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Mit 79 Zeichnungen Was für eine Traumvorstellung: lange Ferien für alle! Aber die bunte Schülerschar, die sich an Bord eines gestrandeten Schiffes befand, muss jetzt ohne die Hilfe von Erwachsenen im Kampf ums Überleben die aufregendsten Abenteuer bestehen. Eine klassische Robinsonade mit wilden Tieren, Zivilisationsstreitigkeiten und dem Kampf gegen äußere Feinde. Ein etwas anderer Verne. Die Orthografie wurde der heutigen Schreibweise behutsam angeglichen. Null Papier Verlag
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Jules Verne
Zwei Jahre Ferien
Ausgabe in zwei Bänden
Jules Verne
Zwei Jahre Ferien
Ausgabe in zwei Bänden
(Deux ans de vacances)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020Übersetzung: Unbekannt, Jürgen Schulze EV: A. Hartleben, Pest, Leipzig, 1889 1. Auflage, ISBN 978-3-962817-87-9
null-papier.de/698
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Inhaltsverzeichnis
Jules Verne – Leben und Werk
Vorwort
Band 1
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Band 2
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Ein Nachwort
Danke, dass Sie dieses E-Book aus meinem Verlag erworben haben.
Jules Verne gehört zu den Autoren, die jeder schon einmal gelesen hat. Eine Behauptung, die man nicht über viele Schriftsteller aufstellen kann. Die Geschichten von Verne sind unterhaltend, lehrreich und immer sehr atmosphärisch.
In unregelmäßiger Folge wird mein Verlag die Werke von Verne veröffentlichen – die bekannten wie die unbekannten. Immer in der überarbeiteten Erstübersetzung, um den (sprachlichen) Charme der Zeit beizubehalten.
Korrigiert und kommentiert werden Orts- und Personennamen oder offensichtlich falsche Angaben. Sie finden die Erläuterungen in Fußnoten.
Ich habe es mir auch nicht nehmen lassen, die ursprünglichen Namen zu verwenden: Aus dem Johann wird so wieder der ursprüngliche Jean, aus Ludwig wieder Louis und aus Marianne wieder Marie. Ich denke, das tut den Geschichten nur gut.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr Jürgen Schulze
Reise um die Erde in 80 Tagen
Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer
Eine Idee des Doktor Ox
Eine Überwinterung im Eis
Schwarz-Indien – Oder: Die Stadt unter der Erde
Fünf Wochen im Ballon
Robur der Eroberer
Der Herr der Welt
Von der Erde zum Mond
Reise um den Mond
Die fünfhundert Millionen der Begum
Der Südstern
Das Karpatenschloss
Die Abenteuer des Kapitän Hatteras
Der Archipel in Flammen
Reise zum Mittelpunkt der Erde
Die Propeller-Insel
Zwei Jahre Ferien
Beinahe wäre Klein-Jules als Schiffsjunge nach Indien gefahren, hätte eine Laufbahn als Seemann eingeschlagen und später unterhaltsames Seemannsgarn gesponnen, das vermutlich nie die Druckerpresse erreicht hätte.
Jules Verne
Verliebt in die abenteuerliche Literatur
Glücklicherweise für uns Leser hindert man ihn daran: Der Elfjährige wird von Bord geholt und verlebt weiterhin eine behütete Kindheit vor bürgerlichem Hintergrund. Geboren am 8. Februar 1828 in Nantes, wächst Jules-Gabriel Verne in gut situierten Verhältnissen auf. Als ältester von fünf Sprösslingen soll er die väterliche Anwaltspraxis übernehmen, weshalb er ab 1846 in Paris Jura studiert.
Viel spannender findet er schon zu dieser Zeit allerdings die Literatur. Verne freundet sich sowohl mit Alexandre Dumas als auch mit seinem gleichnamigen Sohn an. Gemeinsam mit Vater Dumas verfasst er Opernlibretti und erste dramatische Werke. Nach dem Abschluss seines Studiums beschließt er, nicht nach Nantes zurückzukehren, sondern sich völlig der Dramatik zu widmen.
