah sie so streng an, dass Nesetta sich unangenehm an Liawes Tante Perla erinnert fühlte.

Kurz sah sie zu der Waschschüssel, dann zum Wandschirm, der vor dem Kleiderschrank, neben dem Bett stand.

>Das gehört sich nicht<, diesen Satz hatte sie schon so oft gehört – meistens ohne weitere Erklärung. Es ergab für sie keinen Sinn. Ohne Liawes pikierten Kommentare weiter zu beachten, wusch sie sich und zog sich dann genauso schweigend das am Vortag bereit gelegte Kleid an. Liawe wandte ihr demonstrativ den Rücken zu und nahm die Waschschüssel dann hoch, um sie genauso demonstrativ hinter den Wandschirm zu tragen.

Nesetta hörte sie verhalten schimpfen, als ihr klar wurde, dass sie die Schüssel dort nicht abstellen konnte.

Der einzige Nachttisch stand nur auf Nesettas Seite.

Liawe stellte die Schüssel auf das Bett, wo sie etwas wackelig stehen blieb. Nesetta beachtete ihre gleich alte Cousine nicht weiter, inzwischen kannte sie diese gut genug, um zu wissen, dass sie nicht mit ihr diskutieren brauchte – Liawe hatte einfach zu gerne recht.

Ganz anders als Liawes Schwester Solaina, mit der Nesetta sich sonst ein Zimmer teilte, diese war weder so pingelig noch so sehr von ihrer Meinung überzeugt.

Generell kam Nesetta mit ihren anderen Cousinen weitaus besser klar, als mit der verwöhnten Liawe.

Anstatt sich über ihre Cousine zu ärgern, bediente sich Nesetta lieber an Tee und Gebäck. Früher, als Nesetta noch mit ihren Eltern und Geschwistern in einem Dorf in Chavis nahe der Durakischen Grenze gelebt hatten, waren Tee und Gebäck das gesamte Frühstück gewesen.

Ihre Gastgeber hier, Polizeichef Searon Vezord und seine Frau, gehörten dem Bürgertum an, darum würde es noch ein reichhaltigeres Frühstück geben. Ein richtiges Frühstück, mit Herrn Searon, seiner Frau, Nesettas Onkel Renald und Liawe.

Nesetta war nicht wirklich erpicht darauf – nicht wegen ihrer Gastgeber. Herr und Frau Searon waren sehr freundliche, zuvorkommende Leute. Sie investierten in Bildung und Frau Searons Bruder arbeitete mit Onkel Renald zusammen, um eine Druckerei aufzubauen – der junge Duraker wollte dazu eine Zeitungsredaktion gründen. Nesetta unterdrückte ein Seufzen, um Liawe nicht auf sich aufmerksam zu machen. Eine Fluchtmöglichkeit gab es nicht. Sie sprach Duraki, die Landessprache, zwar ausreichend, wenn auch mit Akzent, aber noch galt es als nicht sicher auf den Straßen. Und für Ausländer gab es generell ein Verbot, sich im Inland aufzuhalten – die Grenzen waren seit Kriegsende geschlossen und die drei Mitglieder der Familie Wareck hatten nur dank Herrn Searon eine Sonderbewilligung erhalten.

Fast drei Jahrzehnte Bürgerkrieg hatten ihre Spuren hinterlassen.

Liawe kam hinter dem Wandschirm hervor. Sie hatte sich im Sichtschutz umgezogen und trug nun ein hellblaues Kleid mit einem weiten Rock und einer dunkelblauen Schleife um die Taille. Die Ärmel waren nur knapp ellbogenlang und der rechteckige Ausschnitt war nach Merianischen Maßstäben angemessen, betonte aber deutlich ihre weiblichen Rundungen.

Nesetta verkniff sich ein Naserümpfen – auf keinen Fall wollte sie reagieren wie Liawe.

Diese spazierte um das Bett, um sich im großen Spiegel des Frisiertisches weiter zurechtzumachen.

„Wir müssen mit Papa unbedingt noch einkaufen gehen“, stellte sie fest und zupfte an ihrem Ausschnitt herum.

„Lass das“, mahnte Nesetta automatisch. Verärgert biss sie sich auf die Lippen, weil sie nun doch reagiert hatte. Sie war weitaus mehr an die Chavesianischen Anstandsregeln gewöhnt, welche besagten, dass Nacktheit zwar natürlich war, aber nicht in die Öffentlichkeit gehörte.

„Wieso?“, fragte Liawe kritisch und musterte ihrerseits Nesetta.

