Zeitbewusstheit - Marcia Bjornerud - E-Book

Zeitbewusstheit E-Book

Marcia Bjornerud

0,0

Beschreibung

Den Zeitraum von neun Tagen, den ein Tropfen Wasser durchschnittlich in der Atmosphäre verbleibt, können wir leicht nachvollziehen. Aber die Hunderte von Jahren, die sich ein Molekül Kohlendioxid, das den Klimawandel antreibt, darin erhält, überschreiten die Grenzen unserer Vorstellung. Doch gerade die Prozesse, die weit vor uns lagen, prägen unsere Gegenwart, und unser heutiges Verhalten wird noch über Generationen hinweg gravierende Folgen für den Zustand der Erde haben. In Zeitbewusstheit zeigt Marcia Bjornerud eindrucksvoll, wie die Geologie als Biografin unseres Heimatplaneten anhand der Messungen von Erosion und Gebirgsbildung, aber auch von Ozean- und Atmosphärenveränderungen ein Verständnis für die Tiefenzeit und den Rhythmus der Erde bereithält, das wir in unserer Epoche der Beschleunigung dringend brauchen, wenn wir Lösungen für die drohende Umweltkatastrophe finden wollen. Die Lebensdauer der Erde mag im Vergleich zu der eines Menschen ewig erscheinen, doch zur Sicherung des Überlebens beider bleibt uns in Wirklichkeit nur wenig Zeit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 303

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MARCIA BJORNERUD

ZEITBEWUSSTHEIT

GEOLOGISCHES DENKEN UND WIE ES HELFEN KÖNNTE, DIE WELT ZU RETTEN

Aus dem amerikanischen Englischvon Dirk Höfer

INHALT

Prolog: Vom Reiz der Zeitlosigkeit

1Mehr Zeitbewusstheit!

2Ein Atlas der Zeit

3Das Tempo der Erde

4Es liegt was in der Luft

5Große Beschleunigungen

6Zeitbewusstheit, utopisch und wissenschaftlich

Epilog

Anhang

IVereinfachte geologische Zeitskala

IIDauer und Raten der Erdphänomene

IIIUmweltkrisen der Erdgeschichte: Ursachen und Folgen

Anmerkungen

Register

PROLOG

VOM REIZ DER ZEITLOSIGKEIT

Zeit ist die Sache, betreffs derer alle übereinkommen könnten, sie als übernatürlich zu bezeichnen.

– Haldor Laxness, Am Gletscher, 1968

Für Kinder, die in winterlichen Klimaverhältnissen aufwachsen, gibt es wohl nur wenige Erlebnisse, an die sie sich mit ebenso großer Freude erinnern wie an einen Tag im Schnee. Anders als Ferien, deren Vergnügungen mitunter durch die wochenlange Vorfreude geschmälert werden, sind Tage mit Schnee das reine ungetrübte Glück. Im ländlichen Wisconsin der 1970er Jahre verkündete der örtliche Radiosender die wetterbedingten Schulschließungen, und wir saßen bebend vor Hoffnung und bei voller Lautstärke vor dem Radio, wenn die Namen der öffentlichen und kirchlichen Schulen – in alphabetischer Reihenfolge und unerträglich bedächtig – verlesen wurden. Endlich wurde unsere Schule genannt, und plötzlich schien alles möglich. Die Zeit war zeitweise aufgehoben; die tyrannischen Stundenpläne der Erwachsenenwelt schienen wie durch Zauberhand ausgesetzt – ein Zugeständnis an die größere Autorität der Natur.

Vor uns lag der Tag in all seiner wohligen Fülle. Eine Expedition in die weiße, stumme Welt war das Erste, was nun anstand. Wir staunten über die neue Geografie der kleinen, um das Haus stehenden Waldstücke und über die vertrauten Gegenstände, die nun zu bauschigen Karikaturen ihrer selbst aufgebläht waren. Auf Baumstümpfen und Steinen saßen dicke Kissen, der Briefkasten trug einen lächerlich hohen Hut. Wir genossen diese heroischen Erkundungsmissionen umso mehr, als wir wussten, dass wir später in die gemütliche Wärme der Häuser zurückkehren würden.

An einen Tag mit Schnee erinnere ich mich besonders. Ich war in der achten Klasse, in jener Übergangszeit also, in der einem sowohl die Welt der Kindheit als auch die des Erwachsenseins offensteht. In der Nacht waren fast dreißig Zentimeter Schnee gefallen, gefolgt von heftigen Winden und beißender Kälte. Am anderen Morgen war die Welt völlig still und blendend hell. Meine Kindheitsgefährten waren nun schon Teenager geworden, die sich mehr fürs Schlafen als für den Schnee interessierten, ich aber konnte der Aussicht, draußen eine völlig verwandelte Welt anzutreffen, nicht widerstehen. Ich hüllte mich in Daunen und Wolle und ging hinaus. Eine schneidende Luft drang in meine Lungen. Die Bäume knarrten und ächzten so, wie sie es stets bei großer Kälte tun. Als ich den Hang zu dem Bach hinunterstapfte, der hinter unserem Haus entlangläuft, entdeckte ich einen roten Tupfen auf einem Ast: Im kalten Sonnenschein hockte ein Kardinalmännchen. Ich ging in Richtung des Baums und war überrascht, dass mich der Vogel nicht hörte. Ich ging noch näher heran, und mit einer Mischung aus Widerwillen und Faszination bemerkte ich, dass er auf seinem Sitz erfroren war – in lebensechter Haltung wie ein mit Glasaugen versehenes Exemplar in einem Naturkundemuseum. Es war, als würde die Zeit in den Wäldern stillstehen und mir erlauben, Dinge zu sehen, die in ihrer Bewegung normalerweise verwischt waren.