Zwar schreibt er nicht ganz erfolglos – drei seiner Erzählungen erscheinen in einer literarischen Zeitschrift. Doch zum Leben reicht es nicht, weshalb der junge Autor 1852 den Posten eines Intendanz-Sekretärs am Théâtre lyrique annimmt. Immerhin wird diese Arbeit zuverlässig vergütet und Verne darf sich als Dramatiker betätigen. In seiner Freizeit verfasst er weiterhin Erzählungen, wobei ihn abenteuerliche Reisen am meisten interessieren.
Als er 1857 eine Witwe heiratet, die zwei Töchter in die Ehe mitbringt, muss sich der Literat nach einer besser bezahlten Einkommensquelle umsehen. Während der nächsten zwei Jahre schlägt er sich als Börsenmakler durch, wobei er genug Zeit findet, längere Schiffsreisen zu unternehmen, bevor 1861 sein Sohn Michel geboren wird.
Verliebt ins literarische Abenteuer
Letztlich ist es einer besonderen Begegnung im Jahr 1862 geschuldet, dass alles, was der Autor bisher »geistig angesammelt« hat, in seinen künftigen Romanen kulminieren darf: Der Jugendbuch-Verleger Pierre-Jules Hetzel veröffentlicht Vernes utopischen Reiseroman »Fünf Wochen im Ballon«. Dieses von ihm ohnehin bevorzugte Sujet wird den Schriftsteller nie wieder loslassen – die abenteuerlichen Reisen, auf welcher Route auch immer sie absolviert werden. Hetzel verlegt Vernes noch heute beliebteste Schriften: 1864 »Reise zum Mittelpunkt der Erde«, im folgenden Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Reise um den Mond« und »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer«. Mit »Reise um die Erde in 80 Tagen« erscheint 1872 Jules Vernes erfolgreichster Roman überhaupt.
Die Zusammenarbeit mit Hetzel, der gleichzeitig als sein Mentor fungiert, sorgt in den späten 1860er Jahren dafür, dass der höchst produktive Schriftsteller seiner Familie einigen Wohlstand bieten und sich selbst »jugendtraumhafte« Reisewünsche erfüllen kann. Sein Verleger stellt ihn namhaften Wissenschaftlern vor – in Kombination mit den erwähnten Reisen entsteht auf diese Weise ein ungeheurer Fundus der Inspiration: Jules Vernes Zettelkasten enthält angeblich 25.000 Notizen!
Zwar ist er seit »Reise um den Mond« gleichermaßen wohlhabend und geachtet; er engagiert sich seit den späten 1880er Jahren sogar als Stadtrat in Amiens, wohin er 1871 mit seiner Familie übergesiedelt war. Der »Ritterschlag« aber bleibt aus: In der Académie française möchte man den Jugendbuchautor nicht haben, er gilt als nicht seriös genug.
Den Zenit seines Schaffens hat der Literat bereits überschritten, als er 1888 bleibende Verletzungen durch den Schusswaffen-Angriff eines geistesgestörten Verwandten davonträgt. Dennoch arbeitet der Autor ununterbrochen weiter. Als Jules Verne im März 1905 stirbt, hinterlässt er ein gewaltiges Gesamtwerk: 54 zu Lebzeiten erschienene Romane, weitere elf Manuskripte bearbeitet sein Sohn Michel nach dem Tod des Vaters. Ergänzt wird Vernes Œuvre durch Erzählungen, Bühnenstücke und geografische Veröffentlichungen.
Geliebt und missachtet
Jenes zwiespältige Verhältnis, das sich bereits in der Ablehnung der Akademiemitglieder äußert, kennzeichnet die akademische Rezeption bis heute: Jules Verne ist eben »nur ein Jugendbuchautor«. Weniger befangene Rezipienten freilich schreiben ihm eine ganz andere Bedeutung zu, die dem Visionär und leidenschaftlichen Erzähler besser gerecht wird.