„Es gehört sich nicht, hier so aufreizend herumzulaufen“, erklärte Nesetta, „das zur Schau stellen körperlicher Reize gehört hinter die verschlossenen Türen eines Ehepaares.“

Das waren Chavesianische Werte, doch Chavis und Durak waren Nachbarländer mit ähnlicher Kultur, so unterschiedlich konnten sie nicht sein. Merian und seine Nachbarländer, Westan und Erassi teilten ja auch die gleichen Werte – soweit Nesetta das wusste.

Liawe sah ungläubig noch einmal in den Spiegel. Nesetta bedauerte bereits, das Gespräch begonnen zu haben.

„Das ist doch nicht aufreizend!“, beschwerte Liawe sich heftig.

„Für Duraker schon“ „Ich bin aber keine Durakerin!“

„Wir sind aber bei welchen zu Gast.“

„Deshalb muss ich trotzdem nicht rumlaufen, wie eine von denen!“

„Es wäre höflich.“

„Es wäre höflich von ihnen, wenn sie unsere Sitten respektieren würden!“ Liawe beendete die Diskussion, indem sie sich auf den Absätzen ihrer Halbschuhe umdrehte und zur Tür stolzierte.

Die schwarzblauen Schuhe passten nicht zum Kleid.

Nesetta schüttelte den Kopf über ihre eigene, überflüssige Feststellung. Tante Perla hätte Liawe jetzt aufgehalten und den Schuhschrank durchforstet, bis sie passende Schuhe, entweder in hellblau oder in dunkelblau, gefunden hätte.

Sie schob den Gedanken als unnötig beiseite. Früher wäre ihr das sofort absurd vorgekommen, vielleicht gewöhnte sie sich doch langsam an das Leben unter Merianern.

>Es wäre höflich, wenn sie unsere Sitten respektieren würden< Nesetta stimmte dem nur halb zu. Natürlich wäre auch das höflich, aber aus Liawes Mund, klang es so überheblich. Sie nahm doch die Gastfreundschaft von Searons an, müsste sie dann nicht Respekt vor deren Kultur haben, anstatt weiteren Respekt zu verlangen? Nesetta wäre zumindest davon ausgegangen, aber vielleicht war das wieder eine dieser Merianischen Wertvorstellungen, die sie noch nicht verinnerlicht hatte – sie lebte ja erst seit sechs Jahren bei ihrem Onkel und seiner Familie.

Kurz stellte sie sich selbst vor den Spiegel und verglich ihr Kleid mit dem Liawes. Sie besaß leider keine Durakische Mode, also hatte sie ein Kleid herausgesucht, das möglichst wenig Ausschnitt zeigte, die Ärmel reichten bis zu den Handgelenken und dadurch, dass ihr Kleid weniger Unterröcke hatte, war ihre Bewegungsfreiheit zumindest etwas weniger eingeschränkt.

Egal, was Liawe sagte, es erschien Nesetta falsch, zusätzlich zu der Gastfreundschaft noch mehr zu verlangen.

Seufzend schlüpfte sie in die schwarzen Hausschuhe, die man ihr zur Verfügung gestellt hatte und verließ ebenfalls das Zimmer.

Das Esszimmer lag eine Etage weiter unten – im Erdgeschoss des kleinen Landhauses am Stadtrand. Das Haus war wirklich klein, es bot gerade mal genügend Platz für die Gastgeber und ihre drei Gäste, aber aufgrund der Situation im Land, hatte Herr Searon es für sicherer befunden, sie hier unterzubringen und nicht in seinem großen Stadthaus.

Das Landhaus – oder Häuschen – war eine kuriose Mischung aus Merianischer und Durakischer Baukunst. Es war aus Stein gebaut, doch von außen wurde es von traditioneller Malerei geschmückt. Die Räume waren nicht tapeziert, sondern holzvertäfelt, wie in Durak üblich. Dafür gab es viele Sitzmöbel, die per se Merianisch waren, da Duraker in der Regel Kissen und Matten nutzten, die auf dem Boden lagen. Tische waren an die Sitzmöbel angeglichen und Bilder schmückten die Wände, die hübsch aneinander angepasst waren, aber deutlich aus beiden Kulturen ausgewählt worden waren.

Nesetta konnte schon von weitem Liawe laute Stimmen hören und ihren Onkel etwas leiser antworten. Es ging darum, dass Liawe einkaufen wollte. So wie sie es eben Nesetta gegenüber angesprochen hatte. Das Mädchen seufzte und betrat das Esszimmer.

