Zwangsstörungen verstehen und bewältigen - Susanne Fricke - E-Book

Zwangsstörungen verstehen und bewältigen E-Book

Susanne Fricke

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Beschreibung

Ca. 2 Millionen Menschen leiden an einer Zwangserkrankung – meistens nicht ein Leben lang, aber über viele Jahre. Sie müssen zwanghaft putzen, waschen, kontrollieren oder sammeln. Dieser Ratgeber beschreibt die Symptome der Zwangserkrankung und vermittelt praktisch, was man dagegen unternehmen kann. Die Autoren zeigen, wie leicht der Zwang sich als trickreicher Mitbewohner im eigenen Haus breit macht: Zunächst als nützlicher Ordnungshelfer hereingelassen, gewinnt er schnell die Überhand und diktiert das weitere Leben. Erklärt wird, wie Zwangserkrankungen entstehen und was sie am Leben erhält. Anschaulich und leicht verständlich vermitteln die Autoren Techniken, die in der Verhaltenstherapie erfolgreich angewandt werden und sehr gut zur Selbsthilfe genutzt werden können.

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Seitenzahl: 149

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Susanne Fricke und Iver Hand

Zwangsstörungen verstehen und bewältigen

Hilfe zur Selbsthilfe

BALANCE ratgeber

Susanne Fricke, Iver Hand:

Zwangsstörungen verstehen und bewältigen

7. Auflage 2013

ISBN-Print: 978-3-86739-001-9

ISBN-PDF: 978-3-86739-700-1

EPUB-PDF: 978-3-86739-800-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2007

Der Balance buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlages vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Originalausgabe: Psychiatrie Verlag, Bonn 2004

Umschlagkonzeption: GRAFIKSCHMITZ, Köln

unter Verwendung eines Fotos von artbox / www.photocase.de

Illustrationen: Claus Ast, Nierstein

Typografie und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

1 Was ist eine Zwangsstörung?

1.1 Wann spricht man von einer Zwangsstörung?

1.2 Welche Zwänge gibt es?

1.3 Wie kann man Zwangssymptome von normalem Verhalten unterscheiden?

1.4 Zwang, Magie und Religion

1.5 Wie kann man Zwänge von ähnlichen Krankheiten unterscheiden?

1.6 Noch mal das Wesentliche!

2 Wie entstehen Zwangsstörungen und was hält sie am Leben?

2.1 Wie entstehen Zwangsstörungen?

2.2 Wie bleiben Zwangsstörungen am Leben?

2.3 Was hilft, dem Zwang Widerstand entgegenzusetzen?

2.4 Noch mal das Wesentliche!

3 Werden Sie Ihr eigener Therapeut!

3.1 Feinanalyse: Zwänge unter der Lupe

3.2 Festlegen der Therapieziele

3.3 Start

3.4 Häufige Fragen und Schwierigkeiten und wie man damit umgeht

3.5 Noch mal das Wesentliche!

4 Partner und Familie einbeziehen

4.1 Zwänge als hartnäckige Mitbewohner

4.2 Wie Sie Ihre Schutzbausteine »Familie« und »Freunde« aktivieren können

4.3 Was Familie und Freunde tun können

5 Wenn man weitere Unterstützung braucht

5.1 Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen

5.2 Brainy – Unterstützung durch den Computer

5.3 Selbsthilfegruppen

5.4 Psychotherapie

5.5 Medikamentöse Behandlung

6 Ein paar Worte zum Schluss

Adressen

Literatur

Weitere Bücher

Einleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

lange Jahre galten Zwangserkrankungen als seltene Erkrankung, für die man keine wirksamen Behandlungsmöglichkeiten kannte. Beides stimmt heute nicht (mehr), wie viele Untersuchungen gezeigt haben. Zwangserkrankungen sind nicht selten, etwa 2 bis 3% der Menschen haben eine – nicht ihr ganzes Leben lang, aber über viele Jahre. In einem kleinen Dorf mit 1000 Einwohnern wären das schon 20 bis 30 Personen, in einer Millionenstadt etwa 20000 bis 30000 Menschen. Mittlerweile gibt es auch gute Behandlungsmöglichkeiten: psychotherapeutische, in erster Linie die Verhaltenstherapie, und medikamentöse.

Durch Aufklärungsarbeit, vor allem auch der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen, die Sie später noch kennen lernen werden, wissen viel mehr Menschen als früher, dass Zwänge eine Krankheit sind, gegen die man etwas unternehmen kann. Auch die Ausbildung von Psychologen und Ärzten im Bereich der Zwangserkrankungen hat sich deutlich verbessert.

Mit dem vorliegenden Buch möchten wir dazu beitragen, das Wissen über und die Behandlungsmöglichkeiten von Zwängen weiterzuverbreiten. Das Buch richtet sich vor allem an Betroffene, die wissen wollen, ob sie eine Zwangserkrankung haben und, wenn ja, was sie selbst dagegen machen können (Stichwort: Werden Sie Ihr eigener Therapeut!). Aber auch für Angehörige kann es zum Verständnis der Krankheit beitragen und den Umgang mit dem betroffenen Familienmitglied entsprechend erleichtern.

Das Buch ist vor allem als Hilfe zur Selbsthilfe gedacht. Sie können viele Techniken lernen, die die Verhaltenstherapie entwickelt hat. Wenn Sie merken, dass die Hilfe zur Selbsthilfe nicht ausreicht, so finden Sie in diesem Buch auch Informationen über weitere Behandlungsmöglichkeiten. Das, was Sie mit Hilfe dieses Buches gelernt und ausprobiert haben, kann in einer späteren Therapie für Sie und Ihren Therapeuten sehr hilfreich sein.

Das erfahren Sie in diesem Buch:

Was sind Zwangserkrankungen?Wie entstehen sie? Was hält sie am Leben?Wie kann man sich selbst helfen?Wie kann ich Familie und Freunde einbeziehen?Wo kann man Hilfe finden, wenn die Selbsthilfe nicht ausreicht?

Wir hoffen, dass Sie durch das Lesen dieses Buches nützliche Informationen und gute Anregungen bekommen, und wünschen Ihnen viel Erfolg beim Abbau Ihrer Zwänge und – vor allem – bei der Wiederherstellung eines aktiven Lebens mit Freude und Freunden!

SUSANNE FRICKE und IVER HAND

1Was ist eine Zwangsstörung?

Sie kennen sicher die Situation, dass Sie an einem Tag aus dem Haus gegangen sind und überlegen mussten: Habe ich die Tür abgeschlossen oder nicht? Eigentlich wissen Sie ganz genau, dass Sie abgeschlossen haben, aber zur Sicherheit kehren Sie noch einmal um und kontrollieren. Oder gehören Sie vielleicht zu den Leuten, die es gern sehr sauber haben? Bei denen man fast vom Fußboden essen kann, bei denen es immer aufgeräumt ist? Pingelig finden das manche Freunde. Andere beneiden Sie darum. Und kennen Sie nicht auch mindestens einen Menschen, der schlecht Dinge wegwerfen kann? Eine frühere Nachbarin zum Beispiel hatte fünf komplette Service. Sie benutzte immer ein Alltagsgeschirr und das gute weiße mit den zarten blauen Blumen nur, wenn Besuch kam. Der Schrank war voll bis oben hin mit Geschirr, das hässliche gelbe hatte sie ganz nach hinten gestellt. Aber wegschmeißen?! Nein, lieber nicht. Sie selbst sagte von sich: »Ich kann mich schwer von Sachen trennen.« Und wer hat nicht zumindest ein bisschen ein mulmiges Gefühl, wenn Freitag der 13. ist? Viele Menschen verschieben wichtige Dinge lieber auf einen anderen Tag, nach dem Motto: Eigentlich ist es Quatsch, aber es kann ja nicht schaden, wenn ich meinen Termin auf einen anderen Tag lege.

Das sind Beispiele aus dem Alltag, die fast alle von uns so oder ähnlich kennen. Man hat so seine Einstellungen und seine Gewohnheiten. Manchmal sind diese Gewohnheiten vielleicht ein bisschen übertrieben, »pingelig« oder auch »schrullig«. Manche Menschen bekommen ein bisschen »Angst« vor solchen Marotten, andere ärgern sich darüber oder machen sich über sich selbst lustig wie der Segelbootsbesitzer, der sein Boot »Freitag der Dreizehnte« nannte und den Rumpf auch noch schwarz anstrich. Aber meistens leiden diejenigen, die diese Angewohnheiten haben, nur wenig oder nur manchmal darunter. Beispiele für Zwänge sind diese Einstellungen und Gewohnheiten nicht.

Aber wann spricht man nun von einer Zwangsstörung? Diese und weitere Fragen sollen in den folgenden Abschnitten beantwortet werden:

Wann spricht man von einer Zwangsstörung? (1.1)Welche Zwänge gibt es? (1.2)Wie kann man Zwangssymptome von normalem Verhalten unterscheiden? (1.3)Zwang, Magie und Religion (1.4)Wie kann man Zwänge von ähnlichen Krankheiten unterscheiden? (1.5)Noch mal das Wesentliche! (1.6)

1.1Wann spricht man von einer Zwangsstörung?

Von einer Zwangserkrankung spricht man dann, wenn bestimmte Gedanken oder Handlungen nicht mehr eine lieb gewordene oder Sicherheit gebende Gewohnheit sind, sondern das Leben des Betroffenen und schließlich auch seiner Angehörigen immer mehr beeinträchtigen. Eine Zwangserkrankung kann aus Zwangsgedanken, Zwangshandlungen oder aus einer Mischung von beidem bestehen.

Zwangsgedanken sind Bilder, Gedanken oder Impulse, die immer wieder auftauchen. Sie lassen sich kaum ignorieren oder unterdrücken, sondern kommen Ihnen immer wieder spontan und gegen Ihren Willen in den Sinn. Ein wichtiges Merkmal von Zwangsgedanken ist, dass sie nicht Ihre wirkliche Meinung widerspiegeln. Sie erscheinen Ihnen fremd, Sie können sie sogar abscheulich oder abstoßend finden. Zwangsgedanken haben eine unangenehme Wirkung, sie können Angst oder Unbehagen, Anspannung oder auch Ekel bewirken.

Frau Andresen1 zum Beispiel litt unter den Zwangsgedanken, dass sie anderen einen Schaden zugefügt haben könnte. Wenn sie mit ihrer Familie beim Abendessen saß, drängte sich ihr plötzlich die Befürchtung auf, dass durch ihre Schuld Glassplitter ins Essen gekommen sein könnten und ihre Kinder davon krank werden oder sterben würden. Sie wusste einerseits, dass sie gut aufgepasst hatte, aber andererseits ließ sie diese Befürchtung nicht los. Den ganzen Abend nicht, obwohl Frau Andresen versuchte, sich durch Fernsehen abzulenken. Ihr Mann versuchte zwar immer, sie zu beruhigen, dass da keine Splitter im Essen waren, aber das nützte nichts. Sie war furchtbar angespannt, hatte Angst und konnte lange nicht einschlafen.

Neben den Zwangsgedanken von Frau Andresen gibt es noch viele andere Arten von Zwangsgedanken (s. Kap. 1.2). Die wichtigsten Merkmale von Zwangsgedanken können Sie noch mal im Kästchen nachlesen.

Merkmale von Zwangsgedanken

kommen immer wiedersind aufdringlich, lassen sich nicht unterdrückengeben nicht die eigene Meinung wieder, erscheinen persönlichkeitsfremd oder abscheulichmachen Angst, lösen Unbehagen, Anspannung, Ekel aus

Zwangshandlungen sind Verhaltensweisen, Handlungen oder auch Rituale, die Sie tun »müssen«, immer wieder und wieder. Sie fühlen sich gewissermaßen dazu gezwungen, obwohl Sie die Handlung im Nachhinein als übertrieben und sinnlos ansehen. Wenn Sie versuchen zu widerstehen, merken Sie, wie schwer das ist. Zwangshandlungen haben eine wichtige Funktion: Sie sollen Katastrophen verhindern und unangenehme Gefühle wie Angst, Ekel, Traurigkeit, Leere oder Schuldgefühle verringern. Hierzu wieder ein Beispiel:

Herr Braun war Angestellter bei einer Elektrofirma. Jeden Morgen, wenn er das Haus verließ, kontrollierte er, ob die Kaffeemaschine und der Herd ausgeschaltet waren, ob das Badezimmerfenster zu war, ob das Licht aus war und schließlich, ob er die Haustür ordentlich zugeschlossen hatte. Das ist doch vernünftig, könnte man denken. Ja, ist es an sich auch, aber bei Herrn Braun war die Kontrolle deutlich übertrieben. Das wusste er auch, aber er konnte trotzdem sein Verhalten nicht ändern. Er hatte irgendwie doch Angst, dass ein Feuer ausbricht, weil Geräte oder Lampen nicht ordentlich ausgeschaltet sind, dass ein Einbrecher durch das Badezimmerfenster oder die offene Haustür kommt und die Wohnung verwüstet. Und er wäre dann schuld daran. Er hatte ein genaues Ritual, dass er jeden Morgen auf die gleiche Weise ausführte. Bei der Kaffeemaschine zog er den Stecker raus. Er musste den Stecker dreimal anfassen und dann »Stecker ist draußen« sagen. Beim Herd musste er alle Schalter einzeln gründlich ansehen, dann jeden anfassen und »Aus« sagen. Dann musste er noch mal jeden Schalter einzeln und gründlich ansehen. Und das, obwohl der Herd morgens gar nicht benutzt worden war. So ging es weiter in der Wohnung und dann an der Haustür. Insgesamt brauchte Herr Braun über eine Stunde, bis er endlich fertig war. Er schimpfte mit sich, dass er so was Übertriebenes machen musste, aber er konnte nicht anders. Das Problem mit dem Kontrollieren hatte angefangen, als seine Frau einen neuen Job angenommen hatte. Seitdem musste sie morgens ganz früh aus dem Haus. Bei dem alten Job hatte sie immer erst um zehn Uhr angefangen. Wenn er um sieben Uhr aus dem Haus ging, hatte er gedacht: »Wenn ich die Kaffeemaschine nicht ordentlich ausgemacht habe, wird meine Frau das schon merken.«

Zwangshandlungen kann man weiter unterteilen in offene und verdeckte Zwangshandlungen. Die in dem Beispiel beschriebenen Kontrollzwänge sind offene Zwangshandlungen, d.h., jeder kann sie sehen. Verdeckte Zwangshandlungen sind dagegen nicht sichtbar. Bei Herrn Braun finden wir auch dafür ein Beispiel. Einmal war er morgens etwas zu spät aufgestanden, ausgerechnet an dem Tag, als er früh ein wichtiges Gespräch mit seinem Chef hatte. Er machte seine Kontrollrituale, aber etwas schneller als sonst. Als er in der S-Bahn saß, hatte er plötzlich Angst, dass er in der Eile etwas übersehen oder nicht gründlich genug gemacht haben könnte. Aber er konnte nicht umkehren, weil er nicht zu spät zur Besprechung kommen wollte. Er bekam immer mehr Angst. Was sollte er bloß machen? Schließlich ging er alles in Gedanken noch mal durch: Wie er erst in der Küche an der Kaffeemaschine stand, was er da genau gemacht hatte, wie er dann zum Herd ging usw. Weil er seine Kontrollen nicht tatsächlich durchführen konnte (= offene Zwangshandlungen), machte er sie in Gedanken (= verdeckte Zwangshandlungen). Neben diesen Zwangshandlungen, wie Herr Braun sie machen muss, gibt es noch viele andere Arten von Zwangshandlungen. Weitere Beispiele folgen in Kapitel 2.2. Die wichtigsten Merkmale von Zwangshandlungen können Sie noch mal im Kästchen nachlesen.

Merkmale von Zwangshandlungen

sinnlose oder übertriebene Verhaltensweisen, Handlungen, Ritualestarker innerer Druck, diese immer wieder ausführen zu müssensollen Katastrophen verhindern, unangenehme Gefühle wie Angst, Traurigkeit, Schuldgefühle und Unruhe verringernWiderstand dagegen ist schwer oder gar nicht möglich

Und was ist genau der Unterschied zwischen Zwangsgedanken und verdeckten Zwangshandlungen, werden Sie sich jetzt vielleicht fragen, beide sind doch Gedanken. Das stimmt. Doch sie unterscheiden sich in der Wirkung. Zwangsgedanken haben eine unangenehme Wirkung, sie verursachen zum Beispiel Angst, Ekel oder Anspannung. Zwangshandlungen dagegen – egal ob offen oder verdeckt – sind ein Bewältigungsversuch. Erinnern Sie sich: Herr Braun hatte Angst vor einer Katastrophe, und die Zwangshandlungen waren eine Hilfe gegen diese Angst. Mit seinen Kontrollen wollte er die Katastrophe verhindern. Die Ausführung der Rituale verringerte seine Angst, und nur in »Notsituationen« ersetzten die verdeckten Zwangshandlungen die offenen. In Kapitel 3 kommen wir auf dieses Thema wieder zurück, denn die Unterscheidung ist wichtig für die Therapie.

Die meisten Zwangserkrankten leiden übrigens unter einer Kombination von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Zwangssymptome sind sehr vielfältig. Am häufigsten kommen Wasch- und Kontrollzwänge vor. Es gibt aber auch viele andere Arten von Zwängen. Wie diese aussehen können, wollen wir Ihnen im nächsten Kapitel zeigen.

1.2Welche Zwänge gibt es?

Wasch- und Reinigungszwänge

Frau Clemens litt unter einem Wasch- und Reinigungszwang. Sie befürchtete, durch Verschmutzung und Keime krank zu werden. »Ansteckungsquellen« waren für sie Geld, Münzen und Scheine, weil diese von vielen Leuten berührt werden. Andere »Ansteckungsquellen« waren Gegenstände wie Türklinken in öffentlichen Gebäuden, Haltegriffe in der Straßenbahn usw. Einkaufen ging sie nur noch mit dünnen Handschuhen. Wenn jemand sie darauf ansprach, sagte sie, sie habe eine Nickelallergie. Wieder zu Hause warf sie die Handschuhe gleich in einen Eimer im Flur. Dann wusch sie sich intensiv die Hände. Danach wischte sie die eingekauften Sachen gründlich sauber, vorsichtshalber auch den Platz, an dem sie die Einkaufstüten beim Hereinkommen abgestellt hatte. Anschließend wusch sie sich noch mal die Hände, bis sie sich sauber fühlte. Sie wusste eigentlich, dass ihre Angst und ihre Vorsichtsmaßnahmen übertrieben sind, aber sie konnte sich nur schwer dagegen wehren. Wenn ihr Ehemann abends von der Arbeit kam, musste er sich gleich die Hände gründlich waschen, damit auch er die Keime und die Verschmutzung, die er von draußen mitgebracht hatte, nicht in der Wohnung verteilte. Er fand das zwar übertrieben, aber er wusste, wenn er es nicht machte, dann ginge es seiner Frau sehr schlecht, und der Abend wäre beiden verdorben. Deshalb gab er lieber nach und wusch sich gründlich, so wie sie es wünschte.

Herr Daniels litt ebenfalls unter einem Waschzwang. Im Unterschied zu Frau Clemens musste er aber nur seine Hände waschen, ganz lange, mit Seife. Das Händewaschen musste außerdem in einer ganz bestimmten Art und Weise erfolgen. Wenn er gestört wurde, musste er von vorn anfangen. Herr Daniels hatte keine Angst vor Keimen und Krankheiten, er ekelte sich vor bestimmten Leuten, die nicht so gepflegt aussahen. Wovor er sich genau ekelte, konnte er nicht sagen. Wenn er bei seiner Arbeit einem Kunden die Hand geben musste, was oft vorkam, hatte er den Drang, sich so bald wie möglich die Hände zu waschen. An schlimmen Tagen, wenn der Zwang besonders stark war, nahm er statt Seife ein Desinfektionsmittel. Er achtete übertrieben darauf, räumlichen Abstand zu anderen Menschen zu halten. Wenn andere diesen Abstand nicht respektierten, konnte er richtige Wutanfälle bekommen.