Wenngleich der alternde Literat zum Ende seines Schaffens durchaus nicht mehr in gläubiger Technikbegeisterung aufgeht, bleiben uns doch genau jene Werke in liebevoller Erinnerung, in denen technische und menschliche Großtaten die Handlung bestimmen: »Reise um die Erde in 80 Tagen« oder »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer« beispielsweise. Wer als Kind von Nemo und seiner Nautilus liest, wird unweigerlich gefangen von diesem technischen Wunderwerk und dessen Kapitän. Vernes Romane gehören zu jenen Jugendbüchern, die man als Erwachsener gerne nochmals zur Hand nimmt – und man staunt erneut, erinnert sich, lässt sich wiederum einfangen und fragt sich, warum man eigentlich so selten Verne liest…
So wie der Autor sich selbst durch Reisen und Wissenschaft inspirieren lässt, dienen seine Werke seit jeher der Inspiration seiner Leserschaft. Wie präsent dieser exzellente Unterhalter in den Köpfen seiner Leser bleibt, belegen Benennungen in See- und Raumfahrt: Das erste Atom-U-Boot der Geschichte ist die amerikanische USS Nautilus. Ein Raumtransporter der Europäischen Raumfahrtagentur heißt »Jules Verne«, ein Asteroid und ein Mondkrater tragen ebenfalls den Namen des Schriftstellers. Die »Jules Verne Trophy« wird seit 1990 für die schnellste Weltumsegelung verliehen, was dem begeisterten Jachtbesitzer Verne gewiss gefallen hätte.
Der kommerzielle Literaturbetrieb sowie die Filmwirtschaft betrachten den französischen Vater der Science-Fiction-Literatur ebenfalls mit Wohlwollen: Unzählige Neuauflagen der Romanklassiker, Hörbücher und Verfilmungen der rasanten, stets mitreißenden Handlungen sprechen Bände. Mittlerweile gelten die ältesten Verfilmungen selbst als kulturelle Meilensteine, die keineswegs nur ein junges Publikum erfreuen.
Jules Vernes Bedeutung für die Literatur
Der Einfluss Vernes auf nachfolgende Science-Fiction-Autoren ist gar nicht hoch genug einzuschätzen: Aus heutiger Sicht ist er einer der Vorreiter der utopischen Literatur Europas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Welten«) und Kurd Laßwitz (»Auf zwei Planeten«) das neue Genre begründet. Seinerzeit gibt es diesen Begriff noch nicht, weshalb Hetzel die Romane seines Erfolgsschriftstellers als »Außergewöhnliche Reisen« vermarktet
Der Franzose sieht, anders als Wells und ähnlich wie Laßwitz, im technischen Fortschritt das künftige Wohl der Menschheit begründet. Trotzdem ist Jules Verne vor allem Erzähler: Er will weder warnen wie Wells noch belehren wie Laßwitz, sondern in erster Linie unterhalten. Im Vergleich zum spröden Realismus eines Wells wirken seine Romane für moderne Leser ausufernd, vielleicht sogar geschwätzig. Dennoch sind sie leichter zugänglich als das stilistisch ähnliche Schaffen des Deutschen Laßwitz, weil sie Utopie und Technikbegeisterung nicht zum Zweck ihres Inhalts machen, sondern lediglich zu dessen Träger: Schließlich ist es einfach aufregend, in einem Ballon eine Weltreise anzutreten oder Kapitän Nemo in sein geheimes Reich zu folgen.
Der Sturm. — Ein verirrter Schoner. — Vier Knaben auf dem Verdeck des »Sloughi«. — Das Focksegel in Stücken. — Im Innern der Yacht. — Der halberstickte Schiffsjunge. — Land in Sicht durch den Morgennebel. — Die Klippenbank.
———
In der Nacht des 9. März 1860 beschränkten die mit dem Meere fast zusammenfließenden Wolken die Sehweite bis auf wenige Fadenlängen.
Auf dem empörten Wasser, dessen Wogen, fahle Lichter werfend, einherstürmten, flog ein leichtes Fahrzeug fast segellos dahin.
Es war eine Yacht von hundert Tonnen — ein Schoner, mit welchem Namen man in England und Amerika solche Goeletten1 bezeichnet.