Als ich an diesem Nachmittag zurück nach Hause kam und die Segnungen der freien Zeit auskostete, wuchtete ich unseren großen Weltatlas aus dem Regal und legte mich vor ihn auf den Boden. Karten haben mich immer fasziniert; die guten sind wie labyrinthische Texte, hinter denen sich verborgene Geschichten auftun. An diesem Tag wollte es der Zufall, dass ich den Atlas auf einer Doppelseite, einer Karte mit den Zeitzonen der Erde aufschlug, mit Uhren oben in den Spalten, die die relativen Zeitangaben in Chicago, Kairo oder Bangkok anzeigten. Bis auf ein paar willkürliche Festsetzungen wie China (nur eine Zeitzone umfassend) und ein paar Ausreißer wie Neufundland, Nepal und Zentralaustralien, wo die Uhren nicht in einem runden Betrag relativ zur mittleren Greenwich-Zeit vor- oder zurückgestellt werden, verliefen die pastellfarbenen Streifen auf der Karte meist entlang der Längengrade. Es gab auch ein paar Regionen – die Antarktis, die Äußere Mongolei und eine arktische Inselgruppe namens Spitzbergen –, die grau eingefärbt waren, was laut der Kartenlegende so viel wie »Keine amtliche Zeit« bedeutete. Die Vorstellung, dass es Gegenden gibt, die – ohne Minuten oder Stunden, ohne die Tyrannei eines in Stunden unterteilten Tags – sich nicht durch Zeiteinheiten haben fesseln lassen, faszinierte mich. War die Zeit dort etwa eingefroren wie der Kardinal auf seinem Ast? Oder floss sie ungetaktet und ungehindert, einem umfassenderen natürlichen Rhythmus folgend, einfach dahin?

Als ich Jahre später durch Zufall oder Bestimmung auf Spitzbergen landete, um Feldstudien für meine Doktorarbeit in Geologie durchzuführen, stellte ich fest, dass ich mich tatsächlich an einem Ort jenseits oder außerhalb der Zeit befand. Die Eiszeit hatte die Inselgruppe noch fest im Griff. Die Hinterlassenschaften menschlicher Geschichte aus verschiedenen Epochen – Walknochen, die von Trankochern des siebzehnten Jahrhunderts zurückgelassen worden waren, Gräber russischer Jäger aus der Zeit Katharinas der Großen, der verbogene Rumpf eines Luftwaffenbombers – lagen wie in einer schlecht kuratierten Ausstellung auf den weiten, öden Tundraflächen verstreut. Ich lernte zudem, dass die Zuordnung »Keine amtliche Zeit« eigentlich auf einen lange schwelenden Streit zwischen Russen und Norwegern zurückgeht, ob nun auf Spitzbergen die Moskauer oder die Osloer Zeit gelten solle. An jenem schneereichen Tag aber, als ich keinen Alltagsroutinen folgen musste, kurz vor dem Erwachsenwerden, aber noch behaglich in meinem Elternhaus, tat sich mir ein kurzer Einblick in die Möglichkeit auf, dass es versteckte Winkel gibt, an denen Zeit nicht festgelegt ist und amorph bleibt – an denen man sogar ungehindert zwischen Vergangenheit und Gegenwart reisen kann. In der vagen Vorahnung der vor mir liegenden Veränderungen und Verluste wünschte ich mir, dass der perfekte Tag, den ich damals durchlebte, mein dauerhaftes Zuhause werde, von dem aus ich zu Abenteuern aufbrechen, bei der Rückkehr jedoch alles unverändert vorfinden würde. Das war der Beginn eines vertrackten Verhältnisses zur Zeit.

Nach Spitzbergen kam ich das erste Mal im Sommer 1984 als Doktorandin, genauer als seekranke Passagierin an Bord eines Forschungsschiffs des Norwegischen Instituts für Polarforschung. Die Saison für unsere Feldstudien fing erst im frühen Juli an, wenn das Eis genügend aufgebrochen war und eine sichere Navigation zuließ. Drei lange Tage, nachdem wir vom norwegischen Festland aufgebrochen waren, erreichten wir endlich die Südwestküste der Hauptinsel von Spitzbergen und das Gebiet, auf das ich mich in meiner Doktorarbeit über die Tektonikgeschichte des dortigen Gebirgszugs, des nördlichsten Ausläufers der Appalachen-Kaledoniden-Kette, konzentrieren wollte. In meinem seekranken Zustand war ich im Grunde froh über den an jenem Tag herrschenden hohen Wellengang, der verhinderte, dass unsere kleine Gruppe mit dem Schlauchboot an Land gebracht wurde. Die raue See hatte nämlich zur Folge, dass wir in den Genuss eines viel schnelleren und trockeneren Transports per Hubschrauber kamen. Wir hoben vom Oberdeck des schwankenden Schiffs ab. Unsere Ausrüstung und Lebensmittelvorräte baumelten, in ein Netz geschlungen, wie eine Tüte voller Zwiebeln unter dem Hubschrauber und hingen gefährlich über dem wogenden Meer. Ich erinnere mich, wie ich beim Anflug auf das Land den Boden nach Gegenständen absuchte, um ein Gefühl für den Maßstab zu bekommen, aber die Felsbrocken, Bachläufe und Flecken moosbewachsener Tundra blieben in ihrer Größe unbestimmt. Schließlich sah ich etwas, das aussah wie eine alte verwitterte Obstkiste. Wie sich herausstellte, war dies die Hütte, in der wir die kommenden zwei Monate verbringen würden (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Die Hütte auf Spitzbergen in der norwegischen Arktis

Nachdem der Helikopter abgeflogen und das Schiff hinter dem Horizont verschwunden war, waren wir in unserem Camp vom späten zwanzigsten Jahrhundert so gut wie abgeschnitten. Die Hütte, oder hytte, die sich als ziemlich gemütlich herausstellte, war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von findigen Jägern aus Treibholz gebaut worden. Zum Schutz gegen die Eisbären trugen wir Mauser-Karabiner aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Außer einem vereinbarten nächtlichen Funkaustausch mit unserem Schiff, das im Laufe des Sommers langsam das Archipel umfahren und ozeanografische Messungen vornehmen würde, hatten wir keine Möglichkeit, mit der Welt zu kommunizieren. Wir hörten keine aktuellen Nachrichten, und noch Jahre nach diesem Sommer und den Feldstudien in späteren Jahren entdeckte ich beschämende Lücken, was die Kenntnis jener Weltereignisse anbelangte, die zwischen Juli und September stattfanden. (Was? Wann ist Richard Burton gestorben?)

Auf Spitzbergen löst sich meine Zeitwahrnehmung von den gängigen Maßeinheiten. Zum Teil liegt dies an dem 24 Stunden lang herrschenden Tageslicht im Sommer (nicht unbedingt Sonnenschein, denn das Wetter ist mitunter ziemlich fürchterlich), das keinen Anhaltspunkt fürs Schlafengehen liefert. Es liegt aber auch an der unbeirrbaren Konzentration auf die Naturgeschichte dieser kargen Welt, in der so wenig an den Menschen erinnert. So wie es in der Tundra schwierig ist, die Größe von Objekten zu beurteilen, ist auch der zeitliche Abstand zwischen Ereignissen der Vergangenheit hier nur schwer festzustellen. Die wenigen menschengemachten Gegenstände, auf die man stößt – ein verheddertes Fischernetz, ein zerfallender Wetterballon –, sehen älter und schäbiger aus als die uralten, robust und vital erscheinenden Berge. Wenn ich auf den langen, täglichen Gängen zurück ins Camp völlig in meine Gedanken versunken bin und mein Verstand von Wind und Wellen rein gewaschen ist, überkommt mich manchmal das Gefühl, im Mittelpunkt eines Kreises zu stehen, gleich weit entfernt von allen meinen vergangenen und zukünftigen Lebensphasen. Eine Empfindung, die bald auch auf die Landschaft und die Felsformationen überschwappt; völlig vertieft in ihre Geschichte sehe ich dann, dass die Ereignisse der Vergangenheit noch immer gegenwärtig sind, und habe sogar das Gefühl, dass sie sich eines Tages wie in einer schönen Offenbarung erneut abspielen könnten. Es ist ein Blick nicht in die Zeitlosigkeit, sondern in die Zeitbewusstheit, den mir dieser Eindruck gewährt, ein jähes Bewusstsein, dass die Welt von der Zeit, oder, besser, aus Zeit gemacht ist.

KAPITEL 1

MEHR ZEITBEWUSSTHEIT!

Omnia mutantur, nihil interit(Alles wandelt sich, nichts geht unter).

– Ovid, Metamorphosen, AD 8

EINE KURZE GESCHICHTE DER ZEITVERLEUGNUNG

Als Geologin und Professorin spreche und schreibe ich ziemlich unbekümmert über Epochen und Äonen. Einer der Kurse, die ich regelmäßig unterrichte, trägt den Titel »Geschichte der Erde und des Lebens«, ein Überblick über die 4,5 Milliarden umfassende Saga des gesamten Planeten, abgehandelt in einem zehnwöchigen Trimester. Als Mensch jedoch, oder als Tochter, Mutter und Witwe, habe ich wie jeder andere auch damit zu kämpfen, der Zeit aufrichtig ins Gesicht zu blicken. Dies hat zuzeiten durchaus etwas Scheinheiliges.

Eine widerwillige Haltung gegenüber der Zeit trübt das individuelle und gesellschaftliche Denken. Die heute lächerlich erscheinende Millennium-Krise, die zur Jahrtausendwende die globalen Computersysteme und die Weltwirtschaft zu beschädigen drohte, war in den 1960ern und 70ern von Programmierern verursacht worden, die offensichtlich nicht davon ausgingen, dass das Jahr 2000 wirklich eintreten würde. In den letzten Jahren gelten kosmetische Eingriffe zunehmend als gesund, weil förderlich für das Selbstbewusstsein; in Wahrheit aber sind sie Ausdruck für die Angst und den Widerwillen, in der Zeit leben zu müssen. In einer Kultur, die die Zeit als einen Feind behandelt und alles dafür tut, ihr Verstreichen zu leugnen, wird unsere naturgegebene Abscheu vor dem Tod noch verstärkt. Wie Woody Allen sagte: »Die Amerikaner glauben, der Tod sei optional.«

Diese Art der Zeitverleugnung, verwurzelt in einer sehr menschlichen Kombination aus Eitelkeit und Existenzangst, ist wohl die verbreitetste und auch am ehesten entschuldbare Form einer, wie man es nennen könnte, Chronophobie. Es gibt aber auch andere, schädlichere Varianten, die mit dieser eher gutartigen Phobie zusammenwirken und in unserer Gesellschaft zu einem um sich greifenden, hartnäckigen und gefährlichen zeitlichen Analphabetismus führen. Wenn ein Erwachsener mit Schulabschluss heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, nicht in der Lage ist, auf einer Weltkarte die Kontinente zu bezeichnen, zeigen wir uns schockiert, sind gleichzeitig aber ziemlich schmerzfrei, was die Unkenntnis selbst der gängigsten Höhepunkte in der langen Geschichte des Planeten anbelangt (mhm, Beringstraße … Dinosaurier … Pangaea?). Die meisten Menschen, selbst in wohlhabenden und technisch fortgeschrittenen Ländern, haben kein Gefühl für zeitliche Proportionen, für die Dauer der großen Kapitel der Erdgeschichte, die Veränderungsraten in früheren Phasen geringer Umweltstabilität, für die intrinsischen Zeitskalen »natürlichen Kapitals« – etwa die Verweilzeit in Grundwassersystemen. Als Art pflegen wir ein kindliches Desinteresse für die Zeit vor unserem Erscheinen auf der Welt, zum Teil wollen wir sie nicht einmal wahrhaben. Die meisten Menschen haben keine Lust auf Geschichten ohne menschliche Protagonisten und einfach kein Interesse daran, sich mit Naturgeschichte zu befassen. Wir sind also zugleich überheblich und sozusagen zeitenthoben, sprich zeitliche Analphabeten. Wie unerfahrene, aber sich selbst überschätzende Autofahrer brettern wir durch Landschaften und Ökosysteme, ohne auch nur eine Vorstellung von den seit Langem bestehenden Verkehrsregeln zu besitzen, und reagieren dann völlig überrascht, wenn wir für die Missachtung der Naturgesetze bestraft werden. Die Ignoranz der Erdgeschichte gegenüber spottet allen Ansprüchen, die wir gemeinhin an die Moderne stellen. Unbekümmert steuern wir auf unsere Zukunft zu und verlassen uns dabei auf Zeitvorstellungen, die so primitiv sind wie eine Weltkarte aus dem vierzehnten Jahrhundert, wo an den Rändern einer flachen Erde Drachen lauern. Die Drachen der Zeitverleugnung liegen noch in erstaunlich vielen Lebensgebieten auf Lauer.

Unter den zahlreichen Feinden der Zeit spuckt der Junge-Erde-Kreationismus zwar das meiste Feuer, ist aber in seiner Gegnerschaft zumindest berechenbar. In den langen Jahren, die ich an Universitäten lehre, bin ich Studentinnen und Studenten mit christlich-evangelikalem Hintergrund begegnet, die ernsthaft versuchten, ihren Glauben mit einem wissenschaftlichen Blick auf die Erde zu versöhnen. Ich empfinde wirklich Mitgefühl für ihre Not und versuche Wege aus dieser inneren Dissonanz aufzuzeigen. Zunächst betone ich, dass ich mit meinem Beruf keineswegs ihren persönlichen Glauben diskreditieren möchte, sondern die Logik der Erdwissenschaften (die Geologik?) lehre, nämlich die Methoden und Instrumente einer Disziplin, die uns nicht nur befähigt, die Erde in ihrem gegenwärtigen Funktionieren zu verstehen, sondern auch ihre komplizierte und ehrfurchtgebietende Geschichte in allen Einzelheiten zu dokumentieren. Manche Studenten scheinen sich damit zufriedenzugeben, Wissenschaft und Glauben durch diesen methodologischen Schachzug auseinanderzuhalten. Häufig ist es aber so, dass sie, sobald sie lernen, die Landschaft und die Gesteine zu lesen, diese beiden Weltsichten zunehmend weniger miteinander vereinbaren können. In diesem Fall greife ich auf ein Argument zurück, das Descartes in seinen Meditationen anführt, wenn er darüber nachdenkt, ob seine Seinserfahrung wahrhaftig oder nur eine Illusion ist, die ihm von einem bösen Dämon oder Gott vorgegaukelt wird.1

In einem Einführungskurs zur Geologie wird man schon bald erkennen, dass Steine nicht Substantive, sondern Verben sind – sichtbare Belege für Prozesse: ein Vulkanausbruch, das Wachstum eines Korallenriffs, die Hebung einer Bergkette. Wohin man auch blickt, Steine sind die Zeugen von Ereignissen, die sich über lange Zeitspannen hinweg zugetragen haben. Mehr als zwei Jahrhunderte lang wurden die örtlichen Geschichten, die Gesteinsformationen in allen Teilen der Welt zu erzählen hatten, Stück für Stück zu einem großen globalen Wandteppich, der geologischen Zeitskala, zusammengenäht. Diese »Karte« der Tiefenzeit, von Stratigrafen, Paläontologinnen, Geochemikern und Geochronologinnen verschiedener Kulturen und Glaubensrichtungen unter großen Mühen erstellt, repräsentiert eine der großartigen intellektuellen Leistungen der Menschheit. An ihr wird fortlaufend gearbeitet, ständig kommen neue Details hinzu, und die zeitlichen Kalibrierungen werden mit jedem Tag genauer. In mehr als zwei Jahrhunderten hat noch niemand ein anachronistisches Gestein oder Fossil gefunden – kein, wie J. B. S. Haldane sagte, »präkambrisches Kaninchen«2 –, das von einer inneren Inkonsistenz in der Logik der Zeitskala zeugen würde.

Wenn man die methodische Arbeit unzähliger Geologen aus aller Welt (viele davon im Dienst von Ölfirmen) für glaubwürdig hält und an Gott als Schöpfer glaubt, dann hat man die Wahl, entweder die Idee von einer uralten und komplexen Erde zu akzeptieren, deren epische Geschichten vor Äonen von einem wohlwollenden Schöpfer in Gang gesetzt wurden, oder der Vorstellung von einer jungen Erde nachzuhängen, die erst vor ein paar tausend Jahren von einem arglistigen und betrügerischen Schöpfer fabriziert wurde, der, unsere Forschungen und Laboranalysen vorwegnehmend, in jeder Ecke und Spalte Beweise unterbrachte – von Fossillagerstätten bis hin zu Zirkonkristallen –, die für einen uralten Planeten sprechen. Was davon ist häretischer? Daraus folgend könnte man, wenn auch taktvoll und vorsichtig, argumentieren, dass die Schöpfungsgeschichte, verglichen mit der tiefen, reichen, großartigen geologischen Erzählung der Erde, eine beleidigende Verdummung, eine unzulässige Vereinfachung darstellt, die in ihrer Übertreibung einer Geringschätzung der Schöpfung gleichkommt.

Menschen, die mit theologischen Fragen ringen, haben meine ganze Sympathie, keine Toleranz hingegen bringe ich auf für Individuen, die, von (verdächtig gut finanzierten) religiösen Organisationen protegiert, absichtlich hirnvernebelnde Pseudowissenschaft verbreiten. Scheußlichkeiten wie das Creation Museum in Kentucky bringen meine Kollegen und mich zur Verzweiflung, aber auch die entmutigende Häufigkeit, mit der Webseiten der Junge-Erde-Kreationisten auftauchen, sobald Studentinnen und Studenten nach Informationen etwa über radiometrische Datierung suchen. Die ganze Taktik und die weitreichenden Tentakel der »Creation Science«-Industrie erschlossen sich mir allerdings erst, als mich ein einstiger Student darauf aufmerksam machte, dass einer meiner eigenen Artikel, veröffentlicht in einem Journal, das nur von wirklich abgedrehten Geophysikerinnen und -physikern gelesen wird, auf der Webseite des Institute for Creation Research zitiert worden war. Die Zitierhäufigkeit ist ein Maßstab, mit dem die wissenschaftliche Welt ihre aktiven Mitglieder einstuft, und die meisten Wissenschaftler haben sich P. T. Barnums Ansicht zu eigen gemacht, dass es »so etwas wie schlechte Öffentlichkeit« nicht gibt, will sagen, je mehr Zitierungen, desto besser, selbst wenn die eigenen Ideen widerlegt oder angefochten werden. Doch an dieser Stelle zitiert zu werden kam einer Social-Media-Propaganda durch einen besonders verächtlichen Troll gleich.

Der Artikel hatte ungewöhnliche metamorphe Gesteine aus den norwegischen Kaledoniden zum Thema, deren hochverdichtete Mineralstruktur darauf hinweist, dass sie sich zur Zeit der Gebirgsbildung mindestens fünfzig Kilometer tief in der Erdkruste befunden haben müssen. Seltsamerweise treten diese Gesteine in Linsen und Hülsen auf, durchschossen von Gesteinsmassen, die die Transformation zu den kompakteren Mineralstrukturen nicht mitgemacht hatten. Mit meinen Forschungskollegen konnte ich aufzeigen, dass sich die unübliche Metamorphose einer extremen Trockenheit des Ausgangsgesteins verdankt, die einen neuerlichen Kristallisationsprozess verhinderte. Wir folgerten, dass das Gestein mit seinen wenig verdichteten Mineralien offensichtlich einige Zeit tief in der Erdkruste verblieben war, bis sich durch ein oder mehrere starke Erdbeben Risse im Gestein bildeten. Dort eindringende Flüssigkeiten führten dazu, dass lokal lang unterdrückte metamorphe Reaktionen angestoßen wurden. Ausgehend von theoretischen Nebenbedingungen argumentierten wir, dass die punktuelle Metamorphose in diesem Fall nicht wie in anderen tektonischen Szenarien üblich in hunderttausenden oder Millionen Jahren, sondern in tausenden oder zehntausenden Jahren stattgefunden haben könnte. Auf diese »Anzeichen für eine rasche Metamorphose« stürzte sich ein Mitarbeiter des Institute for Creation Research und ignorierte, die Stelle zitierend, völlig, dass das Gestein bekanntermaßen etwa eine Milliarde Jahre alt ist und dass sich die Kaledoniden vor ungefähr 400 Millionen Jahren gebildet haben. Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die genug Zeit, Bildung und Motivation besitzen, das immense Feld der wissenschaftlichen Literatur nach solchen Belegstellen zu durchkämmen, und dass es vermutlich Institutionen gibt, die sie dafür bezahlen, machte mich sprachlos. Ganz offenbar geht es hier um sehr viel.

Bei denen, die die Öffentlichkeit bewusst mit falschen naturgeschichtlichen Darstellungen in die Irre führen und zur Verbreitung von Doktrinen, die ihrem eigenen Geldbeutel oder ihrer politischen Agenda zugutekommen, mit mächtigen religiösen Gruppierungen konspirieren, gelangt meine aus dem Mittleren Westen stammende Freundlichkeit an ihre Grenzen. Am liebsten würde ich ihnen zurufen: »Keine fossilen Brennstoffe für euch (kein Plastik sozusagen). Auf das ganze Erdöl sind wir nur dank eines genauen Verständnisses der Sedimentgeschichte und der geologischen Zeit gestoßen. Und auch keine moderne Medizin für euch, denn die meisten pharmazeutischen, therapeutischen und chirurgischen Fortschritte sind unter anderem Tests an Mäusen geschuldet, was nur aufgrund der Einsicht in ein evolutionäres Verwandtschaftsverhältnis Sinn ergibt. Ihr könnt ja, was die Geschichte des Planeten angeht, an jedem Mythos festhalten, der euch gefällt, aber dann solltet ihr auch mit den Technologien leben, die sich aus eurer Weltsicht ergeben. Und hört bitte damit auf, die nächste Generation mit eurem rückwärtsgewandten Denken zu verblöden.« (Wow! Jetzt fühle ich mich besser.)

Bestimmte religiöse Sekten hängen einer symmetrischen Form der Zeitverleugnung an und glauben nicht nur an eine gestutzte geologische Vergangenheit, sondern auch an eine verkürzte Zukunft, in der die Apokalypse bevorsteht. Die fixe Idee vom Ende der Welt mag als eine harmlose Wahnvorstellung abgetan werden – der einsame, in ein lockeres Gewand gehüllte Mann mit einem warnenden Transparent in der Hand ist eine einschlägige Karikatur –, und wir haben alle möglichen Weltuntergangs-Prophezeiungen unbeschadet überstanden. Wenn aber genügend viele Wähler an diese »Entrückungen« glauben, hat dies ernsthafte politische Konsequenzen. Die, die glauben, dass die letzten Tage der Menschheit bevorstehen, müssen sich keine Gedanken mehr über Klimawandel, schwindendes Grundwasser oder eine schrumpfende Artenvielfalt machen.3 Wenn es keine Zukunft mehr gibt, ist jede Form der Erhaltung paradoxerweise eine Verschwendung.

So ärgerlich professionelle Junge-Erde-Anhänger, Kreationistinnen und Apokalyptiker auch sein können, sie bekunden ihre Chronophobie immerhin völlig offen. Durchdringender und zersetzender sind da schon die beinahe unsichtbaren Formen der Zeitverleugnung, wie sie in die Infrastruktur unserer Gesellschaft selbst eingebaut sind. Zum Beispiel in der Logik einer Ökonomie, in der die Arbeitsproduktivität ständig wachsen muss, um höhere Löhne zu rechtfertigen, und Berufe, die mit zeitaufwendigen Aufgaben wie Erziehung, Pflege oder künstlerischen Inszenierungen betraut sind, ein Problem darstellen, weil sie kaum effizienter gemacht werden können. Ein Haydn-Streichquartett dauert im einundzwanzigsten Jahrhundert ebenso lang, wie es im achtzehnten Jahrhundert gedauert hat; hier wurde kein Fortschritt erzielt! Manchmal wird dieses Phänomen nach dem Ökonomen, der das Dilemma als Erster beschrieben hat, als »Baumol’sche Kostenkrankheit« bezeichnet.4 Dass das Ganze für pathologisch gehalten wird, sagt übrigens viel über unsere Haltung gegenüber der Zeit aus und über den geringen Wert, den wir im Westen Prozessen, Entwicklung und Reifung beimessen.

Geschäftsjahre und Wahlperioden erzwingen eine Scheuklappensicht auf die Zukunft. Kurzfristig Denkende werden mit Boni und Wiederwahl belohnt, während diejenigen, die es wagen, unsere Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen ernst zu nehmen, häufig unterliegen, überstimmt oder aus dem Amt gewählt werden. Nur wenige öffentliche Organe sind imstande, über die Zweijahreshaushalte hinaus Planungen vorzunehmen. Und in einer Zeit wie heute, in der Notlösungen zum Normalfall geworden sind, scheinen sogar zwei Jahre Vorausdenken die Möglichkeiten des Kongresses und der bundesstaatlichen Gesetzgebung zu überschreiten. Einrichtungen, deren Ziele auf lange Sicht angelegt sind – Nationalparks, öffentliche Bibliotheken und Universitäten –, werden zunehmend als Last für die Steuerzahlerin (oder als ungenutzte Chancen für Firmensponsoring) angesehen.

Der Erhalt natürlicher Ressourcen – Böden, Wälder, Wasser – für die Zukunft der Nation wurde einst als patriotische Angelegenheit, als Beweis für Heimatliebe betrachtet. Heute jedoch ist das Bild des guten Staatsbürgers auf seltsame Weise mit Konsum und Monetarisierung verquickt (ein Konzept, das inzwischen auch für Unternehmen gilt). Das Wort Konsument ist mehr oder weniger zum Synonym für Bürger geworden, was offenbar niemanden wirklich beunruhigt. »Bürger«, das bedeutet eigentlich Engagement, einen Beitrag leisten, Geben und Nehmen. »Konsument« bedeutet nur Nehmen, als ob unsere Rolle einzig darin bestünde, wie Heuschrecken, die sich auf einem Kornfeld niederlassen, alles, was wir unter die Finger bekommen, zu verschlingen. Wir mögen über apokalyptisches Denken spötteln, aber die bei Weitem verbreitetere Idee – ja, das ökonomische Credo –, dass die Konsumrate kontinuierlich wachsen kann und sollte, ist mindestens ebenso verblendet. Und während die Notwendigkeit für eine langfristige Sicht der Dinge immer deutlicher wird, schrumpft, da wir in einem hermetischen, narzisstischen Jetzt tweeten und chatten, unsere Aufmerksamkeitsspanne immer weiter.

Auch die akademische Welt trägt, indem sie bestimmte Forschungstypen bevorzugt und damit auf die Öffentlichkeit subtil Druck ausübt, Verantwortung in punkto Zeitverleugnung. Physik und Chemie nehmen aufgrund ihrer quantitativen Genauigkeit die höchsten Ränge in der Hierarchie intellektueller Wissensbestrebungen ein. Eine derartige Genauigkeit bei der Beschreibung der Arbeitsweise der Natur ist jedoch nur unter Bedingungen möglich, die, da sie abgelöst von einer bestimmten Geschichte, einem bestimmten Zeitpunkt erscheinen, stark kontrolliert und völlig unnatürlich sind. Dass sie als »reine« Wissenschaft firmieren, sagt viel aus; sie sind rein, insofern sie zutiefst zeitenthoben sind – unbefleckt von der Zeit und nur darauf aus, universelle Wahrheiten und ewige Gesetze zu ergründen.5 Wie Platons Ideen oder Urbilder werden diese unsterblichen Gesetze oft für wirklicher gehalten als ihre spezifischen Manifestationen (etwa die Erde). Die Biologie und die Geologie hingegen nehmen auf der Stufenleiter der Gelehrsamkeit niedrigere Ränge ein, sind sie doch, da sie von Zeit regelrecht durchdrungen sind und ihnen der aufregende Beiklang der Gewissheit fehlt, äußerst »unrein«. Die Gesetze der Physik und der Chemie gelten auch für Lebensformen und Gesteine und darüber hinaus ist es möglich, aus der Funktionsweise biologischer und geologischer Systeme ein paar allgemeine Prinzipien abzuleiten, doch im Kern dieser Wissenschaften geht es um die idiosynkratische Fülle von Organismen, Mineralien und Landschaften, die im Laufe der langen Geschichte dieses besonderen Winkels des Weltalls entstanden sind.

Als Disziplin hat die Biologie aufgrund ihres molekularen, von Laboratmosphäre und weiß bekittelten Wissenschaftlern gekennzeichneten molekularen Sektors sowie ihrer bewunderungswürdigen Beiträge zur Medizin an Reputation gewonnen. Doch die weiter unten eingestufte Geologie hat sich das schmucke Prestige anderer Wissenschaften nie aneignen können. Für sie gibt es keinen Nobelpreis, keine Leistungskurse im Gymnasium, und in der Öffentlichkeit gilt sie eher als verstaubt und langweilig. Natürlich nagt dies am Selbstbewusstsein der Geologen; in einer Zeit jedoch, in der Politikerinnen, Unternehmensbosse und Bürger dringend darauf angewiesen wären, die Geschichte, die Anatomie und die Physiologie der Erde zu verstehen, bringt das vor allem ernsthafte Folgen für die Gesellschaft mit sich.

Zum einen wirkt sich der gefühlte Wert einer Wissenschaft deutlich auf die Höhe der ihr zufließenden Gelder aus. Aus Frustration über die beschränkten Fördermittel für geologische Grundlagenforschung hat sich manch ein Geochemiker oder Paläontologe, der die Anfänge der Erde oder die ältesten Lebensspuren im Gestein erforscht, schlauerweise als »Astrobiologe« ausgegeben, was ihm die Möglichkeit bot, sich an NASA-Initiativen anzuhängen, die, gut finanziert, die Möglichkeit von Leben außerhalb der Erde, ob in unserem Sonnensystem oder jenseits davon, erforschen. So bewundernswert diese Manöver in ihrer Gewieftheit auch sind, so entmutigend ist es, dass wir Geologinnen und Geologen uns mit dem Hype des Raumfahrtprogramms umgeben müssen, um Gesetzgeber oder die breite Öffentlichkeit für ihren eigenen Planeten zu interessieren.

Ernsthafte Folgen für die Umwelt haben zum anderen aber auch das Desinteresse und die Verachtung, die Wissenschaftler anderer Disziplinen der Geologie entgegenbringen. Die großen, in der Zeit des Kalten Krieges erzielten Fortschritte in Physik, Chemie und Technik – die Entwicklung der Nukleartechnologie, die Synthese neuer Kunststoffe, Pestizide, Dünger und Kühlmittel, die Mechanisierung der Landwirtschaft, der Ausbau des Autobahnnetzes – führten zu einer Phase beispiellosen Wohlstands, hinterließen mit der Verunreinigung des Grundwassers, der Zerstörung der Ozonschicht, mit Bodenschwund, schrumpfender Artenvielfalt und Klimawandel aber auch ein dunkles Vermächtnis, für das zukünftige Generationen werden bezahlen müssen. Vorwürfe kann man den Wissenschaftlern und Technikerinnen, die hinter diesen Errungenschaften stehen, nur bedingt machen; denn wenn man gelernt hat, natürliche Systeme nur in höchst vereinfachter Form zu denken und von ihren spezifischen Besonderheiten so weit zu abstrahieren, dass sich ideale Gesetze anwenden lassen, und wenn man absolut nicht weiß, wie sich Störungen nach gewisser Zeit auf diese Systeme auswirken könnten, dann ist es kaum überraschend, dass die genannten Eingriffe zu unerwünschten Konsequenzen führen.

Und fairerweise sei angemerkt, dass bis in die 1970er Jahre hinein auch die Geowissenschaften nicht über die analytischen Instrumente verfügten, um das Verhalten komplexer natürlicher Systeme auf Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinaus beschreiben zu können.

Heute jedoch sollten wir verstanden haben, dass es wissenschaftlich nicht mehr zu entschuldigen ist, den Planeten wie in einem kontrollierten Laborexperiment als einfaches, vorhersehbares und passives Objekt zu behandeln. Allerdings ist es noch immer die gleiche alte zeitblinde Vermessenheit, die die verlockende Idee der technischen Klimabeeinflussung oder des Geo-Engineering, wie es auch heißt, in bestimmen akademischen und politischen Kreisen Fahrt aufnehmen lässt. Die derzeit am häufigsten diskutierte Methode, um den Planeten abzukühlen, ohne in mühsamer Kleinarbeit die Treibhausgasemissionen reduzieren zu müssen, ist die Injektion reflektierender Schwefelaerosole in die Stratosphäre, die obere Erdatmosphäre. Damit soll die Wirkung großer Vulkanausbrüche nachgeahmt werden, durch die die Erde in der Vergangenheit immer wieder abgekühlt wurde. Der Ausbruch des Pinatubo 1991 auf den Philippinen zum Beispiel führte dazu, dass der unaufhörliche globale Temperaturanstieg für zwei Jahre unterbrochen wurde. Zu den Hauptverfechtern dieser Art der planetaren Kesselflickerei gehören Physikerinnen und Ökonomen, die damit argumentieren, dass eine solche Maßnahme billig, wirksam und technisch machbar wäre, und das Ganze unter dem harmlos, fast bürokratisch klingenden Namen »Strahlungs-Management« verkaufen.6

Die meisten Geowissenschaftler, die sich nur zu bewusst sind, welch gewaltige und nicht vorhersehbare Konsequenzen auch kleine Veränderungen in komplexen natürlichen Systemen zeitigen können, sind jedoch zutiefst skeptisch. Die Schwefelmengen, die benötigt würden, um die Erderwärmung umzukehren, entsprächen einem alle paar Jahre stattfindenden Vulkanausbruch in der Größenordnung des Pinatubo und dies für mindestens ein Jahrhundert lang. Ohne signifikante Reduzierung der Treibhausgasmengen würde nämlich ein Stopp solcher Injektionen zu einem jähen weltweiten Temperaturanstieg führen, der die Anpassungsfähigkeit der Biosphäre in weiten Teilen überfordern dürfte. Schlimmer noch, die Wirkung einer solchen Maßnahme lässt mit der Zeit nach, denn mit der zunehmenden Konzentration der Schwefelteilchen in der Stratosphäre verbinden diese sich zu größeren Partikeln mit weniger Reflexionskraft und kürzerer Verweilzeit in der Atmosphäre. Vor allem aber könnten wir, selbst wenn es zu einer generellen Nettoabnahme der Erdtemperatur käme, nicht absehen, welche Auswirkungen eine solche Maßnahme im Detail auf regionale und lokale Wettersysteme hätte. (Und ganz davon abgesehen besitzen wir keine internationalen Steuerungsmechanismen, die die weltweiten Manipulationen der Atmosphäre überwachen und regulieren könnten.)

Anders gesagt, es ist an der Zeit, dass sich alle Wissenschaften den geologischen Respekt vor der Zeit und ihrer Fähigkeit zur Umgestaltung, zur Zerstörung, zur Erneuerung, zur Erweiterung, zur Erosion, zur Vermehrung, zur Verflechtung, zur Innovation und zur Auslöschung zu eigen machen. Die Auslotung der Tiefenzeit ist vielleicht der größte Einzelbeitrag, den die Geologie der Menschheit geschenkt hat. So wie Mikroskop und Teleskop unseren Blick auf Räume gerichtet haben, die einst zu klein oder zu unermesslich waren, um sie sehen zu können, stellt die Geologie eine Linse bereit, durch die wir Zeit auf eine Weise zu erleben vermögen, die die Grenzen der menschlichen Erfahrungen übersteigt.

Aber selbst die Geologie trifft eine Mitschuld an der allgemein verbreiteten fehlgeleiteten Zeitauffassung. Seit die Disziplin Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ins Leben gerufen wurde, haben sich Geologen über die unvorstellbare Langsamkeit geologischer Prozesse und die Idee, dass geologische Veränderungen nur über immens lange Zeiträume stattfinden, ausgelassen. Darüber hinaus verweisen geologische Lehrbücher meist mit einer gewissen Schadenfreude darauf, dass sich in der 4,5 Milliarden Jahre alten Geschichte der Erde, übertragen auf einen 24-Stunden-Tag, die Geschichte der Menschheit in dem letzten Bruchteil der Sekunde vor Mitternacht ereignen würde. Das allerdings ist ein verqueres, ja sogar unverantwortliches Verständnis unserer Stellung in der Zeit. Denn zum einen legt es einen Grad an Bedeutungslosigkeit und Machtlosigkeit nahe, der nicht nur psychologisch befremdend ist, sondern uns auch das Ausmaß, mit dem die Menschheit in dieser letzten Viertelsekunde auf den Planeten einwirkt, verdrängen lässt. Zudem verleugnet es, dass unsere Existenz tief in der Erdgeschichte verwurzelt und permanent mit ihr verquickt ist; unser besonderer Clan ist vielleicht erst unmittelbar vor dem zwölften Glockenschlag auf den Plan getreten, aber unsere weitere Familie der lebenden Organismen existiert bereits seit mindestens sechs Uhr morgens. Und zu guter Letzt legt diese Analogie ziemlich apokalyptisch nahe, dass es keine Zukunft gibt – was geschieht nach Mitternacht?

EINE FRAGE DER ZEIT

Als Menschen werden wir nie völlig damit aufhören können, uns über die Zeit Sorgen zu machen, und sie lieben lernen (um auf einen Satz von Dr. Seltsam … zurückzugreifen). Vielleicht aber können wir ein Mittelding zwischen Chronophobie und Chronophilie finden und eine Art Zeitbewusstheit entwickeln, eine Haltung, die uns eine klare Sicht auf unsere Position in der Zeit ermöglicht, sowohl was die Ereignisse lange vor uns in der Vergangenheit als auch was die Zukunft anbelangt, die ohne uns stattfinden wird.

Zeitbewusstheit, das heißt auch ein Gefühl für Entfernung und Nähe in der Geografie der Tiefenzeit. Sich lediglich auf das Alter der Erde einzuschießen, wäre wie eine Symphonie nur anhand der Gesamtzahl ihrer Takte beschreiben zu wollen. Ohne Zeit ist eine Symphonie nur eine Ansammlung von Klängen; erst die Länge der Töne und das Wiederauftreten bestimmter Themen verleihen ihr Gestalt. Auf ähnliche Weise zeigt sich die Großartigkeit der Geschichte der Erde in ihrer stufenweisen Entfaltung, mit den ineinander verwobenen Rhythmen ihrer zahlreichen Sätze, mit kurzen Motiven, die über Klangteppiche hinweghuschen, welche durch die gesamte Erdgeschichte ertönen. Wir merken, dass das Tempo zahlreicher geologischer Prozesse, anders als gedacht, nicht ganz einem larghissimo entspricht. Gebirge wachsen in einer Geschwindigkeit, die heute in Echtzeit gemessen werden kann, und auch die Beschleunigung, die das Klimasystem erfährt, erstaunt selbst jene, die es seit Jahrzehnten untersuchen.

Gleichwohl tröstet mich das Wissen, dass wir nicht auf einem unreifen, unerprobten und womöglich fragilen, sondern auf einem sehr alten und langlebigen Planeten leben. Und meine tägliche Erfahrung als Erdenbewohnerin findet sich bereichert durch das Bewusstsein einer nachklingenden Gegenwart so vieler vorheriger Versionen und Bewohner auf der Erde. Die Gründe für die Morphologie einer bestimmten Landschaft zu begreifen ist wie die plötzliche Einsicht, die einen überkommt, wenn man der Etymologie eines gewöhnlichen Wortes nachgeht. Ein Fenster öffnet sich und erhellt eine ferne, gleichwohl wiedererkennbare Vergangenheit, fast so, als ob einem etwas lange Vergessenes wieder einfällt. Dies verzaubert die Welt, verleiht ihr eine Vielzahl von Bedeutungen und verändert, wie wir unseren Platz in ihr wahrnehmen. Wir mögen uns zwar inbrünstig wünschen, aus Gründen der Eitelkeit, der Existenzangst, des intellektuellen Hochmuts die Zeit verleugnen zu können, aber wir machen uns nur kleiner als nötig, wenn wir unsere Zeitlichkeit in Abrede stellen. So verlockend die Vorstellung der Zeitlosigkeit auch sein mag, es liegt eine weit tiefere und rätselhaftere Schönheit im Gewahrsein der Zeit.

EIN KURZER BLICK NACH VORN

Ich habe dieses Buch in dem (vielleicht naiven) Glauben geschrieben, dass wir uns untereinander und den Planeten besser behandeln, wenn mehr Menschen unsere gemeinsame Geschichte und unser Schicksal als Erdenbewohner verstehen. In einer Zeit, in der die Welt aufgrund von religiösen Dogmen und politischen Animositäten tiefer gespalten scheint denn je, gibt es womöglich nur wenig Hoffnung, eine gemeinsame Philosophie, eine Reihe von Prinzipien zu finden, die alle Parteien an einen Tisch bringt, damit sie offen und ehrlich über die zunehmend schwieriger lösbaren ökologischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Probleme diskutieren.

Doch das gemeinschaftliche Erbe der Geologie könnte uns noch die Möglichkeit bieten, über diese Themen in einem neuen und unverbrauchten Rahmen nachzudenken. Schon jetzt fungieren Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler als eine Art improvisiertes internationales diplomatisches Corps und demonstrieren, dass Menschen aus hochentwickelten und aus Entwicklungsländern, aus sozialistischen und kapitalistischen Staaten, aus Theokratien und Demokratien zusammenarbeiten, debattieren, verschiedener Meinung sein und zu einem Konsens finden können. Sie alle eint der Umstand, dass wir samt und sonders Bürgerinnen eines Planeten sind, dessen tektonisches, hydrologisches und atmosphärisches Gebaren keine nationalen Grenzen kennt. Vielleicht, und nur vielleicht, vermag die Erde mit ihrer immens weit zurückreichenden Geschichte ein politisch neutrales Narrativ zur Verfügung zu stellen, an dem sich zu orientieren alle Nationen einvernehmlich bereit sind.

In den folgenden Kapiteln hoffe ich, etwas von dem bewusstseinsverändernden Gespür für die Zeit und die Entwicklung der Erde vermitteln zu können, das das geologische Denken durchzieht. Es ist vielleicht nicht möglich, die Unermesslichkeit der geologischen Zeit völlig zu fassen, aber man kann zumindest ein Gefühl für ihre Proportionen entwickeln. Ich hatte einmal einen Mathematiklehrer, der die Klasse gerne daran erinnerte, dass »es viele Größen und Formen der Unendlichkeit gibt.« Etwas Ähnliches lässt sich über geologische Zeit sagen, die, wenn auch nicht tatsächlich, so doch aus einer menschlichen Perspektive, unendlich ist. In den Meeren der Tiefenzeit herrschen jedoch ganz unterschiedliche Tiefen; sie reichen von den Untiefen der letzten Eiszeit bis in den Abgrund des Archaikums. In Kapitel 2 wird erzählt, wie die Geologen den Ozean der Zeit kartiert haben, indem sie sich zunächst qualitativ auf den Fossilbericht und dann, mit zunehmender quantitativer Genauigkeit, auf das Phänomen der natürlichen Radioaktivität stützten. (Letzteres stellt die technischste Seite des Buches dar; wenn die Geochemie der Isotope nicht Ihre Sache ist, dürfen Sie die Einzelheiten überspringen und ohne schlechtes Gewissen oder ohne den Anschluss zu verlieren fortfahren.) Die geologische Zeitskala, an deren Verfeinerung immer noch gearbeitet wird, ist eine intellektuelle Gemeinschaftsleistung, die allgemein unterschätzt wird. Eine vereinfachte Version findet sich in Anhang I.

In Kapitel 3 geht es um die spezifischen Rhythmen der Erde unter unseren Füßen – die Geschwindigkeiten der Tektonik und der Landschaftsentwicklung und darum, dass wir, um eine geologische Perspektive einnehmen zu können, jeden Glauben an die Unveränderbarkeit topografischer Gegebenheiten aufgeben müssen. Geologische Vorgänge mögen sich langsam abspielen, sie lassen sich aber von uns beobachten. Und eine der wichtigsten Einsichten, die sich aus der »Taktung der Erde« ergeben haben, besteht darin, dass die Veränderungsraten verschiedener Naturprozesse – vom Wachstum der Gebirge über die Erosion bis hin zur evolutionären Anpassung, die sich jeweils verschiedenen Kräften verdanken – bemerkenswert gut aufeinander abgestimmt sind. Dauer, Raten und Wiederkehrintervalle verschiedener geologischer Phänomene finden sich im Anhang II in mehreren Tabellen zusammengefasst.

Kapitel 4