Frau Ebert hatte Angst, Fussel in ihrer Wohnung zu verteilen. Wenn sie aus dem Haus ging, zog sie immer einen Mantel an, damit wenigstens nur der Mantel Fussel bekam und die andere Kleidung geschützt blieb. Wenn sie zurück in die Wohnung kam, entfernte sie drei Stunden sichtbare und unsichtbare Fussel von dem Mantel. Da sie allein wohnte, bekam niemand etwas davon mit. War sie bei einer Veranstaltung, behielt sie ihren Mantel an, weil sie wusste, dass sie dann wenigstens nur den sauber machen musste. Auch noch die Kleidung darunter sauber machen zu müssen, das hätte sie zeitlich gar nicht geschafft. Sie wusste, dass ihr Verhalten übertrieben ist. Sie schämte sich dafür und erzählte auch keinem etwas davon. Besuch lud sie schon lange nicht mehr ein, weil der ja auch Fussel in die Wohnung tragen würde. Es war ganz schön anstrengend, immer Ausreden erfinden zu müssen.

Alle drei Personen leiden unter Wasch- und Reinigungszwängen. Aber Sie können hier schon sehen, wie vielfältig Zwänge sind. Bei jedem dieser Menschen sehen die Zwangsgedanken und Zwangshandlungen anders aus.

Im Folgenden haben wir für Sie nochmals häufige Zwangsgedanken und Zwangshandlungen bei Wasch- und Reinigungszwängen zusammengestellt.

Zwangsgedanken, die man häufig – aber nicht immer! – bei Wasch- und Reinigungszwängen findet

übertriebene Angst oder Ekel vor körperlichen Ausscheidungenübertriebene Angst oder Ekel vor Dreck, Bakterien oder Keimenübertriebene Angst, sich anzustecken und krank zu werden oder andere anzusteckenübertriebene Angst oder Ekel vor Umweltgiften oder Haushaltsreinigernübertriebene Angst oder Ekel vor bestimmten Personen

Zwangshandlungen bei Wasch- und Reinigungszwängen

übertriebenes Händewaschen, Duschen oder übertriebene Körperpflege – oft mit einem bestimmten Ritual verbundenübertriebene Gewohnheiten beim Toilettengangübertriebene Reinigung von Dingen im Haushalt

Kontrollzwänge

Herrn Braun mit dem Kontrollzwang haben Sie ja schon kennen gelernt. Sein Zwangsgedanke war die Befürchtung, dass etwas Schreckliches im Haus passieren könnte, für das er verantwortlich wäre. Deshalb kontrollierte er Elektrogeräte, Wasserhähne, Türen und Fenster, möglichst tatsächlich (= offene Zwangshandlungen), aber wenn es nicht anders ging, dann auch gedanklich (= verdeckte Zwangshandlungen). Es war ihm peinlich, so etwas machen zu müssen. Keiner wusste von seinem Problem, auch seine Frau nicht. Er hatte Angst, jemand könnte denken, er sei verrückt.

Auch von Frau Andresen haben Sie schon gelesen. Sie hatte immer den Zwangsgedanken, dass durch ihre Schuld Glassplitter ins Essen kommen könnten. Sie kontrollierte ständig ganz genau alle Glasflaschen, vor allem den Hals, ob nicht ein winziger Splitter abgegangen sein könnte, der jetzt im Essen ist. Für das Kontrollieren ging viel Zeit drauf. Vor einiger Zeit hatte sie eine gute Idee gehabt, wie sie ihre Angst bewältigen könnte: Sie kaufte Plastikflaschen und Trinkbecher aus Plastik. Aber das half nur einige Tage. Ihr kam nämlich plötzlich der Gedanke, dass ja auch von Tellern und Tassen winzige Splitter abspringen und ins Essen fallen könnten. Ihr Mann wurde langsam ungeduldig und sagte nun öfter in gereiztem Ton: »Quatsch, da ist doch nichts im Essen!« Das wusste sie auch, aber trotzdem hatte sie diese starken Ängste.