Dieser Schoner führte den Namen »Sloughi«; doch vergebens hätte man denselben am Achter des Fahrzeugs zu lesen gesucht, da die betreffende Tafelplanke durch irgendeinen Zufall — durch Anprall der Wogen oder Kollision — unter der Reling zum größten Teil abgesprengt war.
Es war jetzt um elf Uhr nachts. Unter den Breiten, wo sich das Schiff befand, sind die Nächte zu Anfang des März noch kurz. Das erste Tagesgrauen war etwa gegen fünf Uhr morgens zu erwarten. Doch verminderten sich damit, dass die Sonne den Weltraum erleuchtete, die Gefahren, welche den »Sloughi« bedrohten? Blieb das gebrechliche Fahrzeug nicht noch immer der Gnade der ungeheuren Wogen anheimgegeben? Unzweifelhaft; nur die Besänftigung der hohlen See, das Abflauen des wütenden Sturmes konnte dasselbe vor dem entsetzlichsten Schiffbruch bewahren, vor dem auf offenem Meere, fern von jedem Land, auf dem die Überlebenden vielleicht hätten Rettung finden können.
Auf dem Hinterteil des »Sloughi« standen drei Knaben, der eine im Alter von vierzehn, die beiden anderen in dem von dreizehn Jahren, und außerdem ein zwölfjähriger Schiffsjunge von Negereltern, am Steuerrad. Hier vereinigten sie ihre Kräfte, um den seitwärts anstürmenden Wellen, welche die Yacht querzulegen drohten, Widerstand zu leisten. Es war ein hartes Stück Arbeit, denn das trotz ihres Entgegenstemmens sich drehende Rad schien sie jeden Augenblick über die Schanzkleidung schleudern zu können. Kurz vor Mitternacht brach auch einmal eine solche Wassermasse über die Seite der Yacht herein, dass es ein Wunder zu nennen war, als das Steuer derselben noch glücklich standhielt.
Die Knaben wurden zwar von dem Stoße umgeworfen, konnten sich aber sofort wieder erheben.
»Gehorcht es noch dem Steuer, Briant?« fragte einer derselben.
»Ja, Gordon«, antwortete Briant, der seinen Platz schon wieder eingenommen und offenbar die gewohnte Kaltblütigkeit bewahrt hatte.
Darauf wandte er sich an den Dritten.
»Festhalten, Doniphan«, rief er, »und auf keinen Fall den Mut verlieren …! Es gilt, außer uns auch noch andere zu retten!«
Diese Worte wurden englisch gesprochen, doch verriet der Tonfall bei Briant die französische Abkunft.
Dieser kehrte sich nachher nach dem Schiffsjungen um.
»Du bist doch nicht verletzt, Moko?«
»Nein, Herr Briant«, erklärte der Gefragte. »Doch lassen Sie uns darauf achten, die Yacht gerade gegen die Wellen zu halten, sonst laufen wir Gefahr, versenkt zu werden!«
Eben wurde die Kappentür der nach dem Salon des Schoners hinabführenden Treppe hastig geöffnet.
»Briant …! Briant!« rief ein Kind von neun Jahren. »Was ist denn geschehen?«
»Nichts, Iverson, gar nichts«, erwiderte Briant. »Geh mit Dole wieder hinunter, aber recht schnell!«
»Ach, wir fürchten uns so sehr!« ließ sich das zweite, noch etwas jüngere Kind vernehmen.
»Und die anderen?« fragte Doniphan.
»Die anderen auch!« versicherte Dole.
»Nun geht nur alle hinunter«, ermahnte Briant. »Schließt euch fest ein, sucht eure Lagerstätten auf und macht die Augen zu, dann werdet ihr keine Furcht mehr spüren. Gefahr ist nicht vorhanden.«
»Achtung …! Wieder eine große Welle!« rief Moko.
Ein gewaltiger Anprall erschütterte das Hinterteil der Yacht. Diesmal schlug die See glücklicherweise nicht über, denn wenn das Wasser in größerer Menge durch die Treppentür gedrungen wäre, hätte sich die noch weiter belastete Yacht bei dem starken Seegang schwerlich wieder aufrichten können.
