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Zombies haben Deutschland fest im Griff. Das Schicksal des isolierten Landes ist tragisch. Aber wie hat das eigentlich alles angefangen? Wie haben die Menschen den plötzlichen Verlust ihrer Normalität, das Grauen vor der eigenen Haustür, in der eigenen Familie erlebt? Mai 2020. Der Tag X, an dem die ersten Untoten gesichtet, gemeldet werden. Und wahllos Menschen angreifen, beißen, töten. Sie anstecken und dazu verdammen, dass die Opfer selbst zu Zombies werden. Rasend schnell verbreitet sich die zunächst unerklärliche ›Seuche‹ in Deutschland, denn es gibt mehr als einen Infektionsherd. In 19 Geschichten erleben wir Betroffene aller Altersgruppen und sozialen Schichten. Menschen in der Großstadt, auf dem Land, Einzelgänger, Familien, beste Freunde, heimliche Feindinnen, Cliquen und Wahlverwandtschaften, Zusammenhalt und Rückzug, Schulterzucken ebenso wie Kämpfe bis zum letzten Atemzug. Allen gemein ist die konstante Bedrohung, das grausige, von Gewalt geprägte Umfeld aus Tod, Ekel, Angst und Ungewissheit, das zum Vorschein bringt, wer diese Menschen wirklich sind. Das Prequel zur ersten Zombie Zone Germany Anthologie – denn wir sollten alle vorbereitet sein!. Kurzgeschichten von Lisanne Surborg, Sebastian Hallmann, Matthias Ramtke, Monika Loercher, Ian Cushing, Nicola Höderle, Stephanie Richter, Christian Brune-Sieren, Oliver Bayer, Helena Crescentia, K. T. Jurka, Saskia Hehl, Carina Wiederbauer, JD Alexander, Lydia Weiß, Stefan Schweikert, Jürgen Horeth, Carolin Gmyrek, Emily Tara Todd. Herausgegeben von Claudia Rapp. Bisher in der Reihe erschienen: ZZG: Die Anthologie ZZG: Trümmer (Simona Turini) ZZG: Tag 78 (Vincent Voss) ZZG: Letzter Plan (Jenny Wood) ZZG: Zirkus (Carolin Gmyrek) ZZG: Blutzoll (Matthias Ramtke) ZZG: Fressen oder gefressen werden (Thomas Williams) ZZG: XOA (Lisanne Surborg) ZZG Anthologie 2: Der Beginn ZZG: Hoffnung (Hanna Nolden)
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Seitenzahl: 632
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Zombie Zone Germany
Der Beginn
Herausgegeben von
Claudia Rapp
© 2020 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein
Idee zur Reihe: Torsten ExterHerausgeberin der Reihe: Claudia Rapp
Umschlaggestaltung: Christian Günther
Alle Rechte vorbehalten
ISBN – 978-3-95869-320-3
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http://amrun-verlag.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar
v1 20
Vorwort
Hier ist sie also, die zweite Anthologie der Zombie Zone Germany. Nach dem Auftaktband 2015 und inzwischen sieben Novellen blicken wir noch einmal zurück auf den Anfang, die ersten Tage und Wochen nach dem 6. Mai 2020 – jenem verhängnisvollen Tag, als Dr. Charlotta vom Berg sich im Hamburger Stadtteil St. Pauli nach der Einnahme von Madenwürmern, die den Parasiten B3ZwW11 in sich tragen, in ein Wesen verwandelt hat, das andere Menschen angreift, beißt, fressen will. Wie es dazu kam und was es mit diesem Erreger auf sich hat, lässt sich erahnen, wenn man Vincent Voss’ Geschichte „Tartaros“ liest, die in der ersten Anthologie dieser Reihe auftaucht (ISBN 3944729749, bestellbar beim Amrûn Verlag und überall, wo es Bücher gibt).
Aber auch Heike Schrappers Geschichte „Die Rückkehr der faulen Schlampe“ mag ein wenig Licht ins Dunkel bringen, wenn es darum geht, herauszufinden, wie sich die ‚Seuche‘ so schnell ausbreiten konnte. Offenbar gab es in jenem Forschungsinstitut irgendwo im Großraum Hamburg mindestens einen Mitarbeiter, der die Madenwürmer für einen ausgesprochen zwielichtigen Zweck verkauft hat. Und wenn wir die Geschichten der vorliegenden Anthologie betrachten, dürfte auch das kein Einzelfall gewesen sein. Da war diese uralte, steinreiche Frau am Chiemsee … und dann die Sache in Düsseldorf … aber lesen Sie selbst.
Ein Kaleidoskop menschlicher Abgründe; Facetten von Angst, Panik, Gewalt, Verzweiflung, und oft auch unbändigem Lebenswillen. Manchmal Pragmatismus, Gleichgültigkeit, Resignation, manchmal Tapferkeit, Opferbereitschaft, Freundschaft. So war er, der Beginn dessen, was heute die Zombie Zone Germany ist.
Ich habe die Herausgeberschaft der Reihe im Mai 2019 übernommen, Thomas Williams’ Novelle „Fressen oder gefressen werden“ als erstes Buch der Reihe begleitet und mich dann an die Auswahl der Geschichten für „Der Beginn“ gemacht. Das war kein leichter Prozess, denn es gab so viele verdammt gute Storys. Besonders gefiel mir auch, wie unterschiedlich der Ton jeweils ist. Ich hoffe, ich bin der Vielfalt und Originalität der Einsendungen gerecht geworden. Bedanken möchte ich mich bei Jürgen, der mir die Zügel in die Hand gegeben hat, bei Tamara, von der ich den Staffelstab übernommen habe, und bei Christian, der wieder einmal ein wunderbar atmosphärisches Cover gezaubert hat.
Und jetzt nichts wie hinein. Ihr betretet die Zombie Zone Germany und erlebt die ersten, schicksalhaften Tage und Wochen hautnah mit. Viel Glück.
Claudia Rapp
Prepapocalypse
Lisanne Surborg
Gerade eben
Ein Schwall Blut klatscht mir ins Gesicht und rinnt warm meinen Kragen hinab. Von irgendwoher dringen die ersten Sirenenchöre in den Wald.
16 Stunden zuvor
»Hey Geeks und Freaks! Ihr guckt Prepapocalypse mit Ben und Kalle. Danke für eure Fragen und Challenges in den Kommentaren. Ich hab´ einige davon ausgesucht und heute schauen wir mal, wie Kalle sich schlägt!«
Ich klappe den Bildschirm meines Laptops ein wenig nach vorn, damit das Licht der Schreibtischlampe mir Bens Gesicht nicht verblendet. Als er in die Kamera grinst, muss ich unwillkürlich lächeln. Im Video wendet er sich Kalle zu und zieht herausfordernd eine Augenbraue nach oben. »Bereit?«
»Klar!« Kalle plustert seine ohnehin schon fleischigen Wangen auf und nickt großspurig. Seine Schweinsäuglein fixieren die Kamera. Der Vlog wäre nie erfolgreich geworden, wenn Kalle ihn allein aufnehmen würde. Ich wette, für die meisten Fans ist er nur lästiges Beiwerk, das man eben akzeptiert, wenn man dafür Ben sehen kann. So ist es zumindest für mich. Ben ist die Pizza und Kalle das Basilikumblatt, das jeder gleich an den Rand legt.
»Okay!« Ben grinst wieder. Eine Strähne seines dunklen Haares rutscht ihm aus der Frisur und umschmeichelt seine hohen Wangenknochen.
Mit einer lässigen Bewegung streicht er sie wieder zurück. Er hat dieses Funkeln in den Augen, das ein Stakkato in meinem Brustkorb auslöst. »Die erst Frage kommt von Survivor11: Atomkrieg. Was machst du als allererstes?«
Kalle verzieht seinen breiten Mund zu einer Linie, die wohl Enttäuschung ausdrücken soll. »Easy. Ich gehe in meinen Bunker und fertig.«
»Next: IvyGal will wissen, welche Gegenstände du für den Fall der Fälle immer dabeihast.«
Kalle zählt an drei Fingern ab. »Panzertape, Aspirin, Kabelbinder.«
Ben bricht in Gelächter aus und wirft den Kopf in den Nacken. Unter dem T-Shirt spannt sich seine Brustmuskulatur an. »Das stimmt! Der Typ kommt einfach jeden Tag mit Drogen und Kabelbindern zur Schule!«
Diesmal lasse ich das Video einfach weiterlaufen. Aber gestern habe ich mir die Stelle zehn Minuten auf Repeat angesehen.
»Nächste Frage«, sagt Ben, als er sich beruhigt hat. »Von PrepLover666: Wie bereitest du dich darauf vor, dass du in der Apokalypse geliebte Menschen verlieren wirst, ohne dich verabschieden zu können?« Geliebte Menschen, wiederholt mein Gehirn mit Bens Stimme.
Kalle guckt an die Decke und schüttelt dann ganz langsam den Kopf. Er faltet die Hände und lehnt sich auf seinem Schreibtischstuhl vor. »Ich muss mich nicht verabschieden. Alle, die mir wichtig sind, nehme ich mit in den Bunker. Dann spielen wir zusammen Karten, während oben die Welt untergeht.«
Ben blickt skeptisch an der Kamera vorbei. So guckt er immer, wenn er nachdenkt. Letzte Woche habe ich mich in einer Freistunde vor seinem Klassenraum platziert und ihn durchs Fenster dabei beobachtet, wie er seine Deutschklausur geschrieben hat. Daher weiß ich das.
»Aber wie wahrscheinlich ist es, dass du gerade alle, die dir wichtig sind, in Bunkernähe um dich hast, wenn die Apokalypse kommt?«, fragt er. Auf seiner Stirn bildet sich eine Denkfalte.
»Es sind ja nicht viele.«
»Aber gibt es nicht trotzdem Leute, denen du noch was zu sagen hast, bevor alle sterben?«
Kalle schüttelt entschieden den Kopf. »Sorry Ben, aber das ist genau die melodramatische Kacke, die man abschalten muss, wenn man überleben will. Wenn eh alle sterben, ist es auch egal, ob man ihnen zehn Minuten vorher noch irgendwas gesagt hat. Die zehn Minuten machen dann auch keinen Unterschied mehr. Außer, du bist deshalb nicht im Bunker und stirbst.«
»Okay.« Ben zuckt die Achseln und sieht wieder in die Kamera. »Ich bin da anders. Wenn man nicht weiß, wann die Welt untergeht, sollte man einfach immer darauf gefasst sein, finde ich. Und das heißt auch: Wenn ich jemandem etwas zu sagen habe, dann mache ich das besser sofort. Wer weiß, ob sich später noch eine Gelegenheit bietet. Außerdem kann das alles verändern. Also, auch Schicksale und so.«
»Word«, sagt Kalle, aber er meint es ironisch.
Ich springe mit der Maus auf dem Timecode zurück und studiere jede Regung auf Bens schönen Zügen, als ich mir seine Rede nochmal anhöre.
Im Kopf
Was ist das für ein zynisches, ätzendes Leben?
Da steht man jeden Morgen vor sechs Uhr auf und schleppt sich in eine Anstalt, die einen nicht für Arbeit bezahlt, aber ständig ungefragt beurteilt. Man muss tatenlos dabei zusehen, wie der eigene Körper sich regelrecht grotesk verformt und Eiterkrater überall aus dem öligen Gesicht sprießen. Selbstbewusstsein und Lebenswille haben sich längst einen Strick geknüpft, der Abschiedsbrief lauert als Outline im Hinterkopf. Und in der Minute, in der man sich aufrafft, um vielleicht alles zu ändern und Ben einfach mal anzusprechen, reißt ihm irgendein Irrer die Kehle aus dem Hals.
Jetzt
Sie probieren was Neues aus, habe ich eben noch gedacht. Kalle, mit ruhiger Hand und unbewegter Miene, hat den Selfiestick gehalten und das Video gedreht. Ben, neben ihm, hat Tipps aufgezählt, die beim Überleben in der Wildnis helfen.
Wildnis. Klar, der lichte Wald auf dem Hügel rund ums Schulgelände bietet ein beeindruckendes Setting für den Wildnis-Vlog, habe ich gedacht und die Augen verdreht. Bestimmt Kalles Idee.
Ich habe die Schultern bewusst nach hinten gezogen und die Wirbelsäule aufgerichtet als hinge ich an einem unsichtbaren Faden. Meine Mutter nennt mich oft ein wandelndes Fragezeichen. Meine Klasse nennt mich einen Lurch.
Jetzt!, habe ich gedacht, Jetzt trete ich ganz locker hinter dem Baum hervor und lächele ihn an, als wäre ich gerade zufällig vorbeigekommen und einfach neugierig. Jetzt.
Ein anderer ist schneller gewesen.
Durch das Unterholz ist ein Jogger auf die beiden Jungen zugestrauchelt. Dass seine Knie aufgeschlagen waren, hat ihn gar nicht gestört. Auch nicht, dass er nur einen Schuh getragen hat. Er ist mit der Nase voran gelaufen, und ich habe eine Sekunde lang überlegt, ob mein Haltungsfehler auch mich wie eine hungrige Hyäne wirken lässt.
Der Jogger ist gegen Ben geprallt, hat ihn im Sturz unter sich begraben und ihm mit den Zähnen ein Stück Fleisch aus dem Hals gerissen.
Bens Schreie – der erste schrill, der zweite gurgelnd – fühlen sich an wie Nadelstiche in mein Gehirn. Einzelne Eindrücke blitzen durch meine Nerven: das Scharren von Bens Vans auf dem Waldboden. Blutrinnsale, die von Kinnen tropfen. Kalles heisere Rufe. Bens flatternde Augenlider.
Das Smartphone, noch in den Selfiestab geklemmt, filmt vom Boden aus weiter. Die ungewöhnliche Perspektive macht das Video noch bizarrer. Ich kann den Hinterkopf des Joggers und Bens Knie immer wieder ins Bild ragen sehen, als ich auf das Smartphone zugehe.
»Aufhören!« Kalles Brüllen bleibt folgenlos. Er hebt einen schweren Ast vom Boden und trifft den Angreifer hart in die Seite. Kalle holt aus und setzt einen zweiten Schlag, der den Mann grob von Bens Oberkörper stößt.
Der Jogger prallt mit dem Gesicht auf eine Wurzel im Boden, verdreht den Hals und blickt Kalle aus Augen an, in denen alle Adern geplatzt sind. Als er seine Lippe nach oben zieht wie ein Wolf seine Lefzen, fällt die Lücke im Gebiss auf, aus dem gerade ein Zahn gebrochen ist. Fünf Striemen ziehen sich parallel über seinen Oberschenkel, nur knapp unter dem Saum seiner Hose.
Ein tiefer, kehliger Laut vibriert in seinem Brustkorb, bevor er ungelenk wieder auf die Beine kommt. Wie ein betrunkenes Kleinkind, denke ich und traue mich nicht, zu Ben zu sehen. Ich höre ihn atmen. Rasselnd, aber stetig.
»Hauen Sie ab!« Den Ast vorgesteckt macht Kalle einen Schritt über Ben hinweg und stellt sich schützend vor ihn. Für einen Moment blicken Kalle und der Jogger sich nur an. Der eine voll Adrenalin, die Finger um die improvisierte Waffe geschraubt – der andere in einer Haltung, als hätte man ihm jede Sehne im Körper durchtrennt.
Da fixiert der Jogger Kalle aus seinen roten Augen, reckt das Kinn nach ihm und stößt vor. Noch im Sprung grapscht er gierig nach Kalles Gesicht.
Kalle stolpert rückwärts über Bens Hüfte, rudert haltsuchend in der leeren Luft über seinem Kopf und verfehlt den Angreifer mit dem Ast. Er landet hart auf dem Rücken und ich höre, wie der Aufprall die Luft aus seinen Lungen presst. Geistesgegenwärtig tritt er nach dem Angreifer, während ich Bens Smartphone unter meinen schweren Boots zersplittere.
Schmutzige Hände reißen an Kalles T-Shirt, Geifer besprüht den Stoff. Kalle setzt sich mit Fäusten und Ellenbogen zur Wehr, aber es ist eine Frage von Sekunden, wann das schnappende Gebiss sich in sein Fleisch senken wird.
Ich trete dem Jogger gegen die Schulter und versenke den abgebrochenen Selfiestick tief in seinem Ohr.
Chemie
»Wo willst du hin?«, frage ich, während mein Smartphone immer wieder ins Leere wählt.
»Rein!« Kalle keucht unter Bens Gewicht, obwohl Ben ziemlich schmächtig ist. Kalle ist einfach schlecht in Form. Er beißt die Zähne zusammen und schleppt den Verletzten auf den Eingang zur Pausenhalle zu. Einen Arm unter Bens Knien, einen unter seinen Achseln.
Ben starrt mich an, während ich mein Sport-T-Shirt fest auf seine Wunde presse. Wie oft habe ich mir das ausgemalt. Weniger dramatisch und definitiv ohne Kalle, aber im Grunde genau so. In meinen Träumen schneidet er sich an Papier oder pikt sich eine Schere in den Daumen, damit ich ihn beeindruckend professionell verarzten kann und er sich erst in meinen Augen verliert und dann hoffnungslos verliebt.
An meinem Ohr tutet es zweimal, doch bevor mein Herz einen Hüpfer machen kann, ist da wieder nur Stille.
»Ich komme nicht durch«, sage ich und stoße die Tür auf.
Kalle stampft an mir vorbei und reißt mir mit Bens Fuß beinahe das Smartphone aus der Hand.
»Ey!«, rufe ich, »Das Krankenzimmer ist links.«
Er schnaubt nur und kämpft sich mit Ben die Treppe hoch. »Um halb fünf ist doch kein Schwein mehr hier.«
Ich zögere nur einen Moment, bevor ich wieder an seine Seite eile, um den Stoff auf Bens Hals zu drücken. Er hat die Augen geschlossen, aber an dem Zucken, das rhythmisch durch sein Gesicht läuft, kann ich erkennen, dass die Treppenstufen ihm Schmerzen bereiten.
»Und jetzt?«
»Chemieraum.«
»Der wird abgeschlossen sein. Wie alles andere auch.«
»Greif in meine Hosentasche.«
Ein abfälliges Lachen drängt über meine Lippen. »Garantiert nicht!«
»Mach!« Er fordert es so erbarmungslos, dass mein Körper automatisch gehorcht. Ich hasse mich dafür, als ich meine Hand an Bens Rücken vorbei in Kalles tiefsitzende Hosentasche schiebe. Meine Finger fördern einen Schlüsselbund ans Neonlicht. »Für den Chemieraum?«, frage ich verblüfft. »Woher hast du den?«
»Umwelt-AG …« Sein Gesicht bekommt Farbe. »Jetzt mach endlich!«
Ich schließe die Tür hinter uns ab, während Kalle Ben aufs Lehrerpult legt wie eine Opfergabe an die Schulbehörde.
Kalle rupft sogleich den Erste-Hilfe-Kasten von der Wand und reißt den Deckel auf. Er schleudert mein T-Shirt zur Seite und besprüht die Wunde mit Desinfektionsmittel.
Ich werfe einen Blick über seine Schulter: Die Wunde ist nicht so tief, wie ich dachte. Sie blutet nicht so stark wie befürchtet. Aber vielleicht habe ich die Blutung auch einfach gut gestillt. Mein Blick heftet sich an dem Abdruck fest, den der Biss hinterlassen hat. Jeder einzelne Zahn hat seine eigene Spur in Bens helle Haut gepresst. Dafür ist das Stück Fleisch, das fehlt, nicht groß, und seine Kehle hüpft auf und ab.
Kalle legt eine Kompresse auf die Wunde und fixiert das Ganze weit fachmännischer, als ich es gekonnt hätte.
»Ich habe Wasser«, sage ich.
Kalle nimmt die Flasche an und versucht, Ben zum Trinken zu bewegen. Währenddessen wähle ich zum zehnten Mal den Notruf – vergebens.
Verbunden
»Hast du WLAN?«, frage ich.
Kalle verdreht die Augen. »Niemand hat hier WLAN. Überall marode Wände, aber gerade fest genug, um jedes Signal abzublocken.«
»Okay, WLAN ist eh Mist. Du hast GPS?« Es ist eigentlich keine Frage. Dass man im Ernstfall auf GPS-Kommunikation zurückgreift, hat Kalle im Vlog-Post mit dem Titel How To Stay Connected When EverythingEnds selbst erzählt.
Er schüttelt den Kopf. »Mein Akku ist leer, und ich habe kein Ladekabel.«
»Ich habe eine Power Bank.«
Er wirft einen Blick auf mein Smartphone und schüttelt abermals den Kopf. »Lightning-Anschluss.«
Mir klappt der Mund auf. »Ist das dein Ernst?«
»Was?«
»Hast du alles, was nützlich wäre, in deinem Bunker gelassen?«
Er stutzt und mustert mich von den Wanderschuhen bis zur Lederjacke. Ben trägt eine ganz ähnliche. »Folgst du unserem Vlog?«
»Was für ein Vlog?« Ich versuche, belustigt zu klingen. Als wäre ein Vlog etwas, wofür er sich schämen sollte. Ich glaube, es gelingt mir nicht.
»Du heißt Mona oder so, oder?«
»Mira.« Ich beschließe, die Vernünftige hier zu sein. Und abzulenken. »Wir müssen jetzt Hilfe holen.«
»Dann lauf los. Ich bleibe bei Ben.«
Der Vorschlag missfällt mir aus mehreren Gründen. Ich spreche den an, bei dem ich nicht mein Herz offenbaren muss.
»Hast du den Kerl im Wald vergessen?«
»Das war Notwehr. Keine Sorge, ich werde das bezeugen. Jetzt los!« Vor Ungeduld verschluckt er mehrere Silben. Er sieht mich nicht mehr an, sondern prüft Bens Puls am Handgelenk.
»Nein … ich meine: Der Typ war tot, nachdem ich ihm ins Hirn gestochen habe.«
»Das tötet die meisten Menschen, ja«, sagt Kalle genervt. Weil ich ihn beim Zählen gestört habe, und weil ich immer noch hier bin. Mir platzt der Kragen.
»Merkst du denn gar nichts?« Ich spucke beim Sprechen. Meine Finger graben sich in den Saum meiner Lederjacke. »Seine Augen? Wie er sich bewegt hat? Die Kratzer auf seinem Bein? Mann, der hatte nur einen Schuh an und hat Ben gebissen. Den hätte nichts umgebracht, außer der Stich ins Hirn.«
Kalle zieht die Brauen zusammen. Der Rest seines Gesichts bleibt seltsam starr. »Du gehst da nicht raus, weil du glaubst, dass der Typ ein Untoter war. Das würde aber bedeuten …«
»Ich gehe da nicht alleine raus«, unterbreche ich ihn, damit er nicht ausspricht, was auch mir durch den Kopf geistert. »Eine der wichtigsten Regeln aus Zombieland. Also: Wir brechen zu zweit in den Computerraum ein und gehen von da aus ins Internet. Dann kommt Hilfe für Ben. Es sei denn, das hier ist die Apokalypse. Aber das wissen wir noch nicht.«
»Du folgst dem Vlog.«
»Komm mit!«
Aber er dreht sich wortlos um und schließt die Tür zum Lagerraum auf, die den Chemieraum mit dem Biologieraum verbindet.
Mein Blick streift umher, verweilt auf Ben. Seine Brust hebt und senkt sich stetig, aber die Augen sind geschlossen. Ich weiß nicht, ob das Schlaf ist, Ohnmacht oder etwas anderes.
Kreide. Zeigestock. Schwamm. Ich erinnere mich an meinen Platz in der letzten Reihe, werfe den kippelnden Stuhl um und drehe ihm das lose sitzende Bein heraus. Als ich aufsehe, kommt Kalle mit einer Feueraxt zurück.
»Dann los«, sage ich.
Sein Gesicht ist eine Maske. Bevor wir uns nach draußen wagen, greift er sich in die hintere Hosentasche und nestelt erneut an Bens Handgelenk herum.
Der Kopf
In der Schule ist es still.
Kalle scheint das beruhigend zu finden. Er schließt Ben im Chemieraum ein und macht ein paar vorsichtige Schritte auf die Treppe zu. Blickt über das Geländer in die Pausenhalle hinab und entspannt die Schultern.
Bei mir entspannt sich nichts.
Lautes Gebrüll und Schreie wären sicherlich ein deutliches Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Aber gleichzeitig gibt es da diesen Moment in jedem Horrorfilm, in dem keine Musik läuft und die Kamera sich quälend langsam vortastet. Diesen Moment vollkommener Stille, die einem die Armhaare aufstellt und in einem kurzzeitigen Herzstillstand gipfelt, wenn plötzlich der Schocker einsetzt.
Kalle, der Idiot, scheint das nicht auf dem Schirm zu haben. Locker die Axt schwingend, steigt er die Stufen hinab. Fehlt nur noch, dass er pfeift.
Ich umklammere das Stuhlbein fester und folge ihm. Die Pausenhalle liegt im Halbdunkel, obwohl es draußen noch hell ist. Über den Monitor rattern noch immer all die Stunden, die heute ausgefallen sind. Auf den schlammfarbenen Steinfliesen blutet ein Trinkpäckchen aus, und unter einem Tisch liegt ein ausgeweideter Turnbeutel. Es ist, als wollte man Depressionen unter Schülern fördern.
»Ich sage doch: Hier ist niemand mehr.« Auf halbem Weg durch die Aula dreht Kalle den Kopf zu mir. »Brichst du die Tür zum Computerraum gleich mit deiner Schulter auf oder zerhacke ich sie mit meiner Axt?«
»Hier lang.« Ich überhole ihn und steuere auf das Hausmeisterbüro zu. Sein Büro hat keine Tür. Eigentlich ist es auch eher eine breite Nische zwischen den Toiletten und dem Eingangsbereich als ein richtiger Raum. Auf dem Tapeziertisch liegen in den Pausen Brötchen und Schokomilch aus, die Herr Guldenreich an die Schüler verkauft. Dahinter stehen ein improvisierter Schreibtisch, Blechschränke mit Akten und Werkzeug sowie ein paar Müllzangen und Gartengeräte.
»Oder soll ich mit der Axt Guldis Schränke knacken, um an die Schlüssel ranzukommen?« Kalle tauscht einen Schlag gegen das Schloss an. Ich wende mich ihm zu, um etwas zu erwidern, und nehme die Bewegung in der Ferne wahr.
»Was?« Er verharrt, folgt meinem Blick. Aber auf dem Schulhof ist niemand zu sehen. »Da waren vorhin ein paar Jungs, die Fußball gespielt haben. Nichts Besonderes. Und sie sind längst gegangen,«
Ich klemme mir das Stuhlbein unter die Achsel und spüre meinen Herzschlag dagegen drängen. Mit zwei langen Schritten lasse ich den Tapeziertisch hinter mir. »Letzte Woche in Informatik sind die Bildschirme wieder alle schwarz geworden. Alle paar Tage springt da die Sicherung heraus. Ich wurde zu Guldi geschickt, damit er sich darum kümmert. Er schließt den Schlüssel nicht mehr weg, weil Informatik sonst ständig ausfiele, wenn er gerade nicht–«
Mit einer unwirschen Handbewegung schneidet Kalle mir das Wort ab. Er umklammert seine Feueraxt, balanciert sein Gewicht auf den Fußballen und lauscht.
Ich halte die Luft an, als ich es ebenfalls höre. Mit der Stille in der Pausenhalle ist es vorbei. Etwas bewegt sich dort und kommt näher. Ziel´ auf den Kopf, sage ich mir, immer auf den Kopf. Kalle steht vor mir, auf ihn wird es sich zuerst stürzen. Niemals den Helden spielen.
Was da auf uns zukommt, klingt nicht nach einem Menschen. Aber auch nicht so, wie die Bewegungen des untoten Joggers sich auf diesen schlammfarbenen Steinfliesen hätten anhören müssen.
»Fuck«, sagt Kalle und gibt ein schnaufendes Lachen von sich.
Die Ohren gespitzt bleibt Herr Schulz im Nischeneingang stehen und blickt uns interessiert an. Als niemand etwas sagt, senkt der Schulhund die Nase und sucht den Boden nach Brötchenkrümeln ab.
»Warum ist der noch hier?«, fragt Kalle und wischt sich mit der axtfreien Hand den Schweiß von der Stirn. Unter seinen Achseln wachsen dunkle Flecken.
Statt einer Antwort werfe ich dem Mischling einen grimmigen Blick zu, als er wieder in die Aula läuft. Herrenlose Hunde sind nie ein gutes Zeichen. Ich drehe mich wieder zum Schreibtisch, plötzlich gehetzt. Wie lange ist es her, dass Ben angegriffen wurde? Wie lange ist er schon alleine oben? Ich ziehe die oberste Schublade auf und finde Schrauben, eine Dose mit Mints, Gummibänder und Zwirn. Keinen Schlüssel.
»Planänderung«, sage ich zu Kalle, »Du zerhackst die Tür.« Als ich mich an ihm vorbei zurück zur Aula dränge, fängt der Spaten zwischen den Müllzangen meine Aufmerksamkeit ein. Ich greife danach und stelle mein Tischbein an seinen Platz.
In der Pausenhalle leckt der Hund die Saftpfütze aus dem Trinkpäckchen auf. Der Zucker nimmt ihn so sehr ein, dass er die Gestalt, die sich von hintern nähert, gar nicht wahrnimmt. Der Mann läuft langsam, Kopf und Schultern gesenkt, als würden sie von den Steinfliesen angezogen.
»Warte!« Ich packe Kalle am Arm, als er Luft holt, um nach dem Hausmeister zu rufen. »Was, wenn er ist wie der Jogger? Siehst du nicht, wie er die Füße über den Boden schleift?«
»Ist Guldi nicht schon immer so durch die Aula geschlurft?«, fragt Kalle. »Er soll Hilfe rufen.«
Am liebsten hätte ich ihm das glänzende Blatt meines Spatens in den Fuß gestoßen. Stattdessen zerre ich ihn grob einen Schritt zurück. Genau in dem Moment, als Herr Guldenreich dem zutraulichen Herrn Schulz in den Nacken greift und ihm sein linkes Vorderbein aus dem Körper reißt.
Das schrille Aufjaulen des Tiers und das ersterbende Winseln treiben mir die Tränen in die Augen. Der Hausmeister kniet über dem Schulhund und schaufelt sich unbeholfen seine Gedärme in den Schlund. Blut tropft vom Schnauzer auf den Kadaver, als wollte es zurück in die zerstörten Venen ziehen und einfach weiter zirkulieren.
Ich werfe einen Blick auf Kalles bleiches Gesicht und denke an Ben im Stockwerk über uns. Mir wird das Herz schwer.
»Computerraum.« Kalle presst die Silben fast lautlos hervor. »Jetzt, solange er abgelenkt ist.«
Wir wagen uns aus der Nische, die Waffen vor dem Körper, die Gesichter dem schmatzenden Hausmeister zugewandt. Auf halbem Weg zum Ostflügel der Schule gellt von ebenda ein erstickter Schrei durch die Aula.
Herr Guldenreich hebt seinen versifften Kopf und schnüffelt ekstatisch in unsere Richtung. Er kommt auf die Beine. Als er auf uns zutritt, schleift er unbeeindruckt den Hundekadaver ein Stück mit. Guldis Gesicht hängt, als wären die Muskeln darunter gerissen.
Der Kopf, der Kopf, denke ich und weiche zur Seite aus.
Der Hausmeister röchelt animalisch und schlägt seine Arme nach Kalle durch die Luft. Der holt mit der Axt aus und triff nicht.
»Nochmal!«, brülle ich. »Der Kopf!«
Guldi dreht sich zu mir um. Ich blicke in ein Gesicht, das leblos wäre, wenn nicht Gier aus den Augen starren würde.
Rückwärts fliehe ich durch die Halle, den Spaten vorgestreckt.
»Jetzt mach!« Meine Stimme überschlägt sich und endlich setzt Kalle sich in Bewegung. Aus dem Augenwinkel sehe ich die Lehrerin, die am Eingang zum Ostflügel aufgelöst versucht, eine Nummer in ihr Handy zu tippen.
Da beginnt der Hausmeister zu laufen. Ein Bein ist steif, einen Arm winkelt er ab. Ein rotes Auge fixiert mich, das andere blickt auf sein Knie. Instinktiv klemme ich mir den Spaten vor die Brust. Das Blatt trifft Herrn Guldenreich unter dem Kinn. Sekunden später jagt Kalle ihm die Axt in den Schädel.
Von Osten her stößt die Lehrerin hysterische Schreie aus. Das Handy rutscht ihr aus der Hand und fällt klappernd zu Boden. Sie schnappt nach Luft wie ein Fisch an Land, und hinter ihr fällt mir wieder die Bewegung vom Schulhof auf.
Einfach Zombies
Die Achtklässler vom Schulhof spielen tatsächlich nicht mehr Fußball.
Sie stürzen hinter uns die Treppe hinauf, so hungrig nach unserem Fleisch, dass sie sich fast den Hals brechen. Leider nur fast.
Kalle rammt der Schlüssel ins Schloss und stößt die Tür auf. Ich schubse Frau Nesselbring hinein und gehe schleunigst aus dem Weg, damit Kalle wieder abschließen kann. Er zögert den einen Moment, den der Blick zu Ben ausmacht.
Zum Glück kommt es auf die Sekunde nicht an. Die Tür ist verschlossen, und dahinter hören wir es scharren und kratzen.
Ben liegt noch immer mit geschlossenen Augen auf dem Pult. Mir fällt auf, dass ein Kabelbinder eines seiner Handgelenke an den Tisch fesselt. Ich kann ihn atmen sehen, langsam und gleichmäßig. Wenn Kalle nicht da wäre, würde ich Ben über das Haar streicheln, so wie ich es mir schon hundert Mal ausgemalt habe. Ganz beiläufig streift meine Hand seinen Schopf, bevor ich den Verband prüfe. Er ist sauber.
Frau Nesselbring bricht derweil auf einem Stuhl zusammen und atmet flach. Ihr Pony klebt ihr in der Stirn. Eine Hand hat sie fest in ihr Knie gekrallt, die andere kratzt an ihrem Herpes herum, als wollte sie ihn unbedingt ausweiten.
»Was ist mit den Schülern los? Was ist mit diesem Schüler los? Wir müssen die Polizei rufen. Drogen … sicher Drogen. Der Hausmeister ist tot, hat den Hund gefressen.« Sie quasselt hastig vor sich hin. Ganz die labile Figur, die man mitschleift, bis sie den Löffel abgibt. Niemand, den ich in mein Apokalypse-Team gewählt hätte.
»Den habe ich schon geprüft«, sage ich zu Kalle, als er vorsichtig Bens Kinn bewegt, um den Verband zu begutachten.
»Was machen wir denn jetzt? Was machen wir denn jetzt?« Frau Nesselbring wiederholt den Satz wie ein Mantra der Panik.
»Glaubst du, das sind richtige Zombies?«, fragt Kalle, ohne aufzusehen.
»Sieht ganz danach aus.«
Nach kurzer Stille wagt Kalle eine zweite Frage. Sie bricht spröde über seine Lippen. »Glaubst du, er ist infiziert?«
Ja.
Aber ich höre mich etwas anderes sagen. »Wir haben ja keine Ahnung, welche Art von Zombies das ist. Vielleicht sind sie normalerweise wie Drew Barrymore in Santa Clarita Diet? Oder iZombie. Völlig normale Leute, die eben Gehirne essen. Oder wie in Warm Bodies: Zombies mit Gefühlen.«
»Ja? Du meinst, Guldi hat Gefühle und ist eigentlich weiterhin ein ganz normaler Hausmeister?«
»Guldi war auch vorher nicht normal.«
»Warum redest du dir das schön?«
»Kann ich einen Schluck Wasser haben? Habt ihr die Polizei informiert? Ich komme nicht durch.« Unbemerkt ist Frau Nesselbring nähergetreten. Sie zittert.
»Ja«, sage ich, »Ich habe auch jede Menge Energy-Riegel in meinem Rucksack.« Und in meinem Spind im Keller sind Konserven. Falls wir es je aus diesem Chemieraum schaffen sollten.
»Vielleicht ist er auch immun.« Ich klinge trotzig und vor Ben wäre es mir vielleicht peinlich. Aber Kalle ist mir egal. »Wer weiß. Wir könnten ihm mit deinem Panzertape den Mund zukleben. Nur zur Sicherheit.«
»Das ist in meinem Rucksack. Im Wald.«
Ich verdrehe die Augen und in denen Kalle verdunkelt sich etwas.
Sein Blick heftet sich auf die Lehrerin. »Haben Sie sich das gerade an Ihren Herpes geschmiert?« Er deutet auf die Wasserflasche auf dem Pult. Das Wasser, das er Ben vorhin eingeflößt hat.
Sie schüttelt erschrocken den Kopf. »Nein! Ist … ist das Wasser auch im Rucksack?«
Ich nicke abwesend, und sie weicht wieder zurück.
Kalle schüttelt den Kopf, aber sein Gesicht entspannt sich nicht. »Ich garantiere dir: Diese Zombies sind wie bei The Walking Dead. Einfach Zombies. Und früher oder später kommen die kleinen Jungs durch die Tür da. Über dem Ostflügel bröckelt die Decke, und im Kunstraum schimmelt der Boden. Ich schätze also, die Tür gibt eher früher als später auf.«
»Wir brauchen einen Fluchtweg. Entweder wir klettern durch die Fenster nach unten, oder wir verschwinden durch den Abstellraum.«
Er nickt. Von der Tür her ist das Kratzen wunder Finger zu hören, die verzweifelt versuchen, die Tür aus den Angeln zu heben. Kehlige Laute dringen durch den Spalt am Boden. Sie überlagern sich zu einem grausigen Kanon. Ganz in der Nähe stimmt wieder eine Sirene ein.
Ich stelle mich ans Fenster und versuche, hinter den hohen Bäumen die Straße auszumachen. Keine Chance. Der Blick nach unten offenbart glatte Flächen ohne Fensterbrett, Regenrinne oder Fugen. Als wäre die Schule in den 70ern als Todesfalle errichtet worden.
»Wenn wir gehen, nehme ich Ben mit. Wir wissen nicht, ob er infiziert ist.« Kalle steht neben mir, und sein Ton lässt keinen Widerspruch zu.
»Dann sollten wir das herausfinden.«
»Du schlägst vor, zu warten, … während die Zombiekinder langsam die Tür abtragen?«
»Oder wir nehmen ihm Blut ab und untersuchen es.«
»Soll ich eine Knallgasprobe damit machen, oder was?« Kalle lacht mich kalt und freudlos aus. »Im Ernst: Ich wünschte, ich wäre mit jedem anderen hier gelandet. Irgendwer, nur nicht du.«
»Und ich wünschte, der Jogger im Wald hätte dich erwischt. Nicht ihn.«
Kalle macht keinen verletzten Eindruck. »Ach so«, sagt er abgeklärt. »Ich habe mich eh schon gefragt, warum du überhaupt da warst. Tut mir echt leid, dass du deine Stolz-und-Vorurteil-&-Zombies-Geschichte nicht kriegst.»
»Was ist denn mit ihm?«, fragt Frau Nesselbring leise von meinem Rucksack her, während ich mein glühendes Gesicht am Fensterglas kühle.
»Er ist im Wald angegriffen worden«, sage ich, als die Sirene kurz aussetzt. Das tiefe Brummen, das stattdessen jetzt durch die Fensterscheiben dringt und sie vibrieren lässt, kommt mir als Ablenkung gerade recht.
Ein Helikopter zieht dröhnend über die Schule hinweg. Bäume und Büsche neigen sich unter dem enormen Wind; der Druck in meinem Kopf steigt. Der Helikopter fliegt in Richtung Stadtzentrum, und ich sehe ihm nach, als sich eine Idee in meinen Gedanken formt.
»Wenn du in der Umwelt-AG bist, hast du dann auch einen Schlüssel zum Dach?«
»Irgendwer muss die Solarpanels ja warten, klar.«
»Perfekt. Wir müssen Ben nur aufs Dach schaffen und können dort auf den nächsten Helikopter warten. Ich glaube nicht, dass sie uns die Sprossenleiter hochfolgen können.«
Das steife Bein des Hausmeisters drängt sich aus meinen Erinnerungen. Wie wir den bewusstlosen Ben die Leiter hinauf bekommen sollen, weiß ich allerdings auch nicht.
Ein klagender Laut kommt über Frau Nesselbrings Lippen. Sie streicht sich fahrig die Haare hinter die Ohren, blickt zur Tür und dann zu uns am Fenster. »Ihr wollt da raus? Wo die sind?«
Kalle starrt sie an. »Nicht ohne Ablenkungsmanöver.«
Großes Theater
Ich lasse die Arme kreisen und hüpfe auf der Stelle. Das sieht zwar albern aus, könnte aber mein Leben retten. Die wenigsten denken daran, sich aufzuwärmen, bevor sie vor Zombies fliehen.
Während Kalle Frau Nesselbring Blut abzapft, erzählt sie ihm ungefragt ihre Lebensgeschichte. Ich beobachte Ben, der immer noch gleichmäßig atmet. Auf den Schock scheint er einfach im Tiefschlaf versunken zu sein.
»Eigentlich wäre ich schon längst zu Hause gewesen. Aber ich habe mich vor zwei Wochen von meinem Freund getrennt, und bis er eine neue Wohnung findet, wohnt er noch bei mir. Darum wollte ich hier die Klausuren korrigieren, bis er auf Nachschicht fährt. Und dann hat dieser Hund so gequiekt und – »
»Ich hab´ genug«, sagt Kalle.
Meine Finger schließen sich um mein Sport-T-Shirt und breiten es vor Kalle auf einem Tisch aus. Er hat der Lehrerin ziemlich grob in die Armbeuge gestochen und ihr Blut in einem Reagenzglas aufgefangen. Ich schiebe ihr ein Pflaster zu, während Kalle mein T-Shirt besprenkelt und in der hintersten Ecke des Raumes unter einem Stuhl drapiert. Zwei Fingerbreit Blut lässt er im Glas zurück.
Frau Nesselbring klebt sich das dicke Heftpflaster auf den Arm und schaut mir zu, während ich Bens Fessel löse, nur um ihm beide Handgelenke vor dem Körper erneut mit Kabelbindern zu fixieren. Kalle legt ihn sich umständlich über die Schulter und schwankt unter dem trägen Gewicht. Seine Axt gibt er trotzdem nicht an die Nesselbring ab. Stattdessen habe ich ihr ein frisches Stuhlbein herausgedreht.
»Bereit?«, fragt Kalle.
Ich nicke und werfe das Reagenzglas mit Wucht gegen den Türspalt, wo es in tausend Stücke zerspringt.
Augenblicklich schwillt der Lärm von draußen an. Die Tür wackelt in den Angeln, es knackt bedenklich. Als die Achtklässler durchbrechen, sind wir schon im Nebenraum.
Ich öffne die Tür zum Flur einen Spalt weit und schiele hinüber zur Nachbartür. Offen, und niemand ist auf dem Flur zurückgeblieben.
»Los!«, forme ich lautlos und gleite als erste aus dem Abstellraum.
Wir haben zehn Meter zurückgelegt, als schlurfende Schritte auf dem Linoleum erklingen.
»Rennt!«, brüllt Kalle.
Nur eine Sekunde verschwende ich auf den Schulterblick: Ein Mädchen mit angeklebten Schnurrhaaren und rotem Cape nimmt die Verfolgung auf. Es stolpert über seine übergroßen Stiefel, aber lässt uns selbst im Sturz nicht aus den Augen.
»Schneller!« Ich treibe die anderen an und ärgere mich über mich selbst. Ich habe vergessen, dass mittwochs die Theater-AG probt.
Wir biegen in den Nordflügel ein. Schulterblick. Es sind jetzt zwei, die uns folgen.
Kalle atmet so laut, dass er vermutlich auch jeden weiteren Zombie im Gebäude bald anlocken wird. Mehrfach rutscht ihm Ben fast von der Schulter und mehrfach schiebe ich ihn zurück. Meine Gefühle mal beiseitegelassen, ist es ausgesprochen dämlich, dass wir ihn mitschleppen.
»Sie holen auf!« Auf dem Gesicht der Lehrerin steht blanke Hysterie.
Prompt stolpert Kalle im Treppenhaus. Seine glatten Sohlen rutschen einfach von der Stufenkante an. Mit meinem ganzen Gewicht werfe ich mich in seinen Rücken und er kippt wieder nach vorn. Bens Kopf knallt dabei aufs Treppengeländer, aber niemand kümmert sich darum.
Hinter uns kann ich das kehlige Röcheln hören. Der Gestiefelte Kater streckt beide Hände nach mir aus, da überhole ich die Nesselbring für meinen Endspurt zum Dachaufstieg. Ich sprinte die letzten Treppenstufen hinauf und zückte im Laufen Kalles Schlüssel.
Auf dem Absatz wende ich mich nach rechts und klettere die Metallleiter hinauf. Ich schlage mir beide Knie an, ohne es wirklich zu bemerken. Den Schlüssel ramme ich ins Schloss der Dachluke, stoße die flache Kuppel auf und klettere die letzten Sprossen an die frische Luft.
»Zieh!« Kalle ist so dicht hinter mir, dass ich kaum Zeit habe, mich umzudrehen. Auf dem Bauch liegend, ergreife ich Bens gefesselte Arme und zerre den schlaffen Körper mit Kalles Hilfe neben mich.
Adrenalin, denke ich, und: Ich habe mir alle Muskeln gezerrt.
Kalle klettert durch die Luke und packt die Nesselbring am Kragen. Der Gestiefelte Kater packt sie am Schuh. Ich werde Zeugin des bizarrsten Tauziehens, das diese Schule je gesehen hat. Die Lehrerin lässt vor Schreck das Stuhlbein fallen und klammert sich verbissen an der Leiter fest.
Das Mädchen aus der Theater-AG stößt einen wütenden Laut aus, als Frau Nesselbring ihm in blinder Panik strampelnd die Nase bricht. Ich kriege den Ellenbogen der Lehrerin zu fassen und ziehe. Das Mädchen schnappt, aber verfehlt die Wade knapp. Sie beißt in die Metallsprosse und es knackt hässlich im Kiefer. Die Kreatur langt erneut nach oben, erwischt die Nesselbring am Gürtel. Über uns hinweg stößt der Spaten hinab und trennt die Schnurrhaare ab, bevor jeder Knochen bricht, der noch ganz war.
»Klettern!« Ich brülle die Nesselbring an, ohne ihr zu sagen, dass hinter ihr bereits die nächste Gestalt auf die Leiter zu jagt. Ein Junge im Trikot irgendeines Kleinvereins. Er sieht ihr gierig nach, als ich die Nesselbring endgültig aufs Dach zerre und sie wie ein Wal an Land auf mir liegen bleibt.
»Mach zu!« Ich bringe die Worte ohne Luft hervor, und Kalle hört mich nicht.
Ich folge seinem Blick. Mein Herz macht einen schnellen Doppelschlag. In all dem Lärm habe ich Bens Husten überhört.
»Mach zu!«, wiederhole ich.
In das Gewicht auf mir kommt schlagartig Bewegung. Frau Nesselbring kriecht von mir herunter, das Gesicht vollkommen entgleist. Eine Folge heiserer und hysterischer Laute bahnt sich ihren Weg aus ihrem Rachen.
Kalle klappt die Luke zu, aber da hat der Junge mit den Stollenschuhen es bereits zu uns aufs Dach geschafft. Er kraxelt über das Dach und kommt unter Stöhnen auf die Beine. Es ist die Lehrerin, die er als Beute auswählt. Auf der Flucht hat sie das Pflaster verloren. Ein dunkler Fleck prangt auf dem Ärmel.
Axt!, schießt es mir durch den Kopf. Ich finde sie halb unter Ben vergraben, greife danach und richte mich auf.
Schneller, als ich es ihr zugetraut hätte, läuft Frau Nesselbring dem Jungen über den Schotter davon. Es gibt keine Verstecke. Nur Solarpanels und uns. Das, was mal ein Achtklässler war, holt auf.
Niemals den Helden spielen.
Ich bleibe, wo ich bin.
»Laufen Sie nach links. Links!« Kalle steht plötzlich neben mir.
Ich schaue zu Ben, aber er liegt wieder mit geschlossenen Augen am Boden. Mein Blick schwenkt nach vorn. Ob aus Zufall oder weil sie Kalle gehört hat, Frau Nesselbring läuft tatsächlich nach links. Es dauert nur eine Sekunde, bis ich verstehe, wieso.
Sie läuft einen weiten Bogen und der Zombie folgt ihr. Es knirscht heftig unter dem Schotter. Als wieder Sirenen einsetzen, scheinen sie die Kräfte zu verlassen. Sie wird langsamer.
Der Junge nicht. Er stürzt mit Wucht vor, und sie kriecht im letzten Moment aus seiner Reichweite. Die Kreatur schlägt der Länge nach auf dem Dach auf, und das Dach gibt unter dem Aufprall nach. Zusammen mit jeder Menge Schotter stürzt der Zombie ein Stockwerk tiefer.
Über dem Ostflügel ist das Dach marode, hat Kalle gesagt. Hatte ich kurz vergessen.
Frau Nesselbring schlittert rückwärts von der Bruchstelle weg und schleppt sich langsam zurück zu uns. Sie rollt sich ein, zittert und spricht kein einziges Wort.
Der Fehler
»Er war kurz wach.«
»Hat er was gesagt?«
Kalle schüttelt den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte ihm was gesagt.«
Ich schweige und sehe Kalle an. Aber sein Blick ruht auf Bens Gesicht. Ein feines Rinnsal Blut hat sich in seinem Mundwinkel gebildet.
»Blutet er schon die ganze Zeit?«, frage ich, um nicht auf das reagieren zu müssen, was Kalle da gerade gestanden hat. Kalle nickt und tastet erneut nach Bens Puls.
Ich steige über die schlafende Nesselbring und sehe mich um. In allen Himmelsrichtungen steigen Rauchsäulen auf. Die Hauptstraße hinter den Bäumen wird von Autos blockiert, die ineinander verkeilt sind.
So beginnt also das Ende, denke ich, und: Kalle und Ben. Warum habe ich das nicht erkannt?
Ich sehe in Bens Gesicht, als er die Lider aufschlägt und in den Himmel blickt. In seinen Augen sind alle Adern geplatzt.
Kalle keucht auf und macht einen Schritt rückwärts. Fast hätten die gefesselten Hände ihm das Gesicht zerkratzt.
Aus Bens Lungen dringt ein nasses Gurgeln. Er dreht zuerst den Kopf, dann den Rest des Körpers gequält auf den Bauch. Seine Füße versuchen, Halt zu finden, aber mit den steifen Gelenken rutschen sie auf dem Schotter ab. Er kriecht auf Kalle zu, schnaufend, unbeholfen und nur vom Hunger getrieben. Ben fletscht die Zähne, die mich noch gestern von meinem Bildschirm aus angelächelt haben. Mit der Ferse stößt er gegen eine Solarplatte, findet Halt und kommt auf die Beine wie ein alter Mann.
Ich schubse Kalle zur Seite, mache zwei Schritte nach vorn und stoße Bens Körper vom Dach.
Er stürzt klaglos und still, bevor sein schönes Gesicht auf dem Schulhof zerbirst. Die Sirenen schlucken den Laut.
Unsicher drehe ich mich zu Kalle um. Seine Unterlippe zuckt. Sie ist so grau wie der Rest seines Gesichts. Seine Hände sind zu Fäusten geballt, die Adern treten so dick und deutlich hervor, als flösse mehr als Blut durch sie. Er wendet sich ab, wenn auch nur, um seine schwimmenden Augen vor mir zu verbergen. »Danke.«
Helikopter
Ich sinke auf dem Schotter nieder. Ben und ich, denke ich. An dem Tag, an dem ich ihn endlich ansprechen wollte, habe ich seinem Schädel zertrümmert. Was ist das für ein zynisches, ätzendes Leben?
Kalle blickt eine Weile in den Wald hinaus. Von mir abgewandt. In Gedanken, in Erinnerungen bestimmt. Dann strafft er die Schultern, steigt über mich hinweg und packt die schlafende Nesselbring am Gürtel. Sie ist zu überrumpelt, um zu schreien, als er sie über die Dachkante schleudert.
Ich sehe sie fliegen, nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Ich sehe ihren Körper zerschellen, zwischen Ben und der Tischtennisplatte. Sie sehen surreal aus. Wie ein Gemälde, wie eine Filmszene.
»Sie hat aus Bens Flasche getrunken. Ich habe es genau gesehen. Blut, Herpes … Ich mache den gleichen Fehler nicht zwei Mal.«
Ich nicke. Es gibt nichts zu sagen. Hätte ich es gewusst, hätte ich sie schon an der Leiter zurückgelassen.
Kalle setzt sich neben mich. Er hält den Spaten, ich die Feueraxt. Er hat Aspirin, ich Energy-Riegel. Wir lauschen dem Sirenenkanon und warten auf den nächsten Helikopter.
Game Over
Sebastian Hallmann
»Jajaja, fresst das, ihr verfickten Leichen!«
Die Kettensäge, die ich am Ende eines ausgemusterten Paddels befestigt habe, frisst sich mit einem Aufbrüllen durch die Menge der Untoten. Blut und Innereien spritzen mir ins Gesicht, das Jaulen der Getroffenen wird von den hohen Wänden des Einkaufszentrums zurückgeworfen. Auf meinen Lippen macht sich ein befriedigtes Grinsen breit, als ich zu einem erneuten Schwung aushole, einen weiteren Schritt auf dem mit Gekröse versifften Weg in Richtung des Sportgeschäfts der riesigen Mall mache. Ich brauche dringend Nachschub, meine Vorräte sind fast aufgebraucht, und schließlich bauen auch die anderen Überlebenden auf mich. Nicht mehr weit, nur noch ...
Die Motorsäge fängt an zu stottern, als sie sich in den Schädel eines weiteren Zombies frisst. Wie weggewischt ist mein Grinsen, das verebbende Knattern meiner Waffe klingt höhnisch, und mir wird klar, dass es das gewesen ist. Ich werfe das Paddel in die Menge, reiße noch in der Bewegung mein Messer aus der Scheide – eines dieser Dinger, die sogar Crocodile Dundee neidisch gemacht hätten – und drehe mich um. Meine Augen weiten sich, als mir klar wird, dass ich einen Fehler gemacht habe, indem ich in einem Anflug von Euphorie meine wichtigste Überlebensregel vergessen habe: Behalte deinen Fluchtweg im Auge. Der Gang hinter mir quillt über mit stinkenden Zombies. Dicht an dicht quetschen sie sich auf mich zu, trampeln einander nieder, nur angetrieben von ihrer Gier nach Blut. Nach meinem Blut, und so wie es aussieht, werden sie heute Nacht ihre Mahlzeit bekommen. Ihre Stimmen vereinen sich zu einem Stöhnen, welches durch den Gang hallt wie eine Symphonie des Todes. Hells Bells in Zombieland. Und in dieser Nacht läuten sie für mich.
Mein Blick gleitet nach unten, meine Hand schließt sich fester um den Griff meine Notfallwaffe. Sie hat schon bessere Tage gesehen, und mir ist klar, dass ich es nicht schaffen werde. Aber, verdammt noch mal, ich werde mich nicht unter Wert verkaufen. Ich atme ein letztes Mal tief durch und schaue auf.
»Hier ist Johnny!«, brülle ich und stürze nach vorne. Mit der Machete hacke ich auf Zombieschädel ein. Ein Tritt, einer der Bastarde geht zu Boden. Ein Hieb, der sich mit einem ekelerregenden Knacken in den Schädel des Gefallenen frisst, lässt eine andere Stimme im Leichenchor verstummen. Doch es ist nur ein kurzer Augenblick, den ich mir erkauft habe und ja, das ist mir bewusst.
Ich werfe einen Blick über meine Schulter, und das Ausmaß des Grauens packt mich mit einer Brutalität, wie ich sie bislang nur von mir selbst in meinen Beuterunden kannte. Die Horde, die zwischen mir und dem Sportgeschäft die Mall verstopft, ist aufgerückt und hat die Lücke fast geschlossen. Der unmenschliche Verwesungsgestank umhüllt mich wie eine Aura der Verderbnis, und ich spüre, wie erste klauenhafte Finger über meine abgewetzte Jeansjacke schaben. Das Licht der Deckenleuchte reflektiert sich blitzend auf der Klinge der Waffe, als ich zu einem Schlag aushole, der sich durch fauliges Fleisch und maroden Knochen frisst. Stinkendes schwarzes Blut spritzt aus dem Stumpf, die Finger der abgetrennten Hand zucken noch ein paar Mal auf dem Boden, doch ich finde keine Zeit mehr, diesen letzten Triumph zu feiern.
Die Horde ist über mir. Ich spüre, wie das nicht enden wollende Gewicht der unzähligen Untoten mich auf den Boden drückt. Das Blut und die abgetrennten Körperteile, die meinen Weg der Zerstörung nachzeichnen, werden zu einem nassen, stinkenden Sarg. Schon ironisch, nicht wahr? Dicht an meinem Ohr knurrt eines der Wesen einen zynischen Gruß aus der Hölle, dann rammt es mir seine Finger in die Augenhöhlen. Dunkelheit umfängt mich, und ich bin froh, dass ich von den Schmerzen nichts spüre.
»Game over!«, flackert es über den Fernseher, während die Kamera herauszoomt und das Ausmaß meiner Niederlage in hochauflösenden Weitwinkelaufnahmen von allen Seiten zeigt. Den Scheiß hätten sich die Entwickler echt sparen können! Ich werfe das Gamepad genervt in die Ecke und greife nach der Fernbedienung. Morgen ist Schule, und eigentlich hätte ich schon vor ein paar Stunden in der Kiste liegen sollen. Nur gut, dass mein Alter Nachtschicht hat. Und hey, scheiß auf die Geschichtsklausur morgen, den Mist braucht später doch ohnehin kein Mensch mehr. Ich zappe mich unmotiviert durch die Programme, bis ich beim Offenen Kanal hängenbleibe. Meine Fresse, was für Typen da immer zu sehen sind. Freaks, die im Leben sonst nichts haben. Wäre ich nicht so eine Frohnatur mit dem Talent, sich kein Stück selbst zu reflektieren, würde mir wohl schmerzlich bewusst werden, dass ich da ein Bild von mir in gefühlt 50 Jahren sehe. Bin ich aber nun mal, darum lache ich nur einmal kurz, bevor sich mein Daumen über den Standby-Knopf senkt.
»... kam es heute schon wieder zu einem Zwischenfall, bei dem ein Angestellter eines örtlichen Supermarktes einen Kunden angegriffen hat. Interessanterweise ist besagter Beschäftigter kürzlich selbst Opfer eines ähnlich gearteten Angriffs geworden. Beide Männer wurden ins städtische Krankenhaus eingeliefert, wo sie nun untersucht werden. Fast fühlt man sich hier an schlechte Horrorfilme aus den 60er und 70er Jahren erinnert.«
Nun muss ich wirklich lachen, denn mir kommt die Geschichte von »Krieg der Welten« in den Sinn. Da, wo Orwell – oder war es Lovecraft? Keine Ahnung, ich stehe nicht so auf diesen alten Mist – allen weisgemacht hat, dass es sich bei seinem Hörspiel um eine echte Nachrichtensendung handeln würde. Das mag damals ja gut funktioniert haben, aber wir leben in Zeiten des Internets und im Jahr 52 nach Romero, auf den diese Pfeife im Offenen Kanal offensichtlich hinauswill. Und ehrlich, der Großmeister mag mittlerweile ebenfalls unter der Erde sein, aber immerhin ist er heute noch in der Lage, die junge Generation mitzureißen. Nicht so wie Poe, oder von wem auch immer »Krieg der Welten« noch gleich gewesen ist. Ich schalte den Fernseher aus, lasse mir die letzten Reste aus der Chipstüte in die hohle Hand fallen und beschließe, doch noch ein bisschen zu pennen, bevor ich nachher über meiner Geschichtsarbeit wegknacke. Nicht, dass es einen großen Unterschied machen würde.
Nachdem der Wecker mich nach gerade mal drei Stunden unsanft aus dem Schlaf gerissen hat und ich todmüde am Frühstückstisch sitze, kommt mir die Standpauke meines Alten echt gelegen. Genau darauf kann ich heute so gar nicht.
»Matthias, ist dir eigentlich klar, dass du dir damit alles verbaust? Willst du allen Ernstes so enden wie ich?«
Nein, will ich nicht. Mein Vater hat mit Ach und Krach seinen Hauptschulabschluss geschafft und schiebt seitdem bei Wolfsburgs größtem Arbeitgeber seine Schichten. Er ist kein schlechter Vater, aber meine Vorliebe dafür, den ganzen Tag vor der Flimmerkiste zu hängen, mich mit Cola und Süßigkeiten vollzustopfen und darüber hinaus alles zu vernachlässigen, sorgt schon seit einiger Zeit für eine angespannte Stimmung zwischen uns. Ich kann mir ein Gähnen nicht verkneifen, was mir einen abfälligen Blick einbringt.
»Langweile ich dich?«, fragt mein Vater mit einer hochgezogenen Augenbraue. Seine sonst eingefallenen Wangen blähen sich auf und nehmen einen mehr als dezenten Rotton an, was mich darauf schließen lässt, dass wir unmittelbar vor einer neuen Eskalationsstufe stehen. Ich hebe abwehrend die Hände und schaue ihn an.
»Nein Paps, du langweilst mich nicht, ich schlafe nur in der letzten Zeit verdammt schlecht. Du siehst übrigens auch nicht gerade fit aus«, versuche ich das Thema in eine – für mich – angenehmere Richtung zu lenken. Nein, gut sieht er wirklich nicht aus. Seine Augen sind glasig und rotgerändert, darunter ein dunkler Schatten, auf seiner Stirn sind Schweißperlen zu sehen, und die graumelierten Haare kleben an seinem Kopf, was für meinen alten Herren absolut untypisch ist. Bevor er sich ins Auto setzt und sich auf den Heimweg macht, geht er immer unter die Dusche. Erst jetzt fällt mir der Verband auf, der unter dem linken Ärmel seines Pullovers hervorlugt. Ich deute darauf und sehe ihn mit einem fragenden Blick an.
»Nichts Schlimmes«, beantwortet er die unausgesprochene Frage mit einem müden Blick, jetzt ebenfalls darum bemüht, sich das Gähnen zu verkneifen. »Ein kleiner Arbeitsunfall, nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste.« Irgendetwas im Tonfall meines Vaters kommt mir seltsam vor; er klingt fast so, als ob er sich selbst beruhigen wollte. Zusammen mit dem Rest seines Aussehens ...
»Paps, vielleicht solltest du jetzt erstmal eine Runde an der Matratze horchen und heute Nachmittag beim Doc vorbeischauen. Du siehst echt nicht gesund aus.«
»Vielleicht hast du Recht, Matze. Ich fühle mich auch nicht gut.«
Innerlich atme ich auf, denn die Eskalation scheint sich damit erledigt zu haben. Als ich meinen Stuhl zurückschieben und aufstehen will, sieht mein Vater mich noch einmal an.
»Aber glaub nicht, dass das Thema damit vom Tisch ist. Wir sprechen nachher darüber.«
Tja, wie gewonnen, so zerronnen, möchte man sagen, aber zumindest habe ich mir ein paar Stunden Ruhe vor dem nächsten Streit erkaufen können. Wer weiß, vielleicht ist er ja beim Arzt, wenn ich aus der Schule komme, dann kann ich mir was zu futtern reinpfeifen und mich zu Tobi verziehen. Er ist mein einziger echter Kumpel auf unserem winzigen Kaff und einer der wenigen, die Verständnis dafür haben, dass ich mich in der Schule so hängenlasse. Immerhin kriegt er jeden Tag mit, dass ich nicht der beliebteste Schüler bin – eigentlich trifft eher das Gegenteil zu, denn niemanden kann man so schön ärgern wie den kleinen Dicken mit der Fistelstimme –, und ist selbst früher ebenfalls ein Mobbingopfer gewesen. Im Gegensatz zu mir hat er es jedoch geschafft, den Arsch hochzukriegen, ohne sich dabei selbst zu einem zu entwickeln. Ja, ich gestehe: Ich bin schon etwas neidisch auf ihn. Aber auf der anderen Seite, warum sollte ich das nicht auch schaffen? Nächste Woche oder nächsten Monat oder so im Fitnessstudio vorbeischauen. Vielleicht hilft es ja.
Ich schiebe die Überlegungen beiseite und erhebe mich, werfe meinem Vater noch einen Blick zu.
»Okay Paps, ich muss dann, sonst verpasse ich den Bus. Wir unterhalten uns nachher.«
Mein Dad nickt mir zu, gähnt und erhebt sich ebenfalls. Ohne ein weiteres Wort schlurft er ins Schlafzimmer und schließt die Tür hinter sich.
Für einen Morgen im Mai ist es draußen erstaunlich kalt und grau, was gut zu meiner Stimmung passt.
»Hey Dickerchen!«, tönt es mir entgegen, als ich um die Ecke des alten Fachwerkhauses biege, in welchem mein Vater und ich in einer von drei Etagenwohnungen leben. Die Bushaltestelle ist direkt gegenüber, weswegen meine Ausrede, dass ich ja den Bus verpassen könnte, genau genommen eine Lüge gewesen ist. Wäre mein Vater auf der Höhe gewesen, hätte er das auch bemerkt, aber wie schon gesagt: Heute hatte ich ehrlich keine Lust auf eine tiefschürfende Diskussion um meinen Lebenswandel. Als ich jetzt so auf die kleine Gruppe Jugendlicher um Florian Sommer herum zugehe, mache ich mir bewusst, dass die Konfrontation mit meinem Dad sicherlich deutlich angenehmer gewesen wäre; im Nachhinein erscheint die Möglichkeit, den Bus verpassen zu können, sogar ziemlich verführerisch. Flo ist ein Arsch vor dem Herrn. Groß, beliebt, gutaussehend und sich dieser Tatsache absolut bewusst. Alles, was nicht in seinen strahlenden Kosmos des Überragenden passt, wird von ihm gnadenlos weggedisst. Und tja, hier bin ich, das genaue Gegenteil von ihm. Ich versuche, seine Sticheleien zu ignorieren, auch wenn sie mir heute genauso zusetzen wie an jedem anderen Tag. Manchmal, ach was, eigentlich immer wünsche ich mir, dass ich die Eier in der Hose hätte, ihm ordentlich eine aufs Maul zu hauen, nur um sein dummes Gesicht danach zu sehen. Lediglich der Gedanke an das darauffolgende Echo hält mich immer wieder davon ab, aber hey, man kennt ja diese Geschichten von den Typen, bei denen über kurz oder lang die Sicherung durchknallt – und eines ist klar: Florian Sommer wäre der erste, der das zu spüren bekommen würde. Während der Bus um die Ecke biegt, gebe ich mich noch kurz meinem Tagtraum des kalt servierten Rachegerichts hin. Nicht heute. Aber vielleicht irgendwann.
Der Schultag verläuft genauso mies, wie ich befürchtet habe. Sticheleien von Flo, Zuspruch von Tobi, die Klausur nach Strich und Faden an die Wand gefahren. Erwähnte ich schon, dass Geschichte überhaupt nicht meine Baustelle ist? In der Pause stehe ich mit meinem besten Kumpel in der versteckten Ecke hinter der Sporthalle, wo sich die Raucher heimlich treffen. Natürlich wissen die Lehrer Bescheid, aber so richtig ernst nehmen sie ihre Aufsichtspflicht hier nicht. Trotzdem heißt es immer wieder »Achtung, Penkalla!«, woraufhin alle Kippen schnell verschwinden und wir uns dem prüfenden Blick – sowie dem wissenden Grinsen – von Herrn Penkalla, seines Zeichens Bio- und Mathelehrer, aussetzen müssen. Meistens verschwindet er direkt wieder, heute ist aber einer dieser Tage, an denen er schlechte Laune hat und es darauf anlegt, uns unsere wohlverdiente Zigarette vorzuenthalten. Meine Gemütsverfassung, um die es ohnehin schon nicht zum Besten bestellt ist, sinkt noch weiter, und ich schnaube wütend vor mich hin.
»Was ist los, Matze?«, will Tobi wissen, der zwar ebenfalls sichtlich von Penkallas Anwesenheit genervt ist, sich aber zumindest nicht die Pause versauen lassen möchte.
»Ach, nur das Übliche. Du weißt schon, Flo und so weiter. Und mein Alter war heute Morgen auch in bester Stimmung. Verspricht ein interessanter Nachmittag zu werden. Von der Arbeit verrate ich ihm lieber nichts.«
»Hey, dein Dad arbeitet doch in Wolfsburg. Hat er nichts von dem mitbekommen, was da gestern abgegangen sein soll?«
»Hm, was denn?«, frage ich verwundert, da mein Vater sonst immer erzählt, wenn irgendetwas Außergewöhnliches im Werk passiert ist. Aber gut, die Fabrik ist riesig, und er nur Schütze Arsch im hinterletzten Loch der Karosseriefertigung, da geht vermutlich so einiges an ihm vorbei.
»Heute Morgen noch nicht Radio gehört?«, fragt Tobi, nur um gleich weiterzusprechen. »Da gab es gestern in einer Schicht so einen komischen Zwischenfall, von denen es in Hamburg seit vorgestern wohl einen ganzen Haufen gab. Klingelt da was bei dir?«
»Was zum Geier meinst du denn?«, erkundige ich mich. Offensichtlich habe ich in den letzten Tagen einiges verpasst. Tobi ist zwar auch nicht immer auf dem neuesten Stand, aber dass er etwas zu wissen scheint, was an mir vorbeigegangen ist – etwas, was auf der Arbeitsstelle meines Dads abgegangen ist – lässt mich doch darauf schließen, dass ich öfters einen Blick in die Nachrichten werfen sollte.
»Na ja, Leute, die plötzlich aggressiv werden und so. Gehen auf andere los, wie in einem schlechten Film.«
Mir kommt der Bericht aus dem Offenen Kanal in den Sinn, den ich gestern noch mit einem müden Grinsen als Fake News abgetan habe. Dass auch im Radio darüber berichtet wurde, gibt der Sache mehr Substanz und eine zumindest etwas seriösere Richtung. Ich zucke mit den Schultern.
»Nee, erzählt hat er nichts, aber er war heute Morgen auch nicht fit. Ich glaube, er brütet was aus. Erzähl mal, was ist denn los gewesen?«
»Wie gesagt, ich habe es nur in den Nachrichten gehört, und der Bericht war ziemlich vage. In der Nachtschicht ist ein Angestellter auf einen anderen losgegangen, hat ihn erst gewürgt und sich dann in seinem Arm verbissen. Völlig durchgeknallt, wenn du mich fragst. Zwei Leute vom Werkschutz mussten die beiden auseinanderbringen; angeblich hat der Irre einem von den Kerlen dabei das halbe Ohr abgebissen. Krass, oder?«
Während Tobi spricht, bin ich mit meinen Gedanken wieder am Frühstückstisch und sehe den schlecht verdeckten Verband an Paps’ Arm vor dem geistigen Auge. Ich ziehe die Stirn in Falten, während der Blick hinab zu den ausgetretenen Sneakers wandert.
»Matze, alles klar bei dir?«, fragt Tobi, der offenbar deutlich gemerkt hat, dass etwas nicht stimmt. Die Sorge in seiner Stimme ist echt. »Alter, du siehst aus wie ein Kalkeimer.«
»Nein, nein, alles gut bei mir«, winke ich mit belegter Stimme ab. »Keine Ahnung, wahrscheinlich doch zu wenig Schlaf in der letzten Nacht.« Was natürlich Unsinn ist. Klar, ich habe nicht genug gepennt, aber was mir zusetzt, sind die Dinge, die ich in den letzten Tagen verpasst zu haben scheine. Leute gehen aufeinander los, der Offene Kanal zieht in seiner bekannt dilettantischen Art Parallelen zu Zombiefilmen, und dann kommt auch noch mein Dad mit einem Verband um den Arm nach Hause, genau an dem Tag, an dem es im Werk einen unerklärlichen Angriff gegeben hat. Meine Fresse, ich glaube, ich bin im falschen Film. Oder habe in den letzten Tagen zu viele Untote auf der Konsole zu Geschnetzeltem verarbeitet. Wir leben in einer kaputten Welt, in der jeden Tag irgendwelche Leute durchdrehen, nicht wahr? Warum sollte dieser Umstand nicht auch irgendwann unser Kleinstadt- und Dorfidyll erreichen?
»Ach, egal«, nehme ich das Gespräch wieder auf, nur um Tobis fragendem Blick nicht mehr standhalten zu müssen. »Hast du heute Nachmittag schon was vor? Ich hab’ keinen Bock drauf, mir noch mal ’ne Standpauke von meinem Dad abzuholen.«
Zu meiner Enttäuschung schüttelt er den Kopf. »Sorry, aber ich hab’ heute keine Zeit. Meine Eltern bestehen drauf, dass ich zu so einem dämlichen Verwandtschaftsbesuch mitfahre. Du weißt schon, die Sorte Aber Tante Agathe freut sich doch immer so, dich zu sehen. Glaub mal, ich hab’ da auch keinen Nerv drauf, aber aus der Nummer komme ich dieses Mal nicht raus. Ich bin schon beim letzten Mal zuhause geblieben.«
Enttäuschung macht sich in mir breit, und der ohnehin schon verkackte Tag nimmt noch mehr Fahrt auf. Trotzdem zucke ich nur mit den Schultern; eine Geste, die zu meinem Leben gehört wie kaum eine andere. Schlucken, Schultern zucken und so tun, als ob mir das völlig egal wäre. So lässt sich ein Großteil meines Tages in einen kurzen Satz quetschen. Aber was solls, ich bin ja dran gewöhnt. Deswegen mache ich gute Miene zum bösen Spiel – nicht schlagen, ich denke tatsächlich in solchen Phrasen.
»Scheiße, auf Tante Agathe hätte ich auch keine Lust«, erwidere ich grinsend, während die gefühlt 100-Jährige mit ihren klauenartigen Fingernägeln und der Brille, die ihre Augen wie die des großen bösen Wolfes wirken lassen, sich vor meinem inneren Auge aufbaut. Ich kichere. »Pass bloß auf, dass du nicht im Kochtopf landest!«
Tobi lacht auf. »Ach, so schnell geht das nicht. Erst muss das Fleisch ja geräuchert und abgehangen sein. Dann kommt es in den Topf.«
»Was die Sache ja so viel besser macht«, entgegne ich ebenfalls lachend. »Aber hey, vielleicht komme ich dich in der Räucherkammer besuchen.«
»Ehrlich, das würdest du für mich tun? Ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll«, entgegnet Tobi. »Ich bin echt gerührt. Aber wo wir gerade von der Räucherkammer sprechen, Penkalla ist abgehauen. Für eine Kippe reicht die Zeit noch.« Er zieht die Packung Camel aus seiner Jackentasche, zündet zwei Sargnägel an und reicht mir einen, den ich dankend annehme. Zumindest ein kleiner Lichtblick zwischen verhauener Geschichtsklausur und Standpauke daheim. Über den Rest des Tages breiten wir lieber den Mantel des Schweigens, denn so wie er angefangen hat, geht er weiter.