Zusammenleben. Über Kinder und Politik - Leander Scholz - E-Book

Zusammenleben. Über Kinder und Politik E-Book

Leander Scholz

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Beschreibung

Als Leander Scholz Vater wurde, änderte sich sein Leben fundamental – nicht nur sein Alltag und Gefühlshaushalt, sondern auch seine Sicht auf die Welt. Er erfuhr, wie sehr sich die Tätigkeit der Fürsorge von unserem unermüdlichen Streben nach Erfolg unterscheidet. In diesem bewegenden Essay entwickelt er aus der Erfahrung der Elternschaft ein neues Selbstverständnis für unsere Gesellschaft, das über Selbstverwirklichung hinausgeht. Und er fordert ein Wahlrecht von Geburt an – denn wenn wir unsere Demokratie erneuern und über die Gegenwart hinausdenken wollen, müssen wir eine politische Repräsentation der Kinder erlauben. „Zusammenleben“ ist ein gleichermaßen intimes wie emanzipatorisches Buch.

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Über das Buch

Als Leander Scholz Vater wurde, änderte sich sein Leben fundamental — nicht nur sein Alltag und Gefühlshaushalt, sondern auch seine Sicht auf die Welt. Er erfuhr, wie sehr sich die Tätigkeit der Fürsorge von unserem unermüdlichen Streben nach Erfolg unterscheidet. In diesem bewegenden Essay entwickelt er aus der Erfahrung der Elternschaft ein neues Selbstverständnis für unsere Gesellschaft, das über Selbstverwirklichung hinausgeht. Und er fordert ein Wahlrecht von Geburt an — denn wenn wir unsere Demokratie erneuern und über die Gegenwart hinausdenken wollen, müssen wir eine politische Repräsentation der Kinder erlauben. »Zusammenleben« ist ein gleichermaßen intimes wie emanzipatorisches Buch.

Leander Scholz

ZUSAMMENLEBEN

Über Kinder und Politik

Hanser Berlin

Für Raphael

Inhalt

1. Die Geburt der Familie

2. Die Entscheidung für ein Kind

3. Berufsalltag und Familienleben

4. Feminismus und Familie

5. Die demokratische Familie

Danksagung

»Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.« Hegel

1. Die Geburt der Familie

Wenige Minuten nach der Geburt unseres Sohnes wurde mir schwindelig. Auf einmal war es sehr schnell gegangen. Der Geburtsvorgang hatte sich über Stunden hingezogen. Zunächst hatte alles auf den Nachmittag hingedeutet, dann wurden die Angaben immer ungefährer. Am späten Abend war es sogar zum Stillstand gekommen. Die Ärzte überlegten, ob ein Eingriff nötig werden könnte. Der Sauerstoffgehalt wurde gemessen, eine dünne Nadel in den noch weichen Kopf unseres Sohnes eingeführt. Der Muttermund war schon länger geöffnet. Wir waren am frühen Morgen ins Krankenhaus gekommen, meine Frau war von den vielen schmerzhaften Wehen sehr erschöpft. Dann kam die Saugglocke zum Einsatz. Für einen Moment dachte ich noch, wie gut es ist, dass sie das Gerät nicht sehen konnte. Und mit einem Mal war er da, blutig, mit grauen und braunen Schlieren bedeckt, lebendig. Es war kurz nach Mitternacht, als unser Sohn zur Welt kam. Mit einer Schere trennte ich die Nabelschnur durch. Als er ruhig atmend in den Armen meiner Frau lag, wusste ich, jetzt ist alles gut, und mir wurde schwindelig.

In den Monaten, bevor unser Sohn geboren wurde, hatte ich eine ganze Reihe von Ängsten auszustehen. Ich befürchtete, dass ich meiner Frau nicht mehr so nahe sein könnte. Dass wir nur noch wenig Zeit füreinander haben würden, dass wir uns verändern und allmählich fremd würden. Ich machte mir Sorgen um meine berufliche Zukunft, mehr als sonst. Ich hatte Angst, meinem Sohn nicht das bieten zu können, was ich glaubte, ihm bieten zu müssen. Die Bilder, die ich mir von unserer gemeinsamen Zukunft zu machen versuchte, blieben undeutlich. Ich konnte mir nicht richtig vorstellen, was es bedeuten würde, mit einem Kind zusammenzuleben und eine Verantwortung zu tragen, die mir auf einmal sehr groß vorkam. Dann dachte ich wieder an die vielen Dinge, die ich noch erledigen wollte und die sich ständig vermehrten. Je näher die Geburt rückte, desto schwerer fiel es mir, mich zu konzentrieren. Mein ganzes bisheriges Leben schien in Frage gestellt zu sein. Eine Zeitlang lähmten mich diese Ängste, und ich konnte mich nicht auf die Geburt freuen. Vor allem aber hatte ich Angst, kein guter Vater sein zu können. Von allen Ängsten war diese Angst die stärkste.

Obwohl ich nicht die Strapazen des Geburtsvorgangs ertragen musste, fühlte ich mich nach der Geburt entkräftet. Kurz darauf wurde ich gebeten, mir mein Hemd auszuziehen und mich auf einer Liege auszustrecken. Meine Frau musste möglichst schnell operiert werden, und unser Sohn sollte während dieser Zeit auf meiner nackten Brust liegen. Er sollte die Wärme und die Nähe eines Körpers spüren und Vertrauen finden zu einer neuen Lebenssituation, die ihm Angst machen musste und der er ausgeliefert war. Trotz der Unsicherheit, wie ich ihn berühren, wie ich ihn halten sollte, war ich stolz darauf, diese Aufgabe zu übernehmen. Sein kleiner Kopf lag kraftlos auf der Seite, sicher gebettet in der kleinen Kuhle zwischen meiner Schulter und meiner Brust. Um seinen feuchten Körper, seine angewinkelten Beine hatte ich meinen Arm gelegt. Alles an ihm kam mir zart und verletzlich vor, die rote Haut, die kleinen Finger, der Herzschlag und sein Atmen. Die Liebe, die ich in diesem Moment empfunden habe und immer noch empfinde, bezog sich weder auf seinen Anblick noch auf irgendein Merkmal, das ihn auszeichnete, sondern unmittelbar auf sein Leben, seine Existenz. In den langsam vergehenden Minuten, in denen er auf meiner Brust lag, schob er sich nach und nach höher, immer dichter an mich heran, bis sein Kopf an meinem lag und ich ihn mit der Wange berühren konnte.

Obschon ich Kinder immer gemocht habe, konnte ich mir lange nicht vorstellen, selbst welche zu haben. Ich gehöre zu einer Generation, für die es nicht mehr selbstverständlich ist, irgendwann eine eigene Familie zu gründen. Die Entscheidung für Kinder erschien mir gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Möglichkeit, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Vorstellung, vieles im Leben ausprobieren zu wollen, vertrug sich nicht mit der Bindung an ein Kind. Ich wollte nicht für jemanden da sein müssen. Und vor allem wollte ich selbst entscheiden können, was ich wollte und was nicht. Liebesbeziehungen lassen sich auflösen. Freundschaften können beendet werden. Und auch Ehen können wieder geschieden werden. Die Bindung an ein Kind lässt sich dagegen nicht wieder rückgängig machen. Sie kann gestört sein, sie kann vielleicht auch niemals richtig zustande kommen. Aber sie lässt sich nicht wieder auflösen, sie lässt sich nicht austauschen. Einen Vater oder eine Mutter kann man genauso wenig ersetzen wie eine Tochter oder einen Sohn. Aus diesem Grund kommt die Bindung an ein Kind im Register der Individualität nicht vor. Es ist keine Bindung auf Zeit, sie besteht ein Leben lang, ob sie gewollt ist oder nicht.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich mit etwa vierzehn Jahren häufiger darüber nachdachte, warum ich froh war, ein Junge zu sein und kein Mädchen. Als Mädchen hätte ich Kinder bekommen müssen, und das erschien mir nicht nur sehr schmerzhaft, sondern auch unheimlich. Auch als Erwachsener kam mir die Vorstellung, dass Menschen aus Menschen hervorgehen, oft merkwürdig und befremdlich vor. Ein Kind wird gezeugt, indem sich eine Frau und ein Mann sexuell vereinigen, und wächst im Körper der Frau heran, bis es selbst zu einem eigenständigen Körper geworden ist. Die Schwangerschaft kann etwas Verstörendes haben. Im Grunde ist dieser Vorgang der modernen Welt immer fremd geblieben. Dass sich das Leben auf diese Weise fortsetzt, widerspricht unserem Bestreben, die Wahlmöglichkeiten in allen Bereichen des Lebens zu erweitern und zu steigern. Man kann nicht ausprobieren, wie es sich anfühlt, ein Kind zu haben, und sich dann dagegen entscheiden. Ein Kind kann man sich nicht aussuchen, ebenso wenig wie sich ein Kind seine Eltern aussuchen kann. Es kann ganz anders sein, als man erwartet hat, es kann andere Eigenschaften haben als erhofft, es kann krank sein, es kann ein schwieriges Kind sein. Das Glück, das die meisten Väter und Mütter über ihre Kinder empfinden, hat daher auch nichts mit dem Erfolg zu tun, über den man sich freut, wenn man eine richtige Entscheidung getroffen hat. Kinder sind auf einmal da, genau so, wie sie eben sind. Und sie verändern unsere Welt, weil sie unsere volle Aufmerksamkeit und unsere rückhaltlose Liebe verlangen. Manchmal, wenn ich unseren Sohn heute anschaue, kann ich immer noch nicht glauben, dass er einfach da ist und wir mit ihm dauerhaft unser Leben teilen.

Über Jahrhunderte hinweg war es selbstverständlich, dass jeder einzelne Lebenslauf in eine lange Kette des Lebens eingebettet ist. Jede Entscheidung und jede Handlung fand unter dem Blick der Vorfahren statt und wurde stets im Hinblick auf die Nachfahren vollzogen. Die heute gängige Vorstellung, dass jeder nur sein eigenes Leben gestaltet und im Innersten nur sich selbst erlebt, wäre nicht nachvollziehbar gewesen. Jemand, der sich vollständig auf sich selbst bezieht, dem alle Bindungen äußerlich sind, galt in der antiken Lebenswelt als ein Idiot. Mit dem Begriff idiṓtēs war kein geistiger Mangel gemeint, sondern die Verachtung für jemanden, der sich allein als Privatmann verstand, obwohl es ihm möglich war, öffentliche Ämter zu bekleiden und seinen Anteil an der Gemeinschaft zu haben. Ein bloßes Individuum zu sein war ein Schicksal, das man nicht freiwillig teilte. Die Annahme, dass Ungebundenheit den Spielraum für die eigene Selbstverwirklichung vergrößert, ist aus dieser Sicht ein Irrtum. Das Individuum, das sich seine Chancen ausrechnet, seine Interessen verfolgt und seine Möglichkeiten ausschöpft, ist eine späte Erfindung. Sein Horizont reicht nur von seinen ersten Erinnerungen an sich selbst bis zu der bedrohlichen Vorstellung, dass es einmal nicht mehr da sein wird. Es kennt weder Verpflichtungen aus der Vergangenheit noch aus der Zukunft. Seine Versuche, mehr zu erleben, enden oft damit, dass es weniger erlebt. Seine Freiheit beruht auf einem Schwund starker Bindungen. Wenn ich unseren Sohn abends in den Armen halte und seinen Schlaf spüre, kann ich die Verbundenheit des Lebens fühlen, die über mein Leben hinausgeht und alle menschlichen Gesetze und politischen Programme überdauert.