»Macht doch, dass ihr hineinkommt!« rief Gordon. »Hinunter, oder ihr bekommt’s mit mir zu tun!«
»Geht, geht hinunter, ihr Kleinen!« setzte Briant in freundlicherem Ton hinzu.
Die beiden Köpfe verschwanden gerade in dem Augenblick, wo ein anderer am Treppenausgang erscheinender Knabe fragte:
»Du bedarfst unser nicht, Briant?«
»Nein, Baxter«, antwortete dieser. »Du magst mit Cross, Webb, Service und Wilcox bei den Kleinen bleiben. Wir vier sind uns genug.«
Baxter schloss wieder sorgfältig die Tür.
»Die anderen fürchteten sich auch!« hatte Dole gesagt.
Aber befanden sich denn ausschließlich Kinder auf diesem vom Orkan verschlagenen Schoner? — Ja, nichts als Kinder. — Und wie viele waren es? — Fünfzehn, unter Einrechnung Gordons, Briants, Doniphans und des Schiffsjungen. — Durch welche Zufälligkeiten diese allein mit ihrem Schiff abgesegelt waren, werden wir später erfahren.
Und auf der Yacht befand sich kein erwachsener Mann? Kein Kapitän, um diese zu führen? Kein Seemann zur Bedienung des Segelwerkes und der Takelage?2 Kein Steuermann, um bei diesem Sturm das Steuer zu handhaben? — Nein, kein einziger!
Ebenso hätte keine lebende Seele an Bord genau angeben können, an welchem Ort auf dem Ozean der »Sloughi« sich befinde … Welcher Ozean war es überhaupt …? Der ausgedehnteste von allen, das Stille Weltmeer, das sich über 140 Längengrade von der Landmasse Australiens und den Küsten Neuseelands bis zur Küste von Südamerika erstreckt.
Was mochte hier vorgegangen sein? War die Besatzung des Schoners durch einen Unfall verungückt? Hatten malaiische Seeräuber sie entführt und an Bord die jungen Passagiere, deren ältester kaum vierzehn Jahre zählte, ihrem Schicksal überlassen? Eine Yacht von hundert Tonnen erfordert mindestens einen Kapitän, einen Obersteuermann3 und fünf bis sechs Leute, und von diesem zur Führung des Schiffes unentbehrlichen Personal war ein Schiffsjunge allein übrig …! Woher endlich kam dieser Schoner, aus welchem australischen Gebiet oder welchem ozeanischen Archipel? — Und wohin war er bestimmt? Auf diese Fragen, welche jeder Schiffer gestellt hätte, wenn ihm der »Sloughi« in diesen einsamen Meeresteilen begegnet wäre, würden die Kinder wohl haben Antwort geben können; es war jedoch weder ein Segel in Sicht noch einer jener transatlantischen Dampfer, deren Reiserouten sich auf den Meeren Ozeaniens kreuzen; ebensowenig eines der unter Segel oder Dampf laufenden Kauffahrteischiffe, welche Europa, wie Amerika, zu Hunderten nach den Häfen des Großen Ozeans entsendet. Doch hätte auch eines jener mächtigen Fahrzeuge, durch seine Dampfmaschine oder seine große Besegelung gegen den Sturm ankämpfend, sich in dieser Gegend gezeigt, so würde es doch nicht in der Lage gewesen sein, der von der rollenden See gleich einem Spielball umhergeworfenen Yacht Hilfe zu leisten.
Inzwischen wachten Briant und seine Gefährten so gut sie konnten darüber, dass der Schoner nicht nach der einen oder der anderen Seite abgedrängt wurde.
»Was tun wir nun …?« fragte da Doniphan.
»Alles, was uns mit Gottes Hilfe möglich sein wird, uns zu retten«, antwortete Briant.
