Zen Style - Stephan Kunze - E-Book
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Zen Style E-Book

Stephan Kunze

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  • Herausgeber: Arkana
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Wie geht ein gutes Leben heute? Der Musikjournalist Stephan Kunze lebt nach dem Motto hart arbeiten, hart feiern, ist 24/7 online und immer am Limit – weil das im Berlin der Nuller-Jahre als einzig cooler Lifestyle gilt. Bis ihn mit Anfang 30 scheinbar grundlos Panikattacken und gesundheitliche Probleme in die Knie zwingen. Zum ersten Mal stellt er sich die Frage: Wo folge ich nur der Meute und was ist mir wirklich wichtig? Er beschäftigt sich mit Zen-Buddhismus, Meditation, Minimalismus und den Lehren der antiken Stoa und stellt fest: Je mehr Dinge ich loslasse, desto reicher werde ich. Wenige echte Freundschaften zählen weit mehr als zig Follower in den Sozialen Medien. Je weniger ich dem Glück nachlaufe, desto mehr wächst meine innere Zufriedenheit.
Mit klugem, ruhigen Blick beschreibt der Autor, wie es trotz eines fordernden Jobs gelingt, seine persönlichen Werte zu leben und in die eigene Mitte zu finden.

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Seitenzahl: 281

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Seit Jahren boomen Minimalismus, die Tiny-Haus-Bewegung, stoische Philosophie und Zen. Die Begeisterung für diese Themen teilt auch der Musikjournalist Stephan Kunze. Lange lebt er nach dem Motto hart arbeiten, hart feiern, ist 24/7 online und immer am Limit – weil das im Berlin der Nuller-Jahre als einzig cooler Lifestyle gilt. Bis ihn mit Anfang 30 scheinbar grundlos Panikattacken und gesundheitliche Probleme in die Knie zwingen. Zum ersten Mal stellt er sich die Frage: Wo folge ich nur der Meute und was ist mir wirklich wichtig? Er beschäftigt sich mit Zen-Buddhismus, Meditation, Minimalismus und den Lehren der antiken Stoa und stellt fest: Je mehr Dinge ich loslasse, desto reicher werde ich. Je weniger ich dem Glück nachlaufe, desto mehr wächst meine innere Zufriedenheit.

Stephan Kunze

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Originalausgabe

© 2021 Arkana, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Pascal Frank

Textauszug mit freundlicher Genehmigung: siehe hier: Shunmyō Masuno, Zen your life. Kleine Veränderungen mit großer Wirkung. In der Übersetzung von Nora Bartels © 2019, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, München, Daniela Hofner

Umschlagmotiv: © Dreava Bogdan / Westend 61

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28581-4V001

Besuchen Sie den Arkana Verlag im Netz

Inhalt

1.Zen Style

2.Im Zentrum

3.Die Denkmaschine denkt

4.Neustart

5.Kuration des Alltags

6.Freiwillige Einfachheit

7.Über Minimalismus

8.Die Wurzeln der Bewegung

9.Die ewige Weisheit

10.Praktische Philosophie

11.Wahre Lebenskunst

12.Das Ende der Suche

13.Wende zum Weniger

14.Zu Fuß gehen

15.Ultraleicht reisen

16.Ignoriere die Nachrichten

17.Die Ökonomie der Aufmerksamkeit

18.Wirf dein Smartphone weg

19.Exkurs: Digitale Unsichtbarkeit

20.Das Vertiefungsjahr

21.Die Fortschrittslüge

22.Dunkle Ökologie

23.Von Suburbia nach Utopia

24.Kulturelle Strahlung

25.Analoges Leben in einer digitalen Welt

26.In Stille

27.Wie man komplett verschwindet

28.Social Distancing

29.Meine Geschichte

Anhang

Dank

Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

»Sich nicht von Wertvorstellungen anderer beeinflussen zu lassen, unwichtige Dinge ausblenden zu können, Überflüssiges abzuwerfen und möglichst einfach zu leben – das ist der ›Zen-Style‹.«1

Shunmyō Masuno, Zen your life. Kleine Veränderungen mit großer Wirkung

Zen Style

Mit 30 begann ich zu grübeln. Dabei war mein Leben bis dahin ein einziger Durchmarsch gewesen. Ich – ein weißer privilegierter Hetero-Cis-Mann – war in einem bürgerlichen Haushalt von mich liebenden, unterstützenden 68er-Eltern großgezogen worden. Ich hatte keine Diskriminierungserfahrungen, schlimme familiäre Tragödien, Armut oder sonstige Traumata zu verarbeiten. Mein Studium hatte ich halbwegs erfolgreich abgeschlossen und parallel dazu erste Berufserfahrungen gesammelt. Nun arbeitete ich in meinem vermeintlichen Traumjob: in Vollzeit und mit Festanstellung, unbefristet, branchenübliches Gehalt. Mit meiner Freundin lebte ich in einer geräumigen Altbauwohnung in einer gentrifizierten Gegend von Berlin.

Ich hätte glücklich sein müssen. Doch stattdessen fühlte ich mich oft ausgebrannt und müde, litt unter Panikattacken und depressiven Verstimmungen. Zur Verdrängung nutzte ich Arbeit und Alkohol, kaufte teure Markenkleidung und ging ständig essen oder feiern.

Mein junges Erwachsenenleben war wie im Rausch vorbeigezogen: Umzug von einer Großstadt in die nächste, Auslandssemester, Praktika und Jobs, Clubs und Partys. Doch irgendwie blieb da immer diese leise, hintergründige Ahnung: War das wirklich alles, was das Leben für mich bereithielt? Da musste doch mehr sein – etwas anderes, Unbestimmtes, Aufregendes, was ich noch nicht entdeckt hatte. Ging es den anderen auch so? Oder hatten sie alle längst verstanden, worum es eigentlich ging? Meine ganze Existenz wurde von der Angst beherrscht, etwas zu verpassen.

Vielleicht geht es dir so ähnlich wie mir damals: Dein Leben ist bislang ohne größere Katastrophen verlaufen. Man könnte mit Fug und Recht behaupten, dass du in dem, was du machst, einigermaßen erfolgreich bist. Du bist kein Überflieger, der schon im Sandkasten das erste Start-up gegründet hat, aber auch kein lethargischer Taugenichts. Du warst moderat ehrgeizig und hast alles berücksichtigt, was dir die Karrierewebseiten geraten haben, aber du willst dich auch selbst verwirklichen und vor allem glücklich werden. Doch obwohl es vordergründig irgendwie läuft, bleibt trotzdem dieser Zweifel bestehen. Der Zweifel daran, ob du deine Lebenszeit richtig nutzt.

Sollte man nicht jetzt noch einmal ein Jahr Auszeit vom Beruf nehmen und um die Welt reisen? Sich selbstständig machen mit der eigenen Firmenidee? Mehr Zeit für jene Dinge finden, die einem wirklich wichtig sind – Partner*in, Familie, Freund*innen? Oder ist jetzt nicht eher die Zeit, um richtig Gas zu geben und wirklich erfolgreich zu werden? Sollte man nicht ein wenig Zeit investieren, um finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen und früh anzufangen, den Vorruhestand vorzubereiten? Dann hätte man später immer noch genug Zeit für die Weltreise und all die anderen wichtigen Dinge … andererseits: Weißt du, wie lange du leben wirst? Wie dein Leben in zehn, 20 oder 30 Jahren aussehen wird? Willst du Kinder bekommen, und wenn ja, wann und wie viele? Und wie soll das alles in ein Leben passen, wenn doch der Alltag schon kaum zu bewältigen erscheint, vor lauter unerledigten To-dos? Vielleicht also doch erst mal feiern gehen. Oder ein paar Sneaker im Internet kaufen. Oder ein paar Minuten durch Instagram-Accounts scrollen, um sich zu versichern, dass es bei den anderen auch um nichts Weltbewegendes geht.

Wenn dir solche Gedanken bekannt vorkommen: Willkommen im Club. Dann weißt du vermutlich auch aus eigener Erfahrung, dass man sich derart in diese Gedanken hineinsteigern kann, dass sie alles dominieren. Sie können dich blockieren, frustrieren und vom Glück fernhalten. Trotzdem kannst du sie nicht einfach verschwinden lassen. Du kannst dich nur ablenken, und für ein paar Jahre kann das durchaus gut gehen: Du stürzt dich Hals über Kopf in deine Arbeit oder ins Nachtleben, in häufig wechselnde Beziehungen oder in impulsives Shopping, also in irgendeine Form von Beschäftigung, die dir kurzfristige, oberflächliche Befriedigung verschafft.

Dieses angenehme Gefühl wird dich für eine Zeit von den Stimmen in deinem Kopf befreien. Sie werden kurz verstummen, doch irgendwann kehren sie zurück und fragen ungläubig: »Denkst du wirklich, wir würden so einfach verschwinden? Und glaubst du immer noch, die nächste Gehaltserhöhung, das nächste Tinder-Match, der nächste Städtetrip oder der nächste limitierte Sneaker-Drop werden dich endlich glücklich machen?« Und dann werden sie dich auslachen.

Es mag Menschen geben, die sich damit zufriedengeben, ihr Leben lang auf der Jagd nach Geld, Status und Anerkennung zu sein, und dabei niemals ganz glücklich werden. Psychologen nennen dieses Phänomen die hedonistische Anpassung. Das ist evolutionär bedingt – und es ist ganz normal, dass wir unserer Psyche und ihren Mechanismen immer wieder auf den Leim gehen. Wir werden darauf später zurückkommen. Aber wir sind der Evolution nicht schutzlos ausgeliefert. Wir können wahres Glück finden – nur eben nicht dort, wo wir es suchen.

An dieser Stelle lohnt sich ein Disclaimer: Ich bin kein Guru, kein Lifecoach und kein pathologischer Selbstoptimierer, sondern ein Journalist, der über Jahre eine intensive Recherche betrieben hat. Dabei habe ich mich mit allen möglichen Disziplinen beschäftigt – mit Kunst und Wissenschaft, Religion und Spiritualität, Philosophie und Psychologie, Soziologie und Literatur. Und ich glaube, einen gemeinsamen Nenner in bestimmten Denkschulen dieser Disziplinen gefunden zu haben, der seit 2000 Jahren immer wieder auftaucht. Man kann ihn schwer greifen, doch im Kern geht es um die Erkenntnis, dass der Schlüssel zum Glück in uns selbst liegt. Dass wir nichts brauchen, sondern alles Wesentliche schon da ist. Der Weg zur Erkenntnis führt über einen Prozess der Reduktion auf allen Ebenen. Wir häuten uns, um an einen Punkt zu gelangen, an dem wir klar sehen können, was uns wirklich wichtig ist.

Das klingt im ersten Moment abstrakt und weltfremd. Es riecht nach esoterischem Aussteigertum, nach Typen mit verfilzten Dreadlocks, die auf La Gomera in Höhlen hausen. Oder nach dem ungewaschenen Wagenburgpapa aus der alten LBS-Werbung, an den du dich vielleicht noch erinnern kannst. Dessen Tochter verkündet zum Ende des Spots, sie würde lieber eine Spießerin werden, um eines Tages in einer lichtdurchfluteten Doppelhaushälfte leben zu können. Doch diese Assoziationen sind unsinnig. Die Erkenntnis, dass uns materieller Wohlstand und Konsum nicht glücklich machen, muss nicht dazu führen, dass wir künftig unter einer Brücke schlafen. Im Gegenteil: Das Ende der ewigen Suche ist nah, wenn wir uns von einengenden Dogmen und Glaubenssätzen befreien. Wobei das leichter gesagt als getan ist. Immerhin werden wir seit Jahrzehnten von Gesellschaft, Familie, Medien und Werbung indoktriniert. Und ja, es mag sein, dass uns Menschen aus unserem Umfeld für Spinner halten, wenn wir unseren (und damit mittelbar auch ihren) Lebensstil infrage stellen. Aber wenn wir aufhören, unser Lebensglück und unsere Selbstliebe von der Anerkennung anderer abhängig zu machen, verbessern wir unser Wohlbefinden wesentlich.

In den letzten zehn Jahren habe ich mich intensiv mit indischer und chinesischer Philosophie befasst und an mehreren Meditationskursen und Retreats teilgenommen, vor allem in den Traditionen des Vipassana und des Zenbuddhismus. Ich habe mich für die zeitgenössische Minimalismusbewegung begeistert und nach ihren Wurzeln geforscht. Auf dem Weg stolperte ich über die Transzendentalisten des späten 19. oder die Beatniks des mittleren 20. Jahrhunderts. Und ich habe in allen möglichen anderen Epochen ebenfalls Künstler*innen und Denker*innen gefunden, die sich dem Rattenrennen um Geld, Ruhm und Status versagt haben. Sie alle eint die Suche nach dem guten Leben, jenseits der Anhaftung an rein materiellen Zielen.

Dies ist kein Buch über den Zenbuddhismus. Das stünde mir gar nicht zu. Ich bin selbst nur ein Zenschüler und stehe noch am Anfang meiner spirituellen Entwicklung. Ich gehöre überhaupt keiner Glaubensgemeinschaft an. Ich bezeichne mich nicht als Buddhist, wenn ich nach meiner Religion gefragt werde. Denn was ich praktiziere, hat mit dem, was in weiten Teilen der Welt darunter verstanden und gelebt wird, wenig zu tun – auch wenn meine persönliche Alltagspraxis Außenstehenden durchaus buddhistisch anmuten würde.

Als ich mich für diese Themen zu interessieren begann, befand ich mich gesundheitlich wie geistig in einer desolaten Phase: Ich war unsicher und ratlos bezüglich meiner Zukunft, empfand kaum noch genuine Lebensfreude und fragte mich ununterbrochen, was mich eigentlich glücklich stimmt. Man könnte es eine verfrühte Midlife-Crisis nennen, vielleicht auch einen leichten Burn-out oder die milde Vorstufe einer Depression. Auf der Suche nach Heilung stieß ich auf alte fernöstliche Weisheit und lernte zunächst die Praxis der Vipassana-Meditation und schließlich den Zenbuddhismus kennen. Im Zen geht es, kurz gesagt, um praktische Ideen und einfache Weisheiten für ein glückliches Leben.

Was erwartet dich also in diesem Buch? Nun, ich trage aus verschiedenen philosophischen, literarischen und psychologischen Lehren ein grobes Lebenskonzept zusammen und stelle es dir vor. Dieses nenne ich in Anlehnung an den Zenmeister Shunmyō Masuno »Zen Style« und übertrage damit die Weisheit der alten Zenmönche in unsere Zeit, nutze sie im Hier und Jetzt und wende buddhistische (und verwandte) Prinzipien in allen möglichen Alltagsbereichen an. Dabei ist die Auswahl der zitierten Texte, durch die wir in diesem Buch flanieren, streng subjektiv. Mir geht es darum, das Wissen alter Philosoph*innen, Dichter*innen, Psycholog*innen und spiritueller Lehrer*innen für unseren Alltag im 21. Jahrhundert nutzbar zu machen.

Zen Style hilft uns, glücklicher zu werden, ohne uns komplett aus der Gesellschaft zu verabschieden. Äußerlich kann vielleicht sogar vieles so bleiben, wie es momentan ist. Aber unsere innere Einstellung zu den Dingen wird sich verändern – so sehr, dass sich die grübelnden Stimmen im Kopf immer seltener melden und irgendwann vielleicht sogar ganz verstummen.

Um ein berühmtes Bild aus dem Zen zu gebrauchen, das der Gelehrte D.T. Suzuki oft benutzte: Dieses Buch kann lediglich der Finger sein, der auf den Mond zeigt, aber niemals der Mond selbst. Ich lade dich ein mitzukommen auf einen faszinierenden Spaziergang durch die Geistesgeschichte, der dir helfen könnte, dein Leben anders zu betrachten. Vielleicht erzählen wir zunächst sogar niemandem von unseren Erkenntnissen, sondern nehmen kleine Veränderungen sukzessive und quasi unsichtbar vor. Die antiken Stoiker verfolgten schließlich auch das Ideal, in Gesellschaft möglichst gar nicht als Philosophen erkannt zu werden.

