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Ena und Markus im Glück - doch leider währt es nur allzu kurz. Schon überrollen die Wirren des Zweiten Weltkriegs Deutschland und zerreißen die kleine Familie. Doch Ena lässt sich nicht unterkriegen. Gemeinsam mit Mutter und Schwester trotzt sie allen Gefahren und Schrecknissen, um ihren kleinen Sohn durch die schwierigen Zeiten zu bringen und auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Die Angst um Markus jedoch bleibt - nichts wünscht sich Ena sehnlicher, als wieder mit ihm vereint zu sein. www.ihr-lesevergnuegen.de
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Seitenzahl: 511
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I. KAPITEL
II. KAPITEL
III. KAPITEL
IV. KAPITEL
V. KAPITEL
VI. KAPITEL
VII. KAPITEL
VIII. KAPITEL
IX. KAPITEL
X. KAPITEL
XI. KAPITEL
XII. KAPITEL
XIII. KAPITEL
XIV. KAPITEL
XV. KAPITEL
XVI. KAPITEL
XVII. KAPITEL
XVIII. KAPITEL
XIX. KAPITEL
XX. KAPITEL
XXI. KAPITEL
XXII. KAPITEL
XXIII. KAPITEL
XXIV. KAPITEL
XXV. KAPITEL
XXVI. KAPITEL
XXVII. KAPITEL
XXVIII. KAPITEL
XXIX. KAPITEL
XXX. KAPITEL
XXXI. KAPITEL
XXXII. KAPITEL
Ena mit ihren 156 cm, dem dunklen leicht gewellten Haar, die Frisur der Mode angepasst, den dunkelbraunen Augen und ihrer hübschen, schlanken Figur war eine wahre Frohnatur in den allerbesten Jahren. Sie lachte gern und viel, ihre gute Laune steckte an.
Lesen – ja, irgendein Buch war sie immer am Lesen.
Ena unterhielt sich sehr gern und oft, sie war eine wunderbare Erzählerin.
Ihr zuzuhören, war eine wahre Wonne, mit ihrer melodischen Stimme verstand sie es blendend, spannende Akzente zu setzen und damit ihre Zuhörer zu fesseln.
***
Die politische Lage 1939 hatte die Menschen fest im Griff und nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa und weitgehend die Welt.
Der große Schock kam noch in diesem Jahr – Kriegsbeginn, der Zweite Weltkrieg begann.
Noch wusste niemand oder ahnte es im Entferntesten, dass dieser Krieg fast die gesamte Welt in Unglück und Chaos stürzen würde. Schlimmer als jede Vorstellung.
Deutschland überfiel Polen am 01.09.1939.
Vorausgegangen war bereits der Anschluss Österreichs an das sog. Dritte Reich mit dem Einmarsch der Wehrmacht am 11./12. März 1938.
***
Ena versuchte so gut, wie es eben möglich war, ihr Leben zu leben, sie war kein überaus politischer Mensch, aber die gesamte Situation machte sie höchst unzufrieden, zumal sie zwangsverpflichtet wurde, an der Kasse in der U-Bahn-Station am Alex Fahrkarten zu verkaufen.
Unvorhersehbar sollten Enas neue Lebensumstände ihr Leben komplett umkrempeln.
Das Kassenhäuschen kurz vor den Rolltreppen nach unten zu den Gleisen war so klein, dass kaum zwei Leute hineinpassten, die Eingangstür durfte nicht offen sein und das kleine ovale Fenster ließ kaum frische Luft hinein, sofern es sie hier im Unterirdischen gab.
Ungeduldig schaute Ena auf die große Bahnhofsuhr, schon fast automatisch kassierte sie, gab die Fahrkarten aus – danke – bitte, der Nächste. Ein weiterer Blick auf die Uhr an der Rolltreppe – noch fünf Minuten, hoffentlich kam die Ablösung pünktlich um 17.00 Uhr. Trinchen kam schon öfters mal etwas später.
Außer Atem kam sie angerannt, zehn Minuten zu spät, hoffentlich hatte es der überkorrekte Oberaufseher nicht mitbekommen.
Ena schlüpfte schnell in den leichten hellbeigen Frühlingsmantel und hoffte auf angenehme Temperaturen. Es war schließlich Mai, der Monat ihres Geburtstags. Tatsächlich war es herrlichster Sonnenschein, als sie oben ankam, und angenehm warm.
Die Spatzen zwitscherten um die Wette mit dem Gelärme der Straßenbahnen, die mit lautem Gequietsche und Gekreische um die Kurven schliffen in Richtung Prenzlauer Allee.
Beschwingten Schrittes, mit einem Lächeln im Gesicht erreichte Ena gerade noch die eine Bahn, und sprang auf die Plattform. Schon war der Schaffner da. »Na, junge Frau, hamset eilich, passense ma uff, det is janz schön jefährlich, det nächste Mal warten se uff de nächste Bahn, wa?« Mit ihrem ganzen Charme lächelte sie ihn an. »O ja, Herr Schaffner, ganz bestimmt, tut mir sehr leid«.
»Na, denn zahln se ma, und jut is – danke.« Und er wandte sich dem nächsten Fahrgast zu.
Ratternd und schniefend kam die Tram und mit ihr Ena auf dem noch schnell ergatterten Platz auf der Holzbank mit ihren langen, schmalen, ungemütlichen Latten ihrem Ziel entgegen.
In Gedanken war sie schon bei ihrer Mutter in der kleinen Kneipe gegenüber der Immanuel-Kirche. Alfriede, Friedchen genannt, half hier regelmäßig aus. Sie putzte, bediente, schenkte aus, wusch die Gläser, manchmal kochte sie. Sie war auch eine hervorragende Schneiderin, in kürzester Zeit konnte sie die modisch schönsten Kleider, Röcke und Blusen nähen, nicht nur für die Familie, auch für Freunde und Nachbarn, für einen kleinen Zusatzverdienst.
***
Friedchens erster Mann, Franz Schmidt, der Ena adoptiert hatte und im sozialen Bereich arbeitete, war schon Mitte der Zwanzigerjahre verstorben.
Sie heiratete 1931 wieder, den Violinisten Heinrich Giebel, der 1936 an einem Krebsleiden verstarb.
***
Die dreizehn Jahre junge Margot, Enas Tochter aus ihrer ersten geschiedenen Ehe, sah entzückend aus in den von Oma Friedchen genähten Sachen.
Margot lebte bei ihrem Vater, durfte aber, wann es ihr passte, ihre Mutter und ihre Oma besuchen.
Margot, die sich musikalisch prächtig entwickelte, nahm ihr Talent wahr. Sie absolvierte später ein Musik- und Gesangsstudium.
Endlich war Ena am Ziel, kurz vor der Haltestelle streckte sie sich mühselig in die Länge, soweit sie konnte, zog oben an der Decke der Bahn die lange Lederschnur mit einem Ruck nach unten, die Glocke erklang, was den Fahrer veranlasste, an der nächsten Haltestelle zu halten.
Noch im Fahren kurz vor dem Halt sprang sie von der Plattform.
Kaum hatte sie die mit kleinen Butzenscheiben versehene Kneipentür aufgezogen, erblickte sie auch schon ihre Mutter. »Na endlich, Kind, wo bleibst du denn, kommst aber spät, was?«, erschallte es laut in ihrem unverkennbaren Konitzer westpreußischen Dialekt.
***
Als Tochter eines Konzertmeisters, wie es damals noch hieß, musste Friedchen wie jedes ihrer restlichen elf Geschwister ein Instrument lernen. Für sie blieb allerdings nur noch der Kontrabass übrig, hinter dem sie beim Üben fast verschwand.
Friedchen, zwanzig Jahre jung, noch im Haus der Eltern lebend, verliebte sich Hals über Kopf in einen Konzertgeiger aus dem Orchester ihres Vaters. Aus dieser ersten großen Liebe entstand Ena, die 1907 zur Welt kam. Der Konzertgeiger allerdings verschwand aus ihrem Leben ebenso schnell, wie sie sich kennengelernt hatten.
Ihre Eltern, aber hauptsächlich ihr Vater, der Konzertmeister, konnten mit dieser »Schande« nicht leben und schmissen Friedchen samt ihrer unehelichen Tochter Ena aus dem Haus.
Sie zahlten ihr noch die Bahnfahrt nach Berlin und versorgten sie mit einem kleinen Geldbetrag. Sowohl ihr Bruder Hans und ihre Schwester Else, die schon vor einiger Zeit aus eigenem Entschluss nach Berlin gegangen waren, unterstützten sie in dieser schweren Zeit.
Friedchen hatte Glück. In Berlin sie fand eine gute Stellung als Hausmädchen bei einer schon etwas aufgeklärteren Familie, die großes Verständnis für sie aufbrachte.
Sogar ihre kleine Ena durfte sie bei sich behalten.
Gerade um diese Zeit, die Jahrhundertwende 1900, gab es große Zuwanderung nach Berlin, speziell aus den Ostgebieten wie Westpreußen, Ostpreußen, Pommern etc.
Friedchen liebte klassische Musik, sie spielte weiterhin – sie und auch Ena nahmen später Klavierunterricht.
***
Ena sog die Kneipenluft ein und die Lust auf eine Zigarette überfiel sie regelrecht.
»Mutti, hast du was zu rauchen?« Friedchen blickte sie erstaunt an. »Hast du es vergessen? Ich rauche doch nicht mehr.«
Während Ena sich umschaute, registrierte sie die dämmerige Atmosphäre, die glänzenden dunklen Holztische, den blank geputzten Tresen aus Edelstahl mit den silberfarbenen Zapfhähnen mit dem großen Spiegel im Hintergrund.
