Zeit muss enden - Aldous Huxley - E-Book

Zeit muss enden E-Book

Aldous Huxley

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Ein versöhnliches, heiteres Werk mit köstlichen Szenen und eigenwilligen Gestalten« Die WeltAls Sebastian Barnack zu einer festlichen Party eingeladen wird, gerät er in Verlegenheit, denn er besitzt keinen Abendanzug. Sein Vater, überzeugter Sozialist, weigert sich ihm dieses bürgerliche Klassen- und Statussymbol zu kaufen. An Sebastians Versuchen, dieses Kleidungsstückes habhaft zu werden, knüpfen sich Schuld und Verbrechen, die ihn schließlich erkennen lassen, dass nichts, was man tut ohne Konsequenzen bleibt ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Neuauflage einer früheren Ausgabe

Übersetzt aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka

ISBN 978-3-492-97668-8

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Ms. Laura Huxley 1945

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Time must have a Stop«, Chatto & Windus, London 1945

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1961, 1989

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Doch Denken ist des Lebens Sklav, das Leben

Der Narr der Zeit; und Zeit, die messend schaut

Die ganze Welt, muss enden.

Shakespeare

ERSTES KAPITEL

Sebastian Barnack kam aus dem Lesesaal der Bezirksbücherei von Hampstead und blieb im Vestibül stehen, um seinen abgetragenen Mantel anzuziehen. Mrs. Ockham, die ihn da erblickte, fühlte ein Schwert im Herzen. Dieses schmächtige, wunderschöne Menschenkind mit dem seraphischen Gesicht und dem blassblonden Lockenhaar war das lebende Abbild ihres eigenen, ihres einzigen, ihres toten und entschwundenen Lieblings.

Die Lippen des Buben, so gewahrte sie, bewegten sich, während er sich in seinen Mantel mühte. Sprach mit sich selbst – ganz wie ihr Frankie das immer getan hatte. Und nun wandte er sich dem Ausgang zu und kam an der Bank vorüber, auf der sie saß.

»So ein rauer Abend!«, sagte sie laut, einem jähen Impuls folgend, dieses lebende Phantom zurückzuhalten, die schmerzend scharfe Erinnerung tiefer in ihr wundes Herz zu bohren.

Aus seinen Gedanken gerissen, blieb Sebastian stehen, wandte sich ihr zu und starrte sie ein paar Sekunden verständnislos an. Dann ging ihm die Bedeutung dieses sehnsüchtig mütterlichen Lächelns auf. Sein Blick wurde hart. So etwas geschah ihm nicht zum ersten Mal. Sie behandelte ihn, als wäre er eins dieser entzückenden Babys in Kinderwagen, denen man den Kopf tätschelt. Der Funze wollte er’s zeigen! Aber wie gewöhnlich fehlte es ihm an der nötigen Courage und Geistesgegenwart. Und so lächelte er nur schwächlich und sagte einfach, ja, es sei ein rauer Abend.

Mrs. Ockham hatte mittlerweile ihr Handtäschchen geöffnet und eine kleine weiße Schachtel hervorgezogen.

»Möchten Sie nicht eine von diesen?«

Sie hielt ihm die Schachtel hin. Es war französische Schokolade, Frankies Lieblingsmarke – ihre eigene auch, übrigens. Sie hatte eine Schwäche für Süßigkeiten.

Sebastian betrachtete Mrs. Ockham ungewiss. Ihre Aussprache war einwandfrei und ihre Kleidung auf etwas saloppe, tweedige Art solid und von guter Qualität. Aber sie war dick und ältlich – mindestens vierzig, schätzte er. Er zögerte, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, diese lästige Person in die Schranken zu weisen, und einem nicht weniger starken Verlangen nach diesen köstlichen langues de chat. Wie ein Mops, sagte er sich, während er in das plumpe, weiche Gesicht da vor sich blickte. Ein rosiger, haarloser Mops mit schlechtem Teint. Worauf er das Gefühl hatte, dass er nun eine Katzenzunge annehmen könne, ohne seiner Integrität etwas zu vergeben.

