Zitat, Paraphrase, Plagiat -  - E-Book

Zitat, Paraphrase, Plagiat E-Book

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Beschreibung

Wissenschaftliches Fehlverhalten - ein individualethisches Problem? Dass viel mehr dahinter steckt, zeigt die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Zitat und Paraphrase« der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Der Band versammelt Beiträge zur historischen Entwicklung der Belegkultur, zur Frage von Urheberschaft und Originalität in der Wissenschaft sowie zu Problemen des wissenschaftlichen Fehlverhaltens in Naturund Geisteswissenschaften.

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Christiane Lahusen, Christoph Markschies (Hg.)

Zitat, Paraphrase, Plagiat

Wissenschaft zwischen guter Praxis und Fehlverhalten

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Wissenschaftliches Fehlverhalten – ein individualethisches Problem? Dass viel mehr dahinter steckt, zeigt die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Zitat und Paraphrase« der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Der Band versammelt Beiträge zur historischen Entwicklung der Belegkultur, zur Frage von Urheberschaft und Originalität in der Wissenschaft sowie zu Problemen des wissenschaftlichen Fehlverhaltens in Naturund Geisteswissenschaften.

Vita

Christiane Lahusen, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und koordiniert dort die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Zitat und Paraphrase«.

Christoph Markschies ist Professor für Kirchengeschichte, war von 2006 bis 2010 Präsident der Humboldt Universität zu Berlin und ist seit 2011 Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Inhalt

Christiane Lahusen und Christoph Markschies: Vorwort der Herausgeber

Disziplinen

Peter Gaehtgens: Publizieren und Zitieren in der wissenschaftlichen Medizin: Tradition und Wandel

Entwicklung von Aufgabe und Methodik der medizinischen Wissenschaften

Der veröffentlichte Text – eine Erzählung

Das Verschwinden des Untersuchers und die Fokussierung auf den Befund

Das Zitierwesen im Wandel der Veröffentlichungstradition

Ferdinand Hucho: Zur Zitierweise in den Naturwissenschaften

Bemerkungen zur Arbeitsweise der experimentellen Naturwissenschaften

Die Standardpublikation

Bedeutungswandel

Randolf Menzel: Die vielfältige Öffentlichkeit der Wissenschaft und das geistige Eigentum des Forschers

Öffentlichkeit

Geistiges Eigentum

Industrieforschung

Geistiges Eigentum nach der Publikation

Wissenschaft als soziale Unternehmung

Die Grenzen und Mängel des Peer-Review-Systems

Ein neuer Ansatz der wissenschaftsinternen Beurteilung

Rainer Maria Kiesow: Das Recht aufs Plagiat …

Wolfgang Klein: Fast nur Zitate und Paraphrasen, oder: Von Nutzen und Schaden des Plagiats

1.Wie kann man die Bedeutung eines Wortes beschreiben?

2.Partikularnutzen gegen Gemeinnutzen

Rainer Hank: »Damit dürfen Sie mich nicht zitieren.« Zitat und Paraphrase im Journalismus

Wissenschaftskulturen

Wolfgang Neugebauer: Die Kultur des Belegs: Ihre Genese in den historischen Wissenschaften vom 18. bis 20. Jahrhundert

Ute Tintemann: Übersetzungsplagiate oder intelligentes Remixing? Zu Karl Philipp Moritz’ Englischer Sprachlehre für die Deutschen (1784)

Zu Karl Philipp Moritz’ Englischer Sprachlehre für die Deutschen

Übersetzungsplagiate in Moritz’ Englischer Sprachlehre für die Deutschen

Moritz’ Englische Sprachlehre für die Deutschen (1784): Ein aus anderen Lehrwerken kompilierter Bestseller

Johannes Zachhuber: Zitieren und Paraphrasieren in den Geisteswissenschaften: Ein Blick auf die englische Tradition

1.Zitieren und Paraphrasieren in theologiegeschichtlichen Texten

2.Zitieren und Paraphrasieren in anderen geisteswissenschaftlichen Texten

3.Schlussfolgerungen und weiterführende Überlegungen

Gelehrsamkeit – Originalität – Eigenleistung

Jürgen Fohrmann: Gelehrsamkeit und Originalität

Erste Schwelle

Zweite Schwelle

Dritte Schwelle

Christiane Lahusen: Der Ghostwriter als Symptom

Vom größten Werbeträger aller Zeiten

1.Kundschaft

2.Das Wissenschaftsbetrugsgesetz

3.Geschädigte

Fazit: Der Ghostwriter als Symptom

Reinold Schmücker: Kappes und Anti-Kappes: Eine Miszelle zur Philosophie des Plagiats

Jürgen Trabant: Paraphrasen und andere Formen des wissenschaftlichen fading: Sieben Szenen aus der scientific community

1. Paraphrase oder fade-out des Autors

2.Fading in fremden Sprachen

3.Fading in fremden Ländern

4.Verschiebung

5.Fading der Artikulation

6.Nehmen oder Schenken

7.Vaterschaft

Reputation – Macht

Benjamin Lahusen: Aus den Tagen des Set: Wie der Doktorgrad in den Ausweis kam

1.Einleitung: Das Schicksal des Dr. K.

2.Die Vorgeschichte

2.1Beginn ohne Anfang: 1875–1936

2.2Erste Reform ohne Veränderung: 1937/38

2.3Der Sieg des Bürgertums

2.4Zweite Reform ohne Veränderung: 1957

2.5Von der Gewohnheit zum Gewohnheitsrecht

3.Das Feld ist bestellt: Pässe und Personalausweise

4.Von der Gewohnheit zum Gesetz

5.Aus den Tagen des Set

Christoph Markschies: Präzisierung und Autorisierung – oder: Ein Blick auf den antiken Umgang mit biblischen Texten als Vor- und Frühgeschichte heutiger Standards von Zitat und Paraphrase

Dagmar Simon: Messen, bewerten, vergleichen: Evaluationen und die (nicht-)intendierten Folgen – Leistungskontrolle an einer deutschen Hochschule

Evaluationen in einer veränderten Wissenschaftslandschaft

Leistungsmessung und die Wirkungen

Wissenschaftsethik – Urheberrecht

Philipp Theisohn: Noch einmal das Gleiche: Die Wiederverwertung von Texten als wissenschaftliches und ethisches Problem

1.Es ist denkbar

2.Annäherung an die Ethik des Publizierens – ein Beispiel

3.Die Textwissenschaften als gesonderter Problembereich

4.Die Grenzen der Wiederverwertung

Alexander Peukert: Vom Plagiat zur wissenschaftlichen Redlichkeit: Plädoyer für ein neues Paradigma bei der Beurteilung wissenschaftlichen Fehlverhaltens

1. Das Paradigma des Plagiats

2.Unterschiede zwischen Urheber- und Wissenschaftsrecht

2.1Regelungsgegenstände und Schutzbereiche

2.2Zwecke und Regelungskonzepte

3.Ein neues Paradigma

3.1Wissenschaftliche Redlichkeit

3.2Das Lauterkeitsrecht als neues Vorbild

4.Zusammenfassung und Vorbehalt

Mitchell G. Ash: Hat die Wissenschaft eine eigene Ethik?

Thomas Reydon: Plagiate als Professionalisierungsproblem

Das Wesen des Plagiats

Das Plagiat im Kontext impliziter Werte der Gesellschaft und der wissenschaftlichen Gemeinschaft

Die Bekämpfung von Plagiaten in der Wissenschaft: Mehr Ethik oder mehr Professionalisierung?

Strukturen

Stefan Hornbostel: Das Zitat als Währung

Kursorische Bemerkungen zur Bibliometrie

Zählen statt urteilen?

Scores oder Ehre? Die Magie der Zahlen und das Unbehagen daran

Das Zitat als Geldäquivalent

Matthias Kleiner und Caroline A. Lodemann: Die Perspektive von Wissenschaftsorganisationen

Zitat und Paraphrase als Mittel der (wissenschaftlichen) Kommunikation

Die Rolle von Wissenschaftsorganisationen und Forschungseinrichtungen

Gute wissenschaftliche Praxis

Qualität statt Quantität

Ombudsman für die Wissenschaft

Wissenschaft in Verantwortung

Göran Hermerén und Christiane Lahusen: Vom Aufbrechen der Struktur – ein vergleichender Blick nach Schweden

Autorinnen und Autoren

Vorwort der Herausgeber

Christiane Lahusen und Christoph Markschies

Mit dem hier vorgelegten Band Zitat, Paraphrase, Plagiat. Wissenschaft zwischen guter Praxis und Fehlverhalten gibt die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Zitat und Paraphrase der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) einen Einblick in ihre Arbeit. Die in den letzten Jahren zum Teil mit größerer (und sogar sehr großer) öffentlicher Aufmerksamkeit verhandelten Plagiatsfälle in wissenschaftlichen Veröffentlichungen (keineswegs nur in Qualifikationsarbeiten von Politikerinnen und Politikern)1 waren der Ausgangspunkt, nicht der Anlass der Arbeitsgruppe. Anlass der Arbeitsgruppe waren vielmehr die diversen wissenschaftsgeschichtlichen, wissenschaftspolitischen, wissenschaftssoziologischen und wissenschaftstheoretischen Probleme, auf die diese Fälle und ihre Behandlung in der Öffentlichkeit wie der Wissenschaft aufmerksam machen. Da die Akademie laut ihrer Satzung den Auftrag hat,2 den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu fördern und Aufgaben der Gesellschafts- und Politikberatung wahrzunehmen, lag es nahe, ein solches zentrales Thema an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft aufzugreifen. Entsprechend regte der Vorstand der Akademie die Bildung einer solchen interdisziplinären Arbeitsgruppe (IAG) im Herbst 2012 an; die Einrichtung erfolgte aufgrund eines Beschlusses des Rates der Akademie und mit namhafter finanzieller Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung im Frühjahr 2013. Eine IAG darf freilich nicht mit einem Langzeitvorhaben im Akademienprogramm des Bundes und der Länder verwechselt werden; eine vollständige Aufarbeitung der diversen Probleme in den genannten Bereichen war weder beabsichtigt noch während der Laufzeit der Arbeitsgruppe mit den ihr zugebilligten personellen und finanziellen Mitteln zu leisten. Die Beiträge des Bandes sollen stattdessen notwendige historische, soziologische und wissenschaftstheoretische Informationen bereitstellen, um in Zukunft auch in Deutschland das Problem von wissenschaftlichem Fehlverhalten auf einem Niveau zu bearbeiten, das mindestens dem anderer europäischer Länder vergleichbar ist. Denn man wird schlecht bestreiten können, dass an dieser Stelle ein erheblicher Nachholbedarf im bundesrepublikanischen Wissenschaftssystem besteht, wie das Projekt Impact of Policies for Plagiarism in Higher Education Across Europe deutlich gemacht hat. Im Rahmen dieser von der Europäischen Union finanzierten Studie wurden zwischen Oktober 2010 und September 2013 Strategien und Praktiken im jeweiligen nationalen Hochschulwesen untersucht, mit denen studentisches Plagiieren aufgedeckt wird und verhindert werden soll. Schon ein flüchtiger Blick auf die in einer Tabelle (»Comparison of Academic Integrity Maturity across 27 EU Countries«)3 zusammengefassten Ergebnisse dieser im Netz zugänglichen Studie macht deutlich, dass die Dinge in anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft erheblich besser stehen. Damit soll nicht bestritten werden, dass einzelne Zeitschriften hierzulande insbesondere mit Hilfe ihrer Rezensionen schon lange vor Zeiten der mechanisierten Suche nach Plagiaten im Internet mangelnde wissenschaftliche Originalität und fehlende Standards im Blick auf Zitat und Paraphrase unerbittlich bemängelt haben; selbstverständlich haben auch die diversen Plattformen und das große mediale Interesse am Thema im Internet für das Thema weiter sensibilisiert. Bereits 2008 überschrieb ein Nachrichtenmagazin polemisch einen Artikel über Plagiate in der Wissenschaft und über eine Untersuchung der University of Texas, die Datendiebstahl und die Mehrfachpublikationspraxis am Beispiel von Biologen ins Visier nahm, mit der zugespitzt formulierten Frage: »Warum selber arbeiten, wenn man auch abschreiben kann?«4

Im Zentrum der IAG Zitat und Paraphrase der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stand das »Abschreiben« in der Wissenschaft, das Plagiat und die diversen wissenschaftsgeschichtlichen, wissenschaftspolitischen, wissenschaftssoziologischen und wissenschaftstheoretischen Probleme, die damit ganz unmittelbar verbunden sind. Wie grundlegend diese Probleme sind, macht eine sehr grundsätzliche Kritik an der gegenwärtigen Disposition der Geistes- und Sozialwissenschaften deutlich, die man im Zusammenhang mit den öffentlichen Debatten über prominente und weniger prominente Plagiatsfälle öfter lesen kann; sie wird stellenweise auch schon auf die Natur-, Technik- und Lebenswissenschaften ausgedehnt: Das Plagiat falle in diesen Wissenschaften schon deshalb kaum mehr auf, weil ihnen die Verpflichtung zur Originalität beziehungsweise zur Innovation strukturell abhandengekommen sei.5 Als Symptom der veränderten Erwartungen wird dabei eine Überproduktion von solchen Veröffentlichungen ausgemacht, deren Hauptzweck im Paraphrasieren längst bekannter Positionen respektive in der positivistischen Zusammenfassung sowie im bloßen Abschreiben von mechanisch übernommenen Quellen besteht. Die unausgezeichnete Übernahme ganzer Textblöcke stelle dabei dann nur die letzte Konsequenz einer jeden Originalitätsanspruchs beraubten Wissenschaftskultur dar.

Nimmt man dieser Kritik ihre leicht polemische Spitze, dann beschreibt sie ein Stück weit die Praxis von Wissenschaften in der Gegenwart und markiert – ungeachtet aller Bedenken gegen die Angemessenheit dieses Duals – zugleich doch einen Unterschied zwischen den Wissenschaftskulturen: Während in den Natur-, Technik- und Lebenswissenschaften vermutlich kaum jemand auf die Idee kommt, die Qualität eines Papers an der Eigenständigkeit der Wortwahl zu bemessen, unterliegen die Geisteswissenschaften an diesem Punkt anderen Normen. Sie orientieren sich offensichtlich an sprachlichen Besitzordnungen, die auf ein Konzept von geistigem Eigentum verweisen und deren negative Grenzbestimmung der leicht unscharfe (und juristisch nicht unproblematische) Begriff des »Plagiats« bildet.6

Anliegen der Arbeitsgruppe war, die verschiedenen Problemkomplexe präzise zu identifizieren und möglichst konkret zu benennen. Dabei ging es zunächst nicht darum, erneut die bestehenden Standards zu formulieren, Methoden zu ihrer besseren Implementierung zu entwickeln und schärfere Sanktionen vorzuschlagen – der Blickwinkel der Arbeit der Gruppe war eher ein analytischer als ein normativer, da an Publikationen, die zu korrektem Zitieren und Paraphrasieren anleiten, bekanntlich kein Mangel herrscht und auch kein Unwissen darüber besteht, wie einwandfreies wissenschaftliches Arbeiten auszusehen hat.7 Gleichwohl wird sich die Arbeitsgruppe im Jahr 2016 noch einmal zur Frage äußern, welche Methoden besserer Implementierung der bestehenden Standards und welche schärferen Sanktionen ihren Mitgliedern aufgrund ihrer Analysen in den vergangenen Jahren besonders sinnvoll erscheinen. Im Laufe ihrer Arbeit hat sich die IAG aber vor allem auf terminologische, wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftsethische Probleme konzentriert:

Bei den beiden Begriffen Zitat und Paraphrase (vor allem natürlich bei »Zitat«) handelt es sich um in den aktuellen Debatten häufig verwendete, aber sehr unterschiedlich gebrauchte und verstandene Termini. So versteht man gewöhnlich unter Zitat eine »wörtlich angeführte Stelle aus einer Schrift oder Rede«.8 Nach dem Verständnis des Urheberrechts bedeutet Zitat aber »die nach den Schranken des Urhebergesetzes erlaubte Nutzung von Teilen eines urheberrechtlich geschützten Werkes in einem anderen Werk« und entsprechend wird zwischen einer »Anführung (Kleinzitat)«, »Aufnahme (Großzitat)« und einer »Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe des Zitats« unterschieden.9 Der Begriff »Paraphrase« wird dagegen gern mit kritischer Absicht verwendet. Tatsächlich schließt er aber eine Vielzahl von textlichen Verfahrenstechniken ein, die der geisteswissenschaftlichen Produktion von Wissen zugrunde liegen. Eine präzise Unterscheidung der erkenntnisfördernden von den erkenntnishemmenden Funktionen der wissenschaftlichen Paraphrase bleibt ein Desiderat, das die Arbeitsgruppe nicht beheben konnte.10

Der Umgang mit Zitat und Paraphrase hat zudem eine wissensgeschichtliche Dimension, wie drei kurze Beispiele dokumentieren können: Während es lange als unfein galt, sich in Fußnoten selbst zu zitieren und es gute wissenschaftliche Praxis war, die Menge der Selbstreferenzen vor einer Veröffentlichung drastisch zu beschneiden, führt die verschärfte Jagd nach dem Plagiat zur gegenteiligen Regel, jedes Selbstzitat auszuweisen, damit es nicht als Selbstplagiat verdächtigt werden kann.11 Zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts (und auch noch lange danach) durften Zitate sprachlich in einem nicht präzise definierten Umfang verbessert werden, indem beispielsweise Kommata durch die präzisere logische Verknüpfung einer Konjunktion ersetzt wurden. Es hätte als schlechte wissenschaftliche Praxis gegolten, solche – nach heute teilweise vertretener Perspektive – »Zitatfehler« in einer Fußnote oder anderwärts zu monieren. In antiken und mittelalterlichen Texten jüdischer, christlicher wie islamischer Provenienz werden Zitate entweder nicht genau nachgewiesen (»bei Plato heißt es einmal«) oder ohne jeden Hinweis auf den Ursprungsort eingefügt, ohne dass man zwischen dieser Zitatpraxis und heutigen Zitatpraxen eine schnurgerade Linie ziehen und dieselbe als Fortschrittsgeschichte präsentieren könnte.12 Diese Veränderungen dürften erst einmal nicht überraschen, es wäre vermutlich überraschender, hätte sich nichts geändert. Erstaunlich ist aber, dass diese historische Dimension in den Debatten entweder nicht bedacht wird oder aber genutzt wird, um konkretes Fehlverhalten zu exkulpieren. Die Arbeitsgruppe Zitat und Paraphrase der BBAW hat im Laufe ihrer Arbeit versucht, beides zu vermeiden und sich stattdessen der Frage zuzuwenden, womit diese Veränderungen jeweils zu erklären sind und welcher Originalitätsbegriff damit verbunden war.

Schließlich hat der Umgang mit Zitat und Paraphrase eine wissenschaftsethische Dimension, wie beispielsweise eine basale Formulierung einer Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 1998 dokumentiert. Sie lautet: »Wissenschaftliche Arbeit beruht auf Grundprinzipien, die in allen Ländern und in allen wissenschaftlichen Disziplinen gleich sind. Allen voran steht die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen. Sie (sc. die Ehrlichkeit) ist zugleich Norm und Grundlage der von Disziplin zu Disziplin verschiedenen Regeln wissenschaftlicher Professionalität, d. h. guter wissenschaftlicher Praxis«.13 Allerdings reicht eine solche individualethisch konzentrierte Betrachtung der Probleme nicht aus. So hat sich die Arbeitsgruppe mit der bereits referierten These beschäftigt, dass hinter dem scheinbar individualethischen Problem angeblichen wie tatsächlichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens ein grundlegendes Problem des Umgangs mit Wissen in einer globalisierten Wissenschaftsgesellschaft steht. Tatsächlich ist ja nicht zu übersehen, dass sich beständig ausweitende Wissensbestände auf beständig steigende Zahlen von Wissenschaftlerinnen bzw. Wissenschaftlern treffen, die immer größere Mengen immer umfangreicherer Veröffentlichungen glauben vorlegen zu müssen.14 Mögliche Gründe hierfür, die vielfach in der scientific community diskutiert werden, wurden auch im Hinblick auf unterschiedliche Wissenschaftskulturen in Europa analysiert, ohne dabei in schlichte Gegenwartskritik zu verfallen.15

Der vorliegende Band dokumentiert einen Teil der spezifischen Themen, denen sich die Arbeitsgruppe bei ihren Treffen in den Jahren 2013 bis 2015 gewidmet hat. Teilweise gehen die Beiträge auf Vorträge zurück, die im Verlauf der Sitzungen ausführlich diskutiert worden sind, oder aber auf die Ringvorlesung im Sommersemester 2015, deren ursprüngliche Beiträge im Netz nachgehört werden können.16 Dabei vertreten die Autorinnen und Autoren nicht notwendigerweise die Meinung der gesamten Arbeitsgruppe. Die Herangehensweise der Beiträge ist unterschiedlich, meist ist der Blick analytisch, teilweise aber auch normativ; bisweilen enthalten die Texte konkrete Empfehlungen, meist handelt es sich um Bestandsaufnahmen – allesamt regen sie hoffentlich zum weiteren Nachdenken und Diskutieren an.

Der Beitrag über Plagiatserkennungssoftware von Debora Weber-Wulff und die anschließende Diskussion auf einer Sitzung im Winter 2014 konnten leider nicht in diesem Band vertreten sein.17 Allerdings soll hier unbedingt ein wichtiger Punkt daraus festgehalten werden: Mit dieser Software ist keinesfalls die Idee einer mathematisierten Messbarkeit wissenschaftlicher Qualität und Originalität verbunden, wie gelegentlich angenommen wird.18 Debora Weber-Wulff wies auf die vielfältigen Schwachstellen hin, die das Nutzen von Plagiatserkennungssoftware mit sich bringt – sie ist daher ihrer Ansicht nach ausschließlich als Werkzeug zu betrachten, das keinesfalls von gründlicher Lektüre und eigenem Urteil als Ergebnis einer präzisen Analyse befreit.19 Mit dieser Ansicht steht Frau Weber-Wulff freilich nicht allein; bei näherer Betrachtung der verschiedenen Internetplattformen, die sich mit dem Aufspüren und Dokumentieren von Plagiaten beschäftigen, erscheint die häufig diskutierte Problematisierung der quantitativen Messbarkeit von Textüberschneidungen fast wie eine Nebelkerze: Überall wird erklärtermaßen sowohl Software genutzt als auch manuell abgeglichen und bewertet; auf Seiten derer, die solche Software nutzen, findet sich kaum jemand, der ein rein quantitatives Verfahren technisch für möglich hält.

Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die nicht Teil der Arbeitsgruppe Zitat und Paraphrase waren, haben als Gäste in den vergangenen Jahren ihre Expertise zur Verfügung und zur Diskussion gestellt. Herzlicher Dank geht dafür an Markus Gabriel (Bonn), Stefan Hornbostel (Berlin), Regina Ogorek (Berlin), Alexander Peukert (Frankfurt a. M.), Thomas Reydon (Hannover), Dagmar Simon (Berlin), Reinold Schmücker (Münster), Carlos Spoerhase (Berlin), Niels Taubert (Berlin), Nina Verheyen (Köln) und Debora Weber-Wulff (Berlin). Aber auch den Mitgliedern der IAG selbst sei gedankt, ohne deren rege Mitarbeit das Arbeitsprogramm niemals bewältigt und auch dieser Band nicht hätte vorgelegt werden können: Mitchell Ash, Georg Braungart, Lorraine Daston, Peter Gaehtgens, Anthony Grafton, Rainer Hank, Ludger Honnefelder, Ferdinand Hucho, Rainer Maria Kiesow, Wolfgang Klein, Matthias Kleiner, Gudrun Krämer, Verena Lepper, Caroline A. Lodemann, Randolf Menzel, Glenn W. Most, Wolfgang Neugebauer, Michael Quante, Evelyn Runge, Dieter Simon, Philipp Theisohn, Jürgen Trabant, Wilhelm Vosskamp, Peter Weingart, Johannes Zachhuber und Günter M. Ziegler. Ohne die beständige Unterstützung von Ute Tintemann in der Wissenschaftsverwaltung der Akademie und den engagierten Einsatz von Christiane Claus und Edward Ott als studentische Hilfskräfte hätte der Band nicht vorgelegt werden können. Der Fritz Thyssen Stiftung ist für die großzügige Förderung einer Arbeit zu danken, die aus Mitteln des Landes Berlin allein hätte nicht finanziert werden können.

Literatur

BBAW (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), § 1 Aufgaben, in: Satzung der BBAW, Zugriffsdatum: 04.09.2015, http://www.bbaw.de/die-akademie/aufgaben-und-ziele/satzung.

BBAW (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), Akademievorlesungen, in: Mediathek, Zugriffsdatum: 04.09.2015, http://www.bbaw.de/mediathek/archiv-2015/30-04-2015-avl-zitat.

DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft, Hg.), Vorschläge zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Empfehlungen der Kommission ›Selbstkontrolle in der Wissenschaft‹, Weinheim 1998.

Doll, Martin, Fälschung und Fake. Zur diskurskritischen Dimension des Täuschens, Berlin 2012.

DWDS (Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache), Stichwort »Zitat«, Zugriffsdatum: 04.09.2015, http://www.dwds.de/?qu=zitat&view=1.

ESF/ALLEA (European Science Foundation/All European Academies), The European Code of Conduct for Research Integrity, Straßburg 2011.

Graevenitz, Gerhardt von/Mittelstraß, Jürgen (Hg.), Kreativität ohne Fesseln. Über das Neue in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, Konstanz 2008.

IPPHEAE Project Consortium, Impact of Policies for Plagiarism in higher Education across Europe, Zugriffsdatum: 04.09.2015, http://ippheae.eu/project-results.

Joint Committee on Quantitative Assessment of Research, Citation Statistics. A report from the International Mathematical Union (IMU) in cooperation with the International Council of Industrial and Applied Mathematics (IIAM) and the Institute of Mathematical Statistics (IMS), Veröffentlichungsdatum: 12.06.2008, http://www.mathunion.org/fileadmin/IMU/Report/CitationStatistics.pdf.

Kiesow, Rainer Maria, »Abschreibekunst. Recht als Kopierwerkstatt«, Myops, Jg. 4, H. 9 (2010), S. 73–76.

Kiesow, Rainer Maria, »Wir haben abgeschrieben!«, Gegenworte. Hefte für den Disput über Wissen, Jg. 12, H. 24 (2010), S. 48–51.

Koselleck, Reinhart, Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/M. 2000.

Lubbadeh, Jens, Plagiate in der Wissenschaft: Kopieren geht über studieren, in: Spiegel Online, Veröffentlichungsdatum: 25.01.2008, http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/plagiate-in-der-wissenschaft-kopieren-geht-ueber-studieren-a-530925.html.

Meckel, Astrid, Zitat, in: Gabler Wirtschaftslexikon, Zugriffsdatum: 04.09.2015, http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/zitat.html.

Reulecke, Anne-Kathrin (Hg.), Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten, Frankfurt/M. 2006.

Rieble, Volker, Das Wissenschaftsplagiat. Vom Versagen eines Systems, Frankfurt/M. 2010.

Rommel, Thomas (Hg.), Plagiate – Gefahr für die Wissenschaft? Eine internationale Bestandsaufnahme, Berlin 2011.

Simon, Dieter, Guttenbergs Erbe, in: mops-block, Veröffentlichungsdatum: 14.01.2013, http://www.mops-block.de/ds-tagebuch/199-guttenbergs-erbe.html.

Theisohn, Philipp, Literarisches Eigentum. Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter. Essay, Stuttgart 2012.

Theisohn, Philipp, Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte, Stuttgart 2009.

Van den Hoek, Annewies, »Techniques of Quotation in Clement of Alexandria. A View of Ancient Literary Working Methods«, Vigiliae Christianae, Jg. 50, H. 3 (1996), S. 223–243.

Vinzent, Markus, »Original, Zitat, Plagiat? Meister Eckharts Auffassung von Quellen«, Meister-Eckhart-Jahrbuch, Jg. 7, H. 1 (2013), S. 105–122.

Weber-Wulff, Debora, A visit to the Academy, in: Copy, Shake, and Paste, Veröffentlichungsdatum: 01.12.2014, http://copy-shake-paste.blogspot.se/2014/12/a-visit-to-academy.html.

Disziplinen

Publizieren und Zitieren in der wissenschaftlichen Medizin: Tradition und Wandel

Peter Gaehtgens

Seit jeher war und ist die Medizin einer Epoche geprägt von dem Menschenbild ihrer Zeit, den Vorstellungen über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Leben und Tod, der Stellung des Menschen in seiner natürlichen Umwelt, Glücks- und Jenseitsvorstellungen und den daraus abgeleiteten gesellschaftlichen Verhaltensnormen und -traditionen. Dies prägt die Vielfalt der Formen ihres Denkens und Handelns, und – nach unserem heutigen Verständnis – ihren Charakter als »praxisorientierte Erfahrungswissenschaft«.20

Angesichts der Breite ihres Gegenstandes ist die Medizin von heute mit ihren unterschiedlich stark geistes-, sozial- und naturwissenschaftlich geprägten Denk- und Verfahrenskulturen weder ein einheitliches, noch ein originäres Wissenschaftsgebiet: Theoretische Fundierung und methodische Vorgehensweise verdanken ihre Teildisziplinen ihren jeweiligen »Ursprungswissenschaften« – in der experimentellen Medizin vor allem den Naturwissenschaften. Sprache, Form und Stil heutiger Veröffentlichungs- und Zitiergewohnheiten sind Ergebnis einer historischen Entwicklung des Begriffs von Wissenschaft sowie der jeweiligen Aufgabenstellung und organisatorischen Umgestaltung in den vergangenen beiden Jahrhunderten. Das Verhältnis von Tradition und Wandel im wissenschaftlich-medizinischen Publikationswesen ist daher auch ein Spiegel der allgemeinen Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte. Die heutigen Konventionen des wissenschaftlichen Publikationswesens, die darin ausgedrückte Gewichtung von Inhalten und die dafür gültigen Standards erschließen sich deswegen nur über die wissenschaftliche Ideengeschichte, die in der Medizin durch den Einfluss aus Nachbarwissenschaften und nicht-wissenschaftlichen Einflüssen bestimmt ist.

Im Folgenden wird der Wandel der Publikations- und Zitationskultur in der wissenschaftlichen Medizin anhand der Entwicklung eines sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts zusehends emanzipierenden Teilgebiets der experimentellen Medizin betrachtet – der Physiologie. Spezieller Untersuchungsgegenstand ist die wohl wichtigste (ursprünglich) deutschsprachige wissenschaftliche Zeitschrift dieses Fachgebiets, die im Jahre 1868 unter dem Namen Archiv für die gesammte Physiologie des Menschen und der Thiere von Eduard Pflüger (1829–1910, seit 1859 Ordinarius der Physiologie an der Universität Bonn) gegründet wurde. Struktur, Form und Stil der Beiträge in einigen stichprobenartig untersuchten Jahrgängen dieser Zeitschrift sowie statistische Merkmale der daraus ablesbaren Veröffentlichungspraxis (siehe Tabelle 1) liefern die Grundlage der folgenden Darstellung.

Jahrgang

Band Nr.

Zahl der Artikel

Seitenzahl

Seiten

pro Artikel

Autoren

pro Artikel

Abbildungen

pro Seite

1868

1

25

690

27,6

1,08

0,05

1902

89

26

632

24,4

1,08

0,17

1949/1950

252

55

635

11,5

1,53

0,48

1987

408

101

648

6,4

2,92

0,80

1999/2000

439

109

854

7,8

3,82

0,71

Tab. 1: Statistische Merkmale von Beiträgen des Archivs für die gesammte Physiologie des Menschen und der Thiere bzw. des European Journal of Physiology

(Quelle: Pflügers Archiv – European Journal of Physiology)

Entwicklung von Aufgabe und Methodik der medizinischen Wissenschaften

Die spezifische Aufgabenstellung der Physiologie entwickelte sich im Rahmen der Binnendifferenzierung der Medizin im 18. und 19. Jahrhundert und erhielt damit einen bedeutenden Schub auch ihrer organisatorischen Verselbständigung. Diese Entwicklung war zunächst getrieben von dem Bedürfnis nach einer rationalen Auffassung von der Natur und – als deren erste Voraussetzung – insbesondere nach überprüfbaren Kriterien für die Unterscheidung zwischen der belebten und der leblosen Natur. Die Aufklärung des ungeklärten Zustandekommens einiger offenbar nur an Lebewesen, nicht aber in der unbelebten Natur beobachtbaren Erscheinungen (Bewegung, Stoffwechsel, Wachstum, Fortpflanzung etc.) bildete für die Medizin, deren Thema in besonderer Weise der Übergang zwischen Leben und Tod ist, eine besondere Aufgabe systematischer Erforschung: »[…] Es ist also unter Umständen durchaus nicht leicht, Lebendiges von Leblosem zu unterscheiden, und es ist demnach klar, dass es die erste Pflicht der Physiologie sein muß, die Kriterien für eine solche Unterscheidung aufzusuchen, und ihr Forschungsobjekt, das Leben, gegenüber den Vorgängen der leblosen Natur begrifflich zu begrenzen.«21

Noch weit in das 19. Jahrhundert hinein beruhte diese Unterscheidung auf der Vorstellung, dass im Gegensatz zur unbelebten Natur alle Lebensvorgänge von einem immateriellen Prinzip getragen und Ausdruck des Wirkens einer besonderen Kraft (vis vitalis) waren, die sich von den aus der Physik bekannten Kräften fundamental unterschied und mit den verfügbaren Methoden der Beobachtung grundsätzlich nicht erfassbar sei. Dieser animistischen Theorie des sogenannten Vitalismus stand die These entgegen, dass auch die belebte Natur den grundlegenden Gesetzen von Physik und Chemie unterworfen sei.

»[…] Bis in die Mitte dieses Jahrhunderts hinein galt Vielen eine Lebenserscheinung als genügend erklärt, wenn sie als Äußerung der sogenannten Lebenskraft hingestellt war […] Dieser forschungslähmende Standpunkt wurde […] aufgegeben, je mehr es glückte, Lebenserscheinungen als notwendige Folge aus gegebenen physikalischen und chemischen Bedingungen zu erkennen […].«22

Insbesondere durch Hermann Boerhaave (1668–1738) und seinen Versuch, »[…] die Physik und Chemie zur Erklärung der Vorgänge in der organischen Struktur heranzuziehen und die medizinische Krankheitslehre und Therapie vom Boden naturwissenschaftlicher Erfahrungen systematisch zu begründen […]«,23 wurde die Medizin im ausgehenden 18. Jahrhundert von animistisch-mystischer Begrifflichkeit zunehmend befreit und damit eine neue Grundlage für medizinische Forschung gelegt. Danach sind alle Lebensvorgänge bei Mensch und Tier als Prozesse zu verstehen, deren gesetzmäßiger Ablauf auf kausalen Wirkungsprinzipien beruht und mit geeigneten Methoden objektiv nachgewiesen und dokumentiert werden kann.

Mit der Überwindung des Vitalismus eröffneten sich der entstehenden Disziplin der Physiologie, aber auch anderen experimentellen Grundlagenfächern der Medizin neue Felder wissenschaftlicher Exploration. Mit dem beginnenden 19. Jahrhundert machten sie sich endgültig die Denkweise der Naturwissenschaften zu eigen und damit vor allem deren wichtigstes Arbeitsinstrument, das Experiment, das heißt die Beobachtung bzw. Messung objektiver Größen unter sorgfältig kontrollierten Bedingungen:

»[…] Die Erscheinungen des Lebens müssen vor allen Dingen festgestellt werden, wozu in erster Linie die Beobachtung dient. Jede unter willkürlich herbeigeführten Umständen angestellte Beobachtung heißt Experiment. […] die Kunst des Experimentierens besteht […] darin, in den natürlichen Verlauf der Dinge so einzugreifen, dass bestimmte Fragen an die Natur gestellt und ihre Beantwortung erzwungen wird […].«24

Die »Herbeiführung der Umstände« des Experiments war der zweite Schritt im Ablauf der sich nunmehr entwickelnden Schrittfolge wissenschaftlichen Vorgehens; er folgte auf die Festlegung einer wissenschaftlichen Fragestellung (oder Hypothese), aus deren Natur sich die »herbeizuführenden Umstände« des Experiments und dessen praktische Gestaltung ergeben. Die Fragestellung ihrerseits leitet sich aus dem bis dahin im Schrifttum niedergelegten Wissensstand her, dessen vermutete oder unterstellte Fehlerhaftigkeit Ausgangspunkt der durch das Experiment zu überprüfenden Hypothese ist. Wichtigste Vorbedingung für die Aussagefähigkeit des Experiments als »Frage an die Natur« ist, dass deren »erzwungene« Beantwortung unabhängig vom Untersucher ablaufen muss, der zwar die Vorbedingungen des Experiments bestimmt und die Beobachtungs-, Mess- oder Dokumentationsmethoden organisiert, aber keinen Einfluss auf den weiteren Ablauf des untersuchten Vorgangs nimmt.

Mit diesen Grundregeln wissenschaftlichen Vorgehens, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildeten, beanspruchte die wissenschaftliche Medizin keinen nur für sie gültigen methodischen Ansatz, sondern übernahm ihn von den Naturwissenschaften. Das Experiment unter »herbeigeführten Bedingungen« als Methode zur objektiven Beschreibung und kausalen Erklärung von Lebensvorgängen ermöglichte die schwunghafte Entwicklung neuer wissenschaftlicher Disziplinen im akademischen Kanon der Medizin, für die an den Universitäten neue Lehrstühle und Institute eingerichtet wurden. Und mit dieser sich nun etablierenden systematischen Vorgehensweise wurde auch das Ziel der wissenschaftlichen Medizin – hier insbesondere der Physiologie – deutlich: »[…] Aufgabe der Physiologie ist nicht allein die Feststellung, sondern auch die Erklärung der Erscheinungen des Lebens […] Je nach dem Stande der allgemeinen Naturwissenschaften wird das Ziel der Erklärungsbemühungen, d. h. die Befriedigung des Kausalitätsbedürfnisses, verschieden weit gesteckt werden […].«25

Zur Deutung des unter den kontrollierten Bedingungen des Experiments beobachteten und objektivierten Befundes muss dieser mithin in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang eingeordnet werden. Dies zwingt den Text einer wissenschaftlichen Veröffentlichung zu argumentativer Stringenz und Präzision: Der experimentelle Befund muss durch geeignete Dokumentation belegt werden und die bei seiner Deutung verfolgte wissenschaftliche Argumentation muss erlauben, ihn ursächlichauf die vom Untersucher vorgegebenen Bedingungen zurückzuführen. Durch diese Schrittfolge auch in der wissenschaftlichen Darstellung wird die Wiederholung des Experiments durch andere und damit die Überprüfbarkeit des Wahrheitsgehalts der gewonnenen wissenschaftlichen Aussage ermöglicht.

Der veröffentlichte Text – eine Erzählung

Mit der Übernahme dieses naturwissenschaftlichen Ansatzes änderten sich in der Medizin die Formen der wissenschaftlichen Kommunikation, die besonders in den seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gegründeten wissenschaftlichen Zeitschriften ihren Niederschlag finden. Noch weit in das 19. Jahrhundert hinein werden neue wissenschaftliche Erkenntnisse durch persönliche Mitteilung zwischen interessierten Einzelpersonen ausgetauscht oder im Rahmen von Zusammenkünften der Mitglieder wissenschaftlicher Gesellschaften verbreitet. In einem Beitrag zu einer fachspezifischen wissenschaftlichen Zeitschrift aber wendet sich der Autor nicht mehr an einzelne identifizierbare Adressaten, sondern an die allgemeine, an der Wissenschaft interessierte Gesellschaft und schließlich an die Fachkollegenschaft. Für die Physiologie, die sich als experimentell-medizinische Grundlagendisziplin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Form von Lehrstühlen an den Universitäten zu etablieren begann, entstand so durch das im Jahre 1868 gegründete Archiv für die gesammte Physiologie des Menschen und der Thiere (heute Pflügers Archiv – European Journal of Physiology) eine neue Plattform für den wissenschaftlichen Austausch. Dies ging mit einem Diskurs über die angemessene wissenschaftliche Darstellung einher, in der sich die Bedeutung des in der Veröffentlichung Mitgeteilten für die wissenschaftliche Erkenntnis, aber auch der Begriff von dem, was Wissenschaft über reine Beobachtung und spekulative Schlussfolgerung hinaus kennzeichnet, sowie die sich verändernden organisatorischen Bedingungen von Wissenschaft niederschlagen.

Auch wenn der Autor in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift nun einer anonymen Öffentlichkeit gegenübertrat, so prägte zunächst doch der erzählende Stil der persönlichen Mitteilung bis in die zweite Jahrhunderthälfte die Form vieler Beiträge: In solchen, in der ersten Person Singular und in epischer Breite abgefassten Veröffentlichungen wird auch die Persönlichkeit des Autors sichtbar. Nicht nur Umstände und Gegebenheiten der durchgeführten Untersuchungen, die dabei zu überwindenden technischen und finanziellen Schwierigkeiten und die daran beteiligten Personen werden geschildert, sondern auch Begeisterung und Enttäuschungen des Autors bleiben nicht unerwähnt. Ein Beispiel dafür ist der im Jahre 1902 veröffentlichte – und auch bei fehlendem fachwissenschaftlichem Interesse lesenswerte – Beitrag von Justus Gaule (1886–1916 Ordinarius der Physiologie in Zürich) über »die Blutbildung im Luftballon«, aus dem deswegen hier ein (kurzer!) Ausschnitt des Textes wiedergegeben sei:

»Sehr sehnte ich mich nun nach einer Hülfe, die nicht bloss die eines Apparates, sondern eines mit beobachtenden Menschen war. Mein Assistent, Dr. Höber, war verreist. So konnte ich auf ihn nicht rechnen; um so willkommener musste es mir sein, als meine Frau sich erbot, mich zu begleiten. Sie war in den Methoden, die unterwegs anzuwenden waren, vollkommen ausgebildet […] Am 10. August sollte der erste Aufstieg von dem Kasernenhof in Zürich vor sich gehen […] Indessen der Aufstieg sollte an diesem Tage noch nicht stattfinden. Es riß der Ring, welcher den zuführenden Schlauch mit dem Ballon verband, […] Gas trat aus, Luft trat ein, und man betrachtete es als gefährlich, mit diesem Ballon aufzusteigen. Die Situation wurde geklärt durch den anwesenden Dr. Hommel, der sich bereit erklärte, eine neue Gasfüllung zu bezahlen, damit die Expedition ungefährdet unternommen werden konnte.«26

Ungeachtet ihrer breiten Leserschaft enthalten nicht wenige Veröffentlichungen dieser Jahre auch polemisch formulierte Auseinandersetzungen und scharfzüngige Erklärungen, die von den subjektiven Überzeugzungen des Autors zeugen. Noch im Jahre 1902 fühlt sich Eduard Pflüger, Herausgeber der nun schon etablierten physiologischen Fachzeitschrift, in einer ansonsten ganz sachlich abgefassten Arbeit zur Resorption der Fette im Darm zu dem emphatischen Schlusssatz aufgerufen: »Alle Verdauung ist Hydrolyse, alle Resorption ist Hydrodiffusion [Fettdruck im Original]. Das ist mein Satz! Der ist wahr und wird es bleiben, solange die Welt steht.«27

Aus solchen Textstellen wird auch deutlich, dass die mit zunehmender Erforschung biologischer Prozesse entschlüsselten chemisch-physikalischen Mechanismen einer Begriffsbildung bedurften. Ein einheitliches, Verwechslungen ausschließendes Verständnis »objektiv« erhobener physiologischer Befunde sowie insbesondere deren Vermittlung an ein breites Fachpublikum erfordert gemeinsame Verständigung über Nomenklatur und sprachliche Konventionen bei der Formulierung wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die von Person und Persönlichkeit des Autors unabhängig sind:

»Der Physiologe bedarf einer Fachsprache, wie der Psychologe, und diese sollte überall dort, wo sie noch fehlt, geschaffen werden.«28 »Auf jeden Fall muss die Physiologie allmählich alle Bezeichnungen für subjective Vorgänge aus ihrem Wortschatz verwerfen, sonst hört die Confusion niemals auf, denn die Physiologie ist allein die Lehre von den objectiven Lebenserscheinungen [kursive Hervorhebung vom Autor hinzugefügt, im Original gesperrt gedruckt].« 29

Diese Forderung steht in erkennbarem Widerspruch zu Beiträgen, die noch am Ende des 19. Jahrhunderts in emotionaler verbaler Heftigkeit im Streit um wissenschaftliche Wahrheit formuliert wurden, aber sich oft keineswegs auf die Kritik einer anderen wissenschaftlichen Position beschränken, sondern auch Person und Verhalten eines jeweiligen »Gegners« in scharfer Polemik attackieren. Noch in Band 89 von Pflügers Archiv aus dem Jahre 1902 finden sich mehrere Erklärungen oder Erwiderungen, zu denen sich ein Autor durch Äußerungen anderer »genöthigt« sah:

»Wiederum bin ich genöthigt, gegen die Art und Weise, in welcher L. Hermann über unseren Streit betreffs der reflectorischen negativen Schwankung in dem Jahresbericht der Physiologie […] referirt, Verwahrung einzulegen […] Damit hat sich in der That bewahrheitet, was ich schon früher ausgesprochen habe, dass es schwer ist, einem Gegner wie Hermann gegenüber das letzte Wort zu behalten, und mit Bestimmtheit konnte ich voraussehen, dass sein ›letztes Wort‹ doch noch nicht sein allerletztes Wort sein werde. ›[…] Dagegen aber muss ich entschieden Einspruch erheben, dass Hermann in dem Jahresbericht nicht nur wiederholt seinen unbegründeten Prioritätsanspruch erhebt, sondern seine Stellung als Herausgeber sogar dazu gebraucht, um gegen mich einen persönlichen Angriff zu richten‹ […], gegen den ich mich nicht an gleichem Orte mit gleichen Waffen vertheidigen kann […].« 30

Solche Textpassagen, die heute eher irritierend wirken, dienten aber doch wohl auch – vielleicht ungewollt – dazu, Standards für das Verhalten der Teilnehmer am sich ausweitenden Fachdialog in den sich neu etablierenden Wissenschaften zu setzen und Vorgaben zur Gestaltung wissenschaftlicher Kommunikationsformen zu entwickeln. Das wird, was die Zitationskultur angeht, auch an der relativ »gebremsten« Polemik deutlich, mit der R. Rosemann (1904–1937, Ordinarius der Physiologie in Münster) in seiner »Erwiderung« auf Veröffentlichungen seines Kontrahenten reagiert: Ausführlich kritisiert er eine Zitierweise, die – wie der Autor in seinem »getrosten« Appell an den Leser zu hoffen scheint – auch von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit bereits als Verstoß gegen einen allgemeinen Standard gewertet wird:

»Neumann citirt wesentliche Sätze aus meinen Publicationen in willkürlich veränderter Form. Theils sind diese Aenderungen unwesentlicher Art, wenn auch desswegen nicht entschuldbar, theils aber sind sie von höchster Bedeutung. Neumann ändert meine Sätze so, dass sie gerade das Gegentheil von dem sagen, was ich ersichtlich damit habe sagen wollen, und es ist ihm dann ein Leichtes, das Unrichtige meiner angeblichen Behauptungen nachzuweisen […] Wenn ich etwas nach seiner Meinung Irriges gesagt habe, discutiert er es weitläufig; wenn ich aber etwas gesagt habe, was er als berechtigt später angenommen hat, so wird es nicht erwähnt […] Gegen diese Art von Polemik Verwahrung einzulegen, ist der Zweck der folgenden Ausführungen. Das Urtheil darüber überlasse ich getrost dem Leser.«31

Um die Wende zum 20. Jahrhundert werden solche Einlassungen und mit ihnen der erzählende Stil und Charakter des persönlich geführten »Dialogs« zwischen Wissenschaftlern in der Veröffentlichungspraxis zunehmend seltener. Diese Versachlichung ist einerseits Folge des Verschwindens des erzählerischen Elements und der allgemeinen »Verwissenschaftlichung« der Texte, spiegelt aber auch die organisatorischen Bedingungen von Wissenschaft und die Stellung des einzelnen Wissenschaftlers im »Wissenschaftssystem«.

Das Verschwinden des Untersuchers und die Fokussierung auf den Befund

Durch diesen stilistischen Wandel, in dem die Veröffentlichung literarische Qualitäten einbüßt, wird sie zu einem unpersönlich-wissenschaftlichen Text, dessen Aufgabe die präzise und argumentativ überzeugende Präsentation der experimentell gewonnenen Erkenntnis ist. Die Publikation wird auf den objektiven Befund und die davon abgeleitete wissenschaftliche Aussage fokussiert, während alles andere – das heißt vor allem die Person des Untersuchers – aus dem Text verschwindet; das schließt nicht aus, dass man im Text einzelner Veröffentlichungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine »geballte Faust in der Hosentasche« noch zu spüren meint. Aber es entwickelt sich zunehmend ein knapper und sachlicher Sprachstil und die Texte werden kürzer. Vor allem aber nimmt die Zahl von Abbildungen (Textabbildungen und Tafeln) im Verhältnis zur Länge des Textes deutlich zu: Originalabbildungen sowie Zahlenangaben in Tabellen sind die konzentrierteste und anschaulichste Form der Präsentation der experimentellen Ergebnisse und erklären sich dem Fachpublikum weitgehend auch ohne Worte. So wird der Wandel in der Gestaltung der wissenschaftlichen Veröffentlichung ein Abbild der sich in einem langjährigen Wandlungsprozess seit Beginn des 19. Jahrhunderts durchsetzenden Grundregeln der wissenschaftlich-experimentellen Methodik: Der Untersucher tritt nach »Herbeiführung der Umstände« des Experiments gänzlich zurück und mit ihm verschwindet auch der Autor im Text; der erhobene Befund und dessen Dokumentation und Deutung tritt in den Vordergrund der Präsentation.

Neben dieser »Verwissenschaftlichung« des Textes ist eine zweite Ursache des Verlusts an »persönlichem Stil« anzumerken: die im Verlaufe des 20. Jahrhunderts stark zunehmende Zahl von Autoren einer Veröffentlichung; dieser Auftritt von »Autoren-Kollektiven« leistet der Versachlichung des Textes ebenfalls Vorschub: Während im Jahre 1868 (Band 1) 23 (92 Prozent), im Jahre 1902 (Band 89) 24 (93 Prozent) der Veröffentlichungen in Pflügers Archiv von Einzelautoren stammten, waren es im Jahr 1949 (Band 252) noch 29 (47 Prozent), im Jahr 1987 (Band 408) noch elf (11 Prozent) von 101 und im Jahr 1999/2000 (Band 439) nur noch eine (1 Prozent) von 109. Die Bildung von Wissenschaftler-Teams mag auch Folge wachsender methodischer Komplexität, technisch-apparativer Erfordernisse und der Spezialisierung des einzelnen Wissenschaftlers sein. Aber auch an den Untersuchungen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts von nur einem Autor veröffentlicht wurden, waren wahrscheinlich mehrere Wissenschaftler beteiligt, wie deren gelegentliche Erwähnung im Text belegt. Veränderte Hierarchien in dem sich entwickelnden Wissenschafts-Betrieb werden daher aus diesen Daten wohl auch sichtbar: Noch um den Beginn des 20. Jahrhunderts finden sich in Veröffentlichungen von Einzelautoren, die explizit als »Assistent am Physiologischen Institut« bezeichnet sind, Dankbarkeitsäußerungen für Anregungen und Unterstützung des jeweiligen »hochverehrten Lehrers«, dessen Name heute wahrscheinlich unter den Ko-Autoren erschienen wäre. Immerhin: Im ersten Band des Archivs für die gesammte Physiologie finden sich unter den 27 Autoren der 25 Artikel zwei Medizinstudenten – beide aus dem Institut von Hermann Helmholtz in Heidelberg und jeweils als Einzelautoren auftretend.

Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts schwindet der stilprägende Einfluss des einzelnen Wissenschaftlers auf den Text vor allem als Folge eines veränderten Verständnisses von Wissenschaft als gemeinschaftlicher Leistung mehrerer Mitglieder einer Arbeitsgruppe, eines Instituts oder einer institutionenübergreifenden Kooperation: Im Band des Jahres 1999/2000 stammen die Autoren so gut wie aller Artikel jeweils aus mehreren Institutionen. Entscheidend für den Wandel des Stils nach der Mitte des 20. Jahrhunderts wird schließlich auch die Tatsache, dass die Fachzeitschrift zunehmend einen internationalen Wissenschafts-Markt bedient und die Autoren der heute nur noch in englischer Sprache abgefassten Beiträge für ein »European Journal« aus allen Ländern der Welt stammen und damit einer globalen anglophonen Wissenschaftskultur angehören.

Damit wird insgesamt deutlich: Die naturwissenschaftliche Ausrichtung medizinischer Forschung seit dem beginnenden 19. Jahrhundert, die zunehmende Fokussierung der wissenschaftlichen Darstellung auf das Experiment und den damit erhobenen Befund gegen Ende des 19. Jahrhunderts und schließlich die seit Mitte des 20. Jahrhunderts wachsende internationale Kooperation in der Wissenschaft haben Struktur, Sprache und Stil der wissenschaftlichen Veröffentlichungen grundlegend verändert. Mit sorgfältiger Sachlichkeit der Formulierung, die der notwendigen Distanz zum Gegenstand und der Hinwendung zur Objektivität entspricht, nimmt die Bedeutung des Textes als Träger der kommunizierten wissenschaftlichen Aussage deutlich ab. Diese Funktion übernimmt die Originalabbildung als Beleg für einen Befund, dessen Deutung auf dem Hintergrund des vorbestehenden Wissensstandes die in diesem Paradigmenwandel verbleibende Aufgabe des Textes ist. Diese Entwicklung führt zu einer strukturellen Verdichtung der Darstellung auf ihre vier Kernbestandteile (Fragestellung, Methodik, Befunde, Deutung im Kontext der wissenschaftlichen Literatur), die heute auch für die formale Gliederung einer wissenschaftlichen Publikation weitgehend verbindlich sind.

Unzweifelhaft wird der durch diesen Prozess der »Verwissenschaftlichung« erzielte Gewinn an Präzision mit einem Verlust an Bedeutung und literarisch-erzählerischer Qualität des Textes erkauft. Heutige medizinisch-wissenschaftliche Veröffentlichungen entbehren in ihrer trocken-sachlichen Sprache und weitgehend standardisierten Struktur jeder literarischen Lebendigkeit und enttäuschen jedes Interesse an den dahinter stehenden Wissenschaftlerpersönlichkeiten, ihrem Profil und ihren Überzeugungen. Im Wettstreit um die wissenschaftliche Wahrheit baut der Wissenschaftler auf die Unabweisbarkeit objektiv dokumentierter Befunde, die durch Präsentation einer Originalabbildung möglich wird; sprachliche Eleganz und die Überzeugungskraft des Wortes sind, weil immer auch durch die Person des Sprechenden/Schreibenden geprägt, potenziell irreführend. Im Vergleich zu den Formen wissenschaftlichen Publizierens in der Medizin noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird aber auch deutlich: Verloren geht mit diesem Wandel der Formen wissenschaftlichen Veröffentlichens auch die Präsentation des Habitus des Gelehrten als Autor und sein Gestus gegenüber einer Öffentlichkeit, der er nicht sich selbst, sondern »objektive« Wahrheiten präsentieren soll.

Das Zitierwesen im Wandel der Veröffentlichungstradition

Der im wissenschaftlichen Experiment erhobene Befund bedarf einer Deutung auf dem Hintergrund des vorbestehenden Wissens. Daher ist der Bezug auf relevante Vorleistungen anderer im Text der Veröffentlichung konstitutiv und erst durch diesen Bezug wird der Erkenntnisgewinn durch den neuen Befund belegbar. Ungeachtet der deutlichen Veränderungen von Struktur und Stil wissenschaftlicher Veröffentlichungen in den vergangenen gut 200 Jahren hat sich die Form des Zitierens kaum geändert: Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es eine gut etablierte Tradition für die Form solcher Hinweise, deren präzise Angaben es erlauben sollten, der dargelegten Argumentation eines Autors nachzugehen. Diese Hinweise geschahen entweder in Form einer Fußnote oder als Literaturliste am Ende des Textes und enthielten in der Regel neben dem Namen des Autors auch die Fundstelle der Quelle, gelegentlich auch den Titel des Beitrags. Dies war die schon im ersten Band des Archivs für die gesammte Physiologie erkennbare Konvention und mit der Erwähnung eines früheren Autors ohne ausdrücklichen Hinweis auf eine Fundstelle kam man nur bei offenbar allgemein bekannten Bezeichnungen von Methoden oder Geräten aus, die wie die »Wheatstone’sche Combination«, das »Rhumkorff-Inductorium«, »Feddersen’s Funkenphotographie« oder das »allgemeine Erregungsgesetz von E. Du Bois-Reymond« in der wissenschaftlichen Forschung gängig und im allgemeinen Sprachgebrauch mit den Namen ihrer Erfinder bzw. Entdecker verbunden waren.

Ausgerechnet im ersten Satz des ersten Beitrags zum neugegründeten Archiv für Physiologie des Jahres 1868 findet sich eine auffällige Abweichung von dieser Tradition: Der Autor, Hermann Helmholtz, bleibt bei der Nennung einer Fundstelle ungewöhnlich ungenau:

»Eine kürzlich in der Zeitschrift für rationelle Medicin veröffentlichte Notiz aus dem Nachlass des der Wissenschaft leider zu früh entrissenen B. Riemann lehrt uns die Gedanken kennen, welche sich dieser mit einer so ungewöhnlichen Penetrationskraft ausgerüstete Geist in den letzten Monaten seines Lebens über die Aufgaben der physiologischen Akustik und über die Mängel ihrer bisherigen Lösungen gebildet hatte […].« 32

Diese in Bezug auf den Fundort unvollständige Quellenangabe wird auch im weiteren Text nicht präzisiert; Helmholtz fügt an späterer Stelle nur in einer Fußnote ein, dass er selbst eine »vorläufige kurze Darstellung« der Riemann’schen Gedanken auf einer wissenschaftlichen Tagung vorgetragen habe, was auch »in den Heidelberger Jahrbüchern« abgedruckt sei. Die ungewöhnliche Ausnahme dieses Hinweises mag der besonderen Situation des »Eröffnungsbeitrags« des neuen Archivs geschuldet sein, wohl auch der allgemeinen Bekanntheit des bedeutenden Mathematikers B. Riemann (1826–1866, seit 1857 Lehrstuhlinhaber in Göttingen), der zwei Jahre zuvor in jungen Jahren verstorben war, und schließlich vielleicht auch der Reputation des Autors selbst, der zu dieser Zeit bereits seinen vierten Lehrstuhl für Physiologie in Bonn innehatte und vor einer weiteren Berufung nach Berlin stand. Aber vor allem wurde hier auf etwas anderes als sonst hingewiesen, nämlich auf »Gedanken«. Üblicherweise dient der Hinweis auf Vorarbeiten anderer Untersucher in der Fachliteratur in der wissenschaftlichen Medizin dem Zweck, den dort erhobenen konkreten Befund hervorzuheben, von dem der Autor bei der Formulierung seiner eigenen wissenschaftlichen Fragestellung ausgeht. Daher kommen wörtliche Zitate des Textes von Veröffentlichungen anderer Autoren schon im 19. und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar vor und waren zum Zwecke des polemischen Widerspruchs sogar nötig. Aber sie waren selten, denn vorherrschend war schon damals – und ist bis heute – die paraphrasierende Beschreibung à la »Meyer (21) hat gezeigt, dass«. Denn der Hinweis macht in der Regel auf den in einem Artikel mitgeteilten Befund aufmerksam, dessen Wiedergabe durch Abbildung oder Zahlenwerte in Tabellen die präziseste ist. Die Paraphrase ist in der Regel auch dann die gewählte Hinweisform, wenn es um die Deutung des konkreten Befundes im Text geht: »Meyer interpretierte diesen Befund als Beleg dafür, dass.« Insofern bleibt der Helmholtz’sche Hinweis eine Ausnahme – ob der Universalgelehrte und »Reichskanzler der Physik«33 die ungewöhnliche Ungenauigkeit damit legitimiert hätte, dass diese weder einem Befund noch einer Deutung galt, sondern dem Gedanken, den »sich dieser mit einer so ungewöhnlichen Penetrationskraft ausgerüstete Geist […] gebildet hatte«, wird einstweilen offenbleiben müssen.

Eine zweite seltene Abweichung von der allgemeinen Konvention findet sich im zweiten Beitrag zu dem gleichen, dem ersten Band des Archivs: Der Herausgeber E. Pflüger beschreibt seine Untersuchungen Über die Ursache der Athembewegungen, sowie der Dyspnoe und Apnoe, nimmt an einem bestimmten Punkt seiner Argumentation ein eine Seite langes, wörtliches Zitat aus einer Arbeit eines anderen Autors auf und begründet dies explizit: »Wegen der grossen Wichtigkeit der hier in Betracht kommenden Fragen und zur Klarlegung von Schwartz’s Stellung, gebe ich den Passus wortgetreu wieder: […].«34 Damit nicht genug, unterstreicht er anschließend noch einmal: »Dies ist die wichtigste Stelle, welche sich in der gesammten Literatur mit Rücksicht auf die Frage nach dem Vorhandensein einer Placentarrespiration findet […].« Die Tatsache und Betonung dieser Begründung weist deutlich darauf hin, wie ungewöhnlich in der Literatur der wissenschaftlichen Medizin das wörtliche Zitat schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts war – und bis heute ist.

Literatur

Bernstein, Julius, »Erklärung zu L. Hermann’s Jahresbericht der Physiologie 1901, betreffs der reflectorischen negativen Schwankung«, Pflügers Archiv – European Journal of Physiology, Bd. 89, H. 11–12 (1902), S. 592–593.

Gaule, Justus, »Die Blutbildung im Luftballon«, Pflügers Archiv – European Journal of Physiology, Bd. 89, H. 3–4 (1902), S. 119–153.

Helmholtz, Hermann, »Die Mechanik der Gehörknöchelchen und des Trommelfells«, Pflügers Archiv – European Journal of Physiology, Bd. 1, H. 1 (1868), S. 1–60.

Hering, Heinrieb Ewald, »Über die nach Durchschneidung der hinteren Wurzeln auftretende Bewegungslosigkeit des Rückenmarkfrosches«, Pflügers Archiv – European Journal of Physiology, Bd. 54, H. 11–12 (1893), S. 614–636.

Hermann, Lubomir, Lehrbuch der Physiologie, 13. Aufl., Berlin 1905.

Pflüger, Eduard, »Über die Ursache der Athembewegungen, sowie der Dyspnoe und der Apnoe«, Pflügers Archiv – European Journal of Physiology, Bd. 1, H. 1 (1868), S. 61–106.

Pflüger, Eduard, »Über Kalkseifen als Beweis gegen die in wässriger Lösung sich vollziehende Resorption der Fette«, Pflügers Archiv – European Journal of Physiology, Bd. 89, H. 5–6 (1902), S. 211–226.

Rosemann, Rudolf, »Erwiderung auf die Arbeit von Dr. R. O. Neumann: ›Die Wirkung des Alkohols als Eiweisssparer‹«, Pflügers Archiv – European Journal of Physiology, Bd. 89, H. 3–4 (1902), S. 178–210.

Rothschuh, Karl Eduard, Geschichte der Physiologie, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1953.

Verworn, Max zitiert in Hering, Heinrieb Ewald, »Zur Fachsprache der Physiologen«, Pflügers Archiv – European Journal of Physiology, Bd. 89, H. 5–6 (1902), S. 281–282.

Verworn, Max, Allgemeine Physiologie. Ein Grundriss der Lehre vom Leben, 5. Aufl., Jena 1909.

Wikipedia, Stichwort »Hermann von Helmholtz«, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, Zugriffsdatum: 04.04.2015, http://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_von_Helmholtz.

Wikipedia, Stichwort »Medizin«, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, Zugriffsdatum: 23.12.2014, http://de.wikipedia.org/wiki/Medizin.

Die vielfältige Öffentlichkeit der Wissenschaft und das geistige Eigentum des Forschers

Randolf Menzel

Öffentlichkeit

Wenn wir von der Öffentlichkeit der Forschung sprechen, dann meinen wir meist die allgemeine Öffentlichkeit, die der interessierten Bürger.44