Zeit des Geldes - Sebastian Teupe - E-Book

Zeit des Geldes E-Book

Sebastian Teupe

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Beschreibung

Warum gilt – angesichts der zahlreichen ökonomischen Krisen des 20. Jahrhunderts – ausgerechnet die Hyperinflation von 1923 als das deutsche Trauma schlechthin? Sebastian Teupe erzählt in diesem Buch die Geschichte der Geldentwertung, die im Kaiserreich im Jahr 1914 begann und während der Weimarer Republik im Jahr 1923 innerhalb kurzer Zeit Höhepunkt und Ende erreichte. Er schildert den Einfluss der Inflation auf das Leben in Stadt und Land, berichtet von den Gewinnern und den Verlierern der Inflation sowie den Zeit- und Denkhorizonten der Deutschen, die sich damals mit einem 100.000-Mark-Schein kaum mehr das Nötigste zum Überleben kaufen konnten. In internationaler Perspektive entschlüsselt er das Gewirr aus Ursachen und Wirkungen der Inflation und zeigt die Wegmarken auf, an denen andere Entwicklungen möglich gewesen wären. Der große Unterschied zwischen dem Erleben der Inflation als offener Zukunft und dem Erinnern eines abgeschlossenen Kapitels ist – so seine These – zentral, um heute die Inflation und ihre nachträgliche Deutung in Deutschland zu verstehen.

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Sebastian Teupe

Zeit des Geldes

Die deutsche Inflation zwischen 1914 und 1923

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Warum gilt – angesichts der zahlreichen ökonomischen Krisen des 20. Jahrhunderts – ausgerechnet die Hyperinflation von 1923 als das deutsche Trauma schlechthin? Sebastian Teupe erzählt in diesem Buch die Geschichte der Geldentwertung, die im Kaiserreich im Jahr 1914 begann und während der Weimarer Republik im Jahr 1923 innerhalb kurzer Zeit Höhepunkt und Ende erreichte. Er schildert den Einfluss der Inflation auf das Leben in Stadt und Land, berichtet von den Gewinnern und den Verlierern der Inflation sowie den Zeit- und Denkhorizonten der Deutschen, die sich damals mit einem 100.000-Mark-Schein kaum mehr das Nötigste zum Überleben kaufen konnten. In internationaler Perspektive entschlüsselt er das Gewirr aus Ursachen und Wirkungen der Inflation und zeigt die Wegmarken auf, an denen andere Entwicklungen möglich gewesen wären. Der große Unterschied zwischen dem Erleben der Inflation als offener Zukunft und dem Erinnern eines abgeschlossenen Kapitels ist – so seine These – zentral, um heute die Inflation und ihre nachträgliche Deutung in Deutschland zu verstehen.

Vita

Sebastian Teupe ist Juniorprofessor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bayreuth.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

1.

Erklären und Erforschen: Die Ursachen der deutschen Inflation (1914–1923)

Quantitätstheorie und Geldmenge

Zahlungsbilanztheorie und Wechselkurse

Staatsdefizit und Reparationen

Akteursverhalten und Inflationserwartungen

2.

Der Weg in die Hyperinflation: Wirtschaftliche Bedingungen und politische Entscheidungen

2.1

Zerstörung und Knappheit: Die Bürde des Weltkriegs (1914–1919)

Der institutionelle Rahmen der Geldpolitik

Staatsanleihen und Verschuldung

Mangelernährung und Revolution

Die Kosten des Krieges

Die große Zumutung: Der Versailler Vertrag

2.2

Von der Öffnung zur Unruhe: Preissprünge und ein Putschversuch (1919–1920)

Die teuren Preise der freien Wirtschaft

Bedrohung von rechts: Der Kapp-Putsch

2.3

Stabile Fragilität: Zwischen Konferenzen, Schulden und Hoffnungen (1920–1922)

Das monetäre Auseinanderdriften in Europa

Die Stabilisierung in den USA, Großbritannien und Frankreich

Die Hyperinflation Polens

Zwischen Währungsstabilisierung, Staatsdefizit und Aufhebung der Deckungspflicht

Wirtschaftliche Auswirkungen der Währungsstabilisierung und Exportorientierung

Haushaltsdefizit und Aufhebung der Deckungspflicht

Das Londoner Ultimatum und die Reparationen als Anreizproblem

Reparationen und »Erfüllungspolitik«

Die Suche nach einem Ausweg im Winter 1921

Chance und Risiko: Die Konferenz von Genua

Mord an Rathenau

2.4.

Papiermarkflut und Dollarfokus: Die Hyperinflation (1922–1923)

Das Ende der Erfüllungspolitik im Herbst 1922

Panikstimmung: die Rolle des internationalen Kapitals

Der »innere Wert« des Geldes – und die letzte Möglichkeit der Stabilisierung

Der Einmarsch: Besetzung des Ruhrgebietes im Januar 1923

Motive für die Ruhrbesetzung aus französischer Sicht

Die Ruhrbesetzung aus deutscher Sicht

Das Verhalten des Auslands

Die Suche nach einem diplomatischen Ausweg

Situation im Ruhrgebiet

Finanzielle Situation und hilflose Gegenmaßnahmen

Die Zuspitzung Ende Juli 1923

Die Eskalation: Das Deutsche Reich im Spätsommer und Herbst 1923

Die Beendigung des passiven Widerstands

Höhepunkt der Hyperinflation und politische Eskalation

3.

Kreislauf des Geldes: Eine Sozialgeschichte der Inflation

3.1

Von der Reichsdruckerei in Berlin zu einem Münchener Unternehmen

Unternehmen als Profiteure der Inflation?

Anpassungsprobleme

3.2

Vom Lohnempfänger über die Händler aufs Land

Konflikte

Anpassungen

Das Problem des Lebenshaltungskostenindex

Die prekäre Situation der unteren Einkommensschichten

Staatliche Entlastungen und Selbsthilfe

Konsumentscheidungen und Hamstern

Hektik in der Hyperinflation

Vertriebswege und Preisbestimmung im Einzelhandel

Kontrolle und Wuchergesetze

Verhältnis zwischen Einzelhandel und Konsumenten

Verhältnis von Einzelhändlern und Großhändlern

Die Rechtsprechung zu Preisvereinbarungen

Das Verhältnis zwischen Stadt und Land

Das Zwangsabgabesystem

4.

Gewinnen und Verlieren

4.1.

Die spezifischen Folgen der Inflation

4.2.

Sparen, Schulden und Mieten

4.3.

Die Frage des Zeitbezugs

5.

Wann endete die deutsche Inflation?

5.1.

Rentenmark und Währungsreform

Die Rentenmark als Lösung des Problems

Die Währungsreform

5.2.

Die Aufwertungsfrage

5.3.

Ein deutsches »Inflationstrauma«?

Das Verschwinden der Zeit: Ein Fazit

Dank

Anmerkungen

Tabellen

Grafiken

Literatur

Einleitung

Im Juni 2021 konnte man bei Ebay einen Geldschein über 100.000 Mark für 6,68 Euro ersteigern. Die deutsche Reichsbank hatte die Banknote am 1. Februar 1923 gedruckt. Die postalische Reise zum Autor dieses Buches war das vorerst letzte Kapitel in der fast einhundertjährigen Geschichte des Geldscheins. Von solchen Geldscheinen aus dem Jahr 1923, wie sie auch das Cover dieses Buches zieren, gibt es viele. Manche von ihnen tragen aberwitzige Zahlen: fünfzig Milliarden Mark, fünfhundert Milliarden Mark, einhundert Billionen Mark. Man kann diese Scheine noch immer kaufen, verkaufen, seinen Enkelinnen und Enkeln zeigen, oder in Kisten auf dem Dachboden vergessen. Kaufen kann man mit ihnen nichts. Man kann sie nicht einmal zur Bank bringen und umtauschen. Die Scheine sind übriggeblieben aus einer Zeit, in der die Preise in Deutschland in unermessliche Höhen gestiegen sind. Für manche sind sie eine nette Erinnerung. Für andere sind sie noch immer eine Warnung. So etwas dürfe in Deutschland nie wieder passieren!

Vielleicht stammt der 100.000-Mark-Schein aus dem Nachlass des Schriftstellers Fedor von Zobeltitz. Dieser schrieb im Jahr 1924 in sein Tagebuch, er habe versucht, einen Überblick über seine »Papier-Unwerte« zu gewinnen: »Andre haben das nutzlos Gewordene verbrannt, Agrarier düngten ihren Acker damit, ein Sonderling benutzte es zur Tapezierung einer Räumlichkeit in seiner Wohnung, die man gewöhnlich nur heimlich besucht. Ich selbst konnte mich bisher von diesen reizenden Assignaten nicht trennen, ich will sie meinen Erben hinterlassen.«1 Zobeltitz nahm die Geldscheine zum Anlass, um einen kleinen Rückblick auf die Geschichte der deutschen Hyperinflation zu wagen. Bis Anfang 1922 sei der Tausender das höchste offizielle Wertzeichen gewesen. Danach habe »rasch die Hochflut« eingesetzt. Bei der Ausgabe der Fünftausendmarkscheine habe man schon ungefähr Bescheid gewusst. Bei den Fünfzigtausendern habe niemand mehr einen Schreck bekommen. Was habe denn da noch folgen können? Doch diese Einschätzung sei trügerisch gewesen. Mitte 1922 seien die ersten Millionenscheine durch die Luft geflogen, die man schon kaum noch beachtet habe: »Man wartete auf höhere Werte, und sie kamen; Zehn-, Fünfzig-, Fünfhundertmillionen-Scheine bis zu den Milliarden, und endlich traten die Billionen in Erscheinung bis zum Hundertbillionen-Schein, Zahlen, wie sie bisher den Astronomen vorbehalten gewesen waren und mit denen unsereiner auch nie umgehen lernte.«2

Für Zobeltitz waren die mit der Währungsreform von 1924 obsolet gewordenen »Papier-Unwerte« bereits Erinnerungsstücke, die keinerlei materiellen Wert mehr besaßen. Eine verlässliche Stütze des Erinnerungsvermögens scheinen die Geldscheine nicht gewesen zu sein. Denn dass man in der Weimarer Republik Mitte 1922 einem umherfliegenden Millionenschein keine Beachtung schenkte, ist zweifelhaft. Im Jahr 1922 hätte man sich im Sommer selbst mit 100 Mark noch ein Kilo Rindfleisch kaufen können. Mit einer Million Mark hätte man sich mit diesem damaligen Luxusgut theoretisch bis an sein Lebensende eindecken können.3

Zobeltitz trügerische Erinnerung verdeutlicht, mit welcher dramatischen Geschwindigkeit sich die Inflation im Deutschen Reich zwischen 1922 und 1923 entwickelte, so dass es den Zeitgenossen schon ein Jahr nach ihrer Beendigung schwergefallen sein muss, die Preisentwicklungen auch nur einigermaßen adäquat einzuordnen. Rückblickend war dies vielleicht gar nicht mehr so wichtig. Die deutsche Inflation schien bereits 1924 ein abgeschlossenes Kapitel der deutschen Geschichte zu sein. Das Leben ging weiter. Im Sommer des Jahres 1922 hätte sich Zobeltitz eine solche Indifferenz zwischen Tausendern und Millionen kaum leisten können. Noch im August 1923 beschwerte er sich darüber, wie er für ein Bier in Cuxhaven erst 25.000 Mark und dann wenige Stunden später schon 32.000 Mark hatte zahlen müssen. Auch hier wäre man mit einer Million noch recht weit gekommen. So lange die Inflation aber in Echtzeit ablief, stand auch ein Denker wie Zobeltitz fassungslos und ärgerlich wie alle anderen Deutschen vor den Preiserhöhungen der Inflation. Man musste auf sie reagieren. »Der Nerv des Verbrauchers«, so die zutreffende Beobachtung eines Historikers, »wird dann getroffen, wenn es ans Bezahlen geht.«4 Und bezahlen mussten die Menschen der Weimarer Republik im Zuge der Inflation immer häufiger. Dieser krasse Unterschied zwischen dem Erleben einer offenen Zukunft und dem Erinnern an ein abgeschlossenes Kapitel ist zentral, um die deutsche Inflation zu verstehen.

Dieses Buch erzählt die Geschichte der deutschen Inflation, die im Jahr 1914 begann und im Jahr 1923 als Hyperinflation innerhalb kurzer Zeit Höhepunkt und Ende erreichte. Es erklärt, weshalb die Deutschen zwischenzeitlich auch mit einem 100.000-Mark-Schein, und später selbst mit fünfhundert Milliarden Mark, kaum das Nötigste zum Überleben kaufen konnten. Es verdeutlicht, weshalb diese Geldscheine nach 1923 auf den Dachböden als Erinnerungsstücke ihr Dasein fristeten, um schließlich vier Generationen später bei Ebay verhökert zu werden. Noch 1913, zehn Jahre zuvor, hätte man mit 100.000 Mark auf dem Sparbuch zu den Reichsten des Landes gehört.5 Man hätte sich eine kleine Fabrik oder ein großes Mietshaus in Berlin davon kaufen können. Dann kam der Erste Weltkrieg, und mit ihm die Inflation. Anfang 1923 war dieses Geld fast nichts mehr wert. Im August hätte man sich noch drei bis vier Bier davon kaufen können, schon einen Monat später so gut wie nichts mehr. Wer sein Sparbuch zwischenzeitlich nicht angetastet hatte, konnte es wegwerfen.

Heutzutage befassen sich, so hat ein ehemaliger Präsident der Deutschen Bundesbank kürzlich festgestellt, viele Menschen »offenbar nur ungern mit wirtschaftlichen Themen, etwa weil sie ihnen zu kompliziert erscheinen«6. An einer mangelnden gesellschaftlichen Relevanz des Geldes kann es jedenfalls nicht liegen. Schon im Jahr 1900 hatte der Soziologie Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes eindringlich beschrieben, wie bedeutend die Auswirkungen des Geldes »auf das Lebensgefühl der Individuen, auf die Verkettung ihrer Schicksale, auf die allgemeine Kultur«7 waren. Aber erst die Inflation führte dies der deutschen Gesellschaft ganz deutlich vor Augen. Die zunehmende Geldentwertung zwang jede und jeden zum Handeln und zur Auseinandersetzung mit Geld und Preisen. Sie bestimmte Konsumentscheidungen und verkürzte Zeithorizonte. Die ganze Gesellschaft lebte, wie Stefan Zweig bemerkte, »intensiver und gespannter als je«8. Die Jahre zwischen 1914 und 1923 waren eine Zeit des Geldes. Die Inflation gab der deutschen Gesellschaft einen neuen Rhythmus. Nicht nur der Geldwert, auch das Zeitgefühl änderte sich.

Der Titel des Buches verweist auf die ungewohnt zentrale Bedeutung, die das Geld Anfang der 1920er Jahre für die Menschen in Deutschland im Alltagsleben erhielt. Zugleich fokussiert es auf die Bedeutung der Zeit für die Funktionsweise des Geldes.9 Der Zusammenhang von Zeit und Geld ist so offensichtlich und unumstritten, dass er immer wieder in Vergessenheit gerät oder gar nicht erst hinreichend problematisiert wird. Das gilt schon für die Bestimmung des Geldwerts selbst. Eine Inflation ist heute gleichbedeutend mit einem Verlust dieses Wertes. Aber dieser Verlust ist ein komplexes Zeitphänomen, dessen materielle und psychologische Folgen von den Zeiträumen abhängen, in denen sich dieser Verlust vollzieht. Nur so lässt sich erklären, dass die Funktion des Geldes als »Wertspeicher« bei einem kontinuierlichen aber nur geringen Geldwertverlust nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Die Funktion des Wertspeichers erlaubt es, sich durch den Geldbesitz von den Unwägbarkeiten der Preisentwicklungen auf den Märkten und der begrenzten Haltbarkeit vieler materieller Besitztümer freizumachen, sich alle Optionen für die Zukunft offenzuhalten.10 Wenn steigende Inflationsraten den Zeithorizont dieser Zukunft verkürzen, hat das gravierende Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft. In der Hyperinflation von 1923 löste sich dieser Zeithorizont fast vollständig auf.

Was erwarten Sie als Leserin oder Leser von einer Geschichte, die von einer totalen Vernichtung des Geldes handelt? Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Buch ist in der Tat eine Warnung. Es ist eine Warnung vor den sozialen Folgen einer Hyperinflation. Mehr noch aber ist es eine Warnung vor dem Missbrauch der Geschichte. Denn die deutsche Inflation der Kriegs- und Nachkriegszeit hatte ihre Gründe, die für ihre Beurteilung und die Lehren, die aus ihr zu ziehen sind, zentral sind. Eine Inflation um jeden Preis zu verhindern kann nicht die Lehre aus dieser Geschichte sein. Denn an den wirtschaftlichen Folgen einer rücksichtslosen Währungsstabilisierung wäre die Weimarer Republik vermutlich frühzeitig gescheitert.11 Es kann auch nicht die Lehre sein, aus dieser Geschichte heraus ein generelles Misstrauen gegen die Macht des Staates und seine Geldpolitik abzuleiten. Die Inflation resultierte nicht aus der Stärke der wechselnden Weimarer Regierungen, sondern aus ihrer Schwäche.

Der Anspruch dieses Buches ist es, den Leserinnen und Lesern den aktuellen Forschungsstand zur deutschen Inflation auf allgemeinverständliche Weise zugänglich zu machen. Zeit des Geldes soll ein Überblickswerk zur deutschen Inflation sein. Es berücksichtigt die neuere Forschung und erlaubt einen gezielten Zugriff auf zentrale Aspekte von Ursache und Wirkung. Das Ziel ist es weder, eine ganz neue Interpretation der deutschen Inflation zu wagen, noch die unterschiedlichen Forschungspositionen zu resümieren, sondern eine ganzheitliche Sicht auf die unterschiedlichen und zugleich zusammenhängenden Aspekte der deutschen Inflation zu bieten. Gleichzeitig zwingt jede historische Darstellung zu einer eigenen Schwerpunktsetzung, zu einem eigenständigen Narrativ. Es lässt sich in diesem Zusammenhang gar nicht bestreiten, dass die 2022 einsetzende Inflationsdynamik den Schreibprozess beeinflusst hat. Hohe Inflationsraten haben schon immer die historischen Forschungen zur deutschen Inflation geprägt, die nicht ohne Grund ihre Hochphase im Anschluss an die globale Inflation der 1970er Jahre hatte.12 An der Erklärung der historischen Zusammenhänge ändert ein solcher Kontext wenig. Er sensibilisiert aber sowohl für die materiellen Folgen und sozialen Probleme einer allgemeinen Teuerung als auch für die wirtschaftlichen Kosten einer rigorosen Geldpolitik, die in der Theorie immer so einfach scheint.

Kapitel 1: Erklären und Erforschen definiert den Begriff der Inflation, ordnet die unterschiedlichen Erklärungsversuche der Inflation in ihren zeitgenössischen Kontext ein und bewertet sie im Lichte der neueren Forschung. Wer mehr an dem historischen Verlauf der Inflation interessiert ist als an ihren theoretischen Hintergründen kann das Kapitel guten Gewissens überspringen. Das Kapitel soll es den Leserinnen und Lesern erleichtern, sich einen Überblick über die Faktoren zu verschaffen, die im Kontext einer Inflation allgemein Relevanz haben können: Geldmenge und Wechselkurse, Staatsdefizite und Inflationserwartungen. All diese Argumente diskutierten auch die Menschen in den 1920er Jahren, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen und »Schuldige« identifizieren zu können. Dabei ist das Ziel dieses Buches nicht, die eine »wahre« Ursache zu identifizieren. Ein Schwerpunkt dieses Buchs ist vielmehr der Versuch, die deutsche Inflation zwischen 1914 und 1923 als genuin historisches Phänomen zu begreifen, dessen Ursachenklärung gar keinen allgemeingültigen Zugriff erlaubt. So waren die entscheidenden Faktoren der Geldentwertung 1919 ganz andere als 1922 oder 1923. Das mag aus historischer Sicht trivial erscheinen, ist aber vor dem Hintergrund der ökonomisch geprägten Debatten zu Inflationsursachen von Bedeutung. In den Wirtschaftswissenschaften existiert nach wie vor die Tendenz, das Phänomen der Inflation mit zeitlosen Zusammenhängen von Ursache und Wirkung zu erfassen. Faktoren wie Geldmenge, Staatsdefizit oder Lohnentwicklungen begegnen uns hier als Erklärungsangebote für ein Gesamtphänomen, das aber gerade nicht nur eine Ursache besitzt.

Grafik 1: Verlauf der deutschen Inflation am Beispiel des Großhandelspreisindex, 1914 bis 1923 (1913=1)13

Der Großhandelspreisindex bildet die durchschnittliche Preisentwicklung der wichtigsten von den Großhändlern verkauften Waren im Zeitverlauf ab. Der Wert für das Jahr 1913 entspricht einer eins. Ein Indexwert von 50, wie er Anfang 1922 erreicht wurde, bedeutet folglich, dass die Preise zwischenzeitlich um das Fünfzigfache gestiegen waren. Eine Erhöhung des Großhandelspreisindex von 2 auf 10, wie im Jahr 1919, entspricht einer jährlichen Inflationsrate von 400 Prozent.

Um die Unterschiede im historischen Gesamtzusammenhang nachvollziehen zu können, gliedert sich Kapitel 2: Der Weg in die Hyperinflation in vier Etappen, die chronologisch die entscheidenden Zäsuren im Inflationsverlauf umreißen. Das erste Teilkapitel (Zerstörung und Knappheit) beschreibt die geldpolitischen Veränderungen des Ersten Weltkriegs und die von diesem Krieg ausgehenden Lasten für Europa und seine Gesellschaften bis zum Versailler Vertrag im Sommer 1919. Das zweite Teilkapitel (Von der Öffnung zur Unruhe) handelt von der kurzen aber turbulenten Phase bis zum Sommer 1920. In dieser Phase ermöglichte die langsame Wiedereingliederung des Deutschen Reichs in die Weltwirtschaft neue Konsummöglichkeiten, brachte aber auch eine Welle von Preissteigerungen mit sich. Die jährliche Inflationsrate in dieser Periode lag bereits bei rund 400 Prozent. Die politischen Turbulenzen endeten mit der Zerschlagung des Kapp-Putsches im März 1920, die Teuerungsunruhen im Sommer 1920. Dem folgte eine längere Phase der stabilen Fragilität, die bis zum Sommer 1922 reichte und im dritten Teilkapitel diskutiert wird. In diesem Teil werden die unterschiedlichen währungspolitischen Maßnahmen in Europa thematisiert sowie die deutschen Versuche der Haushaltskonsolidierung, die »Erfüllungspolitik« der Regierung Wirth und die zahlreichen internationalen Konferenzen von Spa bis Genua. In diese Phase fällt auch das berühmte Londoner Ultimatum, durch das die Siegermächte die Reparationssumme im Sommer 1921 erstmals konkretisierten. Wer einen Blick auf die Entwicklung der Inflation zwischen 1914 und 1923 in Grafik 1 wirft, wird sich über diese Periodisierung eventuell wundern. Schließlich stieg die Teuerung, die durch den Index der Großhandelspreise dargestellt wird, nach einem ruhigen Verlauf im Jahr 1920 bereits seit Ende 1921 scheinbar ungehindert an. Gegen Ende dieser Periode war die deutsche Gesellschaft erneut mit Inflationsraten von rund 400 Prozent konfrontiert. Trotzdem war in dieser Phase eine Stabilisierung der Mark noch greifbar. Sie scheiterte jedoch am Widerstand der konservativen Parteien und der deutschen Großindustrie.

Der Mord an Außenminister Walter Rathenau im Juni 1922 markiert den Beginn der Hyperinflation. Diese Phase vom Ende der Erfüllungspolitik über die Ruhrbesetzung bis hin zum stürmischen Währungsverfall im Sommer und Herbst 1923 beschreibt das vierte Teilkapitel (Papiermarkflut und Dollarfokus). Die Preissteigerung war so enorm, dass sie sich der grafischen Darstellung entzieht, sofern man nicht auf einen logarithmischen Maßstab zurückgreifen möchte. Ein solcher Maßstab ist aber ebenfalls problematisch, weil er die Preisentwicklung in einer Weise darstellt, welche die Zeitgenossen so nicht wahrgenommen haben. Ein zentrales Erlebnis der Inflation war je gerade, dass sie alle bekannten Maßstäbe des Geldes durchbrach.

Um den historischen Verlauf der Inflation und ihre ökonomischen Ursachen erklären zu können, ist eine Perspektive auf die »Eliten« der deutschen Gesellschaft in den 1920er Jahren notwendig. Im ersten Kapitel tauchen daher vor allem Politiker (keine Politikerinnen), Verwaltungsbeamte (keine Beamtinnen), Industrielle (auch alles Männer) und Zentralbanker auf. Denn das waren die Akteure, die Entscheidungen im Dunstkreis der in der Weimarer Republik noch immer zutiefst männerdominierten Währungspolitik treffen konnten, auch wenn die Revolution den Einzug erster Parlamentarierinnen in den Reichstag ermöglichte. Der Rest der Gesellschaft hatte kaum Einfluss auf die eigentlichen Triebkräfte der Inflation. Dennoch nahm die deutsche Gesellschaft zwangsläufig Anteil an der Inflation. Sie protestierte, sie stellte sich auf sie ein, sie erlebte und prägte sie. Sie entschied letztlich auch über den endgültigen Niedergang der Währung, die ohne das Vertrauen der Gesellschaft keine Daseinsberechtigung hatte. Aber das war nur das letzte Kapitel in der langjährigen Geschichte der Inflation. Der endgültige Vertrauensverlust bestimmte das Timing des Übergangs in die Hyperinflation, lässt sich aber kaum als Ursache werten. Wenn dieses Buch die Ursachen der Inflation als ein Elitenphänomen versteht, so gilt das für ihre sozialen Wirkungen und ihre Einordnung als historisches Phänomen gerade nicht. Beurteilungen der Inflation trieben eben nicht nur die öffentlich streitenden, meist männlichen Experten um, sondern bestimmten auch über die Wahrnehmungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung, über Ausmaß und Zielrichtung sozialer Konflikte sowie über politische Konsequenzen.

Ein weiterer Schwerpunkt des Buches liegt darin, die zeitgenössischen Wahrnehmungen, Deutungsversuche und Erlebnisse der Unternehmer, der Arbeitnehmer:innen, der Landwirte und der »einfachen Leute« in ihrem Umgang mit der Inflation zu berücksichtigen. Kapitel 3: Kreislauf des Geldes beschreibt unterschiedliche soziale Gruppen in der Inflationszeit, deren Beziehungen zueinander das Geld trug und vermittelte.14 Die Geschichten dieser Gruppen werden durch die fiktive Reise eines 100.000-Mark-Scheins im Frühjahr und Sommer 1923 miteinander verbunden. Diese Reise des Geldscheins beginnt in der Reichsdruckerei in Berlin, führt über eine große deutsche Bank in ein Münchener Unternehmen und in die Hände eines Lohnempfängers. Von dort wechselt das Geld in die Hände seiner Frau, die gegen die täglichen Unwägbarkeiten der Hyperinflation zu kämpfen hat. Im Anschluss wandert der Geldschein zum Einzelhändler um die Ecke, von dort zum Großhändler und schließlich zum Landwirt, der mit dem Geld seine Schulden bei der örtlichen Raiffeisenbank bezahlt, obwohl das Geld zwischenzeitlich fast seine gesamte Kaufkraft eingebüßt hat. Diese Reise ist fiktiv, wie auch die meisten Akteure, die in dieser Reise auftauchen. Das ist anders kaum möglich: Das Geld hinterlässt keine Spuren. Die fiktive Reise stellt den Versuch dar, die Verwobenheit der Wirtschaft durch den Geldtausch deutlich und anschaulich zu machen. Man kann die fiktiven (und entsprechend textlich abgehobenen) einleitenden Situationsbeschreibungen wie Szenen eines Drehbuchs lesen, das sich zwar an historischen Tatsachen orientiert, gleichzeitig jedoch eine dramaturgische Verdichtung darstellt, für die es keine tatsächliche historische Entsprechung gab.15 Sie sind lediglich ein Ausgangspunkt, von dem aus ein genauerer Blick auf die unterschiedlichen tatsächlich existierenden historischen Inflationserfahrungen von Industrieunternehmen, Landwirten, Haushalten und Banken geworfen werden soll, die in den jeweiligen Teilkapiteln diskutiert werden.

Kapitel 4 stellt die Frage nach den »Gewinnern« und »Verlierern«. Die deutsche Gesellschaft ist von der Inflation sehr unterschiedlich betroffen gewesen, vor allem in materieller Hinsicht. Die vermeintliche Zerstörung des Mittelstands durch die Inflation ist immer wieder als eine Art Ausgangspunkt und Wegbereiter des Untergangs der Weimarer Republik betrachtet worden. So simpel lagen die Dinge nicht. Denn die Frage der materiellen Betroffenheit entschied sich nicht allein an der sozialen Gruppenzugehörigkeit, sondern auch an den konkreten Vermögenswerten und den individuellen »Gegenmaßnahmen«. Zudem waren längst nicht alle sozialen Folgen der Inflation spezifische Folgen des Geldwertverlusts. Sie hätten in der von Armut, Knappheit und Ungleichheit geprägten Nachkriegszeit auch ohne die Inflation existiert. Schließlich stellt sich die Frage nach dem sinnvollsten Zeitpunkt einer entsprechenden »Bilanzierung« von Gewinn und Verlust. Die zum Zeitpunkt der Währungsreform 1924 eingetretene Verteilungswirkung der Inflation war nämlich keineswegs das Ende der Geschichte.

Das führt zu Kapitel 5. Das Kapitel stellt in drei Varianten die Frage nach dem Ende der deutschen Inflation: erstens die eigentliche Beendigung der Inflation durch die Rentenmark (Herbst 1923) und die Währungsreform (Sommer 1924); zweitens die Frage der »Aufwertung«, die den unterschiedlichen Verlierer:innen der Inflation eine Art Rückerstattung versprach und in den 1920er Jahren ein kontroverses Thema war; drittens schließlich die Frage nach der langfristigen Kontinuität der deutschen Inflation im Sinne eines »Traumas«, das die historischen Ereignisse der frühen 1920er Jahre mit unser heutigen Zeit verbindet. Ein abschließendes Fazit fasst die Erkenntnisse dieses Buches zusammen und fragt nach dem Platz der Zeit des Geldes in der deutschen Geschichte.

1.Erklären und Erforschen: Die Ursachen der deutschen Inflation (1914–1923)

Mitte Oktober 1923 kam eine Gruppe von Währungsexperten zu einer geheimen Sitzung im Reichswirtschaftsministerium zusammen. Neben dem Reichswirtschaftsminister Joseph Koeth und Finanzminister Hans Luther wohnten Ernst Wagemann und Hjalmar Schacht der Sitzung bei. Wagemann war ein angesehener Ökonom. Schacht, der bald darauf zum Reichsbankpräsidenten ernannt wurde, war zu dieser Zeit Reichswährungskommissar. In der Sitzung ging es um die Stabilisierung der Mark. Die Inflation hatte dramatische Ausmaße angenommen. Ein Liter Milch kostete am 10. Oktober 48 Millionen Mark, ein Brot 110 Millionen und eine Schrippe 4,5 Millionen Mark. Das berichtete die Vossische Zeitung, die an diesem Tag für 5 Millionen Mark zu haben war.16 Tendenz täglich steigend. Der Dollarkurs stand offiziell bei 2.900.000.000 Mark für einen Dollar und befand sich im freien Fall. Eine Woche später hatte sich die Zahl fast verdoppelt. Ende Oktober lag der Kurs bei 72.000.000.000 Mark. Die Zahlen waren nicht mehr greifbar, ein normales Arbeiten unter diesen Umständen kaum möglich. Die Beamten des Wirtschaftsministers verließen während der Arbeitszeit ihre Schreibtische. Sie versuchten, den gerade ausgehändigten Lohn durch irgendetwas auszutauschen, dessen Wert ihnen nicht direkt wieder in den Fingern wegschmolz. Dass schnell etwas getan werden musste, war allen Sitzungsteilnehmern klar. Zwischen den Anwesenden entstand jedoch schnell eine hitzige Debatte über die genaue Ausgestaltung dieses »Etwas«. Schacht empfand den Vorschlag, die geplante Rentenmark schon im kommenden Monat einzuführen, als zu früh. Wagemann warf ihm vor, die Inflation nicht verstanden zu haben. Der eitle Schacht sprang daraufhin auf und verließ die Sitzung.17 Wie konnte es sein, dass nach neun Jahren Inflation zwei ausgewiesene Experten sich noch immer so uneinig waren?

Der Begriff der Inflation bezeichnet im Alltagsgebrauch heute ein Ansteigen der Preise. Eine Inflationsrate von zwei Prozent etwa besagt, dass innerhalb eines Jahres der in Geld ausgedrückte Wert aller Güter und Dienstleistungen im Schnitt um zwei Prozent steigt. Wer also, vereinfacht gesprochen, am Jahresbeginn 100 Euro für den Konsum bestimmter Güter und Dienstleistungen ausgegeben hat, muss nun am Ende des Jahres 102 Euro für dieselbe Menge bezahlen. In der Hyperinflation von 1923 machte eine jährliche Inflationsrate, wie sie uns heute in den Nachrichten begegnet, wenig Sinn. Im Deutschen Reich betrug die Inflationsrate allein im Oktober rund 29.500 Prozent.

Ökonom:innen sprechen von einer Hyperinflation bereits dann, wenn die monatliche Inflationsrate »lediglich« bei über 50 Prozent liegt.18 Den Inflationsprozess tatsächlich zu messen ist jedoch kompliziert. In der Zeit zwischen 1914 und 1923 war allen Menschen klar, dass die Preise stiegen, auch wenn viele den genauen Grund nicht kannten und andere sich über die Ursachen stritten. Die Eindeutigkeit des Prozesses vereinfachte seine Messung und seine Erklärung jedoch keineswegs. Ein zentrales Problem war, dass die Preise auch während der Hyperinflation unterschiedlich stark stiegen. Im Oktober 1922 zogen beispielsweise die Preise für Käse und Butter im Vergleich zu den Milchpreisen stark an. Daraufhin gingen so viele Milchbauern dazu über, ihre Milch zu verarbeiten anstatt zu verkaufen, dass die Milchversorgung in Berlin kurzfristig zusammenbrach.19 Die unterschiedlichen Preisentwicklungen waren folglich nicht nur für die individuellen Konsummöglichkeiten bedeutsam, sondern zwischenzeitlich auch für die Versorgung ganzer Städte mit elementaren Lebensmitteln. Es ist sogar die These vertreten worden, nicht die hohen Preisanstiege an sich hätten der deutschen Gesellschaft in der Hyperinflation so zugesetzt, sondern die krassen Preisveränderungen der verschiedenen Waren zueinander.20

Um diese unterschiedlichen Trends der sogenannten relativen Preise und ihre komplizierten Wechselwirkungen auf eine simple Zahl von zwei, 10 oder 29.500 Prozent Inflation zu bringen, sind hochkomplexe statistische Verfahren und Annahmen nötig. Im Grunde geht es darum, einen allgemeinen Preistrend abzubilden, der die unterschiedlichen Preisentwicklungen einzelner Güter zusammenfasst. Dies kann beispielsweise ein Großhandelspreisindex sein, der die Preisentwicklungen auf der Ebene der Zulieferer für Metalle, Lebensmittel oder Kohle misst. Es kann ein Einzelhandelspreisindex sein, der abbildet, wieviel die Konsument:innen bei den Einzelhändlern tatsächlich für Milch, Käse und andere Güter im Durchschnitt zahlen müssen. Oder es kann ein Verbraucherpreisindex sein, der auch noch die Kostenentwicklung für Wohnung oder Energie berücksichtigt.

Diese Indizes sind nie deckungsgleich, weil die Preise zwar meist einem allgemeinen Trend folgen, individuell aber auch von unterschiedlichen Faktoren abhängen. Einzelhändler passen ihre Preise nicht so dynamisch an wie die Großhändler, so dass der eine Index dem anderen hinterherhinkt. Unternehmen, die keine Konkurrenz fürchten müssen, können ihre Preise leichter erhöhen als andere. Und der Preis eines Autos kann sich schon einfach deshalb verteuern, weil die Ersatzteile im Suez-Kanal feststecken, während sich gleichzeitig die Preise für Obst und Gemüse aufgrund einer guten Ernte verbilligen. Aus diesem Grund sind Inflationserfahrungen nicht nur individuell sehr unterschiedlich, wie heute auch das Beispiel von Gas und Benzin zeigt. Die Komplexität des Ursachengewirrs der Millionen von Preisänderungen bedeutet auch, dass die Erklärung für eine individuelle Preissteigerung – ob Milch oder Benzin – eine völlig andere sein kann als die Erklärung für den allgemeinen Preistrend.

Es ist vor dem Hintergrund der vielen möglichen Erklärungen gar nicht verwunderlich, dass die Zeitgenossen so leidenschaftlich über die »wahren« Ursachen der deutschen Inflation gestritten haben. Natürlich erklärten weder Wagemann noch Schacht die Hyperinflation mit gierigen Milchbauern oder ungünstigen Ernten. Schacht, eher Pragmatiker als Theoretiker, war Befürworter einer durch Gold gedeckten Währung. Er betrachtete die großzügige Bereitstellung von Zahlungsmitteln durch die Reichsbank als Ursprung allen Übels. Vor diesem Hintergrund zusätzliches Geld zu schaffen, wie es der Plan mit der Rentenbank vorsah, erschien ihm absurd. Der Theoretiker Wagemann konnte der Idee einer Golddeckung wenig abgewinnen. Für ihn lag der »Herd des Übels«21 in der Zahlungsbilanz, der Tatsache, dass die deutschen Zahlungen an das Ausland die Einnahmen seit dem Ersten Weltkrieg regelmäßig überstiegen. Die im Sommer 1922 einsetzende Hyperinflation sah Wagemann dagegen als eine Folge des allgemeinen Vertrauensschwunds in die Mark, der mit der Entwicklung seit dem Krieg zwar zusammenhing, mittlerweile aber eine eigene Dynamik entfaltet hatte. Die Rentenbank erfüllte aus seiner Sicht daher schon dann ihren Zweck, wenn sie der Gesellschaft eine vertrauenswürdige Alternative bot.22 Aber auch Schacht und Wagemann standen vor dem Problem, dass die Inflation der 1920er Jahre für sie kein abstraktes und zeitloses Theoriegebilde war, sondern sich als sehr konkretes und zeitbedingtes Phänomen vor ihren Augen abspielte.

Die Inflation war das Ergebnis eines Krieges, dessen Ausmaß an Zerstörung alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Dieser Krieg warf den alten Goldstandard über den Haufen und revolutionierte das Geldwesen des Deutschen Reichs grundlegend. Er brachte weltwirtschaftliche und -politische Verwerfungen, hohe Schulden und als demütigend empfundene Reparationen. Er führte zur Abdankung des Kaisers und zur Revolution. Er weckte Erwartungen bei vormals marginalisierten und machtlosen Teilen der deutschen Gesellschaft, die nun Forderungen an die Republik stellten, während die alten Eliten um ihren Einfluss kämpften. In diesem revolutionären Kontext der Nachkriegszeit verfiel der Wert der deutschen Währung. Die Zeitgenossen haben das nie als voneinander getrennte Entwicklungen betrachtet. Aber selbst die »Währungsexperten« verwiesen auf sehr unterschiedliche Aspekte dieses Kontextes, wenn sie die Ursachen der deutschen Inflation erklären wollten.

Die wichtigsten dieser Ursachen sollen im Folgenden diskutiert werden. Zu ihnen zählt erstens die steigende Geldmenge, die in den Überlegungen Schachts zum Ausdruck kommt und deren inflationäre Wirkung zeitgenössisch mit der sogenannten Quantitätstheorie erklärt wurde; zweitens die negative Zahlungsbilanz des Deutschen Reiches, die Wagemann als »Herd des Übels« ansah; drittens das Staatsdefizit, das die deutsche Regierung mangels Alternativen auf die Notenpresse verwies und viertens die Erwartungen der ökonomischen Akteure im In- und Ausland, die zunehmend skeptisch auf die Erholungschancen der deutschen Währung blickten und das Vertrauen in sie verloren.23

Quantitätstheorie und Geldmenge

Ursprünglich bedeutete Inflation im engeren Sinne das »Aufblähen« der Geldmenge, also die Vermehrung der im Umlauf befindlichen Zahlungsmittel: der Münzen, des Papiergelds, der für den Zahlungsverkehr geeigneten Bankguthaben.24 Es ist auf den ersten Blick naheliegend, allgemein steigende Preise mit einer gestiegenen Geldmenge zu erklären. In den Wirtschaftswissenschaften existieren seit langem einfache Gedankenspiele, die diesen Zusammenhang verdeutlichen sollen. Man stelle sich vor, aufgrund eines Zaubers hätten sich über Nacht die gesamten Geldbestände eines Landes verdoppelt: die Geldscheine in den Portemonnaies, Geldbüchsen und Tresoren ebenso wie die Kontostände. Was wäre die Folge? Da die verfügbaren Konsumgüter nicht in derselben Weise gestiegen seien, könne die Gesellschaft diesen neuen monetären »Reichtum« nicht für einen doppelt so hohen Konsum verwenden. Die Folge wären lediglich doppelt so hohe Preise: eine Inflationsrate von 100 Prozent über Nacht. In der »Realwirtschaft« – an der Menge an verfügbaren Gütern und Dienstleistungen – hätte sich nichts geändert.25 Materiell reicher im eigentlichen Sinne wäre niemand geworden.

Wie immer ist die historische Realität komplexer als in dieser »naiven« Quantitätstheorie. Seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs stiegen zwar sowohl die Geldmenge als auch die Preise. Über den Zusammenhang der beiden Größen ist damit aber wenig gesagt. Erstens stiegen Geldmenge und Inflationsrate im Zeitverlauf nicht gleichförmig. Während die Geldmenge während des Ersten Weltkriegs in Folge von Preiskontrollen schneller stieg als das Preisniveau, kehrte sich das Verhältnis nach Friedensschluss und Weltmarktöffnung bei weiterhin steigendem Trend um.26 Zweitens stellt sich die Frage nach den Kausalbeziehungen der beiden Faktoren. Auch wenn die Gedankenspiele der Quantitätstheorie meist zum Ausdruck bringen, dass die ausschlaggebenden Veränderungen auf der Geldseite zu suchen sind, so wäre es theoretisch denkbar, dass die Geldmenge lediglich als Folge der gestiegenen Preise zu verstehen ist. Das ist ein für das Verständnis der Ursachen der Inflation zentraler Unterschied. Die Quantitätstheoretiker der 1920er Jahre, zu denen Walter Eucken, Ludwig von Mises und der unter dem Eindruck der Inflation zur Quantitätstheorie konvertierte Albert Hahn zu zählen sind, glaubten nun aber in der Tat, dass in der Geldmenge der eigentliche Schlüssel für das Verständnis der deutschen Inflation lag.

Natürlich vergrößerte sich die Geldmenge im Deutschen Reich nicht einfach auf wundersame Weise. Wenn Quantitätstheoretiker die »Druckerpresse« für die Inflation verantwortlich machten, so meinten sie damit vor allem die laxe Geld- und Kreditpolitik der Reichsbank. Neues (Papier-)Geld entsteht – vereinfacht gesagt – durch die Bereitstellung von Zahlungsmitteln gegen Sicherheiten durch eine Zentralbank. Wie strikt oder lax die Geld- und Kreditpolitik war, hing von zwei Faktoren ab: einerseits die Bereitschaft der Zentralbank, bestimmte Wertpapiere überhaupt als Sicherheiten zu akzeptieren; andererseits die Höhe des Zinssatzes (Diskontsatz), mit dem sich die Reichsbank ihre Kreditvergabe »vergüten« ließ. Eine Erhöhung des Zinssatzes erschwerte tendenziell die Bereitstellung zusätzlicher Geldmittel. Dieser zweite Zusammenhang ist in Form des »Leitzinses« auch heute zentral für die Geldpolitik. Die Geldpolitik der Reichsbank zwischen 1914 und 1923 unter dem Reichsbankpräsidenten Rudolf Havenstein war in der Tat in jeder Hinsicht lax.

Der Hintergrund dafür war eine Einstellung, die ökonomisch als »Banking-Theorie« bezeichnet worden ist. Diese maßgeblich im England des 19. Jahrhunderts entwickelte Theorie geht davon aus, dass die »Befriedigung des Geldbedarfs […] die Folge der eingetretenen Preissteigerung« sei und nicht die Geldvermehrung die »Ursache der Preissteigerung«.27 Die Annahme aller möglichen zukünftigen Zahlungsversprechen als Sicherheiten und der stets weit unterhalb der Inflationsrate liegende Diskontsatz ermöglichten es sowohl dem Staat als auch privaten Unternehmen – ja verleiteten sie aus Sicht der Quantitätstheoretiker dazu – die »Druckerpresse« mit Hilfe der Reichsbank in Anspruch zu nehmen und dadurch die Geldmenge zu erhöhen. In der Propaganda des Ersten Weltkriegs verteidigten Unterstützer der Reichsbank deren Geldpolitik sogar mit dem Argument, dass die Preise gerade dann steigen würden, wenn die Reichsbank kein zusätzliches Geld bereitstellte. Die Lebenshaltung aller Bürger:innen würde »kostspieliger« als eine »Folge von Knappheit an Zahlungsmitteln«28. Stärker hätte man aus quantitätstheoretischer Sicht den Zusammenhang von Geldmenge und Preisen nicht verdrehen können. Albert Hahn kritisierte die Reichsbank 1924 mit den Worten:

»Es wird für den geldtheoretisch geschulten Fachmann immer eine der größten Unbegreiflichkeiten sein, wieso die Deutsche Reichsbank an einem unter Berücksichtigung der Geldentwertung viel zu niedrigen und zur rücksichtslosen Kreditexpansion geradezu herausfordernden Diskontsatz festhielt, durch Propagierung des Warenwechsels die Geldknappheit bekämpfte, dadurch die Kreditexpansion der Privatbanken auch für die Dauer möglich machte und bewirkte, daß eine Kreditrestriktion – das stärkste Gegenmittel gegen den Währungszerfall – nicht eintrat.«29

Unter der Annahme, dass insbesondere die Reichsbank bei einem besseren theoretischen Verständnis die Inflation hätte verhindern können, avancierte die Inflation zu einem Negativbeispiel verfehlter Geldpolitik. Damit verbunden war eine von Quantitätstheoretikern geführte akademische Generalattacke auf die deutsche Geldtheorie der 1920er Jahre, der durch Georg Friedrich Knapp Anfang des 20. Jahrhunderts begründeten »staatlichen Theorie des Geldes«. Die staatliche Theorie schenkte geldmengentheoretischen Überlegungen nur wenig Beachtung und betrachtete den Staat als machtvollen Währungsmanipulator.30 Auch Eucken, später Begründer der ordoliberal geprägten sozialen Markwirtschaft in der Bundesrepublik, begründete seine Kritik an der Reichsbank explizit damit, dass »in weiten und gerade auch in maßgebenden Kreisen irrige Anschauungen über die Grundfragen unseres Geldproblems vorherrschen.«31

Erster Adressat dieser Kritik war der für die deutsche Geldpolitik der Inflationszeit hauptverantwortliche Reichsbankpräsident Havenstein. Die Kritik irriger Anschauungen hätte Havenstein von sich gewiesen. Havenstein sah vielmehr den Handlungsspielraum der Reichsbank durch Faktoren limitiert, die außerhalb des Deutschen Reichs und damit jenseits der Kontrollmöglichkeiten der Zentralbank zu suchen seien. Diese Faktoren waren aus Sicht der Reichsbank durch den Krieg und dessen negativen Folgen verursacht. Sie lagen in der »Realwirtschaft« begründet und nicht in der Geldpolitik der Reichsbank.

Zahlungsbilanztheorie und Wechselkurse

Das Argument, Preissteigerungen in der »Realwirtschaft« – und nicht die Geldmenge – als eigentliche Ursache der Inflation zu verstehen, fand zeitgenössisch in der sogenannten Zahlungsbilanztheorie seinen Ausdruck. Der Ausgangspunkt des Arguments waren die hohen Preise, die das Deutsche Reich nach Ende des Ersten Weltkriegs für die notwendigen Importe an Lebensmitteln und Rohstoffen bezahlen musste. Die von den Konsument:innen zu zahlenden Preise für importierte Waren lagen stets deutlich über den Preisen für inländische Waren, schwankten aber auch mit den Wechselkursen. Anfang 1920 lagen die Preise von Importgütern aufgrund des schlechten Wechselkurses mehr als dreimal so hoch wie die Preise von inländischen Gütern. Im Sommer 1921 glichen sich die Preise dagegen nahezu an bevor sie im Herbst 1921 wieder auseinanderdrifteten.32 Diese hohen Preise für wichtige Güter schlugen sich direkt in der Inflationsrate nieder und bedingten – so die Zahlungsbilanztheoretiker – ein Ansteigen nicht nur der Rohstoffpreise, sondern auch der Löhne. Folglich bestand eine größere Nachfrage nach Zahlungsmitteln, welche durch die Reichsbank bereitgestellt werden mussten, um die Wirtschaft am Laufen zu halten.

Der unmittelbare Grund für die hohen Importpreise war also der ungünstige Wechselkurs der deutschen Währung gegenüber den Währungen der Länder, aus denen das Deutsche Reich seine Importe bezog. Die Zeitgenossen bezeichneten diesen als »Außenwert der Mark«. Die ungünstige Entwicklung und ihre Konsequenzen lassen sich am Wechselkurs des Dollars deutlich machen. Vor dem Ersten Weltkrieg musste ein deutscher Importeur, der Getreide aus den USA bezog, für Weizen im Wert von 100 Dollar 420 Mark bei der Reichsbank in Dollar umtauschen. Im Zuge des Krieges und der Handelsblockade, die nach dem Krieg bis zur Annahme des Versailler Vertrags im Juli 1919 aufrecht erhalten blieb, waren »freie« Importe aus den USA nicht möglich. Die Entwicklung des offiziellen Wechselkurses in dieser Zeit machte allerdings deutlich, dass für denselben Dollarwert Anfang 1919 bereits 820 Mark erforderlich gewesen wären. Da aber auch in den USA die Preise gestiegen waren, hätte der Importeur noch nicht einmal dieselbe Menge an Weizen erhalten.

Nach der weitgehenden Öffnung des internationalen Handels führte der hohe Importbedarf des Deutschen Reichs zu einer weiteren Verschlechterung des Wechselkurses. Denn freie Wechselkurse spiegeln (von einigen Ausnahmen abgesehen) die Außenhandelsbilanz zweier Länder. Wird mehr importiert als exportiert, übersteigt das Angebot der Währung des importierenden Landes die Nachfrage nach der Währung des exportierenden Landes, was sich dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgend negativ auf den »Preis« dieser Währung auswirkt. Das Deutsche Reich wies nahezu die gesamte Inflationszeit hindurch eine negative Handelsbilanz aus. Die Folge war eine zunehmende Verschlechterung des Wechselkurses der Mark, die zu weiter steigenden Importpreisen führte. Anfang 1920 kostete der Import von Weizen im Wert von 100 Dollar bereits 6480 Mark, Mitte 1922 über 100.000 Mark.33 Der Wechselkurs zwischen Mark und Dollar beeinflusste nicht nur die Höhe der Importpreise, sondern bildete Anfang der 1920er Jahre auch die Grundlage, um den Wertverlust der Mark in einen zeitlichen Bezug zur Vorkriegszeit zu setzen: die sogenannte Goldmark. Die Goldmark war eine reine Recheneinheit, die ungeachtet ihrer häufigen Nennung in Quellen und Forschungsliteratur niemals physisch existierte. Der in Goldmark ausgedrückte Preis ließ sich über den jeweils aktuellen Wechselkurs zum (goldgedeckten) Dollar im Verhältnis zum stabilen Wechselkurs der Vorkriegszeit von eins zu 4,2 berechnen.34

Selbstverständlich waren sich auch die Quantitätstheoretiker der 1920er Jahre des Wechselkursproblems bewusst. Für den Wechselkursverfall sei aber »maßgebend allein die Tatsache, ob und inwieweit eine Geldvermehrung stattgefunden hat«35. Die Argumentation der Zahlungsbilanztheoretiker bestand dagegen im Wesentlichen darin, das Ungleichgewicht der Außenhandels- bzw. Leistungsbilanz als notwendige und unabänderliche Folge der internationalen Situation nach dem Ersten Weltkrieg zu erklären. Die Situation zu Beginn der 1920er Jahre war jedoch nicht so unabänderlich wie von den Zahlungsbilanztheoretikern behauptet. Es gab insbesondere vor dem Beginn der Hyperinflation im Sommer 1922 auch aus Sicht der Zeitgenossen Handlungsspielräume, um den Verfall des Wechselkurses zu stoppen. Der damals im Verwaltungsapparat gut vernetzte und um eine Währungsstabilisierung bemühte Ökonom Moritz Julius Bonn etwa geißelte nicht nur die Ignoranz der Zentralbanker unter Havenstein, sondern auch den Einfluss der Großindustriellen. Als Reichskanzler Joseph Wirth ihm 1922 nahelegte, für eine Stabilisierung der Währung zunächst die Gunst des Großindustriellen und »Inflationsgewinnlers« Hugo Stinnes zu gewinnen, erwiderte Bonn nach eigenen Angaben. »Dafür gibt es nur einen Weg; lassen Sie ihn verhaften und wegen Hochverrats zur Rechenschaft ziehen.« Schließlich sei es, so bemerkte er in seinen Memoiren, »eine Art Hochverrat, die eigene Währung bewußt im Kurse zu drücken.«36

Die Entwicklung der Wechselkurse war aber auch nicht, wie die Quantitätstheoretiker behaupteten, lediglich eine Folge der gewachsenen Geldmenge und industrieller Machenschaften. Eine allein auf die Geldmenge fokussierte Perspektive droht die Frage aus den Augen zu verlieren, was denn konkret das Steigen der Preise erklären kann. Denn in der Zeit der Inflation spielten »reale« Außenhandelsentwicklungen, die Folgen des Ersten Weltkriegs und unkontrollierbare internationale Devisenspekulationen eben auch eine bedeutende Rolle. Angesichts der tiefgreifenden Einbettung der deutschen Wirtschaft in einen globalen Zusammenhang kam den Wechselkursen daher eine zentrale Bedeutung für die Erklärung der Inflationsdynamik zu. Trotz ihrer nationalen Besonderheiten lässt sich die deutsche Inflation ohne den spezifischen internationalen Kontext der frühen 1920er Jahre deshalb kaum verstehen, was in einer auf die Geldmenge fokussierten Perspektive schnell aus dem Blick gerät.

Was die Reparationen und die zahlreichen internationalen Verhandlungen zu Anleihen und Zahlungsbedingungen in Spa, Genua oder London betrifft, liegt das auf der Hand. An diesen Orten kamen die Vertreter (keine Vertreterinnen) der unterschiedlichsten Nationen in der Nachkriegszeit zusammen. Dort stritten sie ohne Erfolg über die Verteilung der finanziellen und materiellen Kriegslasten. Eine Darstellung dieser so wichtigen wie ernüchternden Treffen fehlt daher in kaum einer Darstellung der deutschen Inflation. Weniger im Fokus der Inflationsforschung steht dagegen die Tatsache, dass die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg ein gesamteuropäisches Phänomen war.37 Während Länder wie Großbritannien, die Niederlande oder Schweden dieser Inflation 1920 ein Ende setzten, stiegen die Preise in Frankreich, Italien oder Finnland noch so lange bis die meisten Sparer:innen auch in diesen Ländern mehr oder weniger enteignet waren. Nicht einmal die totale Geldentwertung der Hyperinflation war ein deutsches Spezifikum, sondern eine Erfahrung, die zur selben Zeit auch die neuen Staaten Österreich, Ungarn und Polen machen mussten.38 Vor allem den internationalen Handels- und Geldströmen in den 1920er Jahren kam eine entscheidende Rolle zu. Diese ließen sich trotz unterschiedlicher Maßnahmen kaum regulieren, beeinflussten den Inflationsverlauf aber auf entscheidende Weise. Die negative Handelsbilanz des Deutschen Reichs und eine große Aktivität auf den internationalen Devisenmärkten führten schließlich dazu, dass sich Anfang der 1920er Jahre große Bestände an Mark in den Händen internationaler Anleger befanden. Als Devisenspekulanten im Sommer 1922 kollektiv ihre Erwartungshaltung änderten, läuteten sie durch einen »sudden stop« eine kaum noch zu verhindernde Flucht von der Mark ein.39

Bis zum Ende der Hyperinflation blieb der schlechte »Außenwert« der Mark also ein wichtiger Inflationstreiber, auch wenn sich die Entwicklung nicht eins zu eins und vor allem nicht mit gleicher Dynamik auf das inländische Preisniveau übertrug. Weil die inländischen Preise dem Wechselkursverfall lange hinterherhinkten, war das Deutsche Reich »vom Ausland her gesehen ein Land vergleichsweise niedrigen Preisniveaus«40. Die Unterbewertung der Mark bedingte einen Wettbewerbsvorteil der deutschen Exportindustrie, die sich positiv auf den deutschen Arbeitsmarkt auswirkte. »Zu den wenigen erfreulichen Wirkungen der großen Inflation«, so stellte ein späterer Bundesbanker fest, »gehört die Tatsache, daß Deutschland in jenen Jahren […] eine im Vergleich mit anderen europäischen Ländern bemerkenswert geringe Arbeitslosigkeit zu verzeichnen hatte.«41 Diese für die Exportindustrie vorteilhafte Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung von Außenwert und inländischem Preisniveau verschwand im Zuge der Hyperinflation.

Zeitgenössische Ökonomen sahen in dem relativ stärkeren Wechselkursverfall einen klaren Beleg der Zahlungsbilanztheorie. Gegen diese These argumentierte 1931 der italienische Ökonom Costantino Bresciani-Turroni, dessen Arbeit 1937 ins Englische übersetzt wurde. Er konnte zeigen, dass keineswegs allein die negative Handelsbilanz für den schlechten Wechselkurs verantwortlich war, sondern auch spekulative Elemente, die sich auf politische und wirtschaftliche Entwicklungen im Deutschen Reich bezogen.42 Zu diesen »spekulativen Elementen« zählte die Kapitalflucht in ausländische Währungen, die das Angebot an Mark auf den Devisenmärkten erhöhte und dadurch ihren Wechselkurs negativ beeinflusste. Für den Wechselkurs relevant war aber auch die mit spekulativen Elementen zumindest indirekt verbundene Frage, in welchen Währungen die Im- und Exporteure ihre Geschäfte tätigten, ob also etwa US-amerikanische Exporteure Zahlungen in Dollar oder Mark forderten. Der »reinen« Währungsspekulation ausländischer Investoren kam eine vergleichsweise große Bedeutung zu. Allerdings sorgte diese bis ins Jahr 1922 hinein eher für eine Stabilisierung des Wechselkurses, da spekulative Investitionen in die Mark den durch die Kapitalflucht ausgelösten Währungsverfall abmilderten.

Quantitäts- und Zahlungsbilanztheorie waren im Kontext der zeitgenössischen Inflationserklärung zwei Extrempositionen, die jeweils einen wahren Kern enthielten, für sich genommen aber beide falsch waren. Die ökonomische Forschung vertritt mittlerweile nahezu geschlossen die These, die von deutscher Seite bevorzugte Zahlungsbilanztheorie sei als Erklärung unzureichend. Die Quantitätstheorie könne die Inflation – zumindest aus ökonomischer Sicht – besser erklären.43 Neuere Beiträge von Ökonomen gehen sogar so weit, die Inflation als wissenschaftlich wenig spannend abzutun, da sie sich »durch die Zunahme der Geldmenge gut erklären« lasse.44 Vor dem Hintergrund der stärker international orientierten Forschung zur deutschen Inflation ist diese Sichtweise korrekturbedürftig, weil sie die Frage von Ursache und Wirkung einseitig im Sinne der Quantitätstheorie entscheidet.45 Die geldpolitisch defizitäre Einstellung der Reichsbank war ohne Frage ein wesentlicher Faktor. Sie stand aber ihrerseits im Kontext globaler Einflüsse, die sich in den Wechselkursen niederschlugen und den Inflationsverlauf entscheidend prägten.

Staatsdefizit und Reparationen

Wenn Geldmenge und Zahlungsbilanz in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen eine wichtige und kontroverse Rolle spielten, ging es dabei nur vordergründig um die Ursachen der Inflation. Die Diskutanten spitzten den Streit auch deshalb auf geradezu unerbittliche Weise zu, weil es um den einen entscheidenden Faktor ging, dessen Identifizierung geeignete Maßnahmen zur Beendigung der Inflation ermöglichte. Die Anhänger der Zahlungsbilanztheorie hielten eine Stabilisierung für aussichtslos, so lange die Forderungen der ausländischen Gläubiger existierten. Die Anhänger der Quantitätstheorie kritisierten die großzügige Geld- und Kreditpolitik der Reichsbank. Ihrer Meinung nach hätte eine restriktivere Geldpolitik nicht nur das Preisniveau stabilisiert, sondern auch die Wechselkurse. Bezüglich eines weiteren zentralen Faktors der Inflation waren sich Quantitäts- und Zahlungsbilanztheoretiker jedoch weitgehend einig. Einen Ausgleich des Haushalts – zumindest eine massive Reduzierung der staatlichen Ausgaben oder eine Erhöhung des Steueraufkommens – hielten beide Seiten für eine wichtige Bedingung der Währungsstabilisierung. Für den deutschen Soziologen Franz Neumann, der in den 1940er Jahren für den US-amerikanischen Geheimdienst geheime Protokolle verfasste und später mit Behemoth ein Standardwerk zur Erklärung des NS-Staates vorlegte, lag die prinzipielle Ursache der Inflation der 1920er Jahre auf der Hand: »Die Hauptursache für die Inflation in Deutschland in den Jahren 1914-1923 war das Haushaltsdefizit.«46 Das Reichsbankdirektorium hatte dem Reichsfinanzminister schon 1919 mitgeteilt: »Daß das Anwachsen des Zahlungsmittelumlaufes zum größten Teil in dem Anwachsen der schwebenden Schuld seine Ursache hat, unterliegt keinem Zweifel.«47 Und auch der Quantitätstheoretiker Eucken sah vor allem in den »ungeheuren Ausgaben«, die dem deutschen Reichshaushalt nach 1918 aufgebürdet worden seien, den entscheidenden Grund. Diese konnten weder durch Steuern noch durch Schatzanweisungen gedeckt werden und so sei nur der Weg übriggeblieben, »zur Schaffung neuen Geldes zu schreiten«48.

Die zentrale Bedeutung des Haushaltsdefizits für die deutsche Hyperinflation ist in der historischen Forschung nahezu unumstritten und wirtschaftstheoretisch untermauert. Der Erste Weltkrieg führte zu einer Kostenexplosion, die angesichts mangelnder Steuereinnahmen zu einer massiven Überlastung des Haushalts führte. Die hohen Schulden konnten nur unzureichend durch langfristige Anleihen konsolidiert werden. Folglich finanzierten Reich, Länder und Kommunen ihre laufenden Ausgaben durch die Ausgabe von Kassenscheinen und Schatzwechseln, die in Folge der laxen Geldpolitik der Reichsbank unmittelbar in gesetzliche Zahlungsmittel umgewandelt werden konnten und die Geldmenge entsprechend erhöhten. Bis in den Sommer 1922 sah die Entwicklung des Haushaltsdefizits aufgrund neuer Steuergesetze und zwischenzeitlich niedriger Inflationsraten nicht einmal so schlecht aus. Ohne Zins- und Reparationszahlungen wäre der Haushalt zum Jahreswechsel 1921/22 ausgeglichen gewesen. Die Hyperinflation trieb die Zahlungsverpflichtungen des Staates aber viel schneller in die Höhe als die entsprechenden Einnahmen aufgetrieben werden konnten. Die Kosten des sogenannten »passiven Widerstands« in Folge der Ruhrbesetzung im Januar 1923 trieben das Defizit in neue Höhen und machten jede Aussicht auf eine Haushaltskonsolidierung zunichte. Den Zusammenhang von Haushaltsdefizit und Inflation bestritten auch die Zahlungsbilanztheoretiker nicht. Meinungsverschiedenheiten bestanden dagegen in der Frage der Handlungsspielräume. Die Reichsbank definierte diesen Handlungsspielraum ganz besonders eng. Sie hielt die Inflation für ein »zwangsläufiges Ergebnis von Fakten, an denen nun einmal nichts zu ändern sei«49.

Vor allem den Versailler Vertrag, der mit seinen Forderungen zusätzliche Belastungen im Außenhandel und Zahlungsverkehr zur Folge hatte, stilisierten die meisten deutschen Zeitgenossen als eine Art Grundübel. Daraus ergab sich für manche auch die Ablehnung der These, die Inflation allein auf quantitätstheoretischem Wege bewältigen zu können. Walther Rathenau attackierte die Idee als realitätsfern, so lange hohe Reparationsverpflichtungen existierten.50 Damit vertrat er so etwas wie die herrschende Meinung unter den Ökonomen und Politikern Deutschlands. Es ist allerdings wichtig zu betonen, dass sich die Reichsbank »in guter Gesellschaft«51 befand, wenn sie nicht daran glaubte, eine Stabilisierung allein durch geldpolitische Mittel bewerkstelligen zu können. Dass national-konservative Ökonomen wie Karl Helfferich die Situation des Geldwesens in der Nachkriegszeit ganz im Zeichen der »unerfüllbaren Kriegsentschädigung«52 sahen, ist wenig überraschend. Aber auch international so prominente Ökonomen wie Gustav Cassel und John Maynard Keynes bestätigten 1922 die Bedeutung des Reparationsproblems.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg eine Welle von Memoiren zur Inflationszeit über den Buchmarkt rollte, hatten die Reparationen für viele Autor:innen nichts an vermeintlicher Erklärungskraft eingebüßt. Walter Zechlin etwa, der Pressesprecher Eberts und Hindenburgs, führte die gesamte Inflation auf die Reparationen zurück, die mit der »Haß- und Siegespsychose der Franzosen«53 zu erklären seien. Auch der Ärger des späteren Bundesbankpräsidenten Wilhelm Vocke war selbst ein halbes Jahrhundert später noch nicht verflogen: »Die Tatsache der blinden Ausplünderung Deutschlands jahraus, jahrein durch eine nicht nur kurzsichtige, sondern verblendete Reparationspolitik der Sieger« schimpfte er 1973, »sie und nur sie allein bestimmte Ausmaß und Tempo der Entwertung.«54 Selbst spätere Wirtschaftshistoriker:innen betrachteten die Reparationen als wichtige, teilweise sogar als zentrale Erklärung für die Inflation.55

Die Dämonisierung des Versailler Vertrags als eigentliche Inflationsursache ist historisch nicht gerechtfertigt, jedenfalls nicht in ihrer simplen Variante.56 Letztlich schuf sich das Deutsche Reich seine »Wahrheit« einer unbezahlbaren Reparationssumme, indem es die Summe auch tatsächlich nicht zahlte.57 Bereits in den 1940er Jahren kritisierte Neumann in seiner Analyse der deutschen Inflation: »Die Reichsbank und die Bürokratie verhielten sich gegenüber dem Wertverlust der Mark ausgesprochen selbstgefällig. Der Wertverfall der Mark wurde als Beweis dafür akzeptiert, dass die Belastung durch den Friedensvertrag untragbar hoch war.«58 Bis in die tiefsten Verästelungen deutscher Politik und Verwaltung verhinderte der immanente Widerstand gegen die Reparationen eine konstruktive Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die Reparationen prägten sowohl die tatsächliche Ausgabenlast als auch – und das war entscheidender – den finanzpolitischen Gestaltungswillen. Insofern waren die Reparationen keine eigenständige Ursache. Sie waren vielmehr ein »Katalysator«, wie der Historiker Gerald D. Feldman festgestellt hat, der so etwas wie der Papst der historischen Inflationsforschung ist.59

Die Staatsverschuldung als eigentlicher Schlüssel für das Verständnis der deutschen Inflation rückte in der historischen Forschung Mitte der 1970er Jahre ins Zentrum, als eine Studie die geldpolitischen Maßnahmen Frankreichs, Deutschlands und Italiens hinsichtlich ihrer politischen Bedingungen und Folgewirkungen untersuchte.60 Ausgehend davon entwickelte sich ein Forschungsstrang, der primär die Verteilungswirkung der Inflation thematisierte und diese als (innen-)politisches Phänomen ernstnahm.61 In diesem Kontext rückten die (Groß-)Industriellen, die Arbeitnehmerschaft und die Landwirte als politische Interessengruppen in den Vordergrund, die eine effektive Bekämpfung der wohlfahrtsvernichtenden Inflation verhinderten, so lang sie von ihr profitierten. Um die beschränkte Handlungsfähigkeit der deutschen Regierung historisch verstehen zu können ist dieser Ansatz hilfreich. Insbesondere die einflussreiche Schwerindustrie sperrte sich gegen Versuche, die Steuern zu reformieren und die Währung zu stabilisieren. Für Arbeitnehmerschaft und Landwirtschaft lässt sich ein vergleichbarer Einfluss nicht nachweisen.

Akteursverhalten und Inflationserwartungen

Eine vierte Inflationsursache der 1920er Jahre – neben Geldmenge, Wechselkursen und Haushaltsdefizit – findet sich in dem Verhalten der ökonomischen Akteure. Hier sind vor allem die sogenannten Inflationserwartungen relevant, also die individuellen Schätzungen der Akteure zu zukünftigen Preisentwicklungen.

Viele Darstellungen über die deutsche Inflation weisen darauf hin, dass der Begriff der »Inflation« im Deutschen Reich vor den 1920er Jahren kaum bekannt war. Dies ist korrekt. Allerdings ist nicht klar, welche Bedeutung diese Tatsache für das ökonomische Alltagsverhalten tatsächlich hatte. Schon während der Inflation und in den unmittelbar danach veröffentlichten Reflexionen stieg der Vorwurf einer allgemeinen Ahnungslosigkeit zu einem Allgemeinplatz auf. Ein stellvertretender Regierungspräsident von Oberbayern urteilte wenige Wochen nach der Auseinandersetzung zwischen Wagemann und Schacht im Reichswirtschaftsministerium, die »falsche Beurteilung von Ursache und Wirkung der Inflation kennzeichne ›das Volk in seinen weitesten Kreisen bis hinein in die Kreise der Gebildeten‹«62. Der Ökonom Mises, der von einer weitverbreiteten Ignoranz der Deutschen überzeugt war, unterstellte sowohl den Unternehmern als auch der Öffentlichkeit eine umfassende Geldillusion, also eine Verkennung des wahren Kaufkraftverlusts ihrer Währung.63 Selbst Hans Fürstenberg warf seinem Vater Carl – immerhin einer der berühmtesten Banker des 20. Jahrhunderts – vor, »das Wesen dieser Inflation« nicht verstehen zu wollen.64 Auch Heinrich Brüning, zwischen 1930 und 1932 Reichskanzler der Weimarer Republik, behauptete später in seinen Memoiren: »Niemand durfte erwarten, daß die Masse des Volkes die Wirkungen der Ruhrbesetzung auf die Währung verstehen würde, wenn selbst Finanzminister die Lage erst nach dem völligen Zusammenbruch der deutschen Währung begriffen.«65

In der ökonomischen Theorie und der modernen Geldpolitik spielen Inflationserwartungen eine zentrale Rolle. Denn die meisten ökonomischen Entscheidungen werden mit einem Blick in die Zukunft getroffen. So kann die Erwartung steigender Inflationsraten dazu führen, den Kauf eines Autos vorzuziehen, während sinkende Inflationsraten vielleicht die Neigung zum Sparen verstärken. Im Zuge der ökonomischen Theoriebildung vor allem seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die Annahme verbreitet, ökonomische Akteure könnten den Inflationsverlauf auf Grundlage von Informationen über die Entwicklung der Geldmenge und des Zentralbankzinses »rational« antizipieren. Sieht man dies als Grundbedingung für Inflationserwartungen, so wäre die Kenntnis des Zusammenhangs von Geldmenge, Zinssatz und Inflation eine Voraussetzung für die zu beobachtende Inflationsdynamik.66

Auf Inflationstheorien und Kenntnisse der Geldmenge griffen die meisten Menschen der 1920er Jahre sicher genauso wenig zurück wie die Menschen heute. Klar ist auch, dass die Reichsbank in der Inflationszeit keine mit den heutigen Zentralbanken vergleichbare Rolle für das »Erwartungsmanagement« spielte. Sie passte ihre Zinssätze stets mit einer solchen Verzögerung an die Preisentwicklungen an, dass hiervon kaum nennenswerte Signale ausgehen konnten.67 Aber Inflationserwartungen lassen sich auf vielfältige Weise bilden. Die Preise beim Händler um die Ecke, die Entwicklung der Wechselkurse und die Debatten in den Zeitungen waren viel offensichtlichere Orientierungspunkte als der Diskontsatz. Und so bezeichneten die Menschen das Phänomen der steigenden Preise in den frühen 1920er Jahren nicht als Inflation, sondern als »Teuerung«, ohne dass man ihnen deshalb gleich eine völlige Verkennung der ökonomischen Sachlage unterstellen müsste. Wie auch immer die Inflationserwartungen entstanden, sie beeinflussten Konsumentscheidungen und wirkten sich auf Lohn- und Preisforderungen aus. In einer durch das Geld verbundenen Gesellschaft bleiben Entscheidungen unterschiedlicher ökonomischer Gruppen nicht isoliert voneinander, wie Kapitel 3 am Beispiel des Geldkreislaufs verdeutlicht. Für die Frage der Ursachen ist aber entscheidend, ob eine der Gruppen als tatsächlich treibender Faktor isoliert werden kann. In den zeitgenössischen Diskussionen gab es kaum eine Gruppe, die von solchen Anschuldigungen verschont geblieben wäre. Einzelhändler, die ihre Preise erhöhten, diffamierten weite Teile der Gesellschaft als inflationstreibende Wucherer, ebenso wie Landwirte, die ihre Produkte zurückhielten. Unternehmen nahmen sie als monopolistische Preisdiktatoren wahr, Gewerkschaften als dreiste Lohntreiber.

Mache Ökonomen haben die deutsche Inflation rückblickend zu weiten Teilen durch die Lohnforderungen seitens der Arbeitnehmer erklärt. In Erwartung steigender Preise hätten diese ihre im Zuge der Revolution von 1918 gewonnene Verhandlungsmacht genutzt, um überzogene und inflationär wirkende Lohnforderungen durchzusetzen. Die Lohnerhöhungen hätten die Unternehmen im Sinne einer »cost-push«-Inflation wiederum zu Preissteigerungen und einer zusätzlichen Kreditaufnahme genötigt.68 Diese These lässt sich angesichts realer Einkommensverluste der Arbeitnehmer:innen über weite Strecken der Inflation kaum bestätigen. Auch für die Unternehmen lässt sich zeigen, dass diese in ihren Erwartungen keineswegs die Inflation vorwegnahmen. Gerade die »Richtungsänderungen« wie die Trendwenden im Frühjahr 1920 oder im Sommer 1921, aber auch die zwischenzeitlichen Verschärfungen der Inflationsrate wurden von den Unternehmen »nicht erwartet«69. Ähnliches gilt für die Groß- und Einzelhändler, die zwar stark im Fokus der zeitgenössischen Kritik standen, letztlich aber nur als Mittler auf die wirtschaftlichen Umstände reagierten.

Es war nämlich keineswegs so, dass der Verlauf der Inflation an irgendeinem Punkt so eindeutig vorhersehbar war, wie dies rückblickend erscheinen mag. Der Inflationsverlauf war sprunghaft und dazu geeignet, »die Zeitgenossen immer wieder zu überraschen«70. Zudem glaubten die meisten ökonomischen Akteure – sowohl inländische Konsument:innen als auch ausländische Spekulanten – noch weit bis ins Jahr 1922 hinein an eine Stabilisierung der Mark. Man kann den Inflationsverlauf nicht verstehen ohne diese Hoffnungsschimmer, die vergleichbar sind mit den Hoffnungen auf ein endgültiges Ende der Corona-Krise, welche mit jedem Rückgang der Infektionswelle in den Jahren zwischen 2020 und 2022 verbunden waren. Wären die Deutschen schon 1920 überzeugt gewesen, dass ihre Währung nicht mehr zu retten war, hätte die Inflation eine völlig andere Dynamik entfaltet. Aber in den Jahren und Monaten vor dem Sommer 1922 gaben sich Hoffnung und Misstrauen die Hand und bestimmten die Inflationserwartungen.

Für die Erwartungsbildung spielten die Nachrichten aus der »großen Politik« eine wichtige Rolle, auch wenn sich die individuellen und kollektiven Erwartungs- und Verhaltensänderungen im Zeitverlauf nicht immer so klar bestimmen lassen. Aus Sicht der internationalen Anleger positive Ereignisse wie das Scheitern des Kapp-Lüttwitz-Putsches im März 1920 sorgten unmittelbar für eine starke Erholung des Wechselkurses (von 1:84 im März 1920 auf 1:60 im April). »Bad News« führten dagegen regelmäßig zu einem direkten Wechselkursverfall, wie die ernüchternden Ergebnisse des Londoner Ultimatums im Mai 1921 (1:62 auf 1:69 im Juni), die Ermordung Rathenaus im Juni 1922 (1:317 auf 1:493 im Juli) oder der Einmarsch französischer und belgischer Truppen ins Ruhrgebiet im Januar 1923 (1:18.000 auf 1:28.000). Neuere Studien argumentieren, dass insbesondere die mit den politischen Ereignissen verbundenen Unsicherheiten erklären können, welche Länder eine Hyperinflation heimsuchte und welche verschont blieben. Da hohe Staatsschulden nach dem Ersten Weltkrieg ein gesamteuropäisches Phänomen waren, die Hyperinflation aber auf das Deutsche Reich, Österreich, Polen und Ungarn beschränkt blieb, liege hier ein Schlüssel für das Verständnis der unterschiedlichen Entwicklungspfade.71

Für den deutschen Fall hat ein Historiker die These vertreten, dass die weitverbreitete »Flucht in die Sachwerte« im Sommer 1922, die mit dem endgültigen Verlust an einen Stabilisierungsglauben verbunden war, den Niedergang der Mark besiegelte.72 Das Konsum- und Preissetzungsverhalten der inländischen Akteure wäre seitdem zum eigentlichen Treiber der Inflationsdynamik geworden. Nicht weil sich die Akteure durch frühzeitige Lohn- und Preiserhöhungen gegenüber der Inflation schützen, sondern weil sie sich aufgrund eines Mangels an Vertrauen von der Mark trennen wollten. Analysen jüngerer Zeit bestätigen den Zeitpunkt des Übergangs in die Hyperinflation und die zentrale Rolle des Vertrauensverlusts. Sie legen allerdings den Schluss nahe, dass die eigentliche Ursache für den Übergang in die Hyperinflation nicht im Inland, sondern in den internationalen Kapitalmärkten und einem sogenannten »sudden stop« zu suchen sei.73 Nach dem Mord an Rathenau und den politischen Unruhen verloren die internationalen Anleger das Vertrauen in eine Stabilisierung der Mark, die ihnen große Gewinne beschert hätte. Innerhalb kurzer Zeit flossen solche Mengen an Geldkapital aus dem Deutschen Reich ab, dass angesichts des massiven Wechselkursverfalls auch im Inland der Glaube an die Mark endgültig verloren gehen musste. Die folgenden Stabilisierungsversuche kämpften erfolglos gegen diesen allgemeinen Vertrauensschwund in die Mark an, der sich mit jedem Preisanstieg noch vertiefte. Eine wirksame Stabilisierung war im Herbst 1922 nur noch durch eine neue Währung möglich.

Es hat also zu keiner Zeit an Erklärungsversuchen für die deutsche Inflation gefehlt. Die Forschung hat den zeitgenössischen Streit zwischen Quantitäts- und Zahlungsbilanztheorie meist als sich wechselseitig ausschließende Perspektiven aufgefasst. Das trifft jedoch nur dann zu, wenn man an Fragen nach Verantwortung, Handlungsspielräumen und Gegenmaßnahmen interessiert ist. Für ein Verständnis des historischen Inflationsverlaufs und seiner Ursachen ist eine unversöhnliche Gegenüberstellung der konträren Sichtweisen wenig weiterführend, weil sie die komplexen und sich ändernden Wechselbezüge von Geldmenge, Wechselkursen und Inflationsraten in den Hintergrund treten lässt, die Rolle von Erwartungen außer Acht lässt. Die deutsche Inflation lässt sich mit Hilfe theoretischer Ansätze besser verstehen. Erklären aber lässt sie sich nur historisch, und zwar als ein Weg, der in keinerlei Hinsicht vorgezeichnet war, sondern sich erst in der Kombination aus strukturellen Gegebenheiten und Entscheidungen zahlreicher Akteure im In- und Ausland herausbildete. Es war folglich ein langer und verschlungener Weg in die Hyperinflation, den das Deutsche Reich 1914 einschlug.

2.Der Weg in die Hyperinflation: Wirtschaftliche Bedingungen und politische Entscheidungen

2.1Zerstörung und Knappheit: Die Bürde des Weltkriegs (1914–1919)

Die Ursachen der deutschen Inflation liegen im Ersten Weltkrieg begründet. Das gilt mit Blick auf die nationalen wie internationalen Faktoren. Es gilt kurzfristig wie langfristig. Zwar hatte der Wertverlust der Mark gemessen an ihrer Kaufkraft bereits im späten 19. Jahrhundert eingesetzt. Angesichts einer durch große Goldfunde gestiegenen Geldmenge waren die Preise in allen Ländern des sogenannten Goldstandards seit etwa 1896 mehr oder weniger kontinuierlich gestiegen, so dass dieselbe Menge an Mark immer weniger kaufte. Deshalb gingen auch schon im Kaiserreich die Konsument:innen auf die Straße, um gegen die »Teuerungen« zu protestieren.74 Für die deutsche Inflation zwischen 1914 und 1923 hatten diese Preissteigerungen aber keine direkte Relevanz. Der Erste Weltkrieg schuf dagegen den institutionellen Rahmen, in dem sich die Inflation entfalten konnte. Er produzierte die immensen Kosten, für deren Bewältigung die junge Weimarer Republik schlecht gerüstet war. Und er hinterließ ein von Hass, Misstrauen und Nationalismus geprägtes Europa, von dem sich die USA 1920 abwandten und in dem pragmatisch und kooperativ denkende Menschen einen schweren Stand hatten.

Der institutionelle Rahmen der Geldpolitik