In der antiken Lebenswelt gab es ein Ritual, mit dem das Neugeborene in die Familie eingegliedert wurde. Die Hebamme legte den Säugling auf die Erde vor die Füße des Familienvaters. Dem pater familias kam eine Machtfülle zu, die das Leben seiner Frau, der Kinder und der Sklaven unter seine uneingeschränkte Verfügungsgewalt stellte. Diese patria potestas kommt auch in diesem Ritual zum Ausdruck, bei dem über das Leben des Neugeborenen entschieden wurde. Wenn der Säugling in die Familie aufgenommen werden sollte, hob der Vater das Kind auf, tollere infantem. Dieses Aufheben stellte zugleich ein Aufrichten dar und sollte das selbständige Gehen des Kindes vorwegnehmen. Ansonsten drohte dem Neugeborenen das grausame Schicksal der Aussetzung, meist aus Gründen der Armut. In dem Moment, in dem der Vater das Kind aufhob, erkannte er es als sein Kind an, unabhängig davon, ob es tatsächlich sein Kind war oder nicht. Auch wenn wir heute weit entfernt sind von dieser Welt, teilen wir doch den Umstand mit ihr, dass die Beziehung zwischen Eltern und Kindern nicht einfach gegeben ist, sondern hergestellt werden muss. Kinder sind angewiesen auf Bindungen, die verlässlich sind und denen sie vertrauen können. Da sie Schutz brauchen, lieben sie ihre Eltern selbst dann vorbehaltlos, wenn diese sie nicht zurücklieben können. Als unser Sohn auf meiner Brust lag, habe ich ihn aufgehoben und in die innerste Region meines Ichs aufgenommen.

Wenige Tage nach der Geburt habe ich bei meinem Arbeitgeber einen Antrag auf Elternzeit für anderthalb Jahre gestellt. Eigentlich wollten wir alles teilen, die Betreuung unseres Sohnes, die Hausarbeit und die Erwerbsarbeit. Aufgrund eines Angebots für eine neue berufliche Position, das meine Frau wenige Monate vor der Geburt bekommen hatte, kam es jedoch anders. Und ich fand mich als Hausmann wieder, meine Frau sich als Alleinverdienerin. Natürlich wusste ich nicht, worauf ich mich eingelassen hatte. Den ganzen Tag mit einem Baby oder Kleinkind zu verbringen, das vollends auf einen angewiesen ist, hinterlässt tiefe Spuren im psychischen Bau. Die Räume der Innerlichkeit schrumpfen. Das Gefühl für die eigene Geschichte lässt nach. Vergangenheit und Zukunft werden undeutlicher. In den ersten sechs Monaten haben meine Frau und ich versucht, möglichst viel gemeinsam zu machen. Danach ist meine Frau wieder in ihren Beruf zurückgekehrt, und ich habe die Tage allein mit unserem Sohn verbracht. In dieser Zeit kam mir alles sehr gegenwärtig vor. Im beruflichen Alltag gibt es Termine und Projekte, vieles wird über einen langen Zeitraum hin geplant. Jetzt gab es immer etwas zu tun, das keinen Aufschub duldete, das meine Absicht, was ich als Nächstes tun wollte, durchkreuzte. Ich konnte es mir nicht mehr leisten, nur meine eigene Perspektive zu haben. Manchmal kam es vor, dass ich von mir selbst in der dritten Person sprach, als wäre mir mein eigenes Ich abhandengekommen. Während sich die Stunden am Tag dehnten, wurden die Nächte kürzer. Unter der Woche stand ich nachts auf, an den Wochenenden meine Frau. An vielen Abenden war ich derart erschöpft, dass ich bei Licht einschlief. Das Buch, das ich lesen wollte, musste ich oft erneut auf der ersten Seite aufschlagen. Das Wichtigste war, am nächsten Tag wieder da sein zu können für unseren Sohn. Auch wenn die Tage fast immer voller Erlebnisse waren, fiel es mir schwer, abends meiner Frau davon zu berichten. Für vieles fehlte mir die Sprache, das meiste ließ sich lange nicht so spannend erzählen, wie ich es erlebt hatte. Jahrelang waren meine Rückblicke auf den Tag durch die berufliche Sicht geprägt. Nun musste ich erfahren, dass das Ich, das sich in der Welt behauptet, das bestätigt und anerkannt werden will, nur wenig mit einem Ich gemeinsam hat, das sich ganz der Sorge um ein Kind widmet.

Obwohl diese Erfahrung vor allem von Frauen seit vielen Generationen gemacht wird, kommt sie in den vorherrschenden Bildern, die wir von unserem Selbst haben, kaum vor. Wir haben Erlebnisse, treffen Entscheidungen, streiten uns, sind leidenschaftlich, wollen erfolgreich sein, verlieben uns, haben Freunde, sind enttäuscht und niedergeschlagen, aber die Sorge um ein Kind und die Bereitschaft, das eigene Wohl für ein anderes Wohl zurückzustellen, hat nur wenige Spuren in den Auffassungen darüber hinterlassen, was unser Selbst eigentlich ausmacht. Die überwiegend männlichen Autoren, die in den letzten Jahrhunderten die Räume unserer Innerlichkeit philosophisch erkundet haben, hatten in der Regel keine Erfahrung mit der Sorge um ein Kind. Und in den selteneren Fällen, in denen Frauen die Möglichkeit hatten, ihre Sicht philosophisch darzulegen, handelte es sich zumeist um Frauen, die selbst keine Kinder hatten. Das philosophische Vokabular, mit dem das moderne Ich erfasst wird, ist bis in unsere Gegenwart hinein weitgehend unberührt geblieben von den Bindungen zwischen Eltern und Kindern. Es ist viel über die Freiheit des Ichs geschrieben worden, über seine Fähigkeit, sich im Denken und Handeln selbst zu bestimmen, über sein Bedürfnis nach Anerkennung und sein Bestreben, sich selbst zu verwirklichen. Häufig steht die Selbstbeziehung im Vordergrund, die das Ich ausmacht, und die Frage, was diese für sein Tun, sein Erleben, sein Glück und seine Einsamkeit bedeutet. Obwohl die Familie im Leben der meisten Menschen eine bedeutende Rolle spielt, finden sich in der philosophischen Tradition nur wenige Betrachtungen, in denen die Familie und ihre Bindungen ein wesentliches Thema darstellen. Für die meisten Philosophen beginnt der Raum des intellektuellen Austauschs und der politischen Auseinandersetzung erst dort, wo die Familie aufhört.

Seit der antiken Philosophie wird der private Raum des Haushalts, oĩkos, streng unterschieden vom politischen Raum des Gemeinwesens, pólis. Das enge Zusammenleben in der Familie ist grundsätzlich anders als das Zusammensein vieler Einzelmenschen, für das in der europäischen Tradition der Begriff der Politik reserviert ist. Sich um jemanden zu kümmern, ob es nun Kinder, alte oder kranke Menschen sind, gehört dagegen traditionell zum Bereich der Familie. Fürsorglich zu sein gilt auch heute noch als eine private und überwiegend weibliche Tugend. Gegenwärtig werden in der Öffentlichkeit vor allem berufliche Leistungen prämiert. Die wichtigen Erfahrungen, die viele Frauen und Männer zu Hause mit ihren Kindern machen, bleiben meist auf den privaten Raum beschränkt. Dabei wird niemand bestreiten, dass es einen Unterschied ausmacht, ob Kinder in unserem Leben eine Rolle spielen oder nicht, ob wir mit alten Menschen zusammenwohnen oder nicht, ob wir uns um Kranke kümmern oder nicht, ob Menschen mit Behinderung in unserem Alltag präsent sind oder nicht. Manchmal stelle ich mir vor, wie sich unsere Welt verändern würde, wenn sich jeder eine Stunde am Tag um ein Kind, einen alten oder kranken Menschen kümmern würde, um jemanden, der auf unsere Hilfe angewiesen ist. Und ich bin der Meinung, das wäre nichts Geringeres als der Weg zu einer neuen Politik.

In den ersten Monaten, in denen ich die Tage allein mit unserem Sohn verbrachte, lernte er krabbeln. Fast täglich erweiterte er seinen Bereich und entdeckte mehr von unserer Welt. Ich ging die Wohnung nach möglichen Gefahren durch und befestigte alles, was sich festmachen ließ, und meine Frau brachte gepolsterten Schutz an Kanten und Ecken an. Langsam entwickelten wir einen gemeinsamen Rhythmus. Schlafen, Essen, Wickeln, Spielen. Wir gingen zum Krabbelkurs, zum Babyschwimmen, machten Einkäufe und Spaziergänge, besuchten andere Kinder und tanzten viel zusammen. Wenn er schlief, versuchte ich, so viel Hausarbeit wie möglich zu erledigen. Je mehr er von unserer Welt wahrnehmen konnte, desto besser gelang es mir, in sein Universum einzutauchen. Ein dichtes Universum aus Gerüchen, aus Lauten und Stimmen, aus Haut und Berührung, aus Tränen und Speichel, aus Hunger, Verdauung und vollem Lachen. Oft wird gesagt, dass Väter mit ihren Kindern erst etwas anfangen können, wenn sie zu sprechen gelernt haben. Während Frauen häufig auf ihre körperliche Nähe zum Kind festgelegt werden, wird Männern in der Regel die Rolle zugesprochen, dem Kind bei seinen ersten Schritten in die Welt jenseits des Hauses zu helfen. Väter toben mit ihren Kindern, schenken ihnen Abenteuer und bringen ihnen Fahrradfahren bei. Mütter kümmern sich um das Essen, kaufen die richtige Kleidung und waschen die Kinder, wenn sie sich schmutzig gemacht haben. Aus Sicht der klassischen Auffassung ist die Fürsorge weiblich und die Erziehung männlich. Obwohl meine Frau und ich von Anfang an versucht haben, uns möglichst gemeinsam um unseren Sohn zu kümmern, war es manchmal nicht einfach, die traditionellen Rollenmuster auszublenden. Den eingeübten Erwartungen, die an Väter und Mütter herangetragen werden, lässt sich kaum entkommen. Es ist leider immer noch so, dass nur wenige Väter eine längere Elternzeit nehmen und die Fürsorge in den ersten Jahren übernehmen. Für mich gehört das körperliche Zusammenleben mit unserem Sohn zu den prägendsten Erfahrungen, die ich bislang gemacht habe.

Die Familie stellt vermutlich die älteste Weise des menschlichen Zusammenlebens dar. Während heute damit meistens die Beziehung zwischen Eltern und Kindern gemeint ist, gehörten zur römischen familia nicht nur die Ehegatten und die Kinder, sondern auch die bereits verheirateten Söhne und deren Frauen und Kinder. Mit familia wurde nicht allein die besondere Beziehung untereinander bezeichnet, sondern vor allem das Zusammenleben in einem Haushalt, sodass neben Verwandten und Sklaven auch Tiere und Dinge darunter fallen konnten. Allgemein bestand die Familie in vormoderner Zeit selten nur aus dem, was wir heute als Kernfamilie begreifen. Oft umfasste sie mehrere Generationen und auch die verschiedenen Gehilfen und Diener, die einem gemeinsamen Haushalt angehörten. Trotzdem ist die Kernfamilie keine Erfindung der Moderne. Bereits in der antiken Lebenswelt wurde die Beziehung zwischen Eltern und Kindern als eine einzigartige Bindung aufgefasst. Häufig wird die Geschichte der Familie als eine Geschichte der Auflösung erzählt, die von der Großfamilie zur Kleinfamilie verläuft und an deren Ende vielleicht nicht einmal mehr die Einheit aus Vater, Mutter und Kind steht. Weltweit betrachtet, ist diese Beschreibung zwar unzutreffend. Aber zumindest in der westlichen Kultur hat die soziale und politische Bedeutung der Familie in den letzten beiden Jahrhunderten abgenommen. In dieser Zeit wurden familiäre Leistungen zunehmend durch staatliche ersetzt. Heute nehmen Kindertagesstätten und Altenpflegeheime Aufgaben wahr, die früher von der Familie bewältigt wurden. Die Ausweitung staatlicher Ordnung kann zur Schwächung der Familie beitragen. Umgekehrt kann der Verlust staatlicher Macht dazu führen, dass die familiäre Ordnung wieder wichtiger wird. Staat und Familie stehen, historisch gesehen, häufig in einer Spannung zueinander. Aber unabhängig davon, welche Formen die Familie bislang angenommen hat und noch annehmen wird, sie setzt stets die starke Bindung an ein Kind voraus.

Jede Beziehung bildet ein Wir aus, das sich gegenüber dem Ich und dem Du wie eine dritte Person verhält. Das gilt für jede Freundschaft und für jede Partnerschaft. Dieses Wir kann ein Eigenleben entfalten, das seine eigenen Bedürfnisse einfordert. Manchmal nötigt es und manchmal beschützt es die beiden, die sich aneinander gebunden haben. Man kann sich darauf berufen und in seinem Namen sprechen, wenn die Beziehung in eine Krise geraten ist. In der Ehe wird das Wir durch das Institut des Bundes verkörpert. Aber auch Freundschaften und Partnerschaften haben ihr rituelles Wir. Das Gleiche gilt für andere Gemeinschaften, die manchmal über viele Generationen hinweg gewachsen sind.

Seit unser Sohn auf der Welt ist und unser Wir zu einer Familie geworden ist, hat sich die Beziehung zwischen meiner Frau und mir grundlegend gewandelt. Ich wusste nicht, wie sehr man mitleiden kann, wenn das eigene Kind krank ist, und wie sehr man sich freuen kann, wenn es glücklich ist. In den ersten Monaten verbanden sich unsere Gefühle ganz mit der Sorge um unseren Sohn. Erst später kamen die Momente hinzu, in denen ich mir nicht mehr sicher war, ob ich die psychischen Regionen betreten wollte, in die mich unser neues Wir noch führen könnte. Ich habe zum ersten Mal verstanden, warum es Familiendramen geben kann. Die tiefe Abhängigkeit machte mich manchmal sehr aggressiv. Alles musste mehrmals ausbalanciert werden. Wer jeder für sich ist, wer wir zu zweit sind und wer wir als Familie sind. Das Zusammenleben mit Kindern kann aber auch komisch sein. Wochenlang saßen wir alle drei mit Lätzchen am Tisch, weil unser Sohn nicht einsehen wollte, dass nur er eins zu tragen hatte. Vieles geht einem sehr nahe, schlimme Geschichten, die man früher überhört hätte. Beim Anblick eines verwaisten Spielzeugs können einem die Tränen kommen. Zum ersten Mal als Papa oder Mama angesprochen zu werden, prägt sich tief in die seelischen Schichten ein. Eltern sind nicht bloß Erwachsene, die außerdem noch Kinder haben. Die Familie ist eine eigenständige Größe, eine Lebensform sui generis, die nicht zerteilt werden kann, nicht ohne Gewalt.