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Es sind viel weniger Zufälle, die unser Leben bestimmen… Erika dachte 25 Jahre lang, sie sei glücklich verheiratet und hat sich zur Aufarbeitung des Seitensprungs ihres Mannes in die Klinik am Berg begeben. Martina wurde nach einem völligen Zusammenbruch, den sie nach dem plötzlichen Tod ihres Freundes erlitten hat, in die Klinik eingeliefert. Mehr als die gemeinsame Therapie verbindet die beiden Frauen zunächst nicht. Doch die Intensität des Klinikaufenthaltes lässt sie sich füreinander und ihre Geschichte öffnen. Allmählich wird Martina deutlich, dass sie sehr viel mehr miteinander zu tun haben, als ihr eigentlich lieb ist.
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Seitenzahl: 320
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Katja Hildebrand
es sind viel weniger Zufälle, die unser Leben bestimmen...
© 2017 Katja Hildebrand
Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7439-8180-5
Hardcover:
978-3-7439-8181-2
e-Book:
978-3-7439-8182-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
„Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben lebenswert machen“
Guy de Maupassant (1850-1893)
Danke
an meinen Mann Klaus und meine Kinder Lena und Felix, dass ihr mir den Rücken freigehalten habt zum Schreiben.
Ihr seid mein Leben und meine Liebe.
Danke
an Beatrix, Bianka, Dieter, Gabi, Lisa und Mama für eure wichtigen Meinungen, Tipps und Anregungen.
1. Irgendwie fühlte es sich an wie früher, als alles gut wurde, sobald man bei Mama war - mit dem Unterschied, dass es nicht früher war, sondern jetzt. Es war sowas von jetzt, dass Tina sich schlagartig zurückgezogen fühlte in ein schwarzes Loch, in eine gähnende und lähmende Leere, in der sie sich seit Wochen befand und bewegte. Nein, bewegen tat sie sich nicht, eigentlich wurde sie bewegt. Die Welt um sie herum schaukelte sie wie ein kleines nussschalenartiges Boot auf dem riesigen Ozean und sie fühlte sich machtlos, ohnmächtig und ohne Plan. Kies knirschte unter den Autoreifen, als ihr Vater schwungvoll, wie es seine Art war, auf dem Parkplatz einbog. „Wir sind da, Schatz.“ Die behutsam-besorgte Stimme ihrer Mutter, die jetzt an ihr Ohr drang, ließ sie sich sofort wieder fühlen wie damals als Zehnjährige, als sie von den Eltern ins Ferienlager gebracht worden war. „Klinik am Berg“ stand auf einem unauffälligen Schild neben einer schönen, doppelflügeligen Tür mit kleinen Sprossenfenstern. Es wäre an Tina gewesen, die Tür zu öffnen, gleichsam symbolisch, doch ihr Vater kam ihr zuvor. Sie traten in einen hellen, lichtdurchfluteten, sehr offen wirkenden Raum, offenbar das Foyer. Rechts und links vom Foyer weg ging jeweils ein heller Gang. Große Pflanzen standen in terrracottafarbenen Töpfen an den Fenstern. Es wirkte freundlich, aber der Fußboden roch nach Krankenhaus und noch bevor sich Tina weiter umsehen konnte oder sich Gedanken machen musste, was nun wohl der nächste Schritt wäre, kam eine Frau mittleren Alters mit einem weißen Kittel auf sie zu und streckte Tina die Hand hin. „Guten Tag. Imhoff mein Name.“ „Äh.Martina…Gelwig“ stammelte Tina ein wenig unsicher. „Gelwig“, dröhnte die Stimme ihres Vaters, der Frau Imhoff ebenfalls die Hand zur Begrüßung hinstreckte. „Sie haben Ihre Tochter herbegleitet, schön…“, stellte Frau Imhoff mit Blick auf Tinas Mutter fest. Diese nickte und schaute erwartungsvoll von ihrem Mann zu ihrer Tochter und wieder zu dieser Frau Imhoff, als würde nun schlagartig diese seit Wochen, Monaten andauernde verzweifelte Dauerschleife beendet und gäbe es die glückliche Wendung, auf die sie so sehnlich wartete. Frau Imhoff war es, die die Situation sehr routiniert löste. „Wenn das hier“, sie deutete mit dem Kopf nickend auf den Koffer, der hinter Tina stand, „das ganze Gepäck ist, dann können Sie sich gerne jetzt verabschieden, damit ich Ihrer Tochter ihr Zimmer zeigen kann.“ In Tina stieg ein merkwürdiges Gefühl von Panik hoch, Angst vor dem Alleingelassenwerden und zugleich Wut über diese fast kindliche Anwandlung. „Okay. Mama, Papa, danke fürs Herbringen.“ Als sie ihre Eltern zum Abschied umarmte, raunte ihr der Vater zu: „Ich weiß, dass du stark bist und das schaffst.“ Die Mutter nahm ihr Gesicht in beide Hände, schaute ihr fest in die Augen, die sehr wässrig dabei wurden und sagte: „Ich wünsche dir, dass du dir hier helfen lässt. Bitte gib deinem Leben eine zweite Chance.