Unterdessen erinnerte sie sich daran, dass heute ein Maler da sein sollte, um zu streichen. »Ist denn der Maler da? Vielleicht hat der ja was zu rauchen?« Friedchen überlegte. »Jaaa, vielleicht, er ist hinten im Gartenlokal, er streicht gerade die hässlichen grauen Balken.« Sie zwinkerte ihr zu. »Übrigens, der sieht richtig, richtig gut aus – groß, breitschultrig, ein Bild von einem Mann.«
Vollkommen uninteressiert an dem Maler fragte sie: »In welcher Farbe denn?«
»Hm, ich glaube, es ist so ein Beigeweiß.«
Ena, in Gedanken nur an Zigaretten denkend, öffnete die Gartentür, sah ihn auf der Leiter stehen mit einem Farbpinsel in der Hand.
Innehaltend in seiner Bewegung, schaute er Ena mit einem Lächeln an. »Guten Tag, schöne Dame, was machen Sie denn hier, möchten Sie etwa helfen?«
Seine freundliche, tiefe Stimme ließ sie im Moment alles um sich herum vergessen. Wie hypnotisiert sah sie ihn an.
Ihr Atem beschleunigte sich, ihr Herz klopfte bis zum Hals, sie wurde puterrot und eine Gänsehaut überlief sie vom Kopf bis in die Zehenspitzen.
»Wa-wa-was ma-ma-machen Sie da?« Mehr brachte sie stotternd nicht heraus.
»Wie Sie sehen, ich streiche, muss ja von irgendwas leben, ist nicht so einfach heutzutage. Wer sind Sie denn überhaupt? Ist die Kneipe schon offen? Der Garten ist heute aber geschlossen.«
Ena stammelte: »Ehhh –Schmidt, ich bin die Tochter.« Sie zeigte mit der Hand in Richtung Tür zum Gastraum.
»Die Tochter? Von wem?« Einen weiteren Pinselstrich ausführend. »Von der Chefin?« Sie wieder abschätzend anblickend.
»Nein, nein Friedchen ist meine Mutter.«
»Oh – aha, schöne Dame, ein großes Lob an Ihre Mutter für solch eine reizende Tochter. Ena habe ich noch nie gehört, ist ja ein exotischer Name!«
Um Fassung ringend schaute sie zu ihm auf. Mit einem verlegenen, leicht neugierigen Lächeln erwiderte sie: »Wo sie meinen Namen herhat, weiß ich auch nicht, das haben mich schon viele gefragt. Aber so exotisch ist mein Name nun auch wieder nicht und ich bin es schon gar nicht. Ich glaube, Ena war eine deutsch-englische Prinzessin, ich denke, sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts geboren.«
Vorsichtig stieg er die in allen Fugen knarrende, knorrige Leiter hinab, in der linken Hand den Farbtopf, mit der rechten sich krampfhaft an den Leitersprossen festhaltend.
Die Malermütze kess schräg aufgesetzt, sah er sie strahlend an. Nun aufgerichtet zu seiner vollen Größe überragte er sie mindestens um Haupteslänge.
»Also, ich heiße Markus – Markus Wistler, nichts Historisches, geschweige denn Exotisches. Aber alt ist er, zumindest der Name Markus.«
So stand er nun vor ihr in Malerkleidung, mit eierschalfarbener Farbe bekleckst, fast einem futuristischen Kunstwerk gleich. Er lächelte ein wenig verlegen, als ob er nicht genau wüsste, was er sagen sollte.
Ena richtete sich zu ihrer vollen Größe auf in der Hoffnung, nicht allzu klein zu erscheinen.
Der leichte, weitgeschwungene beige Sommermantel öffnete sich dabei ein wenig und der im Farbton passende, bis knapp über die Knie gehende figurbetonte Rock mit der geblümten, schicken eng anliegenden Bluse brachte ihre hübsche, schlanke Figur hervorragend zur Geltung.
Jetzt etwas sicherer schaute sie ihn lächelnd an. »Haben Sie noch sehr viel tun? Wann sind Sie denn fertig hier?«
»Das weiß ich nicht genau, aber bis morgen Abend werde ich es bestimmt schaffen, warum fragen Sie?«
»Eigentlich nur so«, entgegnete sie.
Markus schaute sie offen an. »Am Freitag habe ich einen Vorstellungstermin wegen einer neuen Stelle. Auf keinen Fall darf ich das versäumen, wenn ich die nicht bekomme, wer weiß. Als Arbeitsloser bekomme ich dann gleich den Einberufungsbefehl zur Wehrmacht. Einigen meiner Freunde erging es schon so.«
***
Deutschland war hochgerüstet. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, und nicht nur die, schauten mit immer größerem Misstrauen in Richtung Berlin.
Berlin aber zeigte sich unbeeindruckt mit seiner militärischen Stärke und ließ mit seinen Drohungen keinen Zweifel daran, seine Forderungen wie auch immer durchzusetzen.
Viele Menschen verschlossen die Augen, ließen die Welt sein und kümmerten sich nur noch um sich selbst und ihre eigenen Belange.
Andere wiederum erkannten zum Teil, was um sie herum geschah, ahnten es oder wussten es aus Gesprächen und Diskussionen mit Vertrauten. Ein ungezwungenes und freies Leben zu führen, war nicht mehr möglich.
So erging es auch Markus, er konnte und wollte sich nicht mit der politischen Situation und diesem Regime abfinden. Seine Art, über vieles zu reden und zu hinterfragen, hatte ihn schließlich um seinen Arbeitsplatz gebracht.
***
»Ja, Herr Wistler, ich wünsche Ihnen für übermorgen alles Gute und viel Glück, dass Sie die neue Stelle bekommen.«
Unschlüssig blickte sie herum, sich dann wieder Markus zuwendend, und etwas zögernd: »Ja, dann auf Wiedersehen, war sehr nett.«
»Bitte einen Moment noch, ehh, darf ich Sie Ena nennen?« Verwundert blickte sie ihn an, die Abendsonne spiegelte sich dabei in ihren wunderschönen braunen Augen und ließ ihr kastanienbraunes Haar in einem sonnigen Glanz erstrahlen.
Nach einem Moment des Zögerns: »Na gut, warum nicht – bitte sehr.«
»Ena, ich würde – ich möchte Sie sehr gerne wiedersehen. Übermorgen, am Freitag, habe ich den Termin, aber am Sonnabend, da bin ich frei. Bitte, könnten wir uns dann treffen? Ich würde einen Tisch für uns um vier Uhr im Café Kranzler reservieren.« Mit einem gewinnenden Lächeln sah er sie an.
***
Das Café Kranzler am Ku’damm war zu jener Zeit ›DAS CAFÉ‹ in Berlin, wahnsinnig beliebt. Einen Tisch zu ergattern, war äußerst schwierig und nur mit Reservierung möglich. Sonnabend und Sonntag wurde nachmittags ab vier Uhr zum äußerst beliebten Tanztee eingeladen.
***
Etwas unsicher verharrte sie einen Moment, blickte ihn an, zögerte.
Mit etwas festerer, sicherer Stimme erwiderte sie: »Schauen Sie, das kommt alles so plötzlich, ich weiß nicht so recht, am Sonnabend? Hm, eigentlich habe ich ja so nichts Richtiges vor – gut, warum eigentlich nicht?«
»Wunderbar, Ena, dann sehen wir uns am Sonnabend um vier?«
Ena nickte. »Dann bis Sonnabend.« Damit verabschiedete sie sich und verschwand in der Gaststätte.
Etwas verdutzt schaute Markus ihr hinterher, stieg die knarrende Leiter wieder hinauf, den Pinsel und Farbtopf in einer Hand tragend.
Glücklich in sich hineinlächelnd, setzte er in Gedanken, trotzdem konzentriert, seine Arbeit fort.
Zurück in der Gaststube sah Friedchen Ena an. »Na, wie findest du ihn, den Maler, sieht er nicht fantastisch aus?«
Etwas verloren in eine nicht definierbare Ferne blickend, erwiderte sie: »Ich weiß nicht, ich bin total durcheinander. Du wirst es nicht glauben, wir treffen uns am Sonnabend im Kranzler.«
»Kind, ich habe es gewusst, ich freue mich so sehr für dich, wie lange bist du nun schon allein?«
Ena schloss die Kneipentür hinter sich, inhalierte die frische, warme, nach Blüten duftende Maienluft mit einem tiefen Atemzug. In den blauen Himmel blickend, blieb sie mit glänzenden Augen und einem undefinierbaren Lächeln stehen, ging dann langsamen Schrittes auf dem breiten Bürgersteig die Prenzlauer entlang Richtung zu Hause.
›Ja, wie lange bin ich nun schon allein?‹
Ungewollt versank sie in Erinnerungen – zurück an die so schnell vergangenen Jahre, als wäre alles gestern gewesen.
1924 mit jungen, unerfahrenen, neugierigen siebzehn lernte Ena den flotten, weltgewandten, aber wesentlich älteren Ewald kennen – es kam, wie es kommen musste.
1925 kam ihre Tochter Margot zur Welt. Bald darauf heirateten sie und zogen in eine kleine Wohnung in der Schönhauser Allee. Nicht lange danach, keine fünf Jahre später, ging die Ehe in die Brüche und sie ließen sich scheiden.
Margot wuchs fortan bei ihrem Vater auf, der mit seiner Tochter wieder in sein Elternhaus einzog.
Ena richtete sich bei ihrer Mutter und Schwester Hanna in der Prenzlauer Allee ein.
Der Wunsch ihrer Mutter, dass sie später Musik studierte, hatte sich leider nicht erfüllt. Durch die Weiterführung ihres Klavierunterrichts spielte sie inzwischen hervorragend Klavier. Sie konnte sich dadurch sogar ein kleines Taschengeld verdienen.
***
Die Stummfilmzeit war voll im Gange, alle möglichen Themen wie Kriminal-, Liebes-, Lustspiel-, Historienfilme wurden in kleinen, gemütlichen Kinos wie in der Flohkiste an der übernächsten Ecke gespielt. Z. B. 1921 von Charlie Chaplin »Der Vagabund und das Kind« – 1924 »Die Nibelungen: Kriemhilds Rache« und 1921 »Der müde Tod« von Fritz Lang mit Lil Dagover – 1922 »Nosferatu« von F. W. Murnau mit Max Schreck und Gustav Botz.
Ein sehr wichtiges Detail in den Kinos der Stummfilmzeit war das Klavier, das seitlich schräg am Rand der Bühne platziert wurde, um nicht den Blick zur Leinwand zu stören.
Der Pianist, die Pianistin mit scharfem Blick zur Leinwand hin, auf der die wie im Zeitraffer schwarz-weiß verschwommene, bewegte Bilder erschienen – wie von Geisterhand auf einem flackernden Lichtstrahl hingezaubert.
Die Schauspieler zogen Grimassen, man sah sie sprechen, schreien, singen, lachen, weinen, doch niemand hörte sie. Nur Musik begleitete das Geschehen.
***
Losgelöst von allem verfolgte Ena hoch konzentriert die Szenen und Handlungen. Ihren Blick richtete sie mal auf die flimmernde Leinwand, mal auf die Zuschauer.
Mit ihrem musikalischen Talent auf dem Klavier verzauberte sie das Publikum mit leisen, spannungsgeladenen Tönen bis hin zum dröhnenden Crescendo, um in das visuelle Geschehen und in die Handlung auf der Leinwand einzutauchen.
Am Samstag war es dann so weit, Ena und Markus begrüßten sich wie verabredet vor dem Kranzler. Er bot ihr seinen Arm an zum Einhenkeln, worauf sie zusammen zu ihrem Tisch geleitet wurden, mit Blick auf den Ku’damm.
Eine kleine Kapelle spielte bereits zum Tanz, junge Pärchen tauschten verliebte Blicke aus. Sie ließen weltverloren ihren Tee oder Kaffee kalt werden.
Fein gemachte Damen, einzeln oder zu zweit am Tisch, und so manch schnieker Gigolo ließen ihre Blicke suchend, abschätzend herumwandern und hofften auf verheißungsvolle Bekanntschaften.
***
Ena und Markus, beide waren sehr musikalisch und der Musik zugetan, nicht nur der klassischen. Sie hörten auch gerne Modernes, Schlager, und tanzten gerne, wann immer es möglich war.
Sie setzten sich, bestellten Kaffee und Kuchen, hörten erst einmal der kleinen Dreimannkapelle zu in der modernen Besetzung, nämlich Klavier, Bassgeige und Schlaggitarre.
Der Gitarrist sang gerade ›Man müsste Klavier spielen können‹ im Versuch, Johannes Heesters nachzueifern.
Markus berührte Enas Hand leicht mit der seinen. »Darf ich zum Tanz bitten, Ena?«
»Markus, bitte nicht bei diesem Titel, lass uns noch etwas warten. Schauen wir, was als Nächstes kommt.«
Sie genossen den Kuchen und den Bohnenkaffee, als Markus dem Kellner winkte. »Herr Ober, bringen Sie uns bitte eine Flasche Sekt.«
»Welcher soll es denn sein, mein Herr, wir haben …« Und er nannte eine Reihe von Namen, mit denen Markus nichts anfangen konnte. Schließlich bestellte er eine halbe Flasche Rheingauer Riesling Winzer Sekt, Doux, dem allgemeinen Geschmack entsprechend.
»Markus, stürz dich bitte nicht in Unkosten, das ist viel zu teuer.«
»Ena, bitte kein Wort mehr davon, heute ist mir nichts zu teuer. Ich freue mich so sehr, dass du meiner Einladung gefolgt bist. O Pardon, jetzt habe ich Sie geduzt.«
Sie nahm seine Hand. »Markus, ich freue mich ebenso und bin so froh, dass du mich eingeladen hast.« Automatisch fiel sie in das Du ein, sie lächelte. »Bleiben wir doch beim Du.«
Im gleichen Moment sagte der Gitarrist den nächsten Titel an: »Meine Damen und Herren, wir spielen jetzt für Sie ›Du und ich im Mondenschein‹, erstmals gesungen von Ilse Werner.«
»Komm, Markus, schnell, ehe die Tanzfläche zu voll wird.« Sie nahm seine Hand und zog ihn hin. Markus nahm sie in seine Arme. Beide tanzten hervorragend, sie schwebten förmlich über das Parkett. Ena ließ sich wunderbar führen, sie verschmolzen miteinander.
Sie schauten sich lächelnd an und genossen ihre gemeinsame Nähe.
Der Titel des Liedes ›Du und ich im Mondenschein‹ tat sein Übriges.
Sie vergaßen alles, was um sie herum geschah, als wechselten sie in eine andere Dimension.
Als der Titel beendet wurde, blieben Ena und Markus still, noch immer fest umschlungen stehen. Er drückte sie noch einmal fest an sich. Ena legte ihren Kopf an seine Schulter.
»Hallo, ihr zwei Turteltäubchen, wie lange wollt ihr noch dort stehen bleiben? Wir machen jetzt Pause«, rief ihnen der Sänger zu.
Sie lachten, lösten sich voneinander und gingen langsam, er seinen Arm um ihre Schulter gelegt, sie den ihren um seine Taille, zurück auf ihre Plätze.
Der Kellner kam. »So, meine Herrschaften, ich habe extra so lange gewartet, bis der Tanz beendet war. Es wäre zu schade um den edlen Tropfen, wenn er warm geworden wäre.«
Professionell füllte er ihre Gläser, reichte sie ihnen, stellte die Flasche in den Eiskübel und verschwand mit einem »Sehr zum Wohle«.
Die beiden wussten nicht, wie ihnen geschah. Sie verliebten sich heftig und untrennbar ineinander. Ein neuer, erfüllter Lebensabschnitt begann für Ena und Markus.
Sie trafen sich, wann immer es möglich war, machten lange Spaziergänge im Grunewald und gingen schwimmen im Tegeler See. Sie fuhren hinaus zum Müggelsee, machten Bootsfahrten und aßen deftige Fischgerichte.
Bei Hedda, der Schwester Markus’, schauten sie vorbei, die in der Nähe eine Laube gemietet hatte. Zusammen bestiegen sie den Berliner Funkturm, der bei seiner Eröffnung 1925 mit seinen 147 m das höchste Gebäude Berlins war.
***
Markus war ein hervorragender Gitarrenspieler. Er begleitete sich mit seinem warmen, angenehmen Bariton. Damit schuf er in Gesellschaft gute Laune, eine entspannte Atmosphäre animierte zum Mitsingen und Tanzen.
Er verzauberte Ena und versetzte sie in romantische Träumereien.
Markus hatte inzwischen das Glück gehabt und die Stelle bekommen.
Die Kompetenz, seine präzise Ausdrucksweise und die Art, auf Menschen zuzugehen, machten es ihm leicht, in der Firma aufgenommen zu werden.
Durch die neuen Aufgaben und die lange Arbeitszeit waren seine Tage mehr als ausgefüllt, zudem es üblich war, auch sonnabends zu arbeiten.
Trotz allem kreisten seine Gedanken nur noch um sie – Ena. Seine Gefühle für sie ließen ihn nicht mehr los. Sein größter Wunsch war es, mit ihr zusammen ein neues Leben zu beginnen.
***
Es war die große Liebe der beiden. Sie konnten nicht mehr voneinander lassen. Sie liebten sich, wann und wo immer es möglich war.
Denn Ena lebte bei ihrer Mutter, als auch Markus bei seiner Mutter Louise in der Isländer Straße.
Markus’ Vater, der auch Markus hieß (es war durchaus üblich, dem Sohn den gleichen Namen wie den des Vaters zu geben), war ursprünglich von Colmar im Elsass nach Berlin gezogen. Leider war er schon vor langer Zeit an Syphilis, die auch Franzosenkrankheit genannt wurde, gestorben. Antibiotika gab es nicht, Penicillin stand noch nicht zur Verfügung.
So musste also Louise, seine Mutter, mit ihren gerade mal 154 cm Größe, ihre drei Kinder, Markus und seine Schwestern Hedda und Hedi, durchbringen.
So klein sie war, so groß waren ihr Selbstvertrauen und ihr Durchsetzungsvermögen. Mit ihren intensiv blauen Augen, dem durchdringenden Blick und ihrer wohlklingenden, akzentuierten, kräftigen Stimme erreichte sie immer, was sie wollte.
Die offensichtliche Veränderung ihres Sohnes blieb ihr nicht verborgen, außerdem machte sie sich immer Sorgen um alles.
Markus wollte es seiner Mutter möglichst schonend beibringen, dass er bald ausziehen würde.
Er musste nur noch den richtigen Moment abpassen.
An einem grauen, verregneten Freitag Ende Juli kam er früher als gewöhnlich nach Hause.
Etwas außer Atem nach den vier schnell hochgehasteten, steilen Stockwerken. Leise schloss er die Wohnungstür auf, trat ein, hängte seinen nassen Regenmantel und Hut an den Kleiderständer.
Louise, die wie ein Luchs hörte, rief: »Markus, bist du es? Bist aber früh dran, das Essen ist noch nicht fertig, es ist ja erst vier.«
»Ja, Mutti, ich bin es.« Und er trat ins Wohnzimmer. »Weißt du, der letzte Termin heute ist leider geplatzt, sonst wäre es bestimmt sieben geworden, aber ich habe noch einigen Schriftkram zu erledigen.«
Er blieb vor ihr stehen, sah sie an ihrer alten schwarzen Singer, der fußbetriebenen Nähmaschine, sitzen und wie üblich Schulterpolster nähen. Damit half sie Hedi und Hedda, das geforderte Heimarbeitssoll der Firma gegenüber zu erfüllen.
Markus ließ seinen Blick langsam im Wohnzimmer umherschweifen. Überall lagen Schulterpolster herum, links die Einzelteile, rechts fertig genähte, pro Paar zusammengeheftet.
Seine Mutter legte die letzten genähten Polster auf die rechte Seite, das Schwungrad der Maschine stoppte. Sie schaute Markus an. »Schön, Marki«, seinen Kosenamen benutzend, den er so gar nicht mochte, »dass du so früh da bist. Hedda ist noch in der Laube und bringt Salat und Tomaten mit. Ich koche jetzt was Schönes für uns.« Sie stand auf und verschwand in der kleinen Küche.
Markus blickte ihr sinnend hinterher. Schaute sich, langsam um die eigene Achse drehend, in dem dämmrigen Wohnzimmer um.
Rückblickend, zeitraffergleich lief die Zeit, die er hier verbracht hatte, in seinem Kopf ab.
Die alte, durchgesessene dunkelbraune Chaiselongue, auf der Markus’ Vater immer gelegen hatte.
Die große Standuhr in der Ecke, deren Ticken ihn schon immer störte, die Jugendstil-Vase auf dem schwarzen Hochglanzbüfett, der große Esstisch, nichts hatte sich verändert.
Markus ging hinaus auf den kleinen eingebauten Balkon mit der schönen Blumenumrandung. Es tröpfelte noch immer, trotzdem war es angenehm warm.
Sich über die Brüstung beugend, schaute er hinunter in das trübe Viereck des Innenhofes.
Es waren die typisch hohl klingenden Geräusche der Berliner Hinterhöfe – unverständliches Stimmengewirr, Topfgeklapper, blecherne Radiomusik. Die nicht weit entfernte S-Bahn, die unter der Bornholmer Brücke hindurchfuhr, schallte Markus entgegen.
Seine Stimmung war traurig und freudig zugleich, aber er hatte sich entschieden.
Seinen Heiratsantrag hatte Ena erhört, beide waren wie elektrisiert, überglücklich. Sie konnten es kaum erwarten, zu heiraten und in ihre neue Wohnung am Halleschen Tor einzuziehen.
***
Eine Heiratserlaubnis zu bekommen, war nicht gerade einfach. Etliche Unterlagen mussten beigebracht werden. Ihre eigenen Geburtsurkunden, wann und wo waren ihre Eltern, Groß- und sogar Urgroßeltern geboren worden? Welche Berufe hatten sie ausgeübt?
Ob und in welchen Parteien sie Mitglied waren oder sind. Sie gehörten keiner Partei an.
Das alles wurde peinlichst genau geprüft. Wenn alles vorgelegt werden konnte und die Behörde es akzeptierte, wurde der sogenannte Ariernachweis bestätigt und das beantragende Paar durfte heiraten.
Es klingelte heftig, aus der Küche schallte es: »Markus, mach doch mal auf, das sind bestimmt Hedi und Hedda.« Markus öffnete, seine beiden Schwestern stürzten in den kleinen Korridor, ihn fast umrennend. »Puh, na det is ja ’n Wetta. Markus, bist ja früe da, wa?«, prustete Hedda.
»Na, da hast du recht, und nun fix in die Küche zu Mutti und gib ihr das Gemüse, ich hab vielleicht einen Hunger.«
»Was gibt’s sonst noch außer Tomaten und Salat?«, fragte Hedi.
Sie hängten ihre tropfenden Mäntel und Hüte auf die noch freien Haken an der Garderobe.
Markus brachte ihnen Handtücher zum Abtrocknen, und sie rauschten ab in die Küche.
Er ging zurück ins Wohnzimmer, um seine aufgeschobenen Büroarbeiten zu erledigen.
Er holte seine alte schwarze Adler Kofferschreibmaschine aus dem Büfett, stellte sie ans Ende des Esstisches mit Blick auf die hohe Standuhr, knipste schnell den Volksempfänger an. Bis die Röhren warm waren und das Radio anging, drehte er ein Blatt Papier in die Walze.
Die Stimme von Johannes Heesters erklang gleich darauf etwas blechern aus dem Lautsprecher: ›Ob blond ob braun, ich liebe alle Frauen‹, und Markus stimmte im Duett mit ihm ein. Ein schlechtes Gewissen allerdings ließ nicht lange auf sich warten, brennend heiß sah er Ena vor sich, dachte daran, welch schöne Zeit vor ihnen lag und was sie alles gemeinsam erleben würden.
Ena, die neue Wohnung, seine neue Stelle, Kinder, mindestens drei.
Er freute sich schon sehr, übermorgen, am Sonnabend, würde er sie sehen bei Friedchen, seiner zukünftigen Schwiegermutter in der Prenzlauer. Was würde sie dann auf den Tisch zaubern?
»Markus«, rief es aus der Küche, »mach den Tisch frei, wir wollen auftun, das Essen ist gleich fertig.«
Gleich darauf erschienen Hedi, Hedda und Louise, beladen mit Tellern, Besteck, Gläsern und Schüsseln, aus denen es verführerisch dampfte und sehr appetitlich roch.
Schon bald saßen sie gemeinsam am Esstisch. Es gab Gemüse, dazu ein paar Kartoffeln und als Nachtisch Tomaten und Zwiebeln, dank Heddas eigenem Garten.
Markus ließ seinen Blick unentschlossen in der Runde kreisen, holte tief Luft und setzte an.
»Also … wisst ihr … ich …« Seine Schwester Hedi blickte ihn an. »Was ist los, Markus, es ist doch was, nun sag schon.«
»Was soll denn schon sein?«, erwiderte Markus. »Es ist so, Ena und ich werden heiraten, schon bald. Eine Wohnung haben wir auch schon.«
Ein freudiger Aufschrei von allen.
Louise, seine Mutter, sah ihn freudestrahlend an. »Wunderbar, Markus, ich freue mich so für dich.«
»Wir heiraten am 8. Mai, und unsere neue Wohnung am Halleschen Tor ist bezugsfertig.«
»Und damit kommst du erst jetzt raus?«, rief Hedi. »Wunderbar«, fiel Hedda mit ein.
***
Ena befand sich in der gleichen Situation wie Markus an diesem Sonnabend. Die Familie saß zusammen im großen Wohnzimmer mit den hohen Doppelfenstern mit Blick auf die Prenzlauer Allee. Friedchen, ihre Mutter, ihre Schwestern Hanna und Margot, die über das Wochenende bei ihnen blieben.
Ena stand auf, ging zu einem der Fenster, öffnete beide Flügel des Doppelfensters, lehnte sich auf die Fensterbank und schaute einen Moment hinaus, dann langsam, sich nachdenklich umdrehend, schaute sie ihrer Mutter etwas zögernd, dann fest in die Augen. Die Gespräche erloschen, alle sahen sie fragend an. »Also«, begann Ena. »Wie ihr ja schon wisst, bin ich mit Markus nun schon seit einiger Zeit zusammen und … und jetzt …«
»Und jetzt wollt ihr heiraten, stimmt’s?«, sprudelte es freudestrahlend aus Friedchen.
»Jaa«, rief Ena, »wir heiraten. Eine Wohnung am Halleschen Tor haben wir auch schon.«
Alle gratulierten und wünschten ihr alles Gute.
Am 8. Mai 1940 heirateten Ena und Markus und zogen in den ersten Stock im Haus ihrer neuen Wohnung und begannen ihr neues, herrliches gemeinsames Leben.
Es sollten die schönsten und unbeschwertesten Monate ihres bisherigen Lebens werden.
Die raue Wirklichkeit der unbarmherzigen Politik holte sie ein und veränderte ihr Leben grundlegend. Markus wurde im Sommer 1940 zur Wehrmacht eingezogen.
Als einfacher Soldat wurde Markus nach Österreich abkommandiert.
Das Haus und damit die Wohnung von Ena und Markus am Halleschen Tor wurde bei den Luftangriffen der Alliierten völlig zerbombt, alles lag in Trümmern und war unbewohnbar. Zum Glück war Ena genau an diesem Tag zu Besuch bei ihrer Mutter. Das hatte ihr und dem noch ungeborenen kleinen Paul Anton das Leben gerettet.
Mit seiner Geburt im Januar 1941, in der beginnenden Mitte des 20. Jahrhunderts, begann für ihn alles – seine Geschichte.
Der kleine neue Kerl Paul Anton, der Spross Enas und Markus’ großer Liebe.
Mitten in Berlin, im eisigen Winter, in der Prenzlauer Allee erblickte Paul Anton um die Mittagszeit, alles aus sich herausschreiend, was die winzige Lunge hergab, seine große, neue, unbekannte Welt.
Das große Wohnzimmer im ersten Stock mit der hohen Decke und den zwei großen Doppelfenstern mit Blick auf die Prenzlauer mit den breiten Bürgersteigen und den Straßenbahngleisen in der Mitte der Allee war zum Schlafzimmer umfunktioniert.
Die Familie musste nun auf engstem Raum zusammenrücken. Bei Oma Friedchen, jetzt mehrfache stolze, glückliche Großmutter von Paul Anton, fand sich ein Teil der Familie zusammen.
Alle kamen unter, nur Markus, noch immer nach Österreich abkommandiert, wusste nichts von alldem, auch davon nicht, dass er Vater geworden war.
Mit dem Bombardement der Wohnung hatte Ena auch den Telefonanschluss aufgegeben.
Markus hatte es rein geschäftlich gebraucht. Einen reinen Privatanschluss konnte sie sich nicht leisten.
Außerdem wurde das Telefon nur für wirklich wichtige Nachrichten benutzt.
Aber Ena war eine fleißige Briefschreiberin, sie liebte es, ihre Gedanken und Neuigkeiten Markus, ihren Verwandten und Freunden mitzuteilen.
Mit der Wehrmacht-Feldpost berichtete sie überglücklich Markus, dass sein Sohn, Paul Anton, das Licht der Welt erblickt hatte.
Sehr traurig dagegen war sie, ihm mitzuteilen, dass ihre Wohnung zerbombt und unbewohnbar war.
Hier hatten sie so glückliche Momente erlebt. Sie wurden von Friedchen in der Prenzlauer Allee aufgenommen.
***
Das quälte Markus und machte ihn wütend, doch die Freude überwog. Seine Liebsten lebten und waren gesund. Der Wunsch, seinen Sohn im Arm zu halten, war übermächtig.
Er war ein Stehaufmännchen und sofort reiften andere Pläne in ihm. Erfindungsreich, wie er war, versuchte er alles, Ena und seinen kleinen Sohn aus Berlin herauszuholen. Wie er es schaffte, wird wohl für immer sein Geheimnis bleiben.
***
Eines Vormittags, Ena war allein zu Hause mit ihrem kleinen Paul Anton. Plötzlich klingelte es ungeduldig an der Wohnungstür. Voller Erwartung, dass endlich eine Feldpost von Markus kam, riss sie die Tür auf und tatsächlich, der Postbote schwenkte einen Brief hin und her.
»Na, juten Tach, junge Frau, na, jetzt könnse sich aber freuen, ick hab ’n Brief von een Markus Wistler, und jehe ick recht in de Annahme, det se die Ena Wistler sind?«
»Ja das bin ich.«
»Na, denn untaschreim se ma hier fürn Empfang.« Und er hielt ihr einen Stift und Papier hin.
Ena unterschrieb und erhielt ihren Brief. »Na, denn ufwiedasehen.« Und er setzte seine Tour fort.
Jetzt fing auch noch der Kleine an, in den höchsten Tönen zu schreien.
Voller Ungeduld schloss sie die Wohnungstür, raste ins Wohn-Schlafzimmer, nahm ihn in den Arm und tanzte voller Freude mit ihm durch das Zimmer. »Papa hat geschrieben, dein Papa hat geschrieben, ich freue mich so.« Sie knutschte und drückte Paul Anton, der vor lauter Überraschung zu schreien aufhörte und seine Mutter mit seinem liebsten Babylachen ansah.
Dann, voller Erwartung, ganz, ganz vorsichtig, um ja nichts zu beschädigen, öffnete sie den Brief.
Sie begann zu lesen, während ihr Kleiner sie unverwandt anblickte.
Montafon, Österreich, Februar 1941
»Liebes Enalein, ich hoffe, Euch beiden geht es gut. Wie gerne wäre ich bei Euch, Ihr fehlt mir so sehr, und würde Euch in die Arme nehmen. Was könnte ich alles tun.
Aber ich habe eine große Überraschung. Ihr dürft nach Österreich kommen, alles ist organisiert.
Ich habe ein Häuschen, also eine kleine Berghütte in Silbertal in der Nähe von Schruns gemietet. Stell Dir vor, Hanna kann auch mitkommen, wenn Du und sie es möchtet.«
Hanna, Enas Schwester, hatte inzwischen auch geheiratet. Egon war Kommissar bei der Kriminalpolizei in Berlin. Sie liebte ihren Egon innig und er sie. Er mochte seinen Beruf über alles, den er auf keinen Fall aufgeben wollte.
»Süße, mit der nächsten Post schicke ich Euch die Bahnfahrkarten. Im großen Ganzen geht es mir gut, mein Feldwebel ist ein netter Mensch und nicht so einer, der nur den Drill seiner Truppe im Kopf hat. Mit dem man auch mal reden kann. Das Schlafen in der Kaserne ist eine Katastrophe, acht Männer im Zimmer und mindestens die Hälfte schnarcht in allen möglichen Tönen.
Zum Wahnsinnigwerden.
Enalein, das ist leider alles für heute. Ich freue mich schon wahnsinnig, Euch wiederzusehen und meinen kleinen Paul Anton kennenzulernen und in den Arm zu nehmen.
Ich liebe Dich-Euch, Dein Markus.«
***
Ena war erst einmal fassungslos, legte den Kleinen in seinen Laufstall, wo er kurz darauf einschlief. Sie setzte sich in einen der Sessel mit Blick zum Fenster. Ihre Gedanken drehten sich im Kreise und versuchten, das Ganze erst einmal zusammenzubringen.
Urplötzlich stand der Rest der Familie im Wohnzimmer, sie hatte sie nicht hereinkommen hören. Erstaunt fragte Hanna: »Ena, du bist ja so still, was ist denn?«
»Stellt euch vor, Markus hat geschrieben, er ist gesund, alles ist in Ordnung. Jetzt das Tollste, wir, also du, Hanna, der Kleine und ich, sollen nach Österreich kommen in die Berge ins Montafon.«
»Wie, was«, fragte Friedchen, »und wie lange bleibt ihr weg? Dann bin ich ja ganz allein hier. O nein, wie kann ich nur so egoistisch sein. Ich finde das wunderbar, dann seid ihr wenigstens in Sicherheit, und wann fahrt ihr?« Sie schaute unsicher, etwas bedrückt erscheinend in die kleine Runde, fing sich dann wieder und lächelte. »Ich fahre dann bestimmt einmal nach Reinickendorf in die Scharnweber zu Walter und Gerlind, seiner Frau, und helfe ihnen in der Gaststätte. Hoffentlich gehen die Sirenen nicht so oft los, aber die Flieger kommen ja meistens nachts.«
Hanna schaute ihre Mutter sorgenvoll an. »Mutti, sei bloß vorsichtig.« Sie schüttelte den Kopf, strich sich ihr wunderschönes langes braunes Haar aus dem Gesicht. »Sie haben dort keinen richtigen Luftschutzbunker. Da braucht ihr mindestens zehn Minuten, bis ihr in einen Bombenkeller kommt.«
Ena schaute ihre Schwester an. »Sei mal nicht so pessimistisch, Mutti weiß schon, was sie tut. Du machst dir immer zu viele Gedanken.«
»Du hast gut reden, Ena, ich mache mir so viele Gedanken und denke immer an meinen Egon, der ist jetzt im Feld und wie viele sind schon gefallen.« Hanna begann zu schluchzen, legte die Arme um sich, als wollte sie sich selbst trösten. »Du hast gut reden. Dein Markus ist ja sicher in Österreich.«
»Also, Kinder, jetzt fangt nicht an zu streiten, wir müssen als Familie zusammenhalten und auf uns achtgeben, gerade jetzt, mitten im Krieg. Also, ich sehe zu, dass ich abends wieder zu Hause in der Prenzlauer bin, da haben wir den zweiten unteren Keller, der ist sicher. Wenn wirklich eine Bombe das Haus trifft, können wir wenigstens durch die Zugänge in die Nachbarhäuser kommen.«
***
Es war eine schwere, sehr gefährliche Zeit, die ständige Angst, bombardiert zu werden. Das Wechselbad der Hoffnung, dass das Inferno einen selbst nicht trifft und bald vorbei wäre. Der Krieg veränderte alles dramatisch. Das eigene Leben, das der Söhne, der Männer, der Brüder, der Familien, der Freunde und der Nachbarn, für alle Menschen.
Leider – bis dieser Kelch vorbeigehen würde, sollten noch viele Jahre vergehen.
Ena war allein zu Hause in der Prenzlauer mit ihrem kleinen Paul Anton. Obwohl schon um die Mittagszeit, lagen sie in dem alten Ehebett aus Kirschholz, rechts an der Wand in dem umfunktionierten Wohnzimmer. Es war ein komplettes Durcheinander. Die Decken und Kissen waren total zerwühlt. Ena neckte ihn und kitzelte ihn an den Fußsohlen. Der Kleine strampelte, ruderte mit den Armen hin und her, schrie vor lauter Freude.
Ena legte den Zeigefinger auf ihre geschlossenen Lippen. »Psst, Kleiner, ich glaube, es hat an der Tür geklingelt.«
Paul Anton wurde ruhig, schaute seine Mutter mit seinen großen blauen Augen intensiv an.
Er streckte sich in seine ganze Länge, dann gähnte er ausgiebig.
Sie sprang mit einem großen Satz aus dem Bett warf ihren Morgenrock über, rannte an die Wohnungstür, riss sie auf, und da stand er – der lang ersehnte Postbote.
Es war derselbe wie beim letzten Mal, als er Markus’ Feldpost brachte.
»Juten Tach, junge Frau, hier is wida mal en Brief von de Feldpost von irn Mann, det is aber en dicker Brief diesmal, wa? Unterschreimse ma hier.« Ena unterschrieb hastig, gab den Stift zurück.
»Vielen Dank, Herr Postbote, und auf Wiedersehen.«
»Bitte sehr, na, denn bis zum nächsten Mal, Frau Wistler.«
Paul Anton lächelte und schrie gleichzeitig, als Ena, innerlich aufs Äußerste gespannt, zurück ins Zimmer kam.
»Paulchen«, seinen Kosenamen gebrauchend, »dein Papa hat geschrieben und schau mal, wie dick der Brief ist, was mag da alles drin sein? Oje, es ist ja schon halb zwei, um drei muss ich zur Spätschicht am Alex sein, hoffentlich schaffe ich das. Oma und Hanna wollten ja schon da sein, ich lass dich nicht allein.« Im gleichen Augenblick hörte sie die Tür gehen. »Wir sind wieder da.« Hanna kam als Erste rein. »Ena, entschuldige bitte, haben uns leider etwas verspätet.«
Triumphierend hielt Ena den noch ungeöffneten Brief hoch. »Post von Markus, ich bin so gespannt. Wenn ich vom Dienst zurückkomme, machen wir ihn auf und lesen ihn gemeinsam in aller Ruhe.« Ihre Schwester schaute traurig in die Runde. »Ich freue mich für dich, Ena«, sie machte ein betrübtes Gesicht, »wenn doch von Egon auch bald Post käme.«
»Bestimmt, Schwesterlein.« Inzwischen hatte Ena sich fertig gemacht. Sie warf den leichten Mantel über. Sie verabschiedete sich, gab ihrem Sohn noch ein Küsschen, drückte ihn noch einmal fest an sich und weg war sie.
Sie kriegte gerade noch die Tram zum Alex, halsbrecherisch rannte sie die Treppen runter in die U-Bahn-Station. Knapp vor Schichtbeginn stürmte sie ins kleine Kassenhäuschen. Trinchen hatte sie kommen sehen und die Tür schon geöffnet, kassierte gerade noch den letzten Fahrgast ab.
»Ena, wunderbar, dass du pünktlich bist, ich muss wirklich dringend weg, denn mach’s mal gut. Dann tschüss.«
»Trinchen, ich muss dir unbedingt etwas erzählen, du glaubst es nicht.« Da war sie aber schon raus und warf die die schwere Außentür zu.
Etwas verdattert ihr nachschauend, stand Ena da, schon aber meldete sich der nächste Fahrgast lautstark am Anfang der Reihe. »Kri ick och noch irjendwann mal ne Fahrkarte, oder wat?«
Noch ganz in Gedanken an Markus’ Feldpostbrief verrichtete sie ihren Dienst wie im Traum.
Sie konnte den Feierabend kaum abwarten. Dann endlich war es so weit, und sie wurde von der nächsten Schicht abgelöst. Ähnlich wie Trinchen verließ sie im Eiltempo die U-Bahn-Station.
Auf ungefähr halbem Nachhauseweg heulten die Sirenen, Fliegeralarm. Die Sirenen übertönten jedes andere Geräusch, mittlerweile war es stockdunkel.
Erschrocken sprangen einige Fahrgäste auf. Die Stentorstimme des Schaffners ertönte: »Beim nächsten Halt alle aussteigen. Begeben Sie sich in den nächstliegenden Luftschutzbunker. Beeilung, halten Sie Ihre Ausweise bereit.« Es wurde gedrängelt und geschubst. Alle wollten so schnell wie möglich die Tram verlassen. »Bleiben Sie ruhig und diszipliniert, verlassen Sie der Reihe nach die Straßenbahn gleich an der nächsten Station.«
Ena sprang die letzte Stufe aus der Bahn herab, orientierte sich erst einmal, wo sie genau war, zu Fuß bis nach Hause waren noch fünfzehn Minuten. So schnell wie möglich marschierte sie Richtung zu Hause, lief dann schneller und schneller, bis sie schließlich rannte.
Dann plötzlich ein rigoroses »Halt!« Sie stoppte abrupt. »Wo wollen Sie hin, wissen Sie nicht, dass Sie unverzüglich einen Luftschutzraum aufzusuchen haben? Ihren Ausweis, aber schnell.«
Der Blockwart (die genaue Bezeichnung war Blockleiter) mit der Hakenkreuz-Armbinde blickte sie durchdringend an, dann studierte er ihren Ausweis. Er überlegte kurz. »Gut, ich lasse noch einmal Gnade vor Recht ergehen, machen Sie schnell, dann sind Sie in drei Minuten da, aber das nächste Mal in den nächsten Luftschutzbunker.« Er ließ sie gehen. »Oh, vielen, vielen Dank, Herr Blockwart«, und Ena huschte davon. In der Ferne hörte sie schon die Bombeneinschläge.
Kurz darauf war sie da und öffnete die schwere hölzerne Haustür mit den vergitterten Fenstern. »Ena, da bist du ja endlich, wo bleibst du nur?«, rief Hanna mit dem kleinen Paul Anton auf dem Arm, eine schwere dunkle Ledertasche in der anderen Hand, gerade auf der letzten Stufe des Treppenhauses. Friedchen kam von weiter oben. »Los jetzt, schnell in den Keller, du kannst jetzt nicht mehr hoch, was zu essen und zu trinken haben wir dabei.«
In ein paar Minuten gelangten sie alle in das zweite Untergeschoss des schwach beleuchteten Bombenkellers.
Nachdem die letzten Nachbarn und noch einige Unbekannte auf den schmalen Holzbänken, die vor der kalten Mauer standen, Platz genommen hatten, schloss der zuständige Blockwart die bombensichere Stahltür.
Die Familien, die fast nur aus Frauen jedes Alters und kleinen Kindern zu bestehen schienen außer ein paar älteren Männern, saßen dicht gedrängt in gespannter Aufmerksamkeit nebeneinander. Zwei verwundete Soldaten in Uniform hatten sich etwas abseits gesetzt. Der eine mit blutverkrusteter Kopfbandage, der andere hatte zwei Unterarmkrücken neben sich stehen. Der nächste Einsatzbefehl wartete bestimmt schon auf sie, sobald sie ›kriegsverwendungstauglich‹ sein würden.
Der zuständige Blockwart (hinter der vorgehaltenen Hand Treppenterrier genannt) war vom Wehrdienst freigestellt infolge einer Kriegsverletzung. Er war mehr nicht kriegsverwendungsfähig. Als linientreu befunden, stand er breitbeinig vor der Bombentür. Mit stechendem Blick schaute er prüfend in die Runde. Niemand gab sich die Blöße, irgendetwas von sich zu geben, wogegen er sich wünschte, einschreiten zu können.
Währenddessen unterhielten sich die Wartenden im Flüsterton oder saßen still und ängstlich da und hofften auf ein baldiges Ende der Bombardierung.
Einige kramten in ihren Bündeln, Taschen, den Papieren und sahen nach, ob sie denn wirklich alles mitgenommen hatten. Ihre wichtigsten Bilder, Briefe, Geld, überhaupt alles Notwendige. Vor allem auch die Lebensmittelkarten.
»Habt ihr auch alles wie vorgeschrieben oben verdunkelt?«, fragte Ena. »Sonst gibt es richtigen Ärger.« Hanna sah sie nachdenkend an und überlegte. Aber Friedchen beruhigte sie. »Mach dir keine Sorgen, Ena, alles ist in Ordnung, es ist so, wie es sein muss.«
Eine geisterhafte Situation entstand. Immer stiller werdend horchten alle auf die sich nähernden Bombeneinschläge. Die Erschütterungen breiteten sich in den aneinander gebauten vier- bis fünfstöckigen Häusern fühlbar aus. Je näher die Einschläge kamen, desto mehr ließen sie den gesamten Komplex immer stärker fast erdbebengleich in sich erzittern. Feinsandiger Putz rieselte zwischen den Steinen heraus.
Die vergitterten Kellerlampen an den Seiten des langen, rechteckigen Bunkers flackerten in einem diffusen gelblichen Licht.
Als nichts weiter geschah, atmeten die Schutzsuchenden hörbar erleichtert aus. War der Kelch wieder einmal an ihnen vorbeigegangen?
Friedchen holte tief Luft, atmete leise wieder aus. »So, Kinder die erste Welle scheint vorbei zu sein, wir können jetzt eine Kleinigkeit essen und vor allen Dingen etwas trinken.«
Sie gab Hanna ihre Butterstulle und füllte zwei einfache Blechbecher mit Wasser. »Ena, du musst dem Kleinen«, der bei den Einschlägen verhältnismäßig still geblieben war, »jetzt auch etwas zu trinken geben.«
»Ich bin schon dabei.« Verschämt wendete sie sich an die Seite, schob ihren Pullover hoch, öffnete die Bluse und legte den Kleinen an ihre Brust. Er saugte und schmatzte, atmete immer wieder schnell ein und aus und gab zufriedene, glucksende Geräusche von sich, bevor er sich weiter an Enas Brust labte. Automatisch flogen ihre Gedanken Markus entgegen. Sie stellte sich vor, wenn er jetzt hier hereinkäme und sie beide glücklich in die Arme schließen würde.
»Du hast schon genug, mein Kleiner? Dann kann deine Mutti jetzt auch eine Kleinigkeit essen.«
Nun war nur noch ein entferntes Wummern zu vernehmen und leichtes Zittern des Gebäudes. War es endlich vorbei?
Schnell verzehrte sie ihre Butterstulle und trank einen Becher Wasser.
Und es begann wieder von Neuem, und damit auch die Angst. Dieses Mal sehr schnell näherkommend.
Dann – ein schwerer Einschlag ließ das Gebäude in seiner gesamten Struktur erzittern. Kleine Steinchen und Kalk fielen von der Decke herab. Alle im Raum schrien auf, beugten sich auf die Knie. Sie verschränkten die Arme über dem Kopf, um sich zu schützen, in der allergrößten Hoffnung, dass der Keller nicht einstürzte. Eine der Frauen aus dem dritten Stock, die ihren Ehemann im Ersten Weltkrieg verloren hatte, begann leise zu beten.
Sogar der Blockwart stieß einen Überraschungsschrei aus und duckte sich. Von sich selbst peinlich berührt, richtete er sich schnell wieder auf, schaute streng um sich und hoffte, dass niemand es bemerkt hatte.
Noch weitere Bombenexplosionen waren zu hören, die schwächer werdend sich langsam entfernten. Für heute Nacht hatten sie es wohl überstanden. Dann war Stille – jeder im Keller spitzte die Ohren, es blieb ruhig, sogar die Kellerleuchten flackerten nicht mehr.
Dann ein befreiendes Aufatmen, die Eingeschlossenen beugten sich nach rechts und links, fielen sich in die Arme und beglückwünschten sich, wieder einmal davongekommen zu sein.
Niemand war verletzt. Aber wie die Seele, die Psyche reagierte, war schwer zu sagen.
Jetzt blieb noch die Angst, stand das Haus über ihnen noch? Was war mit ihren Wohnungen?
Kurz darauf ertönte die Sirene und gab Entwarnung. Mittlerweile war es drei Uhr morgens.
Der Blockwart versuchte vorsichtig, die Stahltür zu öffnen, schaffte es aber nicht. »He, kommt her, helft mal schieben!« Er deutete auf die zwei Soldaten, die so schnell, wie sie konnten, halfen, trotz ihrer Verletzungen. Zu dritt schafften sie es. Die Stahltür beschwerte sich quietschend und knarrend, aber sie ging auf und dahinter – keine Trümmer!
»Alle warten hier und kein Gedränge, ich kontrolliere den Keller und das Treppenhaus«, befahl der Blockwart. Nach ein paar Minuten war er wieder zurück. »So, alles in Ordnung, das Haus steht noch, jetzt schnell alle raus und ab in eure Wohnungen. Diejenigen, die nicht von hier sind, gehen schnell und unverzüglich nach Hause. Ist das klar?«
Den ganzen Tag und die lange Zeit im Bunker hatte Ena den Feldpostbrief von Markus im Kopf.
Wann konnte sie ihn endlich aufmachen und mit der Familie gemeinsam lesen? Würde das heute Nacht noch gehen?
Friedchen schaute in die kleine Runde. »Nun lasst uns schnell nach oben gehen, es ist ja schon vier.« Ena enttäuscht: »Was ist mit Markus’ Brief, den wollten wir doch …«
»Lass sein, Ena, morgen beim Frühstück, es ist wirklich zu spät. Du liest uns den Brief vor und wir besprechen dann alles.«
Schon waren sie auf der ersten Kellerstufe nach oben. Ena nahm den Kleinen ganz fest in den Arm, der schon ruhig schlief. Sie stiefelte die schweren zwei schon gefährlich ausgetretenen Treppen müden Schrittes hoch in Richtung Hauseingangsflur und den ersten Stock. Noch ein kurzes »Gute Nacht« mit den Nachbarn, die in den oberen Stockwerken wohnten.
Hanna öffnete die Tür und jeder verschwand in seinem Zimmer.
Ena legte Paul Anton in sein Bettchen, in dem er selig weiterschlief. Etwas unschlüssig begann sie, sich bettfertig zu machen. Sie blickte immer wieder auf Markus’ Brief. ›Mach ich ihn auf, lass ich ihn zu?’, konnte sich aber zu keiner Entscheidung durchringen. Schließlich überwand sie sich und legte sich schlafen.
Schon gefühlte zwanzig Minuten später war die Nacht zu Ende, Paul Anton meldete sich lautstark und verlangte nach seiner Mutter.
Es war schon später als gedacht, acht Uhr morgens. In der Zwischenzeit hatten Hanna und Friedchen das Frühstück vorbereitet. Kurz darauf saßen sie in der Küche beim Frühstück.
Keinem wollte es so recht schmecken, alle starrten auf den Brief von Markus, bis Ena endlich den Brief mit dem scharfen Küchenmesser vorsichtig öffnete.
Sie faltete ihn auseinander, etwas fiel zu Boden. Sie bückte sich danach. »Ich werde verrückt, ein Bild von Markus, o wie schön.« Sie betrachtete es ausführlich; er stand aufrecht da auf einer Wiese in seiner einfachen Soldatenuniform. Das Käppi lässig schräg aufgesetzt, lächelte er in die Kamera, im Hintergrund schneebedeckte Berge.
Friedchen hielt die Hand hin. »Zeige es uns doch auch einmal, Ena, und fang nicht gleich an zu weinen. Es ist doch alles in Ordnung.« Sie schaute das Foto intensiv an und reichte es Hanna. »Ach du meine Güte, sieht er gut darauf aus. Wann bekomme ich endlich ein Bild von meinem Egon?«
Friedchen wurde ungeduldig. »Ena, jetzt lies endlich mal vor, was er geschrieben hat.«
Ena, noch im Morgenrock, ihre Augen blitzten vor lauter Freude, nahm das Bild in die Hand und zeigte es ihrem kleinen Sohn, der seinen Vater noch nie gesehen hatte. »Schau mal, Paulchen, das ist dein Papa, der wird dich bald auf den Arm nehmen, es dauert nicht mehr so lange.« In Hannas Armen gluckste er fröhlich vor sich hin.
Ena setzte sich aufrecht und begann zu lesen.
Österreich, Montafon, April 1941
»Liebste Ena, liebes Paulchen, wie geht es Euch? Enalein, Deinen Brief habe ich erhalten. Er war sehr lange unterwegs. Wie gerne würde ich Euch drücken und in den Arm nehmen. Hast Du etwas von meiner Mutter, Hedi und Hedda gehört?
Ihnen habe ich auch geschrieben, aber bisher keine Antwort. Was ist da bloß los? Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert, wir bekommen hier zwar einiges mit, aber nichts Genaues.
Mit den Bombardierungen geht es bei Euch leider unvermindert weiter. Das macht mir richtig Angst und große Sorgen, vielen geht es hier so.
Bitte sei so lieb und kümmere Dich doch, bitte gib mir Bescheid.
Bald werden wir uns wiedersehen. Eure Fahrkarten bis nach Schruns hast Du bestimmt als Erstes gesehen. Bitte vergiss auf gar keinen Fall den Passierschein für Euch und melde Dich bei der Reichsarbeitsdienststelle. Soviel ich weiß, ist Deine Dienstverpflichtung vor Paulchens Geburt schon ausgelaufen, oder? Ich freue mich so sehr auf Euch, ich kann es kaum erwarten.
Ich hoffe, alles funktioniert reibungslos. Nehmt Euch genügend zu essen und zu trinken mit, es wird bestimmt eine sehr lange Zugfahrt.
So oft muss ich daran denken, wie schön es war, als wir uns zum ersten Mal im Kranzler verabredet hatten. Die großartige Musik, unser erster Tanz. Übrigens, Du bist eine hervorragende Tänzerin und lässt Dich wunderbar führen. Fast könnte ich heute noch eifersüchtig werden, alle Männer im Café schauten Dich so bewundernd an.«
Ena hielt inne weiterzulesen, vor lauter Sehnsucht und Rührung hatte sie Tränen in den Augen, und sagte mit erstickter Stimme: »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir ihn so bald wiedersehen werden.«
Friedchen, sichtlich gerührt, den Blick nach oben in eine undefinierbare Ferne gerichtet: »Ach Ena, Ena, bitte lies weiter, was hat er noch geschrieben?«
»Ihr Lieben, passt genau auf, der Zug fährt um 7.25 Uhr am Anhalter Bahnhof ab, dann bis Frankfurt a. Main, aber seht selbst noch einmal nach den genauen Abfahrten. Insgesamt müsst Ihr viermal umsteigen, dann seid Ihr am nächsten Tag laut Fahrplan gegen Mittag in Schruns.
Hoffentlich funktioniert alles, ich will Euch ja keine Angst machen. Es kann aber durchaus möglich sein, dass die Züge irgendwo auf der Strecke warten müssen, weil Militärtransporte Vorfahrt haben, oder es gibt zusätzliche Kontrollen. In der Regel geht alles gut.
Mit einer Pferdekutsche holt Euch der Bergbauer ab, wenn ich es schaffe, bin ich auch da. Versucht, im Zug zu schlafen.
Ihr Süßen, das ist alles im Moment, ich muss jetzt Schluss machen. Es ist schon neun Uhr abends, um zehn Uhr muss ich zum Wachdienst.
Passt auf Euch auf. Ich liebe Euch.
Euer Markus
P. S.
Beiliegend findest Du ein Zettelchen mit zwei Telefonnummern. Eine ist die meiner Einheit und die andere die des Bergbauern, bei dem ich Eure Berghütte gemietet habe.
***
Einen Moment lang kehrte Stille ein, die Blicke gingen von einem zum anderen.
Nur der hohe kreischende Dauerton der Stromerzeugungsanlage, die an den Hinterhof anschloss, war noch zu hören.
Hanna rieb sich die Augen. »Markus hat so lieb geschrieben und alles so gut organisiert. Ich freue mich sehr auf die Reise, Ena.«
Währenddessen pusselte Friedchen in Gedanken auseinander, was Markus alles geschrieben hatte. Sie war schon am Plänemachen. »Schauen wir, wie wir das alles am besten organisieren. Wann ist denn jetzt der genaue Reisetermin, Ena?«
»Das muss ich noch einmal genau ansehen, warte … Also, Abfahrt ist sonnabends am 03.05. um 7.25 vom Anhalter Bahnhof.«
Hanna übergab Ena ihren Sohn. »Da müssen wir aber früh aus den Federn. Was passiert denn nun mit unseren Lebensmittelkarten? Also, ich frage in der Ausgabestelle nach, vielleicht sind die auch in Österreich gültig, vielleicht müssen wir uns dort neue besorgen.« Ena strich ihrem Sohn zärtlich sein fast weißblondes Haar aus dem Gesicht und legte ihn in seinen Laufstall.
»Wir bekommen das alles hin, keine Frage. Die Hauptsache ist, dass die Bombardierungen nicht so schwer werden. Hoffentlich werden wir nicht ausgebombt und«, Ena beschrieb mit ihrer Hand einen Halbkreis, »und dass unser Haus stehen bleibt.«
Friedchen zeigte zum Fenster. »Hört ihr den Leierkastenmann im Hinterhof? Was spielt er denn gerade, ist das nicht ein Stück aus ›Pariser Leben‹? Hanna, bitte nimm ein paar Groschen aus meinem Portemonnaie, lasse es mit dem kleinen Korb an der Leine nach unten, wenn er fertig ist, und lege noch einen Apfel hinein.«
Sie ging zum Fenster, öffnete es, ihren Blick auf den grauen Asphaltboden des Hinterhofes gerichtet. Durch das unterschwellige Dröhnen der Stromgeneratoren aus dem hinteren Backsteingebäude wurde die Musik der Drehorgel herb untermalt. Auf der linken Seite hinten standen die alten silberfarbenen Metalltonnen für den Müll. Daneben ein Stück höher die Teppichklopfstange, festgemacht an der hohen, hässlichen, grob verputzten, grauen, fensterlosen Mauer.
In der Mitte des Hofes der Leierkastenmann, der seinen Blick umherschweifen ließ, auf schöne Gaben hoffend. Dabei drehte er kräftig weiter an seiner Leier.
Ein Fenster nach dem anderen öffnete sich, die Bewohner drängten sich zwischen die Fensterrahmen. Sie legten sich mit ihren Unterarmen auf die steinernen Fenstersimse. Zur Begrüßung nickten sie sich gegenseitig zu und hörten dem Spiel begeistert zu.
Nach einem kurzen Moment beendete der Leierkastenmann sein letztes Lied. Er verbeugte sich nach allen Seiten, seinen Blick nach oben gerichtet.
Die Zuschauer klatschten ausgiebig Beifall, ließen ihre kleinen Körbchen mit den Gaben hinunter. Einige warfen ein paar Groschen hinunter, eingewickelt in Zeitungspapier.
Die kleine Abwechslung hatte allen sehr gutgetan und etwas abgelenkt. Hanna setzte sich wieder an den Tisch. »Mutti, morgen Vormittag treffen Ena und ich Hedi und Hedda, Markus’ Schwestern, im Moka Efti am Tiergarten. Wir treffen uns um elf Uhr, sag, kannst du bitte auf unseren Kleinen aufpassen?«
»Selbstverständlich, Kinder, ihr könnt euch auf mich verlassen. Wann seid ihr wieder zurück? Am späten Nachmittag muss ich in der Gaststätte schräg gegenüber aushelfen, schafft ihr das?«
Ena überlegte. »Also, spätestens um drei sind wir wieder hier, das klappt doch, Hanna, oder?«
Das Moka Efti am Tiergarten, zusammen mit dem Café Kranzler, waren zu dieser Zeit die angesagtesten Tanzcafés in Berlin. Es gab zwei Moka Efti in Berlin, beide wurden 1943 bei Bombenangriffen komplett zerstört.
Ena nahm ihren Kleinen wieder aus dem Laufstall heraus. »So, ich gehe jetzt ins Wohnzimmer. Ich will Markus gleich antworten. Bringt ihr mir bitte noch den Laufstall mit und lasst mich ein wenig allein, ich brauche zum Schreiben ein bisschen Ruhe.«
Schließlich war alles erledigt, Paul Anton hatte seine Milch genossen, lag in seinem Bettchen und war schon eingeschlafen. Ena saß kerzengerade im Sessel an dem kleinen runden Tischchen, vor sich das Briefpapier, den Federhalter und Tinte.
Sie überlegte. ›Wie soll ich beginnen, was schreibe ich, die Feldpostbriefe werden ja alle geöffnet und zensiert. Ich darf Markus nicht in Schwierigkeiten bringen.‹
Sie blickte noch einmal um sich, lächelte ihr kleines Söhnchen an, tunkte den Federhalter in das Tintenfässchen und begann zu schreiben.
Berlin, April 1941
»Liebster, vielen, vielen Dank für Deinen lieben Brief und die Fotografie von Dir. Du siehst großartig aus. Wie geht es Dir? Paulchen und ich sind in Sorge um Dich. Wir haben so große Sehnsucht nach Dir. Letzte Nacht hatten wir wieder Bombenalarm, aber alles ist für uns gut verlaufen, es ist nichts passiert. Dein Sohnemann liegt hier neben mir in seinem Bettchen und schläft. Wenn Du ihn nur sehen könntest. Morgen treffen wir Deine Schwestern im Moka Efti. Dann hören wir, warum Du keine Post von Ihnen erhalten hast. Ja, und die Fahrkarten, da waren wir vollkommen überrascht, dass es so schnell ging. Wir sind so neugierig auf Österreich und die Menschen dort, kannst Du denn ihr Österreichisch gut verstehen?
Ich war noch nie im Ausland, und so eine weite Fahrt. Aber als Berliner sind wir Trubel gewöhnt.
Den Brief bringe ich erst zur Post, wenn wir morgen mit Deinen Schwestern gesprochen haben. Heute Nachmittag habe ich noch einmal Dienst, aber um zehn Uhr bin ich wieder daheim, wunderbar, es ist das letzte Mal. Bestimmt kannst Du Dir vorstellen, wie froh ich darüber bin.
Liebster, jetzt höre ich erst einmal auf, morgen schreibe ich weiter.«
***
Mittlerweile war es schon halb eins, als ein markerschütternder Schrei, der wohl aus der Küche kam, sie wie eine Salzsäule erstarren ließ. Schnell fing sie sich wieder, riss die Wohnzimmertür auf und stürzte in die Küche. Hanna schlug wie verrückt mit einem nassen Lappen auf ein Stück brennendes Papier ein, schimpfte und fluchte laut vor sich hin. »Wie konnte mir das nur passieren, ich bin so dumm, so dumm.« Ena trat das brennende Papier, das jetzt vom Gasherd zu Boden gesegelt war, endgültig aus. »Was ist denn passiert, Hanna, hast du dich verbrannt?«
Nun kam auch Friedchen aus ihrem Zimmer die Treppen heruntergerannt, das einen halben Stock höher lag, schoss um die Ecke in die Küche. »Was ist denn hier los, oje, das sieht ja schlimm aus.« Hanna begann laut zu heulen, Tränen kullerten aus ihren Augen. Vor sich hin schniefend, fast unverständlich, brach es aus ihr heraus. »Wie konnte mir das nur passieren, ich kann es einfach nicht fassen – die Lebensmittelkarten.«
»Was ist denn nun geschehen, also, so schlimm kann es doch nicht sein«, versuchte Ena, sie zu beruhigen.
»Doch, viel schlimmer, ich habe die Lebensmittelkarten als Fidibus genommen und wollte mir eine Zigarette anstecken, was machen wir denn nun, jetzt bekommen wir nichts mehr zu essen.«
»Hanna, das war natürlich, also … Na ja, ist alles nicht so schlimm, wir haben immer noch einige Vorräte und wenn alle Stricke reißen, frage ich in der Gaststätte nach und ich borge uns etwas, ich muss sowieso bald wieder aushelfen.«
Hanna beruhigte sich zusehends, die gesamte Situation entspannte sich. Alle begannen zu lachen und konnten nicht mehr aufhören, bis sie sich die Bäuche halten mussten, einem Lachkrampf nahe. Schwer atmend wurden sie wieder ruhiger. »Schön, dass wir noch so lachen können, wirklich, das hätte ich nicht gedacht.« Damit verschwand Friedchen die halbe Treppe hoch in ihrem Zimmer.
Nach einer ruhigen Nacht, es gab keinen Alarm. Ena und Hanna machten sich früh genug auf den Weg in Richtung Moka Efti am Tiergarten. Grau in Grau mit leichtem Nieselregen zeigte sich dieser Tag, aber davon ließen sie sich ihre gute Laune nicht verderben, im Gegenteil, sie lachten viel, auch über Hannas Missgeschick mit den Lebensmittelkarten.
Sie sahen viel Militär auf den Straßen, in Mannschaftswagen, Feldjäger auf Motorrädern mit Beiwagen. Schwere Mercedes-Cabrios mit verschlossenem Verdeck, in denen Offiziere der Wehrmacht saßen, natürlich mit Chauffeur, fuhren vorbei.
Diese Bilder trübten ihre gute Stimmung. Sie dachten an ihre eigenen Männer, Markus und Egon, die Sorge überfiel sie lawinenartig. Ihre fröhliche Unterhaltung schmolz dahin. Still gingen sie dahin, als schauten sie in einen fiktiven leeren Raum.
Ihre Gedanken, wohl die gleichen wie bei allen Ehefrauen, Müttern, Schwestern, Verlobten: ›Hoffentlich werden sie nicht verwundet oder Schlimmeres.‹ Sie hatten schon so viele Verletzte gesehen, die aus den Lazaretten, noch lange nicht gesund, nach Hause geschickt wurden.
Wenn sie sich überhaupt wieder erholten. Kaum wieder hergestellt, schickte man sie unweigerlich wieder zurück an die Kriegsfront. Alle Arten von körperlicher Versehrtheit waren augenscheinlich.
Sie sahen Soldaten mit hölzernen Unterarmkrücken, mit nur einem Bein, welche ohne Arm oder mit anderen schweren Verletzungen. Sie waren auf fremde Hilfe angewiesen, die Treppen hoch oder runter zur U- oder S-Bahn-Station, zum Bus, Straßenbahn, ihnen musste geholfen werden.
Der Krieg zeigte sein schreckliches Gesicht, und das sollte noch nicht das schrecklichste sein.
Nach mehrmaligem Umsteigen näherten sie sich der vorletzten Station.