»Danke«, sagte er und schenkte ihr sein bezauberndes Lächeln, das Damen mittleren Alters immer ganz unwiderstehlich fanden.

Siebzehn Jahre alt zu sein, einen Geist zu besitzen, von dem man fühlte, dass er alterslos erwachsen war, und dabei auszusehen wie ein Della-Robbia-Engel von dreizehn – es war ein widersinniges und erniedrigendes Schicksal. Aber letzte Weihnachten hatte er Nietzsche gelesen, und seither wusste er, dass er sein Schicksal lieben müsse. Amor fati – jedoch gemäßigt durch gesunden Zynismus. Wenn Leute bereit waren, einen dafür zu bezahlen, dass man jünger aussah, als man war, warum ihnen nicht geben, was sie wollten?

»Wie gut die ist!«

Wieder lächelte er sie an, und seine Mundwinkel waren braun von Schokolade. Das Schwert in Mrs. Ockhams Herzen machte abermals eine schmerzhafte Umdrehung.

»Nehmen Sie die ganze Schachtel!«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte, ihre Augen glänzten von Tränen.

»Nein, nein, das könnte ich nicht …«

»Nehmen Sie sie«, beharrte sie, »nehmen Sie sie doch!« Und sie drückte ihm die Schachtel in die Hand – in Frankies Hand.

»Oh … danke schön!« Es war genau, was Sebastian gehofft, ja, erwartet hatte. Er hatte seine Erfahrungen gemacht mit diesen sentimentalen alten Kühen.

»Ich hab einen Buben gehabt …«, sagte Mrs. Ockham mit gebrochener Stimme. »Ganz so wie Sie war er. Die gleichen Haare und Augen …« Die Tränen flossen ihr über die Wangen. Sie nahm die Brille ab und wischte die Gläser; dann schneuzte sie sich, stand auf und eilte in den Lesesaal. Sebastian sah ihr nach, bis sie seinem Blick entschwunden war. Mit einmal fühlte er sich schrecklich schuldig und gemein. Er blickte auf die Schachtel in seiner Hand. Ein Bub war gestorben, sodass nun er, Sebastian, diese Katzenzungen bekam; und wenn seine eigene Mutter am Leben wäre, wäre sie jetzt fast so alt wie diese armselige bebrillte Person. Und wenn er gestorben wäre, wäre seine Mutter genauso unglücklich und sentimental gewesen. Impulsiv machte er eine Bewegung, um die Schokolade wegzuwerfen; dann hielt er sich zurück. Nein, das wäre einfach dumm und abergläubisch. Er ließ die Schachtel in seine Manteltasche gleiten und trat in das nebelige Zwielicht hinaus.

»Millionen und Millionen«, flüsterte er vor sich hin; und die Ungeheuerlichkeit des Jammers schien mit jeder Wiederholung des Wortes zu wachsen. Überall auf der Welt lagen Millionen von Menschen in Schmerzen; Millionen starben in diesem selben Augenblick; noch mehr Millionen trauerten um sie, die Gesichter verzerrt wie bei dieser bedauernswerten ältlichen Scharteke, und die Tränen rannen ihnen über die Wangen. Und Millionen hungerten, Millionen waren eingeschüchtert und krank und bekümmert. Millionen wurden beschimpft und gestoßen und geschlagen von anderen, brutalen Millionen. Und überall der Gestank von Abfall und Fusel und ungewaschenen Körpern, auf allem der Mehltau der Dummheit und Hässlichkeit. Der Greuel war stets da, auch wenn man sich zufällig wohl und glücklich fühlte – stets da, gleich um die Ecke und hinter fast jeder Haustür.

Während er die Straße hinabging, fühlte sich Sebastian von einer ungeheuren unpersönlichen Traurigkeit überkommen. Nichts anderes mehr als Tod und Qual schien Dasein zu haben oder von Bedeutung zu sein.

Und dann kamen ihm diese Worte von Keats in Erinnerung: »The giant agony of the world!« Die Riesenqual der Welt. Er wühlte in seinem Gedächtnis, um die anderen Zeilen zu finden. »None may usurp this height …« Wie ging es nur?

None may usurp this height, returned that shade,

But those to whom the miseries of the world

Are misery, and will not let them rest …

Wie recht der Schatten hatte! Nur denen war die höchste Höhe erreichbar, die das Elend der Welt elend machte und nicht ruhen ließ. Und vielleicht war es Keats eines kalten Frühlingsabends eingefallen, als er, genauso wie jetzt er selbst, die Anhöhe von Hampstead hinabging; hier hinabging und bisweilen stehen blieb, um ein Bröcklein seiner Lungen herauszuhusten und an seinen und auch an den Tod anderer Menschen zu denken. Sebastian begann abermals und sagte es sich vor.

None may usurp this height, returned that shade,

But those …

Aber, du gütiger Himmel, wie grauenhaft schlecht es klang, wenn man es laut sprach! None may usurp this height, returned that shade, but those … Wie hatte er sich nur so etwas durchgehen lassen können! Aber natürlich war der gute Keats manchmal recht nachlässig gewesen. Und ein Genie zu sein, hatte ihn nicht vor den fürchterlichsten Geschmacklosigkeiten bewahrt. Es gab Stellen im Endymion, die einen schaudern machten. Und wenn man bedachte, dass es ein Äquivalent für Griechisch sein sollte … Sebastian lächelte mit mitleidiger Ironie in sich hinein. Eines Tages würde er der Welt zeigen, was sich mit griechischer Mythologie tun ließ! Mittlerweile kehrte sein Geist zu den Wendungen zurück, die ihm gerade vorhin in der Bibliothek eingefallen waren, während er dieses Buch von Tarn über die hellenistische Kultur las. »Vergiss der trockenen Feigen!«, so sollte es beginnen. »Vergiss der trockenen Feigen …« Aber getrocknete Feigen konnten immerhin gute Feigen sein. Für Sklaven gäbe es nie etwas anderes als die Missfrüchte und den Abfall der Ernte. Also: »Vergiss der fauligen Feigen.« Überdies hatte in dieser Klangverbindung »faulig« die passenderen Vokale und ergab Alliteration.

Vergiss der fauligen Feigen, des muffigen Mehls,

Der Sklavenpeitsche, der Greise voll Todesfurcht …

Aber das war scheußlich flach. Dampfgewalzt und makadamisiert wie schlechter Wordsworth. Wie wär’s mit »vom Tod angegraut«?

Vergiss der fauligen Feigen, der Trebern und Prügel,

Der Greise, vom Tod angegraut, der Frauen …

Er zögerte, fragte sich, wie dieses trostlose Leben des Gynaikeions zusammenfassen. Dann sprang aus dem geheimnisvollen Quell von Licht und Energie hinten in seinem Schädel die vollkommene Phrase hervor: » … Frauen in Zwingern.«

Sebastian lächelte über das Bild, das da auftauchte – ein ganzer Zoo wilder, undomestizierbarer Mädchen, eine ohrenbetäubende Voliere adeliger Witwen. Aber die gehörten in ein anderes Gedicht – ein Gedicht, mit dem er Rache nehmen würde an dem ganzen weiblichen Geschlecht. Im Augenblick hatte er sich mit Hellas zu befassen – mit der historischen Jämmerlichkeit, die Griechenland war, und mit der imaginären Herrlichkeit. Imaginär selbstverständlich nur, was ein ganzes Volk betraf, aber gewiss verwirklichbar von einzelnen, von einem Dichter vor allen. Eines Tages, irgendwie, irgendwo, würde diese Herrlichkeit in seiner Reichweite sein; davon war Sebastian überzeugt. Inzwischen aber war es wichtig, keinen Narren aus sich zu machen. Die Leidenschaftlichkeit seiner Sehnsucht müsste im Ausdruck durch eine gewisse Ironie gemildert werden, die Pracht des ersehnten Ideals durch die Würze des Absurden. Den toten Buben und die Riesenqual der Welt völlig vergessend, gönnte er sich eine Katzenzunge aus dem Vorrat in seiner Manteltasche und nahm mit vollem Mund die berauschende Arbeit des Dichtens wieder auf.

Vergiss der fauligen Feigen, der Trebern und Prügel,

Der Greise, vom Sterben geschreckt, der Frauen

in Zwingern.

Das genügte fürs Geschichtliche. Nun zum Imaginären!

In ewigem Frühling …

Er schüttelte den Kopf. »Ewiger Frühling«, das klang wie der Schulleiter, wenn er in einem dieser asininen Geografievorträge, die er hielt, vom Klima Ekuadors redete. »Chronischer Mai« bot sich als Alternative. Die Assoziationen mit Katarrh und Krampfadern entzückten ihn.

In chronischem Mai welche Alkibiadesse

Umdrängen Platos Bart …

Pfui Teufel! Dies war nicht der Ort für Eigennamen. »Muskelprotze« vielleicht? Dann fiel wie Manna »Schwergewichtler« vom Himmel. Ja, ja: »Welch schöngeist’ge Schwergewichtler.« Er lachte laut auf.

Und wenn man »Weisheit« für »Plato« setzte, erhielt man:

In chronischem Juni welch schöngeist’ge Schwergewichtler umdrängen den Bart der Weisheit!

Genießerisch wiederholte sich Sebastian die Worte ein paarmal. Und nun zum anderen Geschlecht!

Horch, ganz nah,

Dies Klimpern und Flöten!

Stirnrunzelnd vor sich hinstarrend, ging er weiter. Diese einherspringenden Bacchen, diese praxiteleischen Brüste und Popos, diese Tänzerinnen auf den Vasen – wie höllisch schwierig, irgendeinen Sinn aus ihnen herauszuholen! Kompression und Expression. Quetsche alle diese wollüstigen Visionen zu einem Klumpen und dabei ein Likörglas voll Wörtersaft aus ihnen heraus, zugleich herb zusammenziehend und süß zu Kopf steigend, zugleich ein Adstringens und ein Aphrodisiakum! Leichter gesagt als getan. Endlich begannen sich seine Lippen zu bewegen.

»Horch«, murmelte er wiederum.

Horch, ganz nah,

Dies Klimpern und Flöten! Voraus, hinterdrein,

Kreisel nach Kreisel, welch globische Elastoplastik

Entfinstert, letzte Schleier gelöst, ihre Monde!

Er seufzte und schüttelte den Kopf. Noch nicht ganz richtig; aber immerhin, vorläufig müsste es genügen. Und inzwischen war hier schon die Ecke. Sollte er geradenwegs heimgehen oder den Umweg über Bantry Place machen, Susan abholen und sie das neue Gedicht hören lassen? Sebastian zögerte einen Augenblick, entschied sich dann für das zweite und wandte sich nach rechts. Er fühlte sich in der Stimmung für ein Publikum und Applaus.

 … welch globische Elastoplastik

Entfinstert, letzte Schleier gelöst, ihre Monde!

Aber vielleicht geriete das Ganze zu kurz. Es wäre vielleicht notwendig, noch drei oder vier Zeilen einzuschieben zwischen diese globische Elastoplastik und eine abschließende brillante Explosion bengalischer Lichter. Irgend etwas über den Parthenon, zum Beispiel. Oder vielleicht wäre etwas über Äschylos amüsanter.

Tragisch, auf Stelzen, Sublimitäten brüllend

Durch ein verzerrtes Mundloch …

Aber, du meine Güte! hier kamen diese bengalischen Lichter raketengleich, ununterdrückbar und unaufgefordert ihm in den Mund geschossen.

Und allzeit, im flimmernden Glanz, auf einem Tausend

Inseln, umschmiegt vom hyazinthenen Meer,

Welches Bangen, Begehren …

Nein, nein, nein. Zu unbestimmt, zu fleischlos abstrakt!

Welche Bullen und Buben, welch Rasen von Schwänen

und Lenden,

Welch strahlende Brünste, keuchend wie Schmiedebälge

Von Feuer zu hellerem Feuer …

Aber »hellerem« hatte gar keine Resonanz, keine über sich selbst hinausgehende Bedeutung. Was er brauchte, war ein Wort, das, während es die wachsende Heftigkeit des Feuers beschrieb, auch die Substanz seines eigenen, leidenschaftlich gehegten Glaubens vermitteln sollte – die Äquivalenz aller Ekstasen, der poetischen, der sexuellen, sogar der religiösen (wenn man sich auf dergleichen einließ), und ihre Überlegenheit über alle bloß alltäglichen und gewöhnlichen Zustände.

Er kehrte wieder zum Anfang zurück, weil er hoffte, auf diese Weise genug Wucht sammeln zu können, die ihn über das Hindernis trüge.

Und allzeit, im flimmernden Glanz, auf einem Tausend

Inseln, umschmiegt vom hyazinthenen Meer,

Welche Bullen und Buben, welch Rasen von Schwänen

und Lenden,

Welch strahlende Brünste, keuchend wie Schmiedebälge

Von Feuer … von Feuer …

Er zögerte; dann kamen die Worte.

Von Feuer zu reinerem Feuer, zu lauterstem Licht –

Die inkandeszenten Kopulationen der Götter.

Aber hier um die Ecke war schon Bantry Place, und sogar durch die geschlossenen, von Vorhängen bedeckten Fenster von Nummer fünf konnte er Susan bei ihrer Klavierstunde hören, wie sie diesen Scarlatti spielte, den sie den ganzen Winter geübt hatte. Eine Musik, so fiel ihm ein, die entstünde, wenn die Bläschen in einer Champagnerflasche rhythmisch emporschössen und, sobald sie die Oberfläche erreichten, in Klänge zerplatzten, so trocken aromatisch wie der Wein, aus dessen Tiefen sie aufstiegen. Der Vergleich gefiel ihm so sehr, dass ihm gar nicht bewusst wurde, nie Champagner geschmeckt zu haben; und als er schon an der Haustür klingelte, überlegte er weiter, dass diese Musik sogar noch trockener und aromatischer klänge, wenn’s ein Cembalo wäre, auf dem sie gespielt würde, und nicht der saftige Blüthner des alten Pfeiffer.

Über das Klavier weg erblickte Susan ihn, wie er das Musikzimmer betrat – mit diesen wunderschönen halbgeöffneten Lippen, das weiche Haar, durch das sie immer so sehnsüchtig gern mit den Fingern gefahren wäre und es gestreichelt hätte (aber das wollte er sie nie tun lassen), nun vom Wind zu einem bezaubernden Getümmel blasser Locken zerzaust. Wie lieb von ihm, einen Umweg gemacht zu haben, um sie abzuholen! Sie warf ihm ein schnelles frohes Lächeln zu, und dabei bemerkte sie plötzlich, dass winzig kleine Wasserperlen in seinen Haaren hingen, gleich diesen wunderschönen Tautropfen auf Kohlblättern – nur waren die hier viel kleiner und auf Florettseide aufgefädelt; und würde man sie berühren, wären sie kalt wie Eis. Schon der Gedanke daran genügte, den Fingersatz ihrer linken Hand völlig zu verwirren.

Der alte Dr. Pfeiffer, der im Zimmer hin und her schritt wie ein Tier im Käfig – ein kleiner, bäuchiger Bär in ungebügelter Hose und mit einem Walrossschnurrbart – nahm den zerkauten Zigarrenstummel aus dem Mundwinkel und schrie auf Deutsch: »Takt halten! Takt halten!«

Mit gewaltsamer Anstrengung vertrieb Susan den Gedanken an Tautropfen auf seidigen Locken aus ihrem Geist, riss die wackelnde Sonate zusammen und spielte weiter. Zu ihrem Ärger fühlte sie, wie sie errötete.

Blutrote Wangen, und das Haar rötlichgelb, schon fast rot. Rote Rüben und Karotten, dachte Sebastian unnachsichtig; und wie sich beim Lächeln das Zahnfleisch zeigte – das war buchstäblich anatomisch.

Susan ließ den Schlussakkord ausklingen und dann die Hände in den Schoß fallen und wartete auf das Urteil des Meisters. Dröhnend kam es auf einer Wolke Zigarrenrauchs einhergefahren.

»Gut, verry gut!« Und Dr. Pfeiffer schlug ihr auf die Schulter, als munterte er einen Karrengaul auf. Dann wandte er sich an Sebastian.

»Und hier ‘s dze liddle Ariel! Oder, perhaps, dze liddle Puck – not?« Er blinzelte zwischen zusammengekniffenen Augenlidern mit, wofür er es hielt, der spielerisch subtilsten, der exquisitesten und kultiviertesten Ironie hervor.

Kleiner Ariel, kleiner Puck … Zweimal an ein und demselben Nachmittag, und diesmal ohne jede Entschuldigung – einfach weil sich dieser alte Hanswurst einbildete, witzig zu sein.

»Da ich nicht Deutscher bin«, gab Sebastian scharf zurück, »habe ich nichts von Shakespeare gelesen – also wüsste ich’s wirklich nicht zu sagen.«

»Dze Puck, dze Puck!«, rief Dr. Pfeiffer und lachte so aus tiefster Brust, dass er seine chronische Bronchitis aufstörte und zu husten begann.

Ein Ausdruck der Besorgnis erschien auf Susans Gesicht. Der Himmel allein mochte wissen, wo das noch enden würde! Sie sprang vom Klavierstuhl auf. Und sobald sich die Explosionen und das beängstigend schleimige Keuchen von Dr. Pfeiffers Husten einigermaßen gelegt hatten, verkündete sie, dass sie sogleich gehen müsse; ihre Mutter habe ihr besonders eingeschärft, heute zeitig heimzukommen. Dr. Pfeiffer wischte sich die Tränen aus den Augen, biss abermals auf das schon sehr zerkaute Ende seiner Zigarre, traktierte Susan mit noch ein paar seiner schallenden Karrengaulliebkosungen und sagte ihr, sie solle um Gottes willen nicht vergessen, was er ihr über die Triller in der rechten Hand gesagt habe. Dann nahm er von einem Tischchen die mit Zedernholz ausgekleidete Silberkassette, die ein dankbarer Schüler ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, wandte sich an Sebastian, legte ihm eine gewaltige quadratische Tatze auf die Schulter und hielt ihm mit der anderen die Zigarren unter die Nase.

»Nehmen Sie eine«, sagte er zuredend. »Nehmen Sie eine schöne, große, dicke Havanna. Free of charge und garantiert, keinen Vomitus zu produzieren, nicht einmal bei einem Baby.«

»Oh, seien Sie still!«, schrie Sebastian in einer Wut, die an Weinen grenzte; und sich plötzlich duckend, schlüpfte er unter dem Arm seines Peinigers durch und lief aus dem Zimmer. Susan stand einen Augenblick unentschlossen, dann eilte sie ihm, ohne sich zu verabschieden, nach. Dr. Pfeiffer nahm die Zigarre aus dem Mund und schrie hinter ihr her.

»Schnell! Schnell! Ein Taschentuch für unser kleines Genie!« Die Haustür wurde zugeschlagen. Seiner Bronchitis trotzend, begann Dr. Pfeiffer abermals kolossal zu lachen. Vor zwei Monaten hatte das kleine Genie eine seiner Zigarren angenommen und, während Susan ihr Möglichstes mit der Mondscheinsonate tat, fast fünf Minuten lang gepafft.Dann kam ein panikhaftes Hinausstürzen ins Badezimmer; aber er war nicht mehr rechtzeitig hingelangt. Dr. Pfeiffers Sinn für Humor war mittelalterlich robust; für ihn war dieser Vomitus oben auf dem Treppenabsatz fast das Komischeste gewesen, was es seit den Späßen im Faust gegeben hatte.

ZWEITES KAPITEL

Er schritt so schnell aus, dass Susan laufen musste; und auch so holte sie ihn erst unter der zweiten Laterne ein. Sie griff nach seinem Arm und drückte ihn herzlich.

»Sebastian!«

»Lass mich!«, herrschte er sie an und schüttelte sie ab. Niemand sollte ihn begönnern und bemitleiden.

O weh! Wieder hatte sie das Verkehrte getan. Aber warum musste er so entsetzlich empfindlich sein? Und warum scherte er sich überhaupt um so einen alten Esel wie Pfeiffy? Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Sie war die Erste, die sprach.

»Hast du heut was gedichtet?«

»Nein!«, log Sebastian. Diese inkandeszenten Kopulationen von Göttern waren erloschen und zu Asche geworden. Schon der Gedanke, diese Verszeilen jetzt, nach dem Vorgefallenen, zu rezitieren, machte ihm übel – wie kaltgewordene Überbleibsel einer Mahlzeit essen zu sollen.

Wieder entstand ein Schweigen. Es war ein freier Nachmittag, dachte Susan, und weil die Prüfungen bevorstanden, gab’s kein Fußballspiel. Hatte er ihn mit dieser grässlichen Person, dieser Esdaile, verbracht? Unter der nächsten Laterne warf sie einen Seitenblick auf ihn. Ja, kein Zweifel, er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Die Schweine! Jäher Zorn erfüllte sie – Zorn, der einer Eifersucht entsprang, die besonders quälend, weil uneingestehbar war. Sie hatte keine Rechte; es war nie in Frage gekommen, dass sie etwas anderes sein könnten als Cousin und Cousine, beinahe Bruder und Schwester; überdies war es nur allzu schmerzhaft deutlich, dass er es sich nicht einmal träumen ließ, irgendwie anders an sie zu denken. Und übrigens, als er sie tatsächlich gebeten hatte, damals vor zwei Jahren, ihn sie ohne alle Kleider sehen zu lassen, hatte sie Nein gesagt, in einer völligen Panik. Zwei Tage später hatte sie Pamela Groves davon erzählt; und Pamela, die in eine dieser fortschrittlichen Schulen ging und deren Eltern so viel jünger waren als Susans, hatte bloß gebrüllt vor Lachen. Was für ein Getue wegen gar nichts! Pah! Sie und ihre Brüder und ihre Cousins – sie sahen einander immerzu ohne was anzuhaben. Ja, und die Freunde ihrer Brüder auch. Also warum der arme Sebastian nicht, wenn er es so gern wollte? Diese ganze dumme Prüderie aus dem vorigen Jahrhundert! Susan fühlte sich fast beschämt, dass sie und ihre Mutter so altmodische Ansichten hatten. Nächstes Mal, wenn Sebastian sie darum bäte, wollte sie sogleich ihren Pyjama ausziehen und sich vor ihn hinstellen, in der Haltung – so entschied sie nach einigem Nachdenken – dieser römischen Matrone, oder was immer sie war, auf dem Stich nach Alma Tadema im Arbeitszimmer ihres Vaters: lächelnd und mit erhobenen Armen sich das Haar aufbindend. Mehrere Tage lang probte sie die Szene vor ihrem Spiegel, bis sie in dem Ganzen absolut perfekt war. Aber leider wiederholte Sebastian seinen Wunsch nie, und sie besaß nicht die Keckheit, es selber vorzuschlagen. Was zum Ergebnis hatte, dass er die schauerlichsten Sachen trieb mit dieser Esdaile, diesem Luder, und sie gar kein Recht, gar keinen Grund hatte, auch nur zu weinen. Viel weniger noch, ihm eine herunterzuhauen, was sie gern getan hätte, und ihn zu beschimpfen und an den Haaren zu reißen und … und ihn so weit zu bringen, dass er sie küsse.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!