“ Tina hätte nicht erwartet, dass ihre Eltern wirklich so abrupt gehen würden, doch sie drehten sich um und gingen und diese Frau ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken, Reagieren, Hinterherwinken oder dergleichen sondern sagte: „Kommen Sie, Frau Gelwig, ich bringe Sie jetzt auf Ihr Zimmer.“ Tina schluckte, atmete tief durch und nahm ihren Koffer, der tuckernd-rollernd hinter ihr her schlingerte. Wie von Ferne hörte sie ausschweifende Erklärungen, während sie den Flur entlang gingen: „Hier im Erdgeschoss befinden sich die Patientenzimmer. Das Gebäude ist rautenförmig angelegt mit einem wunderschönen Innenhof, das werden Sie ja noch sehen. Werkstätten und Wirtschaftsräume befinden sich im UG, im OG sind der große Begegnungssaal, Speisesaal und Therapieräume. Ganz einfach. Sie werden sich schnell zurechtfinden.“ Frau Imhoff lächelte aufmunternd und blieb vor einer Tür am Ende des Ganges stehen. „Hier ist für die nächsten Wochen Ihr Zimmer.“ Tina zögerte, in Erwartung eines Zimmerschlüssels, der ihr nun sicher ausgehändigt werden würde. „Das ist Ihre Tür“, meinte Frau Imhoff auffordernd und vielleicht schon eine Spur ungeduldig. Tina blickte auf die Tür. Es steckte kein Schlüssel und es gab auch keine Zimmernummer, soweit sie sehen konnte. Aber ihr fiel auf, dass hier jede Tür ganz anders aussah. Die Tür zu ihrem Zimmer war eine schlichte Holztür, weiß lasiert mit schwarzer, unverschnörkelter Klinke. Zögernd drückte sie diese und weil die Tür nicht verschlossen war, trat sie ein. Frau Imhoff blieb draußen stehen und schien schon von einem Bein auf das andere zu treten. „Jetzt richten Sie sich erstmal ein. Um 18 Uhr gibt es Abendessen im 1. Stock, anschließend treffen wir uns im Begegnungssaal zum Abendkreis“, erklärte sie. Tina schaute sie fragend an. „Die Tür… ich meine… mein Schlüssel…?“ Frau Imhoff lachte. „.Zimmertüren werden bei uns nicht abgeschlossen. Sie befinden sich hier in einer Klink, Frau Gelwig. Für Ihre Wertsachen und persönlichen Gegenstände finden Sie im Kleiderschrank einen großen Safe.“ Tina schluckte. Es war also doch wie Krankenhaus. Oder wie Klapse. „Wir haben hier einen ziemlich festen Plan. Sie können sich das in Ruhe durchlesen, damit Sie wissen, wie Ihr Tagesablauf sein wird. Vormittags finden Untersuchungen und Therapiesitzungen statt, nachmittags gibt es meist offene Angebote in Atelier und Bewegung.“ Frau Imhoff gab Tina eine Mappe, drehte sich energisch um und ging den Gang entlang zurück ins Foyer. Tina zog ihren Koffer in das Zimmer und machte die Tür zu. Schlagartig machte sich eine lähmende Leere in ihr breit. Sie war allein, allein – er fehlte ihr so sehr, dass es wehtat. Wieder ging es los in ihrem Kopf. Warum? Wie sollte es weitergehen ohne Tom? Sie wollten doch eigentlich heiraten. Tina spürte wieder dieses Gefühl, als würde sich eine Hand um ihre Kehle legen, die ihr die Luft nahm. Ihr Herz schlug so schnell, als hätte sie gerade einen Halbmarathon hinter sich gebracht, schien ihr fast die Brust zu zersprengen, obwohl sie nur dastand. Trauer, Wut, Schmerz, Leere, Verzweiflung…Tränen stiegen hoch, aber kamen nicht raus…zu viele schon vergossen. Sie warf die Mappe mit der Aufschrift „Klinik am Berg“ – in sanft geschwungenen, Harmonie und körperliche Ausgeglichenheit symbolisierenden Buchstaben geschrieben – auf den Nachttisch, setzte sich auf das Bett, stützte sich mit den Händen an der Bettkante ab und spürte wie die weiche Bettdecke unter ihr nachgab. Tief durchatmen, Ruhe! Jetzt bitte keine Attacke. Jetzt bitte nicht. Tina hatte in den letzten Wochen gelernt, den Schmerz zu ersticken, Tränen zu schlucken, das ging immer eine kurze Zeit lang gut, aber dann platzte es meist kurz später völlig unvermittelt aus ihr heraus. Sie zwang sich, ruhiger zu atmen, langsamer, sah sich im Zimmer um. An der Wand ihr gegenüber, über der Tür, hing eine Uhr. Sie zeigte erst kurz nach 16 Uhr. Noch fast zwei Stunden bis zum Abendessen. Oh Gott! Was sollte sie so lange tun? Feste Zeiten, an denen etwas passierte, waren das einzige, was ihr in den letzten Wochen so etwas wie Halt gegeben hatten. Sie hatte sich an manchen Tagen von Fixpunkt zu Fixpunkt gehangelt, als bestünde ihr Leben aus mit dem Lineal in einem Koordinatensystem verbundenen Punkten. Plötzlich war Tom wieder da. Es war, als wäre er mit ihr im Raum. Es fühlte sich an, als wäre sie mit ihm zusammen unterwegs im Urlaub, als hätten sie gerade ihr Hotelzimmer bezogen. Thomas…er hätte zuerst das Bett ausprobiert, hätte