In der Tat verdoppelte der Sturm jetzt seine Gewalt. Der Wind wehte »fuderweise«, wie die (französischen) Seeleute zu sagen pflegen, und wiederholt schien es, als müsse der »Sloughi« bei dem schauerlichen Unwetter in Trümmer gehen. Seit achtundvierzig Stunden redelos,4 der Großmast vier Fuß über den Deckbalken abgebrochen, hatte man kein Schönfahrsegel hissen können, um das Schiff sicherer zu regieren. Der nur seiner Oberbramstange beraubte Fockmast stand zwar vorläufig noch fest, doch war jede Minute zu befürchten, dass er, wenn die Wanten (Schiffsleitern) desselben rissen, sich auf das Deck herabsenken würde. Vorn flatterten und klatschten die Fetzen des kleinen Klüversegels so laut wie der Knall einer Feuerwaffe. Als einziges Segelwerk war nur das Focksegel übrig, welches aber ebenfalls zu zerreißen drohte, da die Knaben nicht Kraft genug hatten, durch ein eingezogenes Reff seine Oberfläche zu verkleinern. Kam es auch noch dazu, so konnte der Schoner nicht mehr im Strich des Windes gehalten werden; die Wogen rollten dann von der Seite her über ihn herein, brachten ihn zum Kentern und zum Sinken, und damit verschwanden seine Passagiere im schauerlichen Abgrund.
Und bisher war nach der offenen See zu keine Insel entdeckt worden, keine Linie festen Landes im Osten aufgetaucht! Sich mit einem Schiff auf den Strand zu setzen, ist ein entsetzliches Rettungsmittel, und doch würden diese Kinder es weniger gefürchtet haben als das Wüten des grenzenlosen Meeres. Jedes beliebige Ufer hätten sie trotz etwaiger Untiefen, Klippen, trotz des darauf stürmenden Wogenschwalles und der Brandung, welche unaufhörlich gegen die Felsmauern donnert, als winkende Rettung begrüßt, als festes Land unter den Füßen anstelle des Ozeans, der sie jeden Augenblick zu verschlingen drohte.
Auch nach einem Lichte, auf das sie hätten zusteuern können, spähten sie vergebens …
Kein freundlicher Schein durchdrang das tiefe Dunkel der Nacht.
»Der Fockmast ist gebrochen!« rief Doniphan.
»Nein; nur das Segeltuch hat sich von den Saumtauen losgerissen«, erklärte der Schiffsjunge.
»Wir müssen uns desselben entledigen«, meinte Briant. »Gordon, bleib du mit Doniphan am Rad, und du, Moko, hilfst mir!«
Wenn Moko als Schiffsjunge einige nautische Kenntnisse besitzen musste, so gingen diese auch Briant nicht vollständig ab. Da er auf seiner Fahrt von Europa nach Ozeanien den Atlantischen und den Stillen Ozean durchschifft, hatte er sich mit der Führung eines Schiffes einigermaßen vertraut gemacht. Das erklärt es, weshalb die anderen Knaben, welche davon gar nichts verstanden, Moko und ihm die Sorge, den Schoner zu führen, hatten überlassen müssen.
In einem Augenblick waren Briant und der Schiffsjunge unerschrocken nach dem Vorderteil der Yacht geeilt. Um deren Drehung zu verhüten, mussten sie dieselbe von dem Focksegel befreien, dessen unterer Teil eine Art Tasche bildete und durch Abfangen des Windes den Schoner so bedenklich nach seitwärts neigte, dass dieser fast die Wellenkämme berührte. Kam es aber erst soweit, so konnte dieser sich nicht wieder aufrichten, wenn nicht der Fockmast nach Sprengung seiner metallenen Puttings gekappt wurde; wie hätten Kinder das indes ausführen können?
Briant und Moko zeigten bemerkenswertes Geschick.
Unter diesen schwierigen Umständen bewiesen Briant und Moko eine wirklich erstaunliche Geschicklichkeit. In der Absicht, an Leinwand so viel wie möglich zu behalten, um den »Sloughi« während der Dauer des Sturmes vor dem Winde zu erhalten, bemühten sie sich — und zwar mit Erfolg — das Hisstau der Rah zu lösen, welche sich nun bis auf vier bis fünf Fuß über dem Deck herabsenkte. Nach Lostrennung einzelner Fetzen des Focksegels mittels Messer, wurden dessen untere Ecken durch einige Hilfsbrassen an den Pflöcken der Schanzkleidung befestigt, wobei die zwei mutigen Knaben freilich zwanzigmal in Gefahr kamen, von Sturzseen weggespült zu werden.
Unter dieser bis aufs äußerste verminderten Segelfläche konnte dem Schoner wenigstens die Richtung gesichert werden, die er jetzt schon lange Zeit einhielt. Schon der Druck des Windes an seinem Rumpf allein genügte übrigens, ihn mit der Schnelligkeit eines Torpedobootes dahinzujagen. Das war von Wichtigkeit, weil es darauf ankam, schneller als die nachrollenden Wogen fortzutreiben, um von zu schweren Sturzseen über Backbord frei zu bleiben.
Nach Durchführung ihrer Aufgabe kehrten Briant und Moko wieder zu Gordon und Doniphan zurück, um diese beim Steuern zu unterstützen.
Eben jetzt öffnete sich die Tür der Treppenkappe zum zweiten Mal. Ein Kind steckte den Kopf heraus. Es war Jacques, der um drei Jahre jüngere Bruder Briants.
»Was willst du, Jacques?« fragte ihn sein Bruder.
»Komm! Komm schnell!« erwiderte Jacques. »Im Salon steht Wasser!«
»Ist das möglich?« rief Briant erschreckt.
Eilenden Schrittes lief er nach der Kappe und sprang die Treppe hinunter.
Den Salon erleuchtete nur ganz notdürftig eine Hängelampe, welche bei dem Stampfen des Schiffes heftig schwankte. Beim Schein derselben erblickte man etwa zehn Kinder auf den Polsterbänken oder den Lagerstätten des »Sloughi«. Die kleinsten derselben — und es waren solche von acht bis neun Jahren darunter — hatten sich in ihrer Todesangst dicht aneinandergedrängt.
»Es ist keine Gefahr vorhanden!« rief ihnen Briant, der sie zunächst beruhigen wollte, zu. »Wir sind ja da! Fürchtet euch nicht!«
Darauf mit einer Signallaterne den Fußboden des Salons ableuchtend, musste er sich überzeugen, dass eine gewisse Menge Wasser in der Yacht von einem Bord zum anderen hin und wieder flutete.
Jetzt galt es festzustellen, woher dieses Wasser kam und ob es wohl gar durch einen Sprung in der Seitenwand eingedrungen war.
Vor dem Salon befand sich das große Zimmer und weiterhin der Speisesaal, dann die Wohnung und darüber das Wachhaus der Mannschaft.
Briant durchsuchte alle diese Räumlichkeiten.
Briant durchsuchte alle diese Räumlichkeiten und erkannte, dass das Wasser weder ober- noch unterhalb der Schwimmlinie eingedrungen sein könne. Dasselbe war vielmehr nur durch das Aufbäumen des Vorderstevens hierhergeschleudert worden und rührte von Spritzseen her, welche, über das Vorderteil schlagend, teilweise durch die zur Mannschaftswohnung führende Treppenkappe Eingang nach dem Innern gefunden hatten. Von dieser Seite drohte also keine eigentliche Gefahr.
Briant beruhigte seine Leidensgefährten, als er wieder durch den Salon kam, und nahm auch selbst mit größter Zuversicht seinen Platz am Steuerrad wieder ein. Der sehr solide gebaute und erst unlängst frisch gekupferte Schoner zog kein Wasser und versprach auch dem Anprall der Wogen Widerstand zu leisten.
Es war jetzt ein Uhr nachts, und während schwere Wolken die Dunkelheit noch verschlimmerten, entfesselte sich der Orkan zur schlimmsten Wut. Die Yacht flog dahin, als wäre sie völlig in Wasser eingetaucht. Scharf drang dann und wann der Schrei eines Sturmvogels durch die Luft. Von deren Erscheinen konnte man jedoch keineswegs auf die Nähe eines Landes schließen, denn man begegnet denselben oft mehrere hundert Seemeilen von der nächsten Küste. Übrigens außerstande, gegen den Sturm aufzukommen, folgten die Vögel diesem vielmehr ebenso wie der Schoner, