Zu viele Männer - Lily Brett - E-Book

Zu viele Männer E-Book

Lily Brett

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Beschreibung

Ruth Rothwax ist Anfang vierzig, überzeugter Single und notorisch auf Diät. Wann immer sie als Leiterin eines Korrespondenzbüros Zeit dafür findet, quält sie sich beim Joggen. Für eine New Yorkerin im Jahr 1991 nichts Besonderes. Doch Ruth, Tochter zweier jüdischer Auschwitz-Überlebender, ist in Australien aufgewachsen und erst später nach New York übergesiedelt. Die Frage nach ihren europäischen Wurzeln lässt sie nicht los, und so beschließt sie nach dem Fall der Mauer, mit ihrem verwitweten Vater Edek nach Polen zu reisen und auf Spurensuche zu gehen. Es wird eine Reise zu den Orten seiner Vergangenheit und ein tiefes Eintauchen in die Traumata der zweiten Generation, in die Sprachlosigkeit und die unausgesprochene, tiefe Liebe zwischen Vater und Tochter.

Zu viele Männer wurde 2024 von der Regisseurin Julia von Heinz verfilmt, mit Lena Dunham und Stephen Fry in den Hauptrollen.

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Seitenzahl: 972

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Lily Brett

ZU VIELE

MÄNNER

Roman

Suhrkamp

Die englische Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel

Too Many Men

bei Pan Macmillan Australia Pty Limited, Sydney.

Die deutschsprachige Erstausgabe erschien 2001 in der

Franz Deuticke Verlagsgesellschaft m. b. H., Wien.

Die Erstveröffentlichung im Suhrkamp Verlag,

Frankfurt am Main, erfolgte 2002.

Für David, meinen Liebsten, mit all meiner Liebe

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5464.

© Lily Brett 1999

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2010

© der deutschen Übersetzung Deuticke in der Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H., Wien 2001

Die englische Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel Too Many Men bei Pan Macmillan Australia Pty Limited, Sydney.

Die deutschsprachige Erstausgabe erschien 2001 in der Franz Deuticke Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien.

Die Erstveröffentlichung im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, erfolgte 2002.

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Umschlaggestaltung unter Verwendung des Filmplakats von Alamode Film

Umschlagmotiv: © Alamode Film 2024

eISBN 978-3-518-78096-1

www.suhrkamp.de

Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Erstes Kapitel

Als Ruth Rothwax zum letztenmal mit einer Gruppe von Deutschen zu tun gehabt hatte, hätte sie ihnen am liebsten die Augen ausgestochen. Diesen Wunsch hatte sie so unvermittelt und unerwartet verspürt, daß ihr fast schwindlig geworden war. Woher kam dieser Wunsch? Es war ein vollständig ausgebildeter grausamer Wunsch gewesen, nicht irgendeine halbausgegorene undeutliche Aggression. Ohne Vorankündigung, ohne Entwicklung. Eben noch war sie in Gedanken versunken gewesen, und im nächsten Augenblick hätte sie einer alten Frau am liebsten die Augäpfel herausgedrückt, Mittel- und Zeigefinger in die runzligen Augenhöhlen gesteckt, bis die Augäpfel sich herauslösen ließen.

Nach diesem Zwischenfall war ihr stundenlang übel gewesen. Er hatte sich in Polen ereignet, in Danzig. Sie hatte im Hotel Marta gewohnt. Das Marta galt als Luxushotel. Aber sie hatte sich nicht wohl gefühlt. Das große, trostlose Gebäude wirkte ungeschlacht und abweisend. Einsam und von der Umgebung abgekapselt stand es auf seinem weitläufigen Grundstück. Sich im Marta wohl zu fühlen, war ein Ding der Unmöglichkeit.

Jedesmal wenn die Eingangstüren geöffnet wurden, heulte der Wind durch die große Eingangshalle. Und nichts befand sich dort, wo man es erwartet hätte. Die Theke des Portiers war hinter den Damentoiletten versteckt, und die Aufzüge befanden sich an der Gebäuderückseite in einer Entfernung von fünf Minuten Fußmarsch zur Empfangstheke.

Das Hotel befand sich in der Nähe der Innenstadt. Man hatte den Eindruck, es liege mitten im Nichts. Ruths Zimmer war im siebten Stock. In Danzig wurde gerade ein internationales Golfturnier abgehalten. Jeder Gast im Marta sah aus, als habe er eine Mütze auf und schleppe Golfschläger mit sich herum. Der Gesamteindruck, den die Leute machten, war nicht weniger uniform. Die Frauen trugen helle Strickjacken und pastellfarbene Röcke oder Hosen. Die Männer trugen grobgestrickte Pullover und karierte oder anderweitig gemusterte Hosen.

Die Golfer waren Ruth auf die Nerven gegangen. Sie war im Golfsport nicht sonderlich bewandert, aber es schien ihr wenig wahrscheinlich, daß Polen unter den Ländern mit den exquisitesten Golfplätzen einen weltweit führenden Rang innehatte. Sie hatte noch nie jemanden sagen hören, er fahre nach Danzig, um Golf zu spielen. Wenn der Name Danzig den Leuten überhaupt etwas sagte, dann als Name der Hafenstadt, in der die Gewerkschaftsbewegung Solidarność gegründet worden war. Dennoch wohnten im Marta eine Menge deutscher, schottischer und englischer Golfer.

Die Deutschen, denen Ruth das Augenlicht hatte auslöschen wollen, stiegen an ihrem zweiten Abend in Danzig zusammen mit ihr in den Aufzug. Es waren vier Deutsche, zwei Männer und zwei Frauen, Mitte bis Ende siebzig. Es war spät, nach elf Uhr abends. Ruth war sehr müde. Sie trat zur Seite, um Platz zu machen. Die zwei Männer trugen Smokings, die Frauen Abendkleider. Allem Anschein nach kamen sie von einer Abendveranstaltung.

Eine der Frauen flirtete lachend mit einem der Männer. Ihr Lachen war das im Ton leicht danebenliegende Lachen einer Beschwipsten. Der Mann lächelte. Die Frau lachte abermals. Ein hohes, schrilles Lachen. Und da geschah es, ohne Vorankündigung. Ruth hatte nur gespürt, wie ihr das Blut in einem heißen Schwall in den Kopf gestiegen war. Ihr Gesicht war plötzlich vor Anspannung wie versteinert gewesen. Sie hatte die lachende Frau angesehen. Sie hätte ihr das Lachen am liebsten aus dem Gesicht gerissen, es für alle Zeiten beendet. »So komisch ist das nicht«, hätte sie am liebsten gesagt. Sie hätte am liebsten ihre Finger tief in die blaßblauen Augen der Frau gegraben und noch einmal gesagt: »So komisch ist das nicht«. Ruths Herz hatte zu rasen begonnen. Sie hatte ihre Arme hinten im Aufzug eng an den Körper gedrückt. Sie hatte die Hände auf die Hüften gepreßt, um ihnen Halt zu geben. Sie hatte zu fürchten begonnen, die Arme könnten ihrem Willen nicht mehr gehorchen, könnten unabhängig von ihrem übrigen Körper handeln. Sie hatte gefürchtet, ihre Finger könnten zuschlagen und graben und wühlen, bis sie das Gehirn der Frau erreichten.

Der Aufzug fuhr ganz besonders langsam. Es war Ruth vorgekommen, als werde er den siebten Stock nie erreichen. Ihre Hände brannten, ihre Haut schmerzte. »So komisch ist das nicht«, hätte sie am liebsten gesagt, »so komisch ist das nicht.« Sie hatte die Lippen aufeinandergepreßt gehalten. Die Frau lachte weiter. Schließlich hielt der Aufzug im siebten Stock. Ruth stieg aus. Unsicheren Schritts ging sie in ihr Zimmer. Sie setzte sich auf das französische Bett mit dem Überwurf aus blauem Brokat und zitterte.

Das war vor einem Jahr gewesen. Ruth schauderte bei der Erinnerung daran. Ihr war kalt, obwohl sie seit zwanzig Minuten gelaufen war. Sie befand sich wieder in Polen. In Warschau. Was tat sie in Polen? Das war eine gute Frage. Sie war nicht aus einer Augenblickslaune hier. Sie hatte zwei Jahre lang auf ihren Vater eingeredet, den einundachtzigjährigen Edek Rothwax, damit er sie auf dieser Reise begleitete. Er würde morgen mit dem Flugzeug aus Melbourne eintreffen.

Ruth warf einen Blick auf den Schrittzähler an ihrer Taille. Sie lief sieben Meilen in der Stunde. Sie drückte einen anderen Knopf und las ab, daß sie fast drei Meilen gelaufen war. Der Schrittzähler war an einen Gürtel geschnallt, an dem sich außerdem eine Flasche und ein Kassettenrecorder befanden. Ihre Kopfhörer besaßen ein kleines Mikrofon, das ihr erlaubte, beim Laufen aufzulisten, was sie zu erledigen hatte. Es waren atemlose Aufzeichnungen, aber Ruth konnte sie entschlüsseln. Ihre Kreditkarten und ein paar Zloty hatte sie in ihren Socken verstaut.

In New York, wo sie wohnte, sah sie aus wie alle Jogger. Die meisten von ihnen hatten sich Wasserflaschen umgeschnallt und die Kopfhörer ihrer Walkmans in den Ohren. Aber nicht in Polen. In Polen sah Ruth seltsam aus. Im Hotelfoyer hatten Leute sie angestarrt, als sie heute morgen zum Laufen aufgebrochen war – Türsteher, Gepäckträger und mehrere Deutsche. Die Deutschen hatten nachgerade Bauklötze gestaunt. Sie hatte ihnen zugelächelt. Das hatte die Deutschen noch ratloser gemacht, und sie hatten alle den Blick abgewandt.

Ruth lief sehr gerne. Es gefiel ihr, die Hüftknochen zu spüren, die Bauchmuskulatur, die Beine. Dreimal wöchentlich ging sie außerdem in Manhattan zum Gewichtheben. Es gefiel ihr, wie ihr Brustkasten sich zu dehnen schien, wenn sie das Gewicht langsam zu Boden ließ. Und sie genoß das Ziehen in ihrer Brustmuskulatur, wenn sie das Gewicht zu stemmen versuchte.

Manchmal unterbrachen Männer ihre eigenen Übungen, um ihr bei den Hockübungen zuzusehen. Das amüsierte sie immer. Sie absolvierte drei Sätze von zwölf Übungen. Sie tat es nicht, um anzugeben, sondern weil sie es gerne machte, aus reiner Freude daran, ihren Rücken und ihre Beine zu spüren, wenn sie mit fünfzig Kilo Gewicht auf den Schultern in die Knie ging und sich wieder aufrichtete. Wenn sie Gewichte hob, fühlte ihr Körper sich lebendig an. Sie konnte seine Einzelbestandteile spüren. Ihre Füße und ihre Finger fühlten sich stark an. Sie war auf ursprüngliche Weise mit sich selbst in Einklang. Am Ende einer Trainingsstunde kam sie sich wie neugeboren vor.

Sport, dachte sie, war ein vernünftiger Ersatz für Sex. Er ließ durchaus Wünsche offen, aber das tat, wenn man es recht bedachte, schließlich auch das Sexualleben. Ruth hatte den Eindruck, daß immer mehr Frauen in absehbarer Zeit mehr Erfüllung in ihrer Sportausrüstung als in ihren Partnern finden würden. In New York wimmelte es von Frauen, die sich über ihre Männer beklagten, und von Frauen, die sich über den Männermangel beklagten. Ruth paßte gut nach New York. Sie war dreiundvierzig, zweimal geschieden, alleinstehend und kinderlos.

Eigentlich war sie dreimal geschieden, aber die letzte Ehe war eine Scheinehe zum Erlangen einer Arbeitserlaubnis gewesen, die für Ruth folglich nicht zählte. Ihren ersten Ehemann hatte Ruth als Neunzehnjährige geheiratet. Sie war rundlich gewesen und dankbar, daß überhaupt jemand bereit war, sie zu heiraten. Daß er länger als nötig brauchte, wenn er sich von gewissen Freunden verabschiedete, war ihr nicht aufgefallen. Die Ehe endete, als sie ihn in ihrem Bett vorfand, wo er in einem jungen Mann steckte. Von Homosexuellen hatte sie in Büchern gelesen. Sie hatte nicht gewußt, daß sie welche kannte.

Ehemann Nummer zwei heiratete sie aus Mitleid. Er wußte einfach nicht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Er war zweiunddreißig. Sie fand ihn sehr klug und dachte, er könne alles tun, was er nur wollte. Er sah gut aus – groß, blauäugig und blond. Sie schätzte sich glücklich, mit ihm verheiratet zu sein. Gutaussehende Männer fühlten sich normalerweise zu schlanken Mädchen und Frauen hingezogen. Sie bemühte sich, nachts im Bett das Licht auszumachen, und entschuldigte sich dauernd dafür, daß sie mehr verdiente als er.

Die Ehe zerbrach, als er sie beschuldigte, seiner Suche nach einer Berufung im Weg zu stehen. »Du machst alles, was du machst, so perfekt«, sagte er, »und dadurch fühle ich mich eingeschüchtert. Wie plattgewalzt. Heute weiß ich noch weniger, was ich will, als damals, als wir geheiratet haben.« Immerhin wußte er, daß er die Hälfte des Häuschens wollte, das sie im zweiten Jahr ihrer Ehe gekauft hatte. Zu guter Letzt hatte sie eingewilligt. Sie verkaufte das Haus und gab ihm die Hälfte des Erlöses. Zu ihrer Überraschung merkte sie, daß sie ohne ihn glücklicher war.

Zwei Jahre nach der Scheidung schlug er vor, sie sollten sich aussöhnen. »Nein, besten Dank«, sagte sie. Angesichts ihrer Gewißheit hatte sie ein Glücksgefühl verspürt und hatte mit dem rechten Fuß zehnmal auf den Boden klopfen müssen, um eventuelles Unheil abzuwehren, das solchem Glück auf den Fuß folgen konnte. Es war ihre Marotte, zehnmal mit dem rechten Fuß zu klopfen, um Unheil abzuwehren. Sie wußte, daß es idiotisch war. Sie wußte, daß Unheil sich nicht abwehren läßt, schon gar nicht, indem man mit dem Fuß auf den Boden klopfte. Wenn das Klopfen etwas nützen würde, dann hätte jeder Jude im Europa der Kriegszeit Tag und Nacht geklopft. Ganze Städte wären von dem Geklopfe erzittert.

Zehn Klopfer waren schwer zu vertuschen. Vor allem bei Geschäftsbesprechungen. Außerdem mußte sie die Klopfer zählen, so daß sie oft nicht mitbekam, was gesagt wurde. Sie verfügte über ein paar weniger machtvolle Schutzmechanismen wie fünfmal mit einem Auge – egal mit welchem – zu blinzeln, um kleine Glücksoder Erfolgserlebnisse vor Gefahr zu schützen. In einem Jahr hatte sie sich immer dreimal über die Schulter spucken müssen, wenn sie Gefahr witterte. Das hatte sich in der Öffentlichkeit als schwer durchführbar erwiesen, und sie war froh gewesen, als sie sich sicher genug gefühlt hatte und es bleiben lassen konnte.

Ruth versuchte das Klopfen und Blinzeln zu unterdrücken, so gut es ging. Sie wußte, daß sie innerhalb weniger Minuten wie eine Tobsüchtige wirken mußte, wenn sie all ihren Idiosynkrasien freien Lauf ließ. Die abergläubischen Handlungen waren seit ihrer Kindheit nicht wegzudenken. Dennoch glaubte sie nicht an das Übernatürliche. Sie rümpfte die Nase über Tierkreiszeichen, Tarotkarten, Handlinienlesen, Hellseher und Medien.

Es war Ruths dritte Reise nach Polen. Sie wußte nicht genau, warum sie gekommen war. Und sie wußte nicht, warum sie wollte, daß ihr Vater nachkam. Ihre erste Reise nach Polen hatte sie gemacht, um sich zu vergewissern, daß ihre Eltern von irgendwoher stammten. Um ihre Vergangenheit als etwas anderes als ein abstraktes Gebilde nicht abreißenden Entsetzens zu sehen. Um Ziegel und Mörtel zu sehen. Die zweite Reise war ein Versuch, weniger überwältigt zu sein als beim erstenmal. Der Versuch, nicht Tag und Nacht zu weinen. Und sie hatte beim zweiten Besuch weniger geweint. Jetzt war sie gekommen, um mit ihrem Vater auf diesem Flecken Erde zu stehen.

Edek Rothwax hatte nicht nach Polen kommen wollen. Als Ruth ihn zum erstenmal darauf angesprochen hatte, hatte er abgelehnt. »Was willst du in Polen?« hatte er gesagt. »Dort gibt es nichts. Alle sind tot. Dort gibt es nichts zu sehen.« Eines Tages hatte Ruth einen Riß in Edeks Panzer bemerkt. Sie hatte ihm erzählt, daß sie wieder nach Polen fahren werde, allein fahren werde.

»Willst du immer noch unbedingt nach Polen fahren?« hatte er gefragt.

»Ja«, hatte sie gesagt. »Ich wäre dort wirklich gerne mit dir zusammen.«

»Du bist ja verrückt«, sagte Edek. »Was denkst du denn, wo wir da sein sollen? An einem wichtigen Ort? O nein. Dort gibt es nichts Wichtiges. Dort gibt es überhaupt nichts.«

»Wir könnten hinterher nach Monte Carlo fahren«, hatte sie gesagt. Edek liebte Spielautomaten, und obwohl Ruth Monte Carlo noch nie besucht hatte, war sie davon überzeugt, daß es dort Spielautomaten geben mußte.

»Pah«, sagte Edek, »solche Spielautomaten haben wir heutzutage in Melbourne.«

»Wir werden in einem richtig feinen Hotel wohnen«, sagte Ruth.

»Du kannst dir die besten Hotels leisten«, sagte er, »ob in Las Vegas, Monte Carlo oder Polen.«

Er erklärte ihr dauernd, was sie sich alles leisten konnte. »Du kannst es dir erlauben, etwas kürzer zu treten«, sagte er regelmäßig. »Du solltest nicht soviel arbeiten. Du kannst es dir leisten, jemanden anzustellen, der für dich arbeitet. Du kannst dir alles leisten.«

Er wollte sie auch dazu bewegen, Anschaffungen zu tätigen. Autos vor allem. Er rief sie dauernd an, um ihr Vorschläge zu unterbreiten. Es handelte sich immer um Lincoln Continentals, Cadillacs oder Pontiacs. Er liebte amerikanische Autos und konnte es nicht fassen, daß Ruth sich nicht dafür interessierte. »Eine Garage in Manhattan kostet vierhundert Dollar im Monat«, sagte sie zu ihm. »Du kannst es dir leisten«, lautete seine Antwort.

Auch mit anderen Vorschlägen, was sie sich leisten konnte, wartete er auf. Großenteils ging es um Geräte, Geräte, die Zwiebeln hacken oder Abflüsse reinigen oder Währungen umrechnen konnten. Ruth hatte eine Verlängerungsschnur mit Selbstaufwickelmechanismus ebenso abgelehnt wie einen Ultraschallinsektenvertreiber, einen Aktenvernichter für den Handbetrieb, ein Innen- und Außenthermometer, einen Unterwasserfüller, einen tragbaren Bewegungsdetektor sowie Hunderte von Telefonen, Faxgeräten und Fotokopierern. Hätte sie Edeks Ratschläge befolgt, wäre sie längst nicht mehr in der Lage gewesen, sich irgend etwas zu leisten.

Als sie sich selbständig machte, war Edek sehr nervös gewesen. »Schließlich hast du so eine gute Stelle«, hatte er gesagt. Edek hatte davon geträumt, daß Ruth Rechtsanwältin wurde. Für ihn war ihre Tätigkeit bei Schoedel, Firth und Thomson, einer großen New Yorker Anwaltskanzlei, wo sie Briefe und Vorträge formuliert hatte, eine Enttäuschung. Im selben Maße, in dem Ruths Gehalt stieg, legte sich Edeks Enttäuschung. Ruth hatte die Stelle durch Zufall erhalten. Sie hatte einen Universitätsabschluß in moderner Literatur, etwas, wonach die Nachfrage denkbar gering war, und war vier Jahre lang Privatsekretärin in Melbourne gewesen. Sie hatte als Zeitsekretärin bei Schoedel, Firth und Thomson gearbeitet und sich überlegt, ob sie in New York bleiben oder nach Australien zurückkehren sollte. Sie lebte seit drei Jahren in New York. Eines Abends, als sie gerade gehen wollte, bat einer der Teilhaber der Kanzlei sie, einen Vortrag für ihn abzuschreiben. Es war spät. Sogar die Sekretärinnen von der Spätschicht waren schon gegangen. Es war ein fürchterlicher Vortrag. Ruth schrieb ihn ab. Und sie setzte eine Alternativfassung auf. Beide Vortragsmanuskripte legte sie dem Teilhaber auf den Schreibtisch. Zwei Wochen später war sie bei Schoedel, Firth und Thomson fest angestellt mit vierwöchigem jährlichen Urlaubsanspruch und firmeneigener Krankenversicherung.

»Es macht mich ganz hibbelig«, hatte Edek zu ihr gesagt, als sie ihm zwei Jahre später von ihren Plänen erzählte, sich selbständig zu machen. Eine eigene Firma zu gründen, ein Korrespondenzbüro. Das Holzschild, das sie für ihre Firma anfertigen ließ, gefiel Edek. »Rothwax Correspondence, gegr. 1991«, besagte es und: »Briefe zu allen Themen und Anlässen.« Und die schiere Menge von Büromaterial und Gegenständen, die sie erstehen mußte, um ihr Unternehmen zu beginnen, hatte seine Ängste gemindert.

Jetzt, da Rothwax Correspondence erfolgreich war, glaubte Edek fest daran, die Firma sei seine Idee gewesen. »Ich hab’ dir schon immer gesagt«, sagte er regelmäßig zu Ruth, »daß diese Briefeschreiberei eine wahre Goldmine sein muß, wenn diese Anwälte dich so gut bezahlen und dabei immer noch einen ordentlichen Reibach machen können.«

Ruth sah auf die Uhr. Ihr Vater würde in etwa dreißig Stunden ankommen. Edek Rothwax war mit dreiundzwanzig Jahren aus seinem Haus in Polen vertrieben worden. Seitdem war er nie wieder hergekommen. Jetzt war er fast zweiundachtzig. Er war dreiundzwanzig gewesen, als er, seine Schwester, zwei seiner Brüder und seine Eltern gezwungen worden waren, ihr Haus zu verlassen. Wie alle Juden von Łódź ließen sie alles zurück, die Möbel, das Klavier, die Bettwäsche, die Bücher, das Porzellan, das Silber, das Geschirr, die Fotos, die Kleidung. Sie nahmen nur mit, was sie tragen konnten.

Es war im Februar 1940. Zusammen mit allen anderen Juden gingen sie die einzige Straße entlang, die sie bei ihrer Vertreibung benutzen durften. Mütter, Väter, Kinder, Großmütter und Großväter transportierten ihre Habe in Säcken, Bettbezügen, Koffern, Kinderwagen und auf umgedrehten Tischen. Bärtige Männer trugen mit Bindfaden zusammengehaltene Bücherbündel. Eisiger Wind umheulte und peitschte sie. Es war ein ausnehmend kalter Winter. Den Bürgersteig durften sie nicht benutzen. Mehr als hundertfünfzigtausend Juden gingen am Straßenrand. Jedesmal wenn ein Automobil oder ein Lastwagen vorbeikam, mußten sie den Weg freimachen. Der Marsch dauerte Tage.

Die Nazis hatten 5,8 Juden pro Zimmer in die neuen Heime eingewiesen. Zu diesen Zimmern in dem heruntergekommenen Elendsviertel, die man ihnen zugewiesen hatte, gingen die Juden und klammerten sich an ihre Habseligkeiten und aneinander. Sie wanderten aus ihrem eigenen Leben hinaus, und sechs Jahre später konnten die wenigen Juden, die überlebt hatten, keine Spuren ihres früheren Lebens wiederfinden.

»Ich weiß nicht, warum ich mit dir zusammen in Polen sein will«, hatte Ruth zu ihrem Vater gesagt, als sie zuletzt von ihrer geplanten Reise gesprochen hatte.

»Ich weiß es mit Sicherheit nicht«, hatte er gesagt.

»Ich weiß nur«, sagte Ruth, »daß ich es will.«

»Du bist doch so ein kluges Mädchen«, hatte Edek gesagt. »Wenn du es nicht weißt, wer soll es dann wissen?« Ruth spürte, daß sich massive Kritik an ihr zusammenballte. Sie begann sich zu verabschieden. Edek unterbrach sie. »Mir bedeutet es nichts, ob ich nach Polen fahre«, sagte er. »Für mich ist dort alles vorbei. Aber wenn es dir wirklich so wichtig ist, dann fahre ich mit dir nach Polen.«

Ruth war sprachlos. »Wann willst du fahren?« fragte Edek.

»Nächsten Monat«, hatte sie gesagt.

»In Ordnung«, sagte Edek. »Du kümmerst dich um die Fahrkarten und holst mich unterwegs ab.«

Ruth war so überrascht gewesen, daß es ihr die Sprache verschlagen hatte. »Danke, Dad«, war alles, was sie herausbrachte. Sie hatte nochmals anrufen und ihm erklären müssen, daß Melbourne nicht auf dem Weg von New York nach Warschau lag. Sie würde ihn nicht abholen können. Sie würde sich mit ihm in Polen treffen müssen.

Ruth fühlte sich ein wenig schwindlig. Sie war es gewohnt, größere Strecken zu laufen. Sie war den Wegen und den sie kreuzenden Spazierwegen im Sächsischen Garten gefolgt. Diese Anlage am Piłsudskiego-Platz, einem großen Platz, war einer der beliebtesten Warschauer Parks. Am einen Ende des Platzes bewachten zwei Soldaten mit den frischgeschrubbten Gesichtern junger Menschen das Grab des Unbekannten Soldaten. In zackigem Gleichschritt marschierten sie um das Denkmal. Ihre schwarzen, auf Hochglanz polierten Stiefel mit Metallkappen klickten laut und synchron, so daß es über den ganzen Platz hallte.

Das graue, fahle Winterlicht verlieh dem Park ein karges, spartanisches Aussehen. Den Barockskulpturen, dem Brunnen und den Bänken gelang es nicht, eine wärmere Note zu erzeugen. In den zweihundert Jahre alten Anlagen gab es mehr als hundert Baumarten. In Ruths Augen sahen sie alle gleich aus. Sie besaßen Stämme und Äste. Vielleicht wäre es im Sommer, wenn sie Blätter trugen, leichter, zwischen ihnen zu unterscheiden.

Ruth wußte nicht allzu viel über die Natur. Für sie waren Bäume grün. Gras war grün. Die Natur war grün. Zuviel Grün verursachte ihr klaustrophobische Gefühle. Sie war froh, daß es Winter war. Von Juden erwartete man nicht, daß sie sich mit Bäumen auskannten. Man erwartete nicht, daß sie zwischen Pappeln und Eichen, zwischen Birken und Ahorn oder Weiden unterscheiden konnten. Im Jiddischen gab es ein einziges Wort für Baum: Baum. Es bezeichnete alle Bäume.

Nicht wenige Leute gingen auf dem Weg zur Arbeit durch den Sächsischen Garten. Sie sahen nicht besonders glücklich aus, sondern wirkten wie von Trübsal umschlossen. In New York vertat niemand seine Zeit damit, lächelnd herumzulaufen, aber die schroffe, ungeduldige Art der New Yorker hatte etwas Waches und Lebendiges. Hier in Polen wirkten die Menschen bedrückt. 1983, bei ihrer ersten Polenreise, hatte Ruth gedacht, sie wirkten bedrückt, weil die meisten von ihnen unter so schrecklichen Lebensbedingungen litten. Damals hatte prekäre Lebensmittelknappheit geherrscht. In langen Schlangen standen die Leute für Brot an, für Milch. Für alles stand man Schlange. Für Seife, für Shampoo, für Toilettenpapier. Die Lage war 1983 für alle Polen alles andere als rosig gewesen. Die Luxusgeschäfte in Warschau präsentierten auf ansonsten leeren Regalen Zahnpastatuben und Waschmittelpakete.

Seitdem hatte sich wahrhaftig einiges geändert. Inzwischen konnte man Artikel von Chanel, Armani, Guerlain, Ralph Lauren und Calvin Klein kaufen. Und die Lebensmittelgeschäfte quollen über vor Würsten und Käselaiben, vor eingemachtem und eingelegtem Fleisch und Fisch und gebratenen Enten und Hühnern. Und trotzdem sahen die Leute noch immer trübselig aus. In Restaurants, Läden und Behörden hatte der Gedanke der Dienstleistung noch nicht wirklich Fuß gefaßt. Zugführer, Verkäufer, Beamte und Kellner schalteten mit unerquicklicher Schnelligkeit von kriecherisch auf mürrisch um. Fast alle Behördenvertreter konnten in fast jedem Wortwechsel ohne erkennbaren Anlaß von unterwürfigem zu herrischem Ton wechseln. Ruth fand, daß es wahrhaftig nicht leicht war, die Polen zu mögen. Viele Juden mochten die Polen nicht. »Sie sind immer mißtrauisch und übellaunig, und außerdem haben sie das Monopol auf ungepflegte, braune Zähne«, hatte ihr Freund Aaron, ein Anwalt, mit dem sie zusammengearbeitet hatte, gesagt, als er erfuhr, daß sie nach Polen fahren wollte.

Über Deutsche hörte man Juden so etwas selten sagen. Juden konnten Zorn oder Feindseligkeit oder Furcht Deutschen gegenüber zum Ausdruck bringen, aber sie machten sich nicht über sie lustig, wie sie es mit den Polen taten. Ruth fand das eigenartig. Und doch verhielt auch sie sich so. Deutschen gegenüber bewies sie selten Feindseligkeit, während sie beim geringsten Anlaß Gift und Galle spuckte, wenn es um Polen ging. »Sobald sie vierzig werden, sehen sie abstoßend aus, erledigt und zerknittert und uralt, so als wäre ihnen die Seele aus dem Leib gefahren und zu Leder geworden«, hatte sie erst kürzlich zu jemandem gesagt. Wie konnte man so über andere Menschen sprechen? Sie verabscheute sich selbst, wenn sie solche Dinge sagte.

Eine Männerstimme ließ sie zusammenzucken. »Ich glaube, Sie können mich hören«, sagte der Mann. Sie sah sich um. Niemand war in der Nähe. Sie lief langsamer. Wer konnte das gesagt haben? Woher kam die Stimme? Es war eindeutig niemand in der Nähe. Die nächste Person befand sich etwa zehn Meter entfernt am Ende des Wegs. Sie mußte sich die Worte eingebildet haben. Vielleicht aus Heimweh nach New York. In New York sprachen andere einen dauernd an oder führten Selbstgespräche. Sie lief jetzt nicht mehr, sondern ging. Wahrscheinlich war sie angespannter und litt stärker am Jetlag, als sie wahrhaben wollte. Sie beschloß, ins Hotel zurückzukehren.

Ein Paar ging an ihr vorbei. Ruth hörte Gesprächsfetzen, die ihr nichts sagten. Ja nie mogę, ich kann nicht. Ja ci mówię, ich sag’s dir. Ihr Leben lang hatte sie ihre Eltern Polnisch sprechen hören, und doch verstand sie so wenig Polnisch. Ein Lieferwagen mit hebräischen Buchstaben und den Worten OUR ROOTS auf der Seite fuhr vorbei. Ruth erinnerte sich an die Broschüre, die sie bei ihrem letzten Aufenthalt in Warschau in ihrem Hotelzimmer vorgefunden hatte. Diese Broschüre, »Das jüdische Warschau« betitelt, wurde von der Organisation Our Roots herausgegeben, einer »jüdischen Informations- und Touristenagentur«. Die Broschüre führte sechs Rundfahrten samt den Abfahrtszeiten auf, zu denen man von sechs verschiedenen Hotels abgeholt werden konnte. Der Preis für die Fahrten war in US-Dollars angegeben.

Rundfahrt Nr. 1 führte durch das Warschauer Ghetto und den Jüdischen Friedhof, zur Nozyk-Synagoge, zum Jüdischen Historischen Institut und zur Ghettomauer. Tour Nr. 2 unterschied sich von ihr nur in den Abholungszeiten. Tour Nr. 3 wurde als Warschau–Auschwitz/Birkenau–Warschau angegeben. Tour Nr. 4 bot Warschau–Treblinka–Warschau an und Tour Nr. 5 und Nr. 6 enthielten außerdem noch Majdanek. Weder die Fremdenführer noch die Touristen im Büro von Our Roots machten auf Ruth einen jüdischen Eindruck.

Ruth gelangte zum Rand des Parks, wo eine junge Frau von etwa zwanzig Jahren neben einem Baum hockte. Als Ruth näher kam, sah sie, daß die junge Frau kackte. Eine dicke Wurst brauner Kacke hing aus dem Hintern der jungen Frau. Ruth wurde übel. Sie wünschte, sie hätte die Kacke nicht so deutlich gesehen. Wie konnte eine junge Frau so etwas tun? Nicht weit von hier gab es Hotels mit öffentlich zugänglichen Toiletten. Ruth fragte sich, warum dieser verhältnismäßig ungewohnte Anblick ihr so polnisch vorkam. Nie zuvor hatte sie in Polen jemanden in aller Öffentlichkeit kacken sehen. Warum fand sie Polen so grobschlächtig und vulgär? Es war sehr voreingenommen von ihr. Zwei Frauen gingen vorbei. Wahrscheinlich, dachte Ruth, waren sie in ihrem Alter, obwohl sie aussahen, als wären sie um die Sechzig. Beide beäugten Ruth von Kopf bis Fuß; dann stießen sie einander mit dem Ellbogen an und starrten wieder zu Ruth herüber. Ihr war unbehaglich zumute. Warum verhielten sie sich so aggressiv?

Wie viele Polinnen trugen sie zuviel Lippenstift, dessen grelles Rot sich über den Mund hinaus erstreckte, und die mit schwarzem Stift auf ihre Stirn gemalten Bögen befanden sich nicht dort, wo die Augenbrauen, die sie nachahmten, je gewesen sein mochten. Sie sahen barsch und unnachgiebig aus. Am Morgen, als Ruth nach Polen geflogen war, hatte die New York Times Fotos von zwei anderen Polinnen veröffentlicht. In dem dazugehörigen Artikel ging es um die Häufigkeit von häuslicher Gewalt in Polen. Vielleicht dienten die ganzen Verbeugungen und Handküsse, in denen so viele Polen schwelgten, nur dazu, weniger erfreuliche Gewohnheiten zu kaschieren. Die Times zitierte ein polnisches Sprichwort: »Wenn ein Mann seine Frau nicht schlägt, verdirbt ihre Leber.«

Die polnische Regierung hatte eine Anzeigenkampagne begonnen, um die Leute darüber aufzuklären, daß Brutalität nicht als Familienzwist verharmlost werden dürfe. Ein Foto aus einer der Anzeigen, das in der New York Times abgedruckt war, zeigte ein blondes Mädchen mit geschwollenem und blutendem Gesicht. Die Bildunterschrift lautete: Bo musiał jakoś odreagować – Weil er Dampf ablassen mußte. In einer anderen Anzeige wurde eine Frau mit Schürf- und Stichwunden zusammen mit ihrem kleinen Sohn gezeigt. Bo zupa była za słona besagte die Bildunterschrift – Weil die Suppe versalzen war. Für mißhandelte polnische Frauen gab es keine Zuflucht. Frauenhäuser waren so gut wie unbekannt. In Warschau gab es kein einziges. Es gab niemanden, an den die Frauen sich wenden konnten. Polizei, Staatsanwälte und die polnische Öffentlichkeit betrachteten Männer als Könige in ihren vier Wänden. Es war schwer, Gehör zu finden, wenn man sich über Männer beklagte. Es war auch schwer, in diesem überaus katholischen Land die Scheidung zu erlangen. Polen war eines der Länder Europas mit den niedrigsten Scheidungsraten.

Ruth ging schnell an den zwei Frauen im Park vorbei. Es waren noch fünf Minuten Weg bis zum Hotel. Wenn sie dort war, würde sie die Liste der zu erledigenden Dinge, die sie beim Laufen diktiert hatte, aufschreiben. Der Gedanke, Dinge in Ordnung zu bringen, hatte etwas Tröstliches. Sie liebte die Ordnung. Sie sah es gern, wenn alles einen ordentlichen Verlauf nahm. Unordnung machte sie nervös. Sogar Wetterveränderungen verstörten sie. In ihren Augen waren sie ein Zeichen von Unordnung.

Das Leben ihrer Mutter war auf schreckliche Weise aller Ordnung beraubt und zerrissen worden, als Ruths Mutter fünfzehn war. Ruths Mutter besuchte das Gymnasium, als die Deutschen in Łódź einmarschierten. Das geschah am siebten September 1939. Am siebten September, beinahe auf den Tag siebzehn Jahre, bevor Ruth Rothwax auf die Welt kommen würde, ein stilles Kind. Ein Kind, das zu wissen schien, daß in seiner Welt nichts im Gleichgewicht war, und das auf Jahre hinaus unsicher und unausgeglichen sein würde. Fotos von Ruth zeigen ein ernstes Baby mit großen Augen auf dem Arm einer Mutter, deren schüchternes Lächeln nichts von ihren Qualen übertünchen kann.

In Łódź konnten die Leute an jenem Tag im September 1939 Kanonendonner und Granaten und das Grollen des Artilleriefeuers näher kommen hören. »Es war so still auf den Straßen«, hatte ihre Mutter ihr erzählt. »Es war so still, als hätten sogar die Vögel und die Fliegen zu atmen aufgehört«, hatte Rooshka Rothwax zu Ruth gesagt. »Sogar die Kinder gaben keinen Mucks von sich.« Wenn Ruth Rooshka das erzählen hörte, konnte sie selbst die Stille spüren, eine Stille, die die Juden von Łódź eingehüllt hatte. Alle Alltagsgeräusche schienen verstummt, als hätten alle geahnt, was sie erwartete.

Wenige Tage später waren deutsche Soldaten zu Hunderten einmarschiert. Mit Behagen sangen sie Lieder, in denen Judenblut vom Messer troff. »Man konnte das Böse förmlich riechen«, hatte Rooshka gesagt. Täglich erließen die Deutschen in Łódź neue Vorschriften. Juden durften sich nur zwischen acht Uhr morgens und fünf Uhr nachmittags auf den Straßen aufhalten. Jedem Juden, der zu einer anderen Zeit draußen gesehen wurde, drohte die Erschießung. Die Deutschen begannen jüdische Männer zu jagen. Sie zwangen sie, auf der Straße zu hüpfen und zu springen. Sie schnitten Männern die Schläfenlocken ab und zündeten ihre Bärte an. Rooshkas Mutter schickte Rooshka Brot holen, weil es für sie weniger gefährlich war als für ihren Vater oder einen ihrer vier Brüder.

Die Polen wollten den Deutschen ihre Loyalität demonstrieren. Heil Hitler, riefen sie. Heil Hitler. Sie denunzierten Juden bei den Deutschen. Polen, die mit Juden zusammen die Schule besuchten, denunzierten ihre früheren Freunde. Polen, die seit Jahren Geschäfte mit Juden gemacht hatten, zeigten sie bei den Deutschen für die geringste Übertretung der neuen Vorschriften an. »Es wird dir noch leid tun, daß du nicht mit mir gevögelt hast«, sagte ein Junge aus Rooshkas Schulklasse zu ihr. »Jetzt will dich niemand mehr anrühren, du Stück Dreck«, sagte er zu ihr. »Dein Pech, daß du nicht mit mir vögeln wolltest.« Rooshka schwieg und ging davon. »Du hast dich für was Besseres gehalten«, rief er hinter ihr her, »aber da hast du dich getäuscht. Die Deutschen wissen, wer ein Stück Dreck ist und wer nicht.«

Rooshka Rothwax, damals Rooshka Spindler, war ein schüchternes Mädchen gewesen. Ein Bücherwurm trotz ihrer auffallenden Schönheit. Für Jungen interessierte sie sich nicht. Sie wollte Ärztin werden, Kinderärztin. Sie wußte, daß ein jüdisches Mädchen aus armem Haus sich nicht ablenken lassen durfte, wenn es auf der Schule bleiben wollte. »Ich möchte, daß du Edek Rothwax heiratest«, hatte Rooshkas Mutter an dem Tag zu ihr gesagt, als man sie ins Ghetto einwies. »Seine Familie ist reich. Dort bist du sicherer und kannst uns helfen. Er ist seit Jahren hinter dir her. Ich glaube, er wird dir ein guter Gatte sein.« Am siebzehnten Dezember 1940 wurden Edek und Rooshka im Ghetto getraut. Die Braut war sechzehn.

Ruth wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Es überraschte sie, daß sie so schwitzte. Sie hatte nicht erwartet, bei diesem kalten Wetter viel zu schwitzen. Sie war tief in Gedanken gewesen. Sie dachte oft beim Laufen nach. Gedanken, die sie sonst zu meiden verstand, kamen ihr oft mitten unter dem Laufen.

Ruth dachte an ihre Mutter. In Melbourne in Australien schien sich in Rooshka Rothwax’ Welt wieder Ordnung eingestellt zu haben. Kojen, Baracken, Läuse und Schmutz schienen daraus verschwunden zu sein. Doch dieser Eindruck herrschte nur an der Oberfläche. Seidenbluse und Sonnenbräune konnten die Toten nicht auslöschen, die Toten, deren Arme und Beine bisweilen noch zuckten. Sie konnten den Eiter, das Erbrochene, die Scheiße, die Pisse nicht auslöschen. Sie konnten den Gestank all des verbrannten Fleisches nicht auslöschen. Rooshkas Mutter und Vater, ihre drei Schwestern und vier Brüder hatten mit ihren Leichen einen Teil dieses fürchterlichen Gestanks ausgemacht.

Rooshkas Haus in Australien roch nach Chanel Nr. 5 und nach Cremes und Wässerchen von Christian Dior. Alles war an seinem Platz. Rooshka bügelte und faltete Handtücher und Geschirrtücher, Servietten und Laken. Sie bügelte Taschentücher. Sie bewahrte die Dinge in ordentlichen, sorgfältig aufgeräumten Regalfächern auf. Jeden Gegenstand konnte man auf Anhieb finden. Alles war an seinem Platz. Rooshka brauchte das. Wenn Edek hin und wieder etwas an den falschen Ort räumte – einen Kissenbezug auf die Handtücher oder zwei Schalen dorthin, wo die Untertassen standen –, war Rooshka jedesmal außer sich. Ordnung war das ganze Leben.

Ruth Rothwax bemühte sich nach Kräften, unordentlich zu sein. Sie wollte nicht so sein wie ihre Mutter. Im Büro versuchte sie, ihren Schreibtisch unordentlich zu gestalten. Sie verschob Papierstapel, damit sie nicht im rechten Winkel dalagen. Es war nicht einfach, und Ruth war stolz, wenn sie ein wenig Chaos zuwege brachte. An dem Tag, an dem sie es fertigbrachte, ihre Wohnung zu verlassen, ohne ihr Bett gemacht zu haben, kannte ihre Freude keine Grenzen. Sie beschäftigte sich auch damit, Unordnung zwischen den Kleiderbügeln in ihrem Schrank einzuführen. Den Großteil ihres Lebens über war es ihr ein Bedürfnis gewesen, die Kleiderbügel alle gleich auszurichten. Wenn sie jetzt einen Bügel zufällig andersherum aufhängte, versuchte sie, ihn so hängen zu lassen. Zumindest einen Tag lang. Ruth wußte sehr wohl, wie absurd manche der Dinge waren, die sie zu bewältigen versuchte. Wie viele normale Menschen kämpften mit ihren Kleiderbügeln? Sie begann zu lachen und wäre beinahe gestolpert. Man konnte nicht gleichzeitig lachen und laufen. Sie straffte die Schultern.

Sie erlegte sich auf andere Weise Disziplin auf. Sie erlaubte sich maximal zwölf Minuten für die Lektüre von People. Sie wußte, daß People ein Schundblättchen war, und es machte ihr oft Kopfweh, vom Kampf dieses Sternchens gegen die Bulimie oder vom langen Weg jener Schauspielerin aus der Alkoholabhängigkeit zu lesen. Sogar die Scheidungen und Hochzeiten waren schwer zu verdauen. Kaum hatte sie die zweite Verehelichung einer Berühmtheit registriert, wurde sie mit der dritten konfrontiert. Ein Zeitlimit von zwölf Minuten für derartige Informationen schien Ruth am ehesten geeignet zu bestimmen, wieviel Platz diese Zeitschrift in ihrem Leben beanspruchen durfte.

Den Platz, den New York in ihrem Leben einnahm, hatte die Stadt sich schleichend erobert. Die ersten fünf Jahre hatte Ruth behauptet, auf der Durchreise zu sein, im Begriff, nach Australien zurückzukehren. Heute, nach zwölf Jahren, mußte sie zugeben, daß sie New York liebte. Am meisten liebte sie die Stadt, wenn alles in Ordnung war. Wenn ein Taxi kam, sobald man den Arm hob. Wenn der Zug nach Greenport auf Long Island freitags um 19.04 Uhr abends abfuhr und die Fähre, die sie nach Shelter Island brachte, in Greenport auf den Zug wartete.

Shelter Island gefiel ihr, weil es ruhig war, aber auch, weil jedermann die Vorschriften einhielt. Überfuhr man ein Stopzeichen, wurde das unfehlbar im Polizeibericht des Shelter Island Reporter in der nächsten Woche erwähnt. Ruth wußte, daß Shelter Island entspannend für sie war, und versuchte mindestens sechs Wochenenden im Jahr dort zu verbringen. Sie brauchte den Seelenfrieden und die Freiheit, die ihr die Insel gewährte.

Ordnung ermöglichte Ruth ein Gefühl der Freiheit. Kinder von KZ-Überlebenden fällt es schwer, sich frei zu fühlen. Das hatte Ruth viele Male gelesen. Es fällt ihnen schwer, sich unabhängig von ihren Eltern zu sehen, ein eigenes Leben zu haben, überhaupt ein Leben. Sie sind gezwungen, sich Hindernisse und Bürden zu schaffen, sich ihren Eltern anzugleichen, wenigstens einen Teil des Entsetzlichen nachzuempfinden. Unter der Last von Ängsten, Befürchtungen und Depressionen sind sie dann frei genug weiterzuleben. Kinder von Überlebenden müssen die Leere ihrer Eltern ausfüllen. Sie müssen verlorene Gegenstände und Menschen und Ideale ersetzen. Wen nimmt es da wunder, daß Freiheit für viele von ihnen alles andere als selbstverständlich ist!

Warnungen vor drohender Gefahr, die Kindern von Überlebenden durch ihre Eltern zuteil wurden, erfolgten nie absichtlich oder bewußt. Ihre Eltern gingen mit ihrem Wissen um die Feindseligkeit der Welt nicht hausieren. Das war auch nicht nötig. Die Botschaft von der allgegenwärtigen Bedrohung hatte ihre Kinder schon lange zuvor erreicht. Die Kinder hatten auch begriffen, daß sie Wut und Zorn für sich behalten mußten. Wie konnte man Zorn auf Eltern verspüren, die so viel durchgemacht hatten? Die Kinder brachten es zur Meisterschaft darin, ihren Zorn gegen sich selbst zu richten, und darin, mit Eltern umzugehen, die zu geistesabwesend waren, um Zorn und Aufregung des Alltagslebens wahrzunehmen – Eltern, die immer geistesabwesend waren, immer mit den Gedanken anderswo, außer Reichweite, in einer unerreichbaren Vergangenheit.

Auch mit sonderbaren Neidgefühlen und Ressentiments mußte man zurechtkommen. Ruth wußte, daß ihre Mutter sie darum beneidete, daß sie eine Mutter hatte. Und als Halbwüchsige begriff sie, daß ihre Mutter ihr übelnahm, daß sie eine Jugend hatte. Ruth versuchte sich von ihrer Jugend zu befreien. Sie trug Ernsthaftigkeit und Überdruß zur Schau. Als sie mit zwölf die Blicke der Jungen anzog, versuchte sie sich auch ihrer zu entledigen, indem sie ihre neuen Brüste mit unförmigen Gewändern verhüllte, die sie fast ganz verbargen.

Rooshka Rothwax’ Schönheit gehörte zu den wenigen Dingen an ihr, die unbeschadet überlebt hatten. Rooshka war überwältigend schön. Und Ruth wachte ängstlich darüber, daß nichts dies beeinträchtigte. Deshalb nahm Ruth zu, Pfund um Pfund, und schon bald sah sie niemand mehr an, es sei denn voller Mitleid. Als Ruth Rothwax sich traute, zum Vorschein zu kommen, war Rooshka Rothwax tot und begraben.

Ruth trauerte jahrelang um ihre Mutter. Als ihre Mutter mit sechzig an Krebs starb, war sie achtundzwanzig. Rooshkas Schönheit hatte bis in den Tod ungemindert bestanden, so strahlend wie je. Wenn Ruth jetzt an ihre Mutter dachte, weinte sie oft noch immer. Ein Psychologe hatte sie einmal gefragt, ob sie den Tod ihrer Mutter mit dem Umstand, daß sie abnehmen konnte, in Verbindung bringe. Bei dieser Frage wäre Ruth fast in Ohnmacht gefallen. Eine solche Verbindung war ihr nie in den Sinn gekommen. Die Unfähigkeit, Zusammenhänge und Komplikationen darin zu sehen, daß man das Kind Überlebender war, war nicht der einzige Defekt, der die meisten Kinder von Überlebenden auszeichnete. Kinder Überlebender deprimierten Ruth. Sie versuchte, ihnen aus dem Weg zu gehen. Sie fand sie merkwürdig leer und leblos. Freudlos. Die Erfolgreichen wirkten nicht minder matt als die verloreneren Seelen.

Sogar bei freudigen Anlässen wirkten Kinder Überlebender bedrückt. Ruth hatte Leon Wasserstein bei seiner Hochzeit mit Ehefrau Nummer zwei beobachtet. Ruth war in Melbourne mit Leon zur Schule gegangen. Er war ein kleiner, schmaler Mann. Wissenschaftler. Selbst wenn er Glück bekundete, sah er ängstlich aus. Leon war nach dem Krieg in Bergen-Belsen geboren. Als Ruth ihn nach Bergen-Belsen fragte, sagte er, er könne sich nicht daran erinnern und sei sicher, daß es sich auf seine Psyche nicht ausgewirkt habe. »Meine Eltern, die haben gelitten«, sagte er.

Leon Wasserstein war zum Zeitpunkt seiner zweiten Eheschließung dreiundvierzig. Seine Frau, eine große, grobknochige blonde Australierin, um einiges älter als er, kündigte an, daß sie und Leon vor den Gästen tanzen wollten. »Meine Frau Lee-Anne hat die Tänze selber choreographiert«, sagte Leon, bevor sie zu tanzen begannen.

Auf der Tanzfläche wirkte Leon Wasserstein wie ein Kind, das zu antizipieren versucht, was als nächstes geschieht. Lee-Anne schleuderte ihn hin und her. Er folgte ihren Bewegungen, komplizierten Bewegungen, so gut es ging. Die beiden mußten die Hände heben, dann senken, sie mußten erst das rechte, dann das linke Bein ausstrecken, mit ausgestreckten Armen aufeinander zugehen und sich dann umdrehen und in die Hände klatschen. Sie mußten sich so herum und andersherum bewegen und sich drehen und wirbeln.

In einer Phase des Tanzes bauschte sich das blaue Satinkleid der Braut so sehr, daß der arme Leon fast darin verschwand. Als er sich herausmühte, kämpfte er noch immer mit dem Stoff. Ruth fiel auf, daß seine Finger und Zehen sich zwar bewegten, seine Miene jedoch auffallend steinern blieb. Als der dritte Tanz begann, mußte Ruth den Raum verlassen. Sie konnte den Anblick Leons, der den Kopf in einem ihm eindeutig nicht zugänglichen Rhythmus bewegte, nicht länger ertragen.

Ruth wollte gerade in das Bristol treten. Es war eines der teuersten Warschauer Hotels. »Ich glaube, Sie können mich hören«, sagte eine Stimme. Ruth wäre beinahe hingefallen. Es war die gleiche Stimme wie zuvor. Ihr Herz begann zu pochen. Sie blickte sich um. Niemand war zu sehen. Sie war allein. Sie sah nach vorne. Hinter den großen gläsernen Hoteltüren stand der Türsteher. Niemand sonst war zu sehen. Der Türsteher trat vor, um die Tür für Ruth aufzuhalten. Sie wandte sich ab. Schnell ging sie Krakowskie Przedmieście entlang. Dann blieb sie unvermittelt stehen und blickte zurück. Niemand war zu sehen. Niemand folgte ihr.

Sie ging zum Hotel Bristol zurück. »Ich glaube, Sie können mich hören«, sagte die Stimme wieder, diesmal mit Betonung auf dem Wort Sie. Ruth begann sich zu fürchten. Sie begann zu zittern. Sie riß sich zusammen. Sie war nur übermüdet, niemand war in der Nähe. »Ich kann Sie nicht hören«, sagte sie herausfordernd zu der fast menschenleeren Straße. »Ich wußte, daß Sie es sind«, sagte die Stimme triumphierend. Ruth schüttelte sich. Das war zu lächerlich. Sie hatte schon immer eine allzu lebhafte Phantasie gehabt. Sie mußte wirklich sehr erschöpft sein.

Zweites Kapitel

Zwei Anrufe im Abstand von fünf Minuten weckten Ruth. Sie verlangte in Hotels immer zwei Weckanrufe, weil das die Möglichkeit, den Anruf zu verschlafen, um fünfzig Prozent verringerte. Drei Minuten später läutete ihr Wecker. Zu Hause, in ihrem Alltagsleben, hatte sie sich einer Vielzahl verschiedenartigster Weckmechanismen entwöhnt. Inzwischen beschränkte sie sich auf zwei Wecker.

Es fiel Ruth schwer, nachts einzuschlafen. Die Nacht hatte etwas Endloses. Zu viele unstrukturierte und unbekannte Stunden, die sie erschreckten. Wecker interpunktierten diese Zeit, bezeichneten ihr Ende mit lautem Läuten. Wecker ermöglichten Ruth so etwas wie Gewißheit, wieder zu erwachen.

Sie hatte gut geschlafen. In Hotels schlief sie oft gut. Dort gab es weniger, was einen besorgt stimmen konnte. Jemand wachte die ganze Nacht. In teuren Hotels wachten sogar mehrere Leute. Es gab Sicherheitsvorkehrungen, Kameras, die die Aufzüge überwachten, die Treppen und Flure. Es gab Feuer- und Rauchmelder. Fast nichts wurde übersehen.

Ruth fühlte sich erfrischt. Ihr Kopf war klar. Ihre Vasomotoren hatten sie gestern offenbar im Stich gelassen. Sie wußte nicht ganz genau, was ihre Vasomotoren waren, und vermutete, daß sie etwas mit ihrem Nervensystem zu tun hatten. Sie stellte sie sich als Reihe von Drähten vor, die mit ihrem Gehirn verbunden waren. Wenn einer der Drähte sich lockerte, gab es ein wenig Chaos.

Sie dachte, daß sie als erwachsener Mensch genauer über die Funktionen ihres Gehirns Bescheid wissen sollte. Aber sie wollte es nicht. Wenn man zu gut darüber Bescheid wußte, wie irgendein Körperteil funktionierte, dann, so schien es Ruth, war man dadurch möglichen Störungen hilfloser ausgeliefert. Manche Dinge, davon war Ruth überzeugt, konnten im Stromkreis des Gehirns Unterbrechungen bewirken, Jetlags beispielsweise. Ihr Jetlag war schuld daran, daß sie sich eingebildet hatte, jemand spreche zu ihr.

Sie hatte eine Suite im Bristol, eine Suite aus Schlafzimmer und Salon. Im Salon gab es ein Sofa, einen Sessel, einen Couchtisch und ein Bücherregal. Die Bücher im Regal simulierten eine echte Privatbibliothek. Es waren zerlesene alte Bände und zeitgenössische Bücher. Ein paar Bücher waren zerfleddert. Das Sammelsurium imitierte die Bibliothek eines wohlhabenden Hauses. Es gab mehrere ledergebundene Bände und keine Taschenbücher.

Ruth hatte am Vorabend versucht, in den Büchern zu blättern, aber im Salon war das Licht nicht hell genug gewesen. Je mehr man für ein Hotelzimmer bezahlte, um so weniger bekam man zu sehen, so als würde die Beleuchtung tatsächlich in direktem Verhältnis zu den Dollars, die die Gäste ausgaben, heller oder dunkler werden.

Ruth stand auf. Sie konnte sich nicht im Spiegel sehen. Wenn sie in noch teureren Hotels als diesem zu wohnen beabsichtigte, würde sie eine Taschenlampe mitnehmen müssen. Alle Telefone in der Suite läuteten gleichzeitig. Ruth sah um sich. Sie konnte kein Telefon entdecken. Auf jeder Oberfläche befand sich eine Figurine oder eine Vase oder eine Schale. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie ein Telefon fand.

»Können wir jetzt Gespräche zu Ihnen durchstellen, gnädige Frau?« fragte die Telefonistin des Hotels.

»Ja«, sagte Ruth. Sie hatte ganz vergessen, daß sie gebeten hatte, bis acht Uhr morgens nicht gestört zu werden.

»Auf Apparat zwei ist ein Anruf von Maximilian«, sagte die Telefonistin. »Apparat zwei befindet sich im Schlafzimmer.«

»Maximilian?« sagte Ruth.

»Ja, gnädige Frau«, sagte die Telefonistin. »Sie wartet bereits seit fünf Minuten.«

Ruth nahm den Hörer des anderen Telefons ab. »Hallo, Max«, sagte sie. »Die Telefonistin hat gesagt, Maximilian sei am Apparat.«

»So hat sie mich genannt«, sagte Max. »Ich finde Maximilian besser als Maxine. Ich hab’ ihr gesagt, sie soll mich Max nennen. Ich hab’ ihr gesagt, daß meine Eltern meinen Bruder bei meiner Geburt einbeziehen wollten, damit er sich nicht übergangen fühlt, und ihn deshalb den Namen aussuchen ließen. Ich hab’ ihr gesagt, daß er sechs Jahre alt war und mich Max genannt hat. Ich hab’ es ihr erklärt, aber ich glaube, sie hat es nicht kapiert.«

Ruth lachte. Max brachte sie oft zum Lachen. Max war sechsundzwanzig und arbeitete seit fünf Jahren für Ruth. Max kommunizierte immer maßlos. Manche trieb das in den Wahnsinn, aber Ruth betrachtete es als liebenswerte Marotte. Wenn Max’ Eloquenz ihr zuviel wurde, sagte sie einfach: »Schnitt, Max, Schnitt.« Max war nie beleidigt, sondern verkniff sich dann die unnötigen Einzelheiten. Ruth hatte Max sehr gern.

»Max, ist es für Sie nicht mitten in der Nacht?« sagte Ruth. »Sie sind doch nicht etwa immer noch im Büro?«

»Nein, ich bin zu Hause«, sagte Max. »Es ist zwei Uhr morgens.« »Zwei Uhr morgens?« sagte Ruth.

»Ich dachte, um diese Zeit könnte ich Sie am besten erreichen«, sagte Max. »Ich bin sowieso immer lange auf. Ich werde mich knapp und kurz fassen. Ich will nicht stören bei etwas, was eine seelisch sehr aufwühlende Reise sein muß.«

»Mit dem Aufwühlen lassen wir uns noch etwas Zeit«, sagte Ruth, »aber fassen wir uns ruhig kurz. Ist alles in Ordnung?«

»In der Firma läuft alles wie geschmiert«, sagte Max. »Wenn mein Privatleben annähernd so glatt liefe, wäre ich schon auf und davon. Im übertragenen Sinn selbstverständlich.«

»Gut«, sagte Ruth.

»Bern macht sich gut«, sagte Max. »Er ist heute zu spät gekommen, aber er hat gesagt, in der U-Bahn hätte es einen Überfall gegeben, und das glaube ich ihm. Sie mußten eine halbe Stunde bei geschlossenen Türen im Waggon warten, und er konnte nicht raus. Heute passiert sowas nicht mehr so oft, aber früher ist mir das regelmäßig passiert.«

»Schnitt, Max, Schnitt«, sagte Ruth. Berns Ringen mit dem Verkehrssystem interessierte sie nicht. Sie hatte ihn vor zwei Monaten eingestellt. Er hatte bei einem Schreibwarengeschäft in der Nähe als Bote gearbeitet. Ruth hatte ihn vom ersten Tag an gut leiden können. Sie hatte ihn gefragt, warum er nicht zu rauchen aufhöre. »Ich bin kein Typ, der aufhört«, hatte er geantwortet.

Ruth war von seiner Eloquenz und seiner Freundlichkeit beeindruckt gewesen. Er hatte ihr oft Fragen über ihre Firma gestellt.

»Sie sind nicht auf den Kopf gefallen«, hatte er einmal zu ihr gesagt. »So eine Firma hätte ich auch gerne.«

»Vielleicht haben Sie eines Tages eine«, hatte sie gesagt.

»Erst muß ich das Geschäft lernen«, hatte er gesagt. »Hätten Sie einen Job für mich?« Auf so eine Frage war sie nicht gefaßt gewesen. Bern war noch sehr jung, erst achtzehn.

»Ich kann für Sie Botengänge und -fahrten machen«, sagte er. »Ich kann das Büro saubermachen. Ich kann alles tun, was sonst keiner tun will, bis ich die Arbeit besser kenne und mich nützlich machen kann.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie. Eine Woche später stellte sie ihn ein.

Bern hatte seither nicht mehr zu lächeln aufgehört. Seine Mutter hatte Ruth aufgesucht, um ihr zu danken, daß sie Bern diese Chance gab. Ruth war sich schäbig vorgekommen. Sie hatte nicht das Gefühl, sonderlich viel für ihn zu tun.

»Wir haben sowieso jemanden gebraucht«, sagte sie zu Berns Mutter.

»Nicht viele weiße Frauen würden einem jungen Schwarzen eine Chance geben«, hatte Berns Mutter geantwortet. »Am Sonntag werde ich in der Kirche für Sie beten.«

»Danke«, hatte Ruth geantwortet.

Ruth wußte, wie schwer es junge Schwarze hatten, vor allem Jungen. Die amerikanische Segregation war ihr nicht verborgen geblieben. In Theatern und Museen oder bei Abendessen begegnete man kaum Schwarzen, aber bei öffentlichen Veranstaltungen welcher Art auch immer wollte jedermann in New York unter Beweis stellen, wie gut er sich mit den zweieinhalb Schwarzen verstand, die anwesend waren.

Ruth hatte Bern sehr gern, aber sie wollte nicht vom Hotel Bristol in Warschau seine Probleme mit der New Yorker U-Bahn diskutieren müssen.

»Tschuldigung«, sagte Max. »Wir haben einen Auftrag für fünfzehn verschiedene Dankschreiben. Von Mr. Newton, Newton Labs. Er will fünfzehn Briefe, in denen er sich für die freundliche Fürsorge während seiner Krankheit bedankt. Seine Sekretärin hat gesagt, daß es ihm besonders wichtig ist, daß die Briefe nicht an seine Dankschreiben für die Geschenke zur goldenen Hochzeit erinnern. Aber aus unseren Unterlagen kann ich keine fünfzehn Versionen zusammenbasteln, schon gar nicht, wenn sie sich nicht mit den Dankschreiben für die goldene Hochzeit überschneiden dürfen. Es waren fünfundsiebzig Briefe, ich hab’ sie gezählt, und jeder war ein bißchen anders.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte Ruth. »Was war los mit Mr. Newton?«

»Bypass-Operation«, sagte Max.

»Rufen Sie ihn an und fragen Sie ihn, ob er etwas dagegen hat, daß ich etwas über Bypass-Operationen erkläre«, sagte Ruth. »Natürlich keine blutrünstigen Details. Wenn er einverstanden ist, dann drucken Sie mir die Bypass-Informationen aus unseren medizinischen Unterlagen aus und faxen Sie sie mir.«

»In Ordnung«, sagte Max, »mache ich.«

Die Arbeitsräume des Hotel Bristol waren von einer vornehmen, erlesenen und sehr männlichen Atmosphäre geprägt. Sie waren mit großen, gutgepolsterten ledernen Sofas und Sesseln ausgestattet. Ledergebundene Bücher säumten die Bücherregale, und geschmackvolle Stiche, Zeichnungen und historische Dokumente säumten die Wände.

»Suchen Sie jemanden, gnädige Frau?« fragte sie der Mann an der Informationstheke.

»Ich muß ein paar Unterlagen faxen«, sagte sie. Er wirkte überrascht. »Heutzutage gibt es eine Menge Geschäftsfrauen«, sagte sie, »vielleicht sogar in Polen.«

»Natürlich haben wir ein Faxgerät«, sagte er und erhob sich eilig, um einen sehr dicken Mann zu begrüßen, von dessen gestreifter Weste eine goldene Taschenuhr hing.

Ruth richtete an ihrem neuen Laptop-Computer eine Datei ein, der sie den Namen Post-Operations-Dankschreiben gab. Es war der kleinste und leichteste Computer, den es gab. Ihr Vater, dachte sie, wäre mit dem Kauf einverstanden gewesen.

Ruth blinzelte fünfmal mit dem linken Auge. Das tat sie immer, wenn sie Schreiben verfaßte, die Themen wie Gesundheit oder Sterben betrafen. Es war eine sonderbare Sicherheitsvorkehrung, deren Sinn ihr nicht ganz klar war. Ein Zeichen vielleicht an die Adresse eines möglicherweise höheren Wesens, da sie wußte, daß man mit dergleichen nicht spielen durfte. Aber an höhere Wesen glaubte sie nicht. Sie glaubte nicht an Gott.

»Es gibt keinen Gott«, lautete die einzige Aussage zur Religion, die Ruth in ihren Jugendjahren zu hören bekommen hatte. »Es gibt keinen Gott«, sagte ihre Mutter, dabei unweigerlich zum Himmel blickend. Ruth hatte sich oft gefragt, warum ihre Mutter bei diesen Worten nach oben blickte. Gefragt hatte sie nie. Sie wollte nicht erneut die Geschichten von Babys hören, mit denen die Gestapo Fußball spielte oder denen man die Köpfe an Ziegelmauern einschlug.

Ruth beendete die Dankesbriefe, ohne nochmals zu blinzeln. Während sie arbeitete, setzte sich ein Mann ihr gegenüber an den Tisch. Sie erkannte ihn wieder. Als sie gestern zum Laufen gegangen war, hatte er an der Rezeption gestanden. »Ich bin Arzt«, hatte er mit seinem mißtönenden deutschen Akzent immer wieder gerufen, »ich bin Arzt, und mit dem Zimmer, das Sie mir gegeben haben, bin ich nicht einverstanden!«

Fünfundvierzig Prozent der deutschen Ärzte waren während des Dritten Reichs NSDAP-Mitglieder geworden. Das wußte Ruth aus ihrer Lektüre. Ärzte waren der größte Anteil jedweder Berufsgruppe, der in die Nationalsozialistische Partei eingetreten war. Im März 1933 hatte der NS-Ärztebund – NSÄB – an die Ärzte appelliert, die sich bisher ferngehalten hatten. »Kein Beruf ist so judenverseucht wie der Ärztestand«, hatte es in der Verlautbarung geheißen, »jüdische Ärzte beherrschen die Lehrstühle an den Fakultäten, sie berauben die ärztliche Kunst ihrer Seele und haben Generationen von jungen Ärzten mechanistisches Denken verordnet.«

Mechanistisches Denken. Ruth stellte sich eine Gruppe deutscher Ärzte vor, die Wärme und Warmherzigkeit und Zärtlichkeit verströmten, nachdem sie sich von den mechanistisch gesinnten Juden befreit hatten. Im April 1933 stürmten NS-Ärzte und SA-Truppen Krankenhäuser und Kliniken und Universitäten, um jüdische Kollegen zu vertreiben. Mit den jüdischen Ärzten entfernten sie die Konkurrenz. Die Karrieren der deutschen Ärzte florierten.

Ruth betrachtete den deutschen Arzt, der ihr gegenübersaß. Heute morgen sah er ruhiger aus. Vielleicht hatte man ihm das Zimmer gegeben, das er haben wollte. Er war ein schwerfälliger Mann in den Siebzigern mit ungeschlachten Gliedmaßen und einem großen, finsteren Gesicht. Ruth fragte sich, ob er wohl noch Patienten behandelte. Sie hätte ihre Gesundheit nicht gern den Händen dieses Mannes anvertraut.

Ruth hatte lange gebraucht, bis sie in Amerika einen Arzt gefunden hatte, den sie leiden konnte und der bei ihrer Krankenversicherung zugelassen war. Das Gesundheitswesen war für die meisten Amerikaner ein Problem, besser gesagt, die Krankenversicherung – wie man Mitglied wurde, wie man sie bezahlte, wieviel Gesundheit tatsächlich von ihr abgedeckt wurde.

Oft munkelte man, daß Krankenversicherungen mehr am eigenen Profit als an den Leiden der Kranken interessiert seien. Das alte Bild der Versicherungen als väterlicher, vertrauenswürdiger Einrichtungen, die ihren Versicherten Seelenfrieden verschafften, war im heutigen Amerika weitgehend verschwunden.

Manche Versicherungsgesellschaften hatten eine finstere Vergangenheit. Kurz nach der Reichskristallnacht im November 1938, als deutscher Pöbel einhunderteinundsiebzig Synagogen und Tausende von jüdischen Läden und Firmen geplündert, zerstört und in Brand gesetzt hatte, nutzten deutsche Versicherungen die Gelegenheit, Geld zu sparen. Neunzehn von dreiundvierzig deutschen Brandschutzversicherungen hätten in diesem Jahr mit Verlusten rechnen müssen, wenn sie ihre jüdischen Versicherungsnehmer ausbezahlt hätten.

Die Isar-Lebensversicherungs-Gesellschaft sprach das Problem eloquent in einem Schreiben vom 17. November 1938 an, in dem sie darlegte, daß so viele jüdische Klienten ihre Policen ausbezahlt haben wollten, daß »für das weitere Bestehen unserer Gesellschaft das Schlimmste zu befürchten« stehe.

Sie mußten sich nicht lange Sorgen machen. Man nahm sich ihrer an. Die Nazis führten die Praxis ein, die Versicherungswerte deutscher Juden zu konfiszieren. Deutsche Versicherungen mußten Juden ihre Brandschutz- oder Lebensversicherungen nicht mehr auszahlen.

Im Dezember 1938 teilte eine Pensionskasse der deutschen Regierung mit, daß sie hinfort keine Pensionen oder Witwenrenten mehr auszahlen werde, »sofern es sich bei den Beziehern um Juden« handle. Die deutsche Regierung hatte nichts dagegen einzuwenden.

Ruth legte ihre Arbeit weg. Ihr war speiübel. Sie dachte, es wäre besser, wenn sie frühstücken ging. Ihr war oft übel, wenn sie nicht frühstückte. Das Speisezimmer war voller Geschäftsleute. Ruth entdeckte einen leeren Tisch. Sie aß nicht gern mit Fremden. Sie holte sich etwas Melone und ein paar Erdbeeren und Kiwis vom Frühstücksbüffet.

Die Männer am Nebentisch waren Deutsche. Sie beobachtete sie beim Essen. Sie benahmen sich so ordentlich und säuberlich. Nach jedem Bissen wischten sie sich mit der Serviette den Mund, und ihr Brot butterten sie mit architektonischer Präzision. Diese kleinen Gesten wurden von großen Männern ausgeführt, großen, grobknochigen Männern. Ihre Hände, die breiten Hände ausgewachsener Männer, paßten nicht zu den Gesten. Die Vornehmheit ihres Gebarens gehörte zu einer kleineren Rasse.

Und die Männer aßen schweigend, anders als amerikanische Geschäftsreisende, die sich so laut unterhielten, daß die Speiseräume, in denen sie sich aufhielten, davon widerhallten. Auch in anderer Hinsicht benahmen die deutschen Geschäftsleute sich förmlich. Sie aßen in Anzügen ohne Knitterfalten. Keiner von ihnen hatte das Jackett abgelegt. Ihre Hemden waren frisch und faltenlos und ihre Schuhe blankgeputzt.

Ruth konnte den Blick nicht vom Tisch mit den Deutschen abwenden. Sie behandelten sich gegenseitig mit höflicher Achtung, ohne die Burschikosität amerikanischer oder australischer Männer. Zu Kellnern und Kellnerinnen waren sie überaus wohlerzogen. Für jeden Tropfen Tee und jeden abgeräumten Teller bedankten sie sich mit Worten und Gesten, so höflich, daß es fast wie eine Karikatur wirkte. Diese ganze Vornehmheit und Zurückhaltung weckte in Ruth den Wunsch, laut zu furzen oder zu rülpsen. Sie beschloß, spazierenzugehen. Bis zur Ankunft ihres Vaters hatte sie noch sieben Stunden totzuschlagen.

Ruth ging spazieren. Sie hatte kein bestimmtes Ziel. Sie ging einfach vor sich hin. Warschau, dachte sie, war eine ganz normale Stadt. Abgesehen von der Altstadt, die nach dem Krieg Stein für Stein vollendet rekonstruiert worden war, gab es nicht viel zu besichtigen. Sie wußte, daß sie sich in der Nähe der Warschauer Universität befand. Sie ging in die Richtung, in der die Universität ungefähr lag.

Sie kam an einem Wedel-Schokoladengeschäft vorbei. Ihr Vater führte den Namen Wedel ständig im Mund. Er pries die Schokolade in den gleichen Superlativen, in denen er von polnischem Schinken schwärmte. »Polnischer Schinken ist nicht von dieser Welt. So schmackhaft, daß es nicht zu glauben ist«, sagte er gern. Wedel-Schokolade war in Edeks Worten ebenfalls »nicht von dieser Welt«.

Man hätte meinen sollen, sein Leben in Polen wäre eine einzige Abfolge von Schinkenscheiben und Schokoladenriegeln gewesen. Vielleicht war es das in seinen Augen. Gewiß war es leichter, an Schinken und Schokolade zu denken als an tote Eltern und Geschwister. Sie waren tatsächlich nicht mehr von dieser Welt, dachte Ruth.

Edek hatte immer einen entrückten Blick, wenn er sich an den Geschmack des Schinkens oder der Schokolade erinnerte. Ruth betrachtete die Schokolade in der Auslage. Sie sah gut aus, aber für Ruth sah fast alle Schokolade gut aus. Sie dachte, daß der Anblick eines ganzen Schaufensters voller Wedel-Schokolade für ihren Vater allein schon die weite Reise wert sein müsse.

Ruth kaufte ihrem Vater auf jeder ihrer Reisen Schokolade. Sie hatte ihm mexikanische Schokolade geschickt, englische, französische und solche von den Bermudas. Regelmäßig versorgte sie ihn von New York aus mit Hershey’s Zartbitterschokolade. Sie verstand seine Leidenschaft für Schokolade. Ihr ging es so mit Kuchen – Mohnkuchen und Käsekuchen.

In Warschau gab es herrliche Konditoreien, Konditoreien mit den Kuchen und Torten ihrer Kindheit. In ihrer Jugend hatte es bei ihnen zu Hause keine Apple Pies oder Kuchen mit Konfitüre oder Vanillecremetorten oder sonstiges australisches Gebäck gegeben. Es gab Strudel und Biskuit und Marzipan und Käsekuchen. Die Kuchen der Vergangenheit. Die Kuchen, die Ruth jetzt überall sehen konnte.

Sie betrachtete gerade einen großen Mohnstrudel auf der Theke einer kleinen Konditorei in einer Fußgängerpassage nicht weit von der Universität, als jemand am Saum ihres Mantels zupfte. Ruth blickte nach unten. Eine Frau saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, zwischen den vorbeieilenden Studenten fast verborgen.

Es war schwer zu schätzen, wie alt sie sein mochte. Ihre Haut war fahl unter dicken Schmutzspuren, ihre Augen waren leer vor Erschöpfung. Die vielen Schichten von Baumwollkleidung, die sie trug, waren vor Ruß und Schmutz schmierig und grau. Ein breiter, einst farbenfroher Schal war in komplizierten Windungen um ihren Kopf geschlungen.

Sie zupfte abermals an Ruths Mantel und blickte flehend hoch. Ruth nahm ihren Rucksack ab. Sie mußte der Frau etwas Geld geben. Sie hatte mehrere Zigeunerinnen in Warschau gesehen. Die meisten bettelten. Ruth lächelte die Frau an.

Zwischen den Falten der Kleidung der Frau bewegte sich etwas. Vergraben in einen Schmutz, mit dem es nichts hätte zu tun haben dürfen, war ein Baby. Das Baby saugte an einer Brust der Frau. Ruth sah das Baby an. Es lag wie reglos da. Beinahe leblos. Die Brust, eine braune, faltige, flache, ausgezehrte Brust, sah nicht aus, als könne sie irgendwelche Nahrung enthalten. Ruth war den Tränen nahe. Sie öffnete ihre Geldbörse. Die Frau hielt die Hand auf. Es war eine erstaunlich junge Hand. Ruth gab ihr fünfzig Zloty.