sich darauf fallen lassen und „Urlaub, Baby“ gerufen, mit übertrieben tiefer Männerstimme, den Macho gemimt, der er nie wirklich war… er hätte in der Minibar geschaut, ob es ein Bier gab, das ihm schmeckte, hätte sich dann in den Sessel gesetzt und die Beine auf den Tisch gelegt, nur so probehalber, um dann gleich wieder aufzustehen und das Bad zu inspizieren…Manchmal hatte Tina das Gefühl, Tom müsste jeden Augenblick zur Tür hereinkommen. Jemand würde kommen, sie sanft an der Schulter rütteln und sagen: „Aufwachen, Tina“, und sie würde merken, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Aber so lange Träume gab es nicht, wie dieser Alptraum hier schon ging. Es tat so weh, es tat einfach nur weh, es brannte und war leer, leer, leer. Sie wünschte sich nichts mehr, als die Zeit zurückdrehen zu können, sie würde alles dafür geben, wenn sie ihn wieder an ihrer Seite hätte. Tina stand auf und ging in das kleine Badezimmer, ließ sich das Wasser über die Handgelenke laufen und fing es in ihren Händen auf wie in einer Schüssel, um ihr Gesicht hinein zu tauchen. Als sie aus dem Bad trat und auf die Uhr blickte, waren ganze fünf Minuten vergangen. Sie zwang sich, das Zimmer wahrzunehmen, auch ohne Tom – das Zimmer, in dem sie nun die kommenden Wochen wohnen, leben sollte. Es war hell. An der Wand hing ein großer Fotodruck von Rosen. Irgendein schlauer oder Mut machender oder meditativer Spruch stand darunter, aber sie fühlte sich nicht motiviert genug, ihn zu lesen. Ihren Koffer hatte sie noch nicht ausgepackt, aber gefühlte 173 Mal auf diese verdammte Uhr gestarrt, als es endlich 17.50 Uhr war und sie fand, nun könnte sie sich endlich mit einem echten Grund aus ihrem Zimmer trauen, nämlich um den Speisesaal aufzusuchen. Sie hatte keinen Hunger, aber sie war froh, den nächsten Fixpunkt erreicht zu haben, das Abendessen.
2. Erika hatte sich wie immer viel Zeit gelassen, bevor sie zum Abendessen in den Speisesaal gegangen war. Sie legte großen Wert auf ihr Äußeres, ging nie ohne leichtes Makeup und dezent geschminkte Augen aus dem Haus und ihre Kleidung war stets sorgfältig farblich aufeinander abgestimmt, oft mit passendem Schal oder Tuch. Außerdem war sie ein durch und durch pünktlicher Mensch, der lieber ein paar Minuten zu früh erschien, als zu spät. Diese Frau Imhoff hatte 18 Uhr gesagt und man konnte ja nicht wissen, ob noch vor Beginn des Abendessens etwas Wichtiges gesagt wurde, schließlich war heute nicht nur sie neu angereist, sondern noch einige andere, deren Therapie heute oder vermutlich morgen beginnen sollte. Erika fröstelte, als sie sich das Wort „Therapie“ noch einmal vorsagte. Sie hatte immer noch große Zweifel, ob ihr das hier irgendetwas bringen würde. Schließlich hatte sie schon seit fast einem halben Jahr fast wöchentlich bei einem Psychologen ihre Zeit verplempert, wie sie es nannte. Es hatte gar nichts genutzt, all die Aufarbeitung, all die Persönlichkeitsstärkung, all die Wahrnehmungsschulungen, alles war für die Katz gewesen, weil am Ende doch herausgekommen war, was sie schon so lange gewusst hatte und was ihr ständig alle auszureden versucht hatten. Nun ja, schlussendlich hatte sie doch eingewilligt, herzukommen, mit der Zwangsjacke hatte man sie nicht hergebracht. „Ich bin doch nicht krank!“, hatte sie zwar immer wieder betont und auch protestiert. Aber irgendwann musste sie sich selbst eingestehen, dass es ihr eben trotzdem alles andere als gut ging, dass ihre Gedanken ständig nur noch um das Eine kreisten und sie weite Strecken ihres Lebens nicht mehr annähernd so gut gebacken bekam wie es sonst ihre Art war. Erika fand es trotzdem nicht fair, dass sie es war, die jetzt hier sein musste, wo sie doch gar nichts getan hatte. Aber alles Hadern nutzte nichts, das hatte ihr Herr Lindner, der Psychologe, immer wieder deutlich gesagt. Sie musste jetzt an sich und ihr Leben denken und dass sie es wieder so gut in den Griff bekam, dass ihr das andere nichts mehr anhaben konnte, dass es sie nicht mehr verletzte. Sie musste für sich selbst eine wichtige Entscheidung treffen und sie hoffte sehr, hier den Weg zu sich selbst zu finden, den Weg um endlich herausfinden zu können, was richtig für ihre Zukunft wäre. Ob hier wohl viele Bekloppte sein würden? Sie würde es sehen. Abendkreis im Begegnungssaal hörte sich jedenfalls schon ziemlich psychomäßig an. Sie schaute auf die Mappe, die ihr diese Frau Imhoff bei der Begrüßung überreicht hatte und blätterte ein wenig darin. Der Tagesablauf war klar strukturiert und man merkte, dass man hier nicht in einem Kurhaus, sondern doch in einer Klinik war. Sie hatte ihren persönlichen Therapieplan mit allen Untersuchungen und Therapien in der Mappe. Offenbar konnte man den Nachmittag frei gestalten, da gab es verschiedene Angebote, die zum Teil recht interessant klangen. Malen im Atelier. Yoga. Walking-Treff. Offenes Singen. Gemeinsames Musizieren. Erika überlegte, wann sie das letzte Mal gesungen hatte, geschweige denn musiziert. Eigentlich hatte sie früher leidenschaftlich gerne Klavier gespielt und manchmal auch dazu gesungen. Es war schon fast ein Relikt aus der Kindheit, aber ganz tief unten in der Erinnerungskiste noch vorhanden. Jedenfalls, es hatte wie meistens etwas für sich, schon als Erste da zu sein, noch vor dem Speisesaal, um die Neuankömmlinge zu begutachten. Als Erika erneut prüfend an sich herunterblickte und zum bestimmt fünften Mal seit Ankunft vor dem Speisesaal ihre Frisur und das Halstuch zurechtzupfte, gestand sie sich ein, dass sie doch etwas nervöser war, als ihr lieb war. Sie wusste nicht so recht, wohin mit ihren Händen. Verschränken war blöd, im Stehen mit verschränkten Armen, das signalisierte Ablehnung oder totale Unsicherheit, weil Selbstschutzhaltung. Hatte sie mal in einem Seminar gelernt. Ein Mann hätte sich an einer Bierflasche festgehalten, ein Raucher sich eine Zigarette angezündet, obwohl man hier hoffentlich bestimmt nicht rauchen durfte, ein Kind hätte sich vielleicht einfach auf den Boden gesetzt und gespielt… kam alles nicht in Frage. So dazustehen wie abgeordnet als Wachpersonal oder Empfangsdame wollte sie aber auch nicht und sie ließ leicht panisch werdend ihren Blick schweifen. Es war etwa fünf Minuten vor sechs, als eine junge Frau, Erika schätzte sie so auf Ende Zwanzig, die Treppe hochkam und sich suchend offenbar nach dem Speisesaal umschaute. Ein Blick genügte, um ihr zu sagen, dass diese Frau so gar keine Gedanken darauf verwendet zu haben schien, wie sie sich an diesem ersten Abend kleiden sollte. Jeans mit schlichtem Gürtel und ein T-Shirt mit irgendeinem Aufdruck, einfarbige Leinenschuhe, die nicht wirklich gut zur Farbe des Oberteils passten, achtlose Frisur, halblange Haare, die nicht glatt, aber auch nicht wirklich lockig waren und halboffen zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Sie stieg die Stufen nicht schnell und nicht langsam hoch, nicht entschlossen, aber auch nicht zögerlich. Jetzt, da sie die junge Frau betrachtete, war es Erika plötzlich egal, was sie mit ihren Händen tun sollte. Die Frau war nun oben an der Treppe angelangt und schaute sich unsicher um. Sie hatte blasse blaue Augen und einen unsagbar traurigen Ausdruck, obwohl ihr Gesicht auch ungeschminkt wirklich hübsch war. Erika war klar im Vorteil, denn sie hatte den Speisesaal schon gefunden. Da bemerkte sie, dass sie wohl genau vor dem Türschild mit dem entscheidenden Hinweis stand. „Suchen Sie den Speisesaal?“, fragte sie deshalb schnell. Die junge Frau schaute sie mit erstauntem Blick an und dann schien eine Welle der Erleichterung durch ihren Körper zu gehen, denn sie lächelte scheu und nickte. „Bin heute erst angekommen“, murmelte sie. Erika lächelte zurück und sagte: „Ich auch. Da werden wir heute wohl nicht die einzigen bleiben, die neu angekommen sind.“ „Na dann warten wir mal bis 18 Uhr“, sagte die junge Frau und steckte die Hände in die Hosentasche, womit sie aufgeräumt waren. Nun gab es zwei Möglichkeiten. Entweder sie würden schweigend die restlichen viereinhalb Minuten hier stehen und darauf warten, dass es 18 Uhr würde, oder sie würden sich mit Smalltalk die Zeit verkürzen. Sie überlegte kurz. Dann streckte sie der jungen Frau ihre Hand hin und sagte: „Ich bin Erika.“ „Oh… danke… ich bin Martina…aber eigentlich Tina.“ Sie schien sich wirklich zu freuen über Erikas Angebot. „Sollen wir schon reingehen? Hier draußen rumzustehen ist auch irgendwie blöd“, sagte diese Tina jetzt. In dem Fall, beschloss Erika, würde sie nun ihre Überlegungen drei Augenblicke zuvor verwerfen und mit dieser Martina-Tina in den Speisesaal gehen. Es fühlte sich irgendwie beruhigend an, nicht mehr alleine zu sein. Die beiden Frauen suchten sich einen Platz ziemlich mittig vom Speisesaal und setzten sich einander gegenüber hin. Sie musste zugeben, dass es besser war, die zum-Abendessen-Kommenden von hier aus in aller Ruhe betrachten zu können.
3. Fixpunkt Abendessen erreicht zu haben und gleichzeitig nicht alleine wartend vor einer Tür stehen zu müssen, hatte für Tina etwas Beruhigendes gehabt. Diese Erika war der Typ Frau, mit dem sie sich im „normalen Leben“ sicher nicht abends zum Essen verabredet hätte. Erika war, das hatte sie auf den ersten Blick gemerkt, jemand der sehr viel Wert auf ein perfekt gestyltes Äußeres legte. Ihr selbst war es zwar nicht völlig gleichgültig, wie sie aussah, wem war es schon gleichgültig wie er aussah, aber sie war da eher der praktisch-pragmatische Typ. Wahrscheinlich hatte Erika nicht mal eine Jeans in ihrem Kleiderschrank, während sie selbst lange suchen musste, um etwas anderes als Jeans zu finden. Sie konnte schlecht schätzen, wie alt Erika war, aber es trennten sie mit Sicherheit 15 bis 20 Jahre. Es war eine Frau, die zu wissen schien, was sie wollte. Sie hatte einen raffinierten Haarschnitt, es war eine Art Pagenkopf, braune Haarfarbe, vielleicht gefärbt, aber auf jeden Fall keine einzige graue Strähne zu sehen. Sie war dezent, aber sehr gekonnt geschminkt. Am meisten beeindruckten sie Erikas perfekt manikürte Finger. Sie selbst konnte sich gar nicht vorstellen, Nagellack zu tragen; jedes Mal, wenn sie es ausprobiert hatte, hatte es sich angefühlt, als wären tausend Fremdkörper auf ihren Nägeln. Obwohl sie so unterschiedlich zu sein schienen, war das Abendessen angenehm gewesen, denn sie hatten nicht verkrampft ständig versucht, Konversation zu betreiben, sondern auch mal ein Schweigen gut aushalten können. So hatte sie gar nicht gemerkt, wie die knappe halbe Stunde vergangen war, dass sie tatsächlich ein paar Bissen gegessen hatte, ohne Hunger gehabt zu haben und dass sie nun schon beim nächsten Fixpunkt angekommen war, nämlich dem Abendkreis im Begegnungssaal. Sie waren gemeinsam in die Richtung gegangen, jedoch hatte Erika kurz vor dem Begegnungssaal erklärt, noch zur Toilette zu gehen. Sie war alleine hineingegangen, weil schon andere Leute dort saßen. Jeder hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und neben sich noch Plätze frei. So machte das Tina jetzt auch. Es waren nicht nur Frauen, auch ein paar Männer saßen dort, aber der Frauenanteil überwog stark. Nun saß sie also da und wartete und war froh, dass in der Mitte des Kreises etwas war, das sie anschauen konnte. Eine schön gestaltete Mitte. Zu lockeren Strängen gewundene Seidentücher in pastelligen Tönen, Steine in verschiedenen Größen und Formen, sowie Schneckenhäuser, die zum Teil auf, zum Teil neben den Steinen lagen. Sollte sich hier eine Botschaft verstecken, sollte sie einen tiefen Sinn erkennen oder sollte ihr dieses Schneckenhaus-Stein-Arrangement vielleicht etwas sagen, was mit ihrer aktuellen Situation zu tun hatte? Immer wieder sah Tina zur Tür. Da kam Erika. Sie wirkte bewundernswert selbstsicher, ohne dabei einen arroganten Eindruck zu machen. Alles an ihr schien zu stimmen. Sie überlegte, weshalb diese Frau, die so selbstsicher wirkte, wohl hier war. Dann ließ sie ihren Blick unauffällig in die Runde schweifen, die sich langsam füllte, und überlegte bei jedem, was für eine Geschichte er wohl mitbrachte in diese Klinik. Da saß eine Frau mittleren Alters, die eine seltsam rote, fast schon lilafarbene Nase hatte und hektische rote Flecken im Gesicht und am Hals. Ein junger Mann, er sah ein bisschen aus wie ein Nerd, hatte irgendwas in der Hand, womit er die ganze Zeit herumspielte. Was auch immer er da von der einen in die andere Hand wandern ließ, er legte dabei eine affenartige Geschwindigkeit und Fingerfertigkeit an den Tag. Tina ermahnte sich, nicht zu auffällig hinzustarren. Der sah eigentlich gar nicht aus wie jemand, der in so einer Klinik Hilfe suchte, eher wie so ein sehr junger, sehr begabter Computerfreak, der eine steile Karriere hingelegt hatte und der nun die versäumte Spielzeit im Sandkasten nachholen musste, indem er mit irgendwelchen Erwachsenen-Spielsachen hantierte. Eine unscheinbar wirkende Frau saß mit fast versteinertem Blick da und starrte ausdruckslos in die Schneckenhaus-Mitte. Sie hatte keine Farbe in den Haaren, keine Farbe im Gesicht, keine Farbe auf den Lippen, alles wirkte fahl an ihr. Tina kam der Begriff „graue Maus“ in den Sinn und zugleich schalt sie sich dafür, dass sie hier saß und Menschen beobachtete und beurteilte. Kaum dass ihr dies bewusst geworden war und dass sie zum ersten Mal seit langem in der letzten Stunde wieder etwas wahrgenommen hatte, schien sich der Schleier wieder über alles zu legen und die anderen Gesichter nahm Tina nur noch schemenhaft wahr. Sie versuchte, an das Gespräch mit Erika beim Abendessen zu denken. Es war ja eigentlich nur ein bisschen unverbindlicher Smalltalk gewesen, doch als es um die Zimmertüren ging und sie erzählt hatte, wie sie vergeblich auf den Zimmerschlüssel gewartet hatte, hatte Erika nur bitter gelächelt und ziemlich sarkastisch erwidert: „Wir sind hier schließlich keine Hotelgäste, sondern mehr oder weniger Bekloppte, auf die man aufpassen muss. Das ist eine Klinik, meine Liebe. Da lassen sie es nicht zu, dass man sich womöglich einschließt.“ Tina hatte noch gar nicht so genau darüber nachgedacht, was der Aufenthalt in dieser Klinik rein biografisch aus ihr machen würde, als wer oder was sie sich davor, jetzt im Moment oder danach zu bezeichnen hätte. Es war nun genau 18.30 Uhr. Ein paar Plätze waren noch frei, unter anderem ein Platz links von ihr. Rechts von ihr saß eine junge Frau, die für sie nichts ausstrahlte, was es interessant gemacht hätte, über ihre Persönlichkeit zu spekulieren. Warum hatte sich niemand links von ihr setzen wollen? Sie hatte beim Bewerbungstraining vor einigen Jahren auch viel über Körperhaltung erfahren und achtete nun genau darauf, dass sie nicht irgendwie verschränkt dasaß. Verschränkte Arme symbolisierten eine gewisse Ablehnung. Hatte sie die Arme verschränkt gehabt und darum hatte sich sonst niemand getraut, den Platz links von ihr zu besetzen? Tina schaute zu Erika. Diese schaute wie viele andere ebenfalls konzentriert in die Mitte des Kreises. Nun sollte man sich hier also begegnen. Oder sich öffnen. Oder sich gegenseitig das Herz ausschütten. Oder vielleicht ging es einfach nur um eine Vorstellung? Tina spürte, wie die Unsicherheit sich immer stärker in ihr ausbreitete und wie der Schweiß sich unter ihren Achseln sammelte. Sie mochte keinen Seelenstriptease. Sie mochte auch keinen Psychokram, wie sie das so nannte. Sie war ihren Eltern zuliebe hergekommen. Alle hatten auf sie eingeredet, sie solle sich nicht so einigeln. Anscheinend war es befremdlich für ihr Umfeld gewesen, dass sie sich seit der Sache mit Tom völlig zurückgezogen hatte. Das brauchte aber hier niemand zu wissen. Nicht diese Menge an Menschen. Tina schätzte den Kreis auf bestimmt 30 Männer und Frauen. Alle hatten offensichtlich irgendwelche psychischen oder psychosomatischen Probleme. Waren sie also krank? Waren sie alle hier psychisch krank? War sie psychisch krank, weil sie alles so leer und sinnlos fand? Hatte sie nicht das verdammte Recht, traurig zu sein? Tina spürte plötzlich Wut und das dringende Bedürfnis, aufzustehen und hinauszugehen. Da kam diese Frau Imhoff in den Raum, die sie begrüßt und zu ihrem Zimmer gebracht hatte und noch zwei weitere Wer-auch-immer. Ein Mann und eine Frau, offensichtlich aber Betreuer oder wie man das hier nennen mochte. Sie trugen weiße Kittel, genauso wie Frau Imhoff und hatten dadurch schon eine gewisse autoritäre und arztmäßige Außenwirkung. Jetzt waren alle Plätze besetzt, auch der neben Tina. Da setzte sich Frau Imhoff hin. Tina lächelte scheu zur Seite, froh darüber, ein bekanntes Gesicht neben sich zu sehen, doch Frau Imhoff hatte ihren Blick routiniert über die Mitte hinweg in die Runde gerichtet und hob an, um alle Anwesenden zu begrüßen. Auch sie war nur eine von vielen…Patienten. Tinas Magen krampfte sich zusammen. Während der folgenden Minuten begann sich plötzlich alles zu drehen. Wie durch eine unsichtbare Wand nahm sie Stimmen wahr, Wortfetzen, die wabernd in den Raum drangen und als leere Hülsen um sie herum schwebten. Sie versuchte sich auf die Mitte zu konzentrieren, das Drehen aufzuhalten, wieder hatte ihr Herz begonnen wie wild zu klopfen, sie spürte wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat und am Rücken herunterlief. Plötzlich durchzuckte es sie kalt und heiß zugleich: Mist! Sie hatte vergessen, ihre Tablette zu nehmen. Die hatte der Arzt zuhause ihr verschrieben und sie nahm das Zeug eigentlich abends vor dem Abendessen ein. Es machte sie zwar sehr müde, aber auch ein wenig gleichgültig und hatte ihr geholfen, nachts zu schlafen. „Frau Gelwig?“ Frau Imhoff neben ihr hatte sich zu ihr gedreht und schaute sie so deutlich von der Seite an, dass Tina sich plötzlich wie wachgerüttelt fühlte. Sie schreckte hoch und schaute die Frau in weiß fragend an. „Möchten Sie uns etwas sagen, Frau Gelwig?“ „Äh, wie…sagen?“, stammelte Tina und hätte sich gleichzeitig auf die Zunge beißen können. Jetzt wusste hier jeder, dass sie gar nicht zugehört hatte. Wie unhöflich. Wie respektlos den Problemen der anderen gegenüber. „Wie es Ihnen hier und heute geht, ob Sie sich ein Ziel stecken möchten, ob Sie einen Wunsch haben“, half ihr Frau Imhoff nachsichtig auf die Sprünge. Tina starrte in die Mitte. Sie spürte viele Augenpaare auf sich gerichtet und merkte, wie sich ein großer Kloß bildete, der gleichzeitig ihre Stimme versperrte und Tränen nach oben drückte, die sie niemandem hier zeigen wollte. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie den Kloß und dieses bedrückende Gefühl damit loswerden. „Ich kann nicht“, sagte sie dann leise mit erstickter Stimme und spürte, wie dieser eine Satz, den sie gesprochen hatte, gleichsam den Weg für ihre Tränen freigemacht zu haben schien, denn nun liefen sie, die Tränen die sie niemandem hier zeigen wollte, die keinen von denen was angingen. Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und wischte sich schnell und heftig damit über die Augen, als könne die Hast ihrer Bewegung den Tränenfluss schneller stoppen. Doch peinliches Schweigen blieb aus, der Mann übernahm nun die Moderation oder wie auch immer man das nennen wollte und Tina war froh, dass es offenbar viele Patienten gab, die ein wesentlich größeres Redebedürfnis hatten als sie selbst. Sie hörte zwar nicht zu, aber schaffte es im Raum zu bleiben und mit ihren Tränen zu kämpfen, die nur langsam zu stoppen waren. Dennoch war sie die Erste, die am Ende des Begrüßungskreises den Raum verließ, die Treppe hinuntereilte und in Richtung ihres Zimmers huschte, wie ein scheues Reh, das Zuflucht im Dickicht des Waldes sucht. Als sie die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür und zwang sich, ruhig durchzuatmen. Dann wurde ihr bewusst, dass sie überhaupt nicht mitbekommen hatte, wie es am folgenden Tag weitergehen sollte, wann der nächste Fixpunkt war, den sie nach überstandener Nacht anpeilen musste. Frühstück wahrscheinlich, doch um wieviel Uhr? Ihr Blick fiel auf die Mappe, die ihr Frau Imhoff bei ihrer Ankunft in die Hand gedrückt hatte. Tina setzte sich auf ihr Bett, wo sie vor zwei Stunden auch schon gesessen und auf das Abendessen gewartet hatte und nahm die Mappe in die Hand. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt; Emotionalität war etwas Anstrengendes. Vielleicht war es falsch gewesen, hierher zu kommen? Sie hatte das Gefühl, einfach noch nicht so weit zu sein, sich anderen gegenüber öffnen zu können. Sie wollte das mit Tom nicht teilen. Es war ihre Geschichte, ihre eigene Geschichte. Er war der Mann gewesen, mit dem sie ihr Leben teilen wollte, für den sie alles getan hätte. Es war perfekt gewesen, sie hatten sich ergänzt, gestützt, gehalten, sich gegenseitig so viel gegeben, sie hatten so viele Gemeinsamkeiten gehabt, über die gleichen Dinge lachen oder auch weinen können. Manchmal hatte Tom sie morgens zu einem Lied aus dem Radio einfach genommen und durchs Zimmer gewirbelt, hatte sie geneckt, hatte sie an grummeligen Tagen wieder zum Lachen gebracht oder einfach gespürt, wie es ihr ging und nachgefragt, was los war. Es waren die Kleinigkeiten, die ihr am meisten fehlten, diese vielen, vielen Kleinigkeiten, die zusammen alles so vollständig gemacht hatten, so wie ein Puzzleteil in das andere gefügt wird und am Ende ein wunderschönes großes Bild zu sehen ist. Tina ließ sich aufs Bett fallen und starrte zur Decke. Toms Augen tauchten auf, sein Mund, seine etwas zu große Nase, die sie gerade deswegen so liebte, seine markanten Augenbrauen, seine Haare, die immer aussahen, als hätte er vor zwei Wochen zum Frisör gemusst und heute noch keine richtige Zeit zum Kämmen gehabt, durch die sie genauso gern gewuschelt hatte, wie er es ständig mit seinen Händen tat, aber das Gesicht fügte sich nicht zu einem Ganzen zusammen, so sehr sie sich auch anstrengte. Panik ergriff sie. Begann sie etwa bereits, ihn zu vergessen? Wie konnte das sein, wo er ihr doch so fehlte, wo keine Stunde verging, in der sie sich nicht nach ihm sehnte, an ihn dachte…Tina sprang auf und lief zu ihrer Handtasche im Tresor. Mit zitternden Fingern suchte sie nach dem gerahmten Bild. Da war er, Tom, auf seinem geliebten Motorrad, für das Foto ohne Helm. Aber das Foto anzuschauen war nicht das gleiche, wie eben die Einzelheiten seiner Silhouette plötzlich im Nichts zu sehen. Zärtlich strich sie mit den Fingern über das Bild und stellte es dann auf ihren Nachttisch. „Tom, du fehlst mir so“, flüsterte sie leise. Das tat sie jeden Abend. Sie sprach manchmal mit ihm, vor dem Einschlafen, erzählte ihm von ihrem Tag, der so sinnlos ohne ihn gewesen war. Wieder legte sich Tina auf das Bett. Würde sie überhaupt schlafen können ohne die Tablette? Das hatte ihr irgendwie Halt gegeben, zu wissen, dass die ihr zumindest nachts half, irgendwie von diesem Gedankenkarussell loszukommen. Plötzlich klopfte es an die Tür. „Ja?“, sagte sie und ihre Stimme hörte sich in der Stille des Raumes fast unheimlich an. Die Tür ging auf. Es war noch einmal Frau Imhoff, fast beruhigend für Tina sie zu sehen. „Ist es okay für Sie, wenn ich reinkomme?“, fragte sie. Tina nickte. Frau Imhoff setzte sich in den Sessel, Tina blieb auf dem Bett sitzen. Zuerst sagte keiner von beiden etwas, was Tina aber nicht unangenehm fand. Es fühlte sich vielmehr so an, als müsse Frau Imhoff erst in die Atmosphäre des Raumes eintauchen und erspüren, wie es ihr ging. Dann plötzlich begannen beide Frauen fast gleichzeitig zu sprechen und mussten darüber schmunzeln. „Frau Gelwig“, ergriff schließlich Frau Imhoff das Wort, „Sie müssen hier in großer Runde nichts erzählen, was Sie lieber für sich behalten möchten.“ Tina schaute die Frau erstaunt an. Diese fuhr fort: „Ich gehe davon aus, dass Sie hergekommen sind, weil es Ihnen nicht gut geht. Ich weiß nicht, was genau Ihre Geschichte ist. Das spielt für den Moment gar keine Rolle. Wichtig ist vielmehr, dass Sie sich fragen, wie es Ihnen jetzt gerade geht und ob Sie daran gerne etwas ändern würden.“ Tina zuckte mit den Schultern. „Natürlich geht’s mir nicht gut. Mir geht’s beschissen… es ist nur…“ Wieder konnte Tina nicht weitersprechen. „Jetzt schlafen Sie erst einmal eine Nacht über das Ganze. Sie haben in vielen Einzelgesprächen ausreichend Gelegenheit, Ihre Geschichte aufzuarbeiten. Morgen früh geht es erst einmal los mit den ersten Untersuchungen, wir brauchen ja Blutbild und so weiter. Ihr Therapieplan ist in der Mappe, Sie können alles in Ruhe nachlesen. Denken Sie daran, dass wir hier eine Klinik sind mit gewissen Regeln und Abläufen, an die man sich halten muss.“ Frau Imhoff erhob sich zum Gehen. Tina sah ihr an, dass es ein langer Tag für sie gewesen sein musste. In Tina arbeitete es fieberhaft. Sollte sie fragen – sollte sie… „Äh, ich hab noch eine Frage…“ Sie kramte die Packung mit den Tabletten aus ihrer Kulturtasche. „Ich habe davon immer eine abends vor dem Essen eingenommen und das hat mir ganz gut geholfen. Aber heute hab ich die dummerweise vergessen.“ Frau Imhoff sah sich die Packung kurz an und meinte dann, es sei kein Problem, noch jetzt eine Tablette mit ein paar Schluck Wasser einzunehmen. Über die weitere Medikation würde sie dann sicher in den kommenden Tagen mit den Ärzten sprechen, die sie in der Therapie begleiten würden. Wenn etwas sei, könne sie jederzeit klingeln. Erst jetzt fiel Tina der rote Knopf auf, der dezent am Lichtschalter der Nachttischlampe mit angebracht war. Sie bedankte sich bei Frau Imhoff und konnte sich jetzt einigermaßen beruhigt für die Nacht umziehen und ins Bett legen.
4.