Ich würde mich heute als zufriedenen Menschen bezeichnen. Ich muss niemandem mehr beweisen, wie gut es mir geht. Ich will nichts mehr erreichen und lebe nicht mehr für die Arbeit, dennoch mache ich sie sehr gern, bin erfolgreich dabei und werde von meinen Kolleg*innen geschätzt. Und trotz all der schauerlichen Ungerechtigkeiten und Unsicherheiten auf der Erde, die auch mich jeden Tag aufs Neue sprachlos machen, bin ich an den allermeisten Tagen dankbar für alles, was sich auf meinem Weg entfaltet. Denn alles, was ich brauche, war immer schon da.

Im Zentrum

Um 4.45 Uhr klingelt der Wecker. Ich liege in einem schmalen Holzbett. Draußen ist es noch dunkel. Mein Zimmer enthält nicht mehr als einen einfachen Kleiderschrank, einen Tisch und einen Stuhl. Es gibt keine Bilder an der Wand und keine Dekoration im Zimmer. Ich stehe auf, nehme meine Zahnbürste, Seife und ein Handtuch, öffne vorsichtig die Tür und schließe sie leise hinter mir. Ich gehe den Gang hinunter zum Gemeinschaftsbad. Im Gebäude herrscht Stille.

Eine Viertelstunde später stehe ich ein Stockwerk tiefer im Speisesaal. Ich zapfe mir aus einem großen Thermosbehälter eine Tasse Tee und schaue aus dem Fenster in den Innenhof. Die Sonne geht langsam auf hinter dem ehemaligen Benediktinerkloster, das heute ein sogenanntes spirituelles Zentrum beherbergt. Ein paar andere Bewohner*innen gehen spazieren oder stehen vereinzelt im Speisesaal. Niemand spricht. Ich bin müde.

Ich stelle meine Teetasse ab und trete hinaus in den Hof. Etwa zehn Frauen und Männer bewegen sich mit raschen Schritten in einem großen Kreis um den Brunnen, ohne zu sprechen. Bei jedem Schritt knirscht der Kies auf dem Boden. Ich richte mich auf, lege meine linke Hand vor der Brust in die rechte und ordne mich ein. Jeder geht zügig, aber in der eigenen Geschwindigkeit. »Schnelles Kinhin«, so heißt die Gehmeditation im Zenbuddhismus, ist der erste Punkt auf der strengen Tagesordnung im Retreat.

Nach rund 25 Minuten erscheint eine Frau im Hof und läutet eine Zimbel. Wir beenden unsere Runde und bewegen uns mit raschen Schritten zum Eingang des Zentrums. Wortlos ziehen wir unsere Schuhe aus, greifen uns aus den Schränken am Eingang zum Dojo, dem Meditationssaal, ein Kissen und bewegen uns zu dem Platz, der uns am Anfang der Woche zugeteilt worden war. Die Sitzplätze befinden sich in U-Form am Rand eines großen, mit Holzparkett ausgelegten Saals. Hier verbringen wir unsere Tage. Wir tragen lockere Kleidung in gedämpften Farben. Niemand bringt sein Smartphone, seine Wasserflasche oder sonstige persönliche Dinge mit in den Raum. Im Dojo sind wir allein mit uns und unseren Gedanken.

In der Mitte des Raumes steht ein Tisch mit einem Gong, einer kleinen Buddhastatue und einer Schale mit Räucherstäbchen. Als wir vor unseren Plätzen stehen und Stille in den Raum eingekehrt ist, hören wir die Schritte des Zenmeisters vor der Tür. Der Mann – mittleres Alter, schlank, kurze graue Haare, barfuß – tritt in den Raum, verbeugt sich einmal kurz und schreitet dann zu dem Tisch in der Mitte. Dort kniet er sich hin, berührt mit der Stirn kurz den Boden und entzündet das Räucherstäbchen. An seinem Platz, der bislang frei geblieben war, verbeugt er sich erneut. Auch wir verbeugen uns, dann nehmen wir unsere Sitzhaltung ein.

Die Geübten gehen in den vollen oder halben Lotussitz, die meisten jedoch in den burmesischen Sitz, bei dem die Beine angewinkelt und parallel voreinander liegen. Manche hocken auf einem Meditationsbänkchen oder einem hohen Kissen, andere sitzen auf der Kante eines Stuhls, weil ihnen die klassischen Meditationshaltungen zu große Schmerzen bereiten oder es ihnen körperlich nicht möglich ist, sie einzunehmen. Dann ertönt zum ersten Mal am heutigen Tag die Klangschale. Wir beginnen mit der ersten Zazen-Einheit des Tages. Es ist jetzt Viertel vor sechs.

Diese Sitzmeditationen dauern in der Regel zwischen 15 und 35 Minuten. Viele halten es zu Beginn nicht aus, länger als ein paar Minuten ruhig in einer Position zu verharren, ohne sich zu bewegen. Sie kratzen sich an juckenden Stellen, rutschen auf ihrem Kissen herum, bewegen ihre Beine oder den Oberkörper. Manchmal löst sich jemand mitten im Zazen verzweifelt aus dem Meditationssitz, um ein Bein auszustrecken und sich auf diese Weise Erleichterung zu verschaffen. In der absoluten Stille hört man jedes Husten, jedes Stöhnen, sogar den Atem der Sitznachbarin.

Zum Frühstück versammeln wir uns eineinhalb Stunden später im Speisesaal, bleiben vor unserem zugewiesenen Platz stehen und warten wieder, bis alle da sind und der Gong ertönt. Wir essen in Stille, reichen uns gegenseitig wortlos das Müsli oder das Obst und achten auf körperliche Signale unserer Sitznachbar*innen, falls sie etwas benötigen. Wer mit dem Essen fertig ist, steht einfach auf, verneigt sich und verlässt den Speisesaal. Als uns nach dem Frühstück eine kurze Zeit zur eigenen Verfügung gegeben wird, habe ich immer noch kein Wort gesprochen.

Ich wollte eine eigene Erfahrung in einem Sesshin machen – so heißt ein intensives, zenbuddhistisches Retreat von mehreren Tagen Dauer. Tatsächlich ist ein solches Retreat kein Wochenende im Wellnesshotel. Einige Teilnehmer*innen brachen den Aufenthalt ab, weil sie sich ganz einfach falsche Vorstellungen davon gemacht hatten. Die Mahlzeiten sind einfach und vegetarisch, die Zimmer spartanisch. Es kann passieren, dass dir bei der Arbeit die Toilettenreinigung zugeteilt wird. Auf dem Gelände gibt es weder WLAN noch Mobilnetz. Die Zeit auf dem Kissen kann körperlich wie geistig mühsam, anstrengend und schmerzhaft sein. In der Meditation begegnen dir nicht nur angenehme Dinge. Abends war ich meist so erledigt, dass ich schon gegen 21 Uhr das Licht löschte.

Wir meditieren gute acht Stunden am Tag, am Nachmittag gibt es eine feste Arbeitsperiode. Manche räumen die Tische ab und spülen das Geschirr, andere wischen die Gänge des Zentrums, putzen die Waschräume oder die Fenster. Abends, vor der letzten Meditation des Tages, hält der Zenmeister einen Vortrag. Meist sind es kurze, prägnante Reden zu den Schwierigkeiten der Praxis und wie man ihnen begegnen kann. Oder es geht um die Geschichte der Zenschule, die sich durch Verschmelzung des indischen Buddhismus mit der chinesischen Philosophie des Taoismus entwickelt und ab dem 6. Jahrhundert erst in China und später in Japan ausgebreitet hat. Rückfragen sind nicht erlaubt, sondern nur im Einzelgespräch erwünscht, zu dem wir mehrfach während des Retreats Gelegenheit bekommen.

Traditionell gilt Zen als Schule der Strenge und Disziplin. Auf Außenstehende kann das einschüchternd wirken. Die Tagesabläufe im Retreat sind dem traditionellen Leben der Mönche in einem Zenkloster nachgebildet. Es gibt viele Regeln: Man spricht nicht miteinander, grüßt sich nicht, schaut sich nicht einmal in die Augen – der Blick soll sich vollständig nach innen richten. Man erscheint pünktlich zu jeder Übung, sonst ist die Tür geschlossen. Lesen oder Schreiben wird als schädliche Ablenkung verstanden. Laptops und Mobiltelefone sind nicht erwünscht. Doch gerade diese Beschränkungen führen zu einer großen Freiheit, denn die Zeit im Retreat findet außerhalb der Regeln unserer Gesellschaft und der Zwänge unseres Alltags statt. Der freiwillige Verzicht dient dazu, unsere üblichen Vermeidungs- und Verdrängungsstrategien abzuschalten.

Eine der beeindruckendsten Übungen in meinem ersten Retreat war die Gehmeditation im Garten der Stille. Wir bewegten uns langsam gehend durch einen üppigen Sommergarten, doch sobald unser Lehrer eine Zimbel erklingen ließ, hielten wir in unserer aktuellen Position inne und versuchten, unsere Umgebung möglichst genau, aber ohne jede Bewertung wahrzunehmen. Aus Vogelzwitschern, Wasserplätschern, leisem Geschirrklappern, dem weit entfernten Klang eines Rasenmähers und einem plötzlich am Himmel auftauchenden Flugzeug wurde eine überwältigende Symphonie. Es ist schwer zu beschreiben, was diese Erfahrung mit einem macht. Das Wort Dankbarkeit kommt mir in den Sinn.

Der Religionswissenschaftler Alan Watts schrieb einmal, dass es im Zen um die Entrümpelung des Geistes gehe – um eine Befreiung von Beschränkungen durch Sprache, Sinneseindrücke, Gedanken, Wünsche und Vorstellungen. Zen beginne an einem Ort, an dem es nichts mehr zu suchen oder zu gewinnen gebe, so Watts.2 Allein durch die hohe Frequenz der Übungen beginnen wir im Retreat allmählich die Konzepte und Vorstellungen, die wir uns von der Welt machen, zu durchschauen. Wir lassen alle To-do-Listen ruhen, denn nichts muss getan werden. Wir müssen nichts erreichen, nicht produktiv sein und nichts leisten. Wir sind einfach nur gegenwärtig im Moment, nehmen den Körper, den Atem und das Leben wahr – und stellen fest, dass es reicht. Wir genügen.

Die Denkmaschine denkt

Wie schon gesagt, geht es mir nicht darum, dich zum Zenbuddhismus zu bekehren. Ich bin der Meinung, dass jede spirituelle Praxis zu einem glücklichen und erfüllten Leben beiträgt. Allerdings glaube ich mittlerweile auch, dass irgendeine Form der spirituellen Praxis zwingend notwendig ist, um Glück und Erfüllung zu erfahren.

Zen ist eine Geistesschule, die für mich ganz persönlich funktioniert. Aber ich habe genau so viel Achtung vor anderen spirituellen Praktiken wie dem tibetischen Buddhismus, der christlichen Kontemplation, allen möglichen Formen von Yoga (wenn es nicht nur als körperliche Ertüchtigungsmethode für den kapitalistischen Überlebenskampf begriffen wird) oder den Derwischtänzen der muslimischen Sufimystiker. Jede dieser Praktiken enthält eine Komponente, die man im weitesten Sinne als »Meditation« bezeichnen könnte. Dein ganz persönlicher Zen Style könnte so gesehen auch beinhalten, sonntags in die katholische Kirche zu gehen und zu beten.

Täglich zu meditieren ist einer der wichtigsten Bausteine für ein Leben im Zen Style. Nun ist Meditation in aufgeklärten Kreisen der westlichen Großstädte längst im Alltag angekommen. Jeder praktiziert sie oder kennt jemanden, der damit gute Erfahrungen gemacht hat. Viele benutzen dazu Smartphone-Apps oder hören sich geführte Meditationen von Life-Coaches und »Social Media«-Influencer*innen an. Andere stürmen in Kurse und Einzelstunden von angesagten Meditationslehrer*innen. Das ist völlig in Ordnung, aber eigentlich nicht notwendig. Jeder kann für sich sofort, in dieser Sekunde, in diesem Moment, ohne jegliche Hilfsmittel, die lebensverändernde Kraft der Meditation erfahren. Die einfachste Meditation ist jene, die seit über 2000 Jahren im Buddhismus praktiziert wird. Sie konzentriert sich auf den Atem und wird »Einsichtsmeditation« genannt.

Bei dieser Form des Meditierens bleibst du mit deiner Aufmerksamkeit, solange es geht, ausschließlich bei deinem Atem. Du änderst dabei deine Atmung nicht, sondern lässt sie ganz natürlich fließen und bist dir ihrer nur ganz gewahr. Sobald du mit deinen Gedanken vom Atem abschweifst, was ganz normal ist, machst du dir diesen Umstand bewusst und lenkst deine Aufmerksamkeit wieder zurück auf den Atem. Am Anfang wirst du häufig abgelenkt sein. Das bedeutet nicht, dass du versagst oder dass die Meditation nicht funktioniert. Achtsamkeit bedeutet, sich das Abschweifen zu vergegenwärtigen, die Gedanken als solche zu erkennen und ihnen dann nicht weiter zu folgen, sondern sie einfach ziehen zu lassen. Sitze für den Anfang 15 bis 20 Minuten, nicht länger. Später kannst du die Meditation immer noch ausdehnen.

Für die geistige Gesundheit wirkt diese uralte Form der Meditation tatsächlich Wunder. Wenn du sie regelmäßig (lies: täglich, gern mehrfach) praktizierst, wirst du dich im Alltag ausgeglichener erleben, weil dein Gehirn mit der Zeit begreift, dass du nicht ständig auf jeden Reiz reagieren musst. Du trainierst dir auf diese Weise auch ab, das ständige Geplapper deines eigenen Geistes besonders ernst zu nehmen. Denn unser Gehirn produziert Zehntausende Gedanken pro Tag. Das ist sein Job, den ihm die Evolution zugewiesen hat. Immer wenn sich meine Gedankenspirale mal wieder anfängt zu drehen, benenne ich diesen Umstand mit einem einfachen Satz: »Die Denkmaschine denkt.« Dann muss ich schmunzeln.

In gewissen Kreisen ist es heute angesagt, nach der 14-Stunden-Agenturschicht noch zum Meditations- oder Yogakurs zu rennen. Für viele Menschen funktioniert Spiritualität scheinbar wie eine Art Ablasshandel: Man arbeitet und feiert sich kaputt, dann geht man für zwei Wochen zum Meditieren nach Bali, um anschließend zur Selbstausbeutung von Körper und Geist zurückzukehren. Diese Schuld-und-Sühne-Logik ist die Basis einer ganzen Industrie geworden.

Oft genug ist ein körperlicher oder mentaler Erschöpfungszustand aber auch der Ausgangspunkt für ein echtes Erwachen. Einmal saß ich bei einem Meditationslehrer, der lachend von seinem ziellosen Vorleben als depressiver Barkeeper erzählte, in dem er »jede erdenkliche Droge der Welt« probiert habe. Heute sei er clean und vor allem glücklich. Für ihn war Meditation kein kurzfristiger Ausgleich zu einem toxischen Lebensstil, vielmehr führte sie ihn zu einer harmonischeren Lebensweise.

Dieser Lehrer wies uns auf den Umstand hin, dass wir uns nach der Meditation immer besser fühlen als vorher. Dass sie funktioniert, daran bestand für ihn empirisch kein Zweifel. Mich erinnerte das an ein Buch des Fernsehjournalisten Dan Harris mit dem Titel 10% Happier. Darin berichtete Harris, der zuvor lange unter Panikattacken gelitten hatte, dass Meditation zu einer (immerhin) zehnprozentigen Steigerung seines Glücksempfindens geführt habe. Wissenschaftler haben tatsächlich Veränderungen im Gehirn bei Langzeitmeditierenden festgestellt, vor allem an der Amygdala, die wahrscheinlich für unseren Emotionshaushalt und insbesondere das Angstempfinden zuständig ist.

Doch am Ende kannst du die Wirkung von Meditation nicht rational verstehen, sondern nur praktisch erfahren. Nur das Erleben der Meditation zählt, nicht die intellektuelle Beschäftigung mir ihr. Ich habe mich dem Thema lange auf Verstandesebene nähern wollen, bis ich einsehen musste, dass sich die echte Arbeit nicht vermeiden lässt. Man muss viele Stunden auf dem Kissen verbringen, bevor man Meditation »begreift«.

Ganz am Anfang meiner Reise in die Spiritualität stand Eckhart Tolle. Ein Kollege aus der Musikindustrie teilte in den sozialen Netzwerken immer wieder Zitate aus seinen Büchern und weckte damit mein Interesse. Wenn Menschen in der Auseinandersetzung mit spirituellen Lehrern wie Tolle besonders abgeklärt wirken wollen, sprechen sie gern verächtlich von »Kalendersprüchen« oder »Glückskeksweisheiten«.

Ich selbst habe mich gern hinter dieser Art von feigem Zynismus versteckt. Vor allem war ich skeptisch, weil ich mich bis dahin als Atheist oder zumindest Agnostiker, jedenfalls aber als nicht sonderlich spirituellen Menschen definiert hatte. Allerdings war ich auch an einem Punkt in meinem Leben angekommen, an dem ich mit meinen gelernten Rezepten nicht weiterzukommen schien.

Meine Skepsis bezog sich konkret vor allem auf den Personenkult um Eckhart Tolle, auch empfand ich wie viele westliche Intellektuelle eine gewisse Abscheu gegen jeglichen Eindruck von Esoterik. Trotzdem besorgte ich mir aus Neugier seine Bücher, echte Klassiker der spirituellen Literatur. Mein erster Versuch, sie zu lesen, scheiterte auf ganzer Linie. Ich ahnte zwar eine gewisse Tiefe hinter den Worten, doch es war mir unmöglich, ihren wahren Sinnzusammenhang zu erschließen. In meiner Wahrnehmung reihte sich ein Allgemeinplatz an den nächsten. Alles hatte ich schon mal gehört: Man solle im Hier und Jetzt leben und nicht zu viele Gedanken an die Vergangenheit und Zukunft verschwenden. Ich beendete die Lektüre damals nicht, denn ich war noch nicht bereit dafür.

Jahre später meldete ich mich am Zentrum für alternative Medizin der Berliner Charité für einen sogenannten MBSR-Kurs an. MBSR steht für »Mindfulness Based Stress Reduction« und ist ein von Prof. Jon Kabat-Zinn in den 1970er-Jahren entwickeltes Kursprogramm, das sich über acht Wochen erstreckt und mit einem »Tag der Achtsamkeit« endet. Für mich war dieser Kurs ein extrem hilfreicher Einstieg in die Welt der Meditation, losgelöst von jeglichem weltanschaulichen Kontext, verpackt als Maßnahme zur Förderung der Gesundheit. Durch diesen Akt der Isolierung gelang es Kabat-Zinn, diese Lehren von ihrem religiösen Ballast zu befreien, der für viele Interessierte beim Einstieg eher hinderlich sein kann.

Zu Hause übte ich weiter und besuchte ein paar Wochen später mein erstes buddhistisches Retreat. Dort erlebte ich zum ersten Mal die von Eckhart Tolle beschriebene Kraft der Gegenwart als reale Erfahrung, ohne sie verstandesmäßig begreifen zu wollen. In der Meditation stieß ich auf unverheilte Wunden und tief liegende Ängste aus meiner Kindheit. Ich ertrug körperliche Schmerzen, die mich beinahe aufgeben ließen. Doch irgendwann, es muss am dritten oder vierten Tag gewesen sein, überkam mich in einer Meditation am späten Nachmittag plötzlich ein warmes Gefühl grundloser Freude. Anfangs ganz zart, dehnte es sich binnen Sekunden in meinem Körper und in meinem Geist aus, bis ich vollkommen davon umschlossen und erfüllt war. Ich wusste, dass mir nichts passieren kann. Ich fühlte mich unendlich sicher und geborgen in mir selbst. Ich begriff, dass ich keine externen Anlässe brauchte, um glücklich zu sein. Ich hatte keine Angst mehr vor dem Tod, weil ich mich mit dem ganzen Universum verbunden fühlte. Ich begann mich auf die Meditationen zu freuen.

Nun begriff ich auch endlich, was Tolle damit gemeint hatte, wenn er davon sprach, dass wir unser Ego transzendieren, unseren »Schmerzkörper« loswerden und zu einem erwachten Bewusstsein finden können. Jeder der Sätze, der sich vor einiger Zeit noch oberflächlich und phrasenhaft angefühlt hatte, bekam nun eine bedeutsame Schwere.

Heute weiß ich mehr darüber, wo Eckhart Tolle die Grundlagen für seine Lehren gefunden hat. Seine Art zu schreiben erinnert mich an die Sampling-Technik der Popkultur: Er nimmt sich aus zahlreichen Schulen der Vergangenheit jene Elemente, die er für nützlich hält, und montiert sie zu einer ganzheitlichen Lehre. Diese kuratierte Lehre ist nur scheinbar neu, denn sie ist letztlich nicht mehr und nicht weniger als ein kurzweiliges Best of Vedanta, Sufismus und Zenbuddhismus, übersetzt in die Sprache von heute, losgelöst von den jahrhundertealten kulturellen Traditionen, denen diese Lehren und Praktiken entstammen. Natürlich ist das eine Form der kulturellen Aneignung. Ich finde das nicht weiter schlimm, wenn sie uns dazu bringt, uns im weiteren Verlauf respektvoll mit den Wurzeln und Ideen der dahinterstehenden Kulturen auseinanderzusetzen. Yoga wurde nicht von weißen westlichen Fitnessfreaks entwickelt und Einsichtsmeditation nicht von tätowierten Ex-Barkeepern in Berlin-Neukölln. Das sollte uns jederzeit bewusst sein, wenn wir uns mit diesen Themen beschäftigen und uns mit ihren Ursprüngen und kulturellen Zusammenhängen befassen.

Mindestens genauso wichtig ist der Umstand, dass in unserer spirituellen Entwicklung niemand von uns verlangt, perfekt zu sein. Tatsächlich zählt im Buddhismus nur das »rechte Bemühen« um eine rechtschaffene Lebensweise. Natürlich kann man auch diesen Baustein des eigenen Lebens noch der Optimierung unterziehen und sich dann selbst dafür abwerten, dass man nicht »richtig« meditiert und die Meditation bei einem selbst nicht »funktioniert«.

Ich finde es aber viel wichtiger, dass du eine Praxis des Mitgefühls dir selbst gegenüber entwickelst. Und dazu gehört, bei Rückschlägen und Verfehlungen nachsichtig mit dir zu sein, dich nicht dafür abzuwerten, zu verurteilen oder in Depression zu verfallen, sondern am nächsten Tag ganz einfach einen neuen Versuch zu wagen.

Neustart

Wir müssen alle noch irgendwas: den Müll runterbringen, die Präsentation vorbereiten, die Steuererklärung machen, mehr Zeit mit den Kindern verbringen, endlich gesünder essen, mal wieder Freunde treffen, Sport treiben, regelmäßig meditieren. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht treffend von einer »Rhetorik des Müssens«, die unseren postmodernen Alltag beherrscht. Am Ende des Tages fühlen wir uns immer schuldig, weil wir die Erwartungen (von anderen wie auch von uns selbst) mal wieder nicht erfüllt haben. Unsere To-do-Listen werden nicht kürzer, das E-Mail-Postfach quillt über, Deadlines rücken näher, und die Konkurrenz schläft nie.

Doch wohin geht all die Zeit eigentlich? Gute acht Stunden pro Wochentag verbringen wir im Büro, dazu kommen eine Stunde Mittagspause und eine Stunde Pendelzeit. Sieben bis acht Stunden sollten wir im Idealfall schlafen – bleiben sechs bis sieben Stunden »Freizeit«. Doch in dieser müssen wir uns auch um die Familie kümmern, Kinder großziehen, Freundschaften pflegen, kochen und einkaufen, die Wohnung putzen, das Auto in die Werkstatt bringen, zur Zahnreinigung gehen, Sport treiben, uns fortbilden, ausgehen, unsere sozialen Netzwerkprofile bespielen, ein gutes Buch pro Woche lesen und so weiter und so fort. Ein Gefühl der Überwältigung und Ohnmacht macht sich dann schnell breit, denn unser Tag hat nun mal nur 24 Stunden. Neben all den Verpflichtungen kann es unmöglich erscheinen, genug Zeit für sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu finden. Und wenn dieses Gefühl über einen längeren Zeitraum anhält und sich aufstaut, nimmt man sich als unglücklich und nicht selbstwirksam wahr.

Wenn ein System überlastet ist, hilft nur eins: Neustart. Die Festplatte einmal plattmachen und das System neu aufsetzen. Denn die unbequeme Wahrheit ist, dass unsere Lebenszeit stetig verrinnt und irgendwann einfach aufgebraucht sein wird. Dann schauen wir zurück und fragen uns vorwurfsvoll: »Waren all diese Stunden, die ich auf Instagram oder TikTok verbracht habe, wirklich sinnvoll investiert? Wenn ich noch einmal jung wäre, würde ich dann wieder so viel Zeit in Nachtclubs verbringen?« Wenn man alte Menschen an ihrem Lebensende fragt, was sie bereuen, dann sagen sie fast alle dasselbe: Sie bedauern, zu ängstlich gewesen zu sein und sich nicht getraut zu haben, konsequenter nach ihren Werten zu leben. Sie drücken aber nie aus, dass sie gern noch mehr Zeit vor dem Fernseher verbracht hätten.

Wie eine Antwort auf die von Hartmut Rosa beschriebene »Rhetorik des Müssens« erscheint die Songzeile »Du musst gar nix!« der Hamburger Band »Die Sterne« aus dem gleichnamigen 2020 veröffentlichten Lied. In den Strophen führen sie diesen Freiheitsimperativ weiter aus: Man müsse nicht essen, nicht trinken, nicht rauchen, nicht doppelt so viel machen wie die anderen, nicht anrufen, nicht chatten, keine E-Mails abrufen, keine Turnschuhe kaufen, keine Ideen haben, überhaupt nicht denken, nicht reden, nicht arbeiten gehen und so weiter.3 Was wie ein absurdes Kinderlied klingt, das die meisten verantwortungsvollen Eltern ihren Kindern niemals vorspielen würden, kann man auch als gar nicht mal so subversive Kritik am gesellschaftlichen Zwang zur Geschäftigkeit, Effizienz und Produktivität lesen, mit dem wir von klein auf sozialisiert werden.

Der Philosoph Bertrand Russell forderte bereits 1932 in seinem Essay Lob des Müßiggangs eine Verkürzung der allgemeinen Arbeitszeit um die Hälfte. Im Zeitalter der Automatisierung schien ihm das möglich und angebracht. Er war der Meinung, dass diese einfache Maßnahme zu einem explosionsartigen Anstieg von Glück und Wohlbefinden führen und sogar Kriege verhindern könne.4

Die Lösung unserer Probleme liegt, wenn man Russell und andere Philosophen fragt, eigentlich auf der Hand: weniger Arbeit, weniger Konsum, weniger Termine, weniger Erwartungen – an andere wie an uns selbst. Das fühlt sich merkwürdig an, denn permanente Geschäftigkeit gilt dank ausdauernder Glorifizierung in Werbung, Medien und Arbeitswelt als begehrenswerter Lebensstil. Es klingt aber auch einfacher, als es tatsächlich ist. Denn es bedeutet, Prioritäten zu setzen, auf Unverständnis zu stoßen und damit leben zu lernen.