„Guten Morgen“, grüßte ihr Onkel und nickte ihr zu. Nesetta erwiderte das Nicken und verbeugte sich gegenüber ihren Gastgebern.

Wenige Minuten später saß sie schweigend am Tisch und aß.

Liawe war praktisch die Alleinunterhalterin der Runde. Sie war gar nicht mehr zu bremsen gewesen, nachdem ihr Vater ihr zugesagt hatte, noch auf den Markt zu gehen. Nesetta hörte etwas von Seeseide und Meeresperlen.

Sie schaltete ab.

Seeseide war sündhaft teuer, denn sie war schwer herzustellen.

In Durak konnte man die beste Qualität bekommen – allerdings zum entsprechenden Preis.

„Wirklich?“, riss Liawe Nesetta aus ihren Gedanken.

Überrascht sah sie auf und blickte in Liawes begeistertes Gesicht. Sie war aufgesprungen und hatte begeistert die Hände zusammengeschlagen. Die Haltung kannte Nesetta nur zu gut.

„Hast du das gehört, Nesetta?“, fragte sie begeistert – Nesetta hatte nichts gehört, doch Liawe erwartete keine Antwort – „Ein Ball! Hier! Das ist wunderbar!“

Wie ein kleines Kind, hüpfte sie auf und ab, sodass ihre dunkelbraunen Locken um ihren Kopf flogen.

Nesetta biss die Zähne aufeinander und warf einen flüchtigen Blick auf ihre Gastgeber. Bälle waren ursprünglich eine Merianische Sitte, wurden aber immer mehr von den Durakern aufgenommen. Ihre Gastgeberin war noch relativ jung und sehr hübsch. Die Frau lächelte unverbindlich, aber auch unbewegt.

Gekleidet war sie in ein typisches, langes Kleid mit engen Ärmeln und einem eleganten, fließenden Rock. Herr Searon hingegen trug eine dunkle Uniform aus festem Stoff, mit einer silbernen Knopfreihe und Stehkragen, wie sie seit Kriegsende bei den Beamten üblich war. Es war für Nesetta nicht ersichtlich, wer in diesem Haushalt die treibende Kraft zur Merianischen Kultur war.

„Ich hoffe doch, dass Sie, ihre Tochter und ihre Nichte an diesem Ball anwesend sein werden“, wandte sich Herr Searon an Nesettas Onkel. Der Mann war genauso undurchschaubar wie seine Frau.

„Selbstverständlich“, erklärte dieser lächelnd, „ich bin sicher, dass es für die Mädchen ein schöner Abend wird.“

Nein, würde es nicht. Da war sich Nesetta sofort sicher. Aber das zu sagen, wäre unhöflich.

„Was für eine Frage! Natürlich gehen wir auf diesen Ball!“, rief Liawe enthusiastisch. Sie strahlte über das ganze Gesicht.

„Aber ich habe überhaupt kein richtiges Ballkleid mitgenommen!“, fuhr sie dann entsetzt fort – niemand hatte mit einem Ball gerechnet. Nesetta hatte sich ohnehin schon gefragt, warum Liawe überhaupt hatte mitkommen wollen – kulturoffen war sie nun wirklich nicht.

„Das müssen wir ändern! Nesetta, wir müssen unbedingt noch Kleider kaufen!“, fuhr Liawe unbeirrt fort.

Nesetta unterdrückte ein Stöhnen. Das würde eine Tortur werden. Das Einzige was schlimmer war als ein Ball, war die Vorbereitung auf diesen. Normalerweise verteilte sich der Stress, den Tante Perla und Nesettas fünf Cousinen verursachten, schön auf alle. Aber hier war Nesetta mit Liawe allein.

„Los, los, los! Iss auf, wir müssen einkaufen gehen!“, forderte Liawe und klopfte im Takt dazu auf den Tisch.

Kapitel 3 Große Sorgen

„Es ist das Einzige, was uns immer geblieben ist: das Vertrauen in unsere Familie. Alles hatten wir verloren: unser Land, unseren Besitz, sogar den Ruf unseres Namens. Und zuletzt habe ich auch noch unsere Ehre verspielt. Alles, was uns durch diese Zeit begleitet hat, war der Zusammenhalt und das Vertrauen - unsere Familie. Das höchste Gut, welches uns geblieben ist und das wir mit allen Mitteln verteidigen müssen.

Jerrick Wareck zu seinen Kindern nach dem Tod der Mutter über seine Familie

Es dauerte keine vierundzwanzig Stunden, bis Tante Perla von dem neuen Nachbarn erfuhr, und wie erwartet setzte sie nun alles daran, dass Dorika einen so schönen und vorteilhaften Eindruck machen würde, wie nur irgend möglich. Dorika ließ jede Anprobe und jede neue Frisur, die Tante Perla in den Sinn kam, über sich ergehen. Bis Tante Perla auf die Idee kam, neuen Schmuck zu kaufen.

„Das wird Vater nie bezahlen können“, mahnte Dorika.

„Aber die sind so hübsch!“, mischte sich Edoli direkt ein und schmachtete die Abbildungen in den Katalogen an, die Tante Perla direkt vom Juwelier hatte kommen lassen.

Die vier Schwestern und ihre Tante saßen am Mittagstisch zusammen im Esszimmer. Die warme Herbstsonne schien durch das Fenster und beleuchtete den langen Tisch, welcher nicht nur der gesamten großen Familie ausreichend Platz bot, sondern auch dafür reichte, dass die Familie aus der Hauptstadt zu Besuch kam.

Jetzt wurde jeder Zentimeter, der nicht für Geschirr gebraucht wurde von Abbildungen in Beschlag genommen. Hier Stoffe und Kleiderentwürfe, dort Schmuck und Schleifen. Tante Perla schien ohne Pause Strategien zu entwerfen und Garderoben zu planen. So dass Dorika nicht einmal beim Essen zur Ruhe kommen konnte.

„Das ändert nichts an der finanziellen Situation“, erinnerte Dorika jetzt ernst.

„Ach, so ein Unsinn, er hat eh niemanden, dem er ein Vermögen hinterlassen kann, aber er hat fünf Töchter, die verheiratet werden müssen, da kann man das Geld gut investieren“, verwarf Tante Perla den Einwand.

„Er investiert aber auch gerne in Bildung“, erinnerte Veranni vorsichtig. Tante Perla warf ihr einen giftigen Blick zu.

„Immer wieder auf Reisen wegen dieser unnützen Druckerei”, wetterte sie, „anstatt Verbindungen zu knüpfen, von denen ihr profitieren könntet. Ihr habt einen guten Familiennamen – einen berühmten Namen! Die jungen Herren sollten sich schon allein deswegen um euch reißen - aber was tut er? Sitzt hier auf dem Land oder reist umher! Und dann musste er auch noch Liawe mitnehmen! Wie soll sie in Durak einen richtigen Mann finden?“, klagte Tante Perla. „Ein Ball ist immerhin eine Gelegenheit, jemanden kennenzulernen und auch wenn sie erst sechzehn ist, ist das doch wohl eine vertane Chance!“

„Eigentlich wollte er ja nur Nesetta mitnehmen“, erinnerte Veranni spitz. Was Tante Perla sagte, erinnerte Veranni unangenehm an das, was Edirta von dem Gespräch ihrer Eltern erwähnt hatte.

„Ach, um Himmelswillen, Nesetta! Bei dem Mädchen ist doch Hopfen und Malz verloren!“, beklagte sich Tante Perla direkt weiter, „spricht kaum, liest dauernd und hat absolut keinen Sinn für Tanz und Betragen!“

Veranni tauschte einen Blick mit Dorika.

„Da hast du nicht ganz Unrecht, aber wir sollten dabei auch Nesettas Situation bedenken“, warf Dorika sanft ein.

„Ihre Situation!“ Tante Perla ließ sie nicht weitersprechen. „Das Mädchen hat Benehmen und gesellschaftliche Umgangsformen weit nötiger als ihr! Denkt nur, was soll aus ihr werden, wenn sich kein Mann für sie interessiert? Denkt daran, sie ist noch schlechter dran als ihr. Oder wäre es, wenn euer Vater nicht so großherzig gewesen wäre, sie aufzunehmen.“ Tante Perla sah alle ernst an, „sie ist im Grunde allein, kein Vater, keine Brüder.

Sie hat ja nicht einmal mehr ihre Mutter oder sonst jemanden.

Nur euren Vater und euch. Dabei hätte euer Vater nun wirklich eher an euch denken können, bevor er das Mädchen aufgenommen hat!“

Veranni fiel die Gabel aus der Hand. Hatte Tante Perla das Feld der potenziellen Heiratskonkurrentinnen gerade auf Nesetta erweitert? Ihre eigene Cousine?

„Jetzt übertreibst du aber“, mischte sich Dorika wieder ein, „Nesetta ist doch auch erst sechzehn, genauso alt wie Liawe ...“

Wieder ließ Tante Perla sie nicht zu Ende sprechen: „Mit sechzehn ist man durchaus schon heiratsfähig! Und euer Onkel Caris hat nur drei Kinder und davon zwei Jungen, er hätte sie auch aufnehmen können!“

Das stimmte, Onkel Caris war Offizier der königlichen Armee, lebte mit seiner Frau in Remas, der Hauptstadt der Merianischen Kolonie Neu Westan und hatte drei Kinder, von denen das Älteste zwölf war.

„Wir wissen nicht, welche Traumata Nesetta erlitten hat. Onkel Caris meinte, sie wäre unter weiteren Mädchen und einem so oder so weiblich dominierten Haushalt besser aufgehoben“, warf Solaina ein und löffelte dann wie beiläufig ihre Suppe weiter.

„An eure Heiratschancen hat er dabei wohl nicht gedacht!“, wetterte Tante Perla weiter.

„Wohl eher an Nesettas seelische Gesundheit!“, fuhr Veranni jetzt erbost dazwischen.

„Ach, ihre seelische Gesundheit!“, Tante Perla machte eine wegwerfende Handbewegung.

Veranni presste wütend die Lippen aufeinander. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie Nesetta vor sechs Jahren vor ihnen gestanden hatte. Bleich, mit leerem Blick, die roten Haare hatte man ihr abschneiden müssen, da sie so verfilzt waren, Arme und Beine waren zum Teil verbunden. Der Rest ihres Körpers war unter dem Kittel, den sie trug, nicht zu sehen gewesen.

Veranni hatte nie zuvor einen so kaputten Menschen gesehen und auch nie wieder danach.

Dorika sah ihre Tante ebenfalls empört an, Solaina hatte sogar aufgehört, zu essen.

„Wir wissen nicht, was ihr passiert ist”, murmelte Solaina. „Wir wissen nur, dass ihre Eltern tot sind und sie zwei Jahre, Gott weiß, wo war.”

Stille breitete sich am Tisch aus. Geschichten darüber, was man verlassenen, jungen Mädchen alles antun konnte, kannten sie alle.

„Lassen wir das“, murmelte Dorika schließlich, als Tante Perla bereits anhob, weiterzureden, „Nesetta ist unsere Cousine und Teil dieser Familie, darum lassen wir sie nicht im Stich.“

Bestimmt sah sie ihre Tante an, um jede weitere Diskussion über dieses Thema zu unterbinden. Veranni schob ihren Teller von sich und stand auf, das Gespräch hatte ihr gründlich den Appetit verdorben. Hastig verließ sie das Esszimmer, das direkt hinter dem Eingangsbereich lag.

Ihr wurde zum ersten Mal richtig bewusst, wie wichtig ihr ihre Familie und der Zusammenhalt war – den Zusammenhalt mit ihrem Vater und zu ihren Schwestern – dass ihr Tante Perlas Rivalität gegen Nesetta nicht nur absurd, sondern auch beleidigend vorkam. Auf der anderen Seite war Tante Perla, die Schwester ihrer verstorbenen Mutter und gehörte genauso zur Familie.

Sie denkt eben wenig nach und das dann auch noch zu kurz, aber im Grunde meint sie es nicht böse! Das versuchte Veranni sich einzureden, während sie aus dem Haus trat und die Tür hinter sich schloss.

Es hatte über Nacht geregnet und die Luft roch immer noch herrlich frisch und lebendig.

Der Vorgarten der Warecks war gepflegt, eine sanfte Rasenstrecke, gesäumt von Rosenstöcken direkt an der Hauswand, immergrünen Bodenkern am Kiesweg von der Straße zum Haus, und gemischten Blumenbeeten direkt an der kleinen Gartenmauer an der Straße.

Genießerisch schloss Veranni die Augen und atmete tief ein. Sie musste sich wieder beruhigen, sonst würde es nur Streit geben, wenn sie wieder ins Haus ging. Seufzend öffnete sie die Augen wieder und spazierte zu der kleinen Gartenmauer. Um das Haus herum waren Felder, zu einem Teil karg, gepflügt und frisch gesät, zu einem anderen Teil hoch bewachsen. Die Farm und die dazugehörigen Ländereien hatte Verannis Urgroßvater aufgebaut. Er hatte mit seinen vier Kindern die Heimat verlassen, um in Neu Westan ein neues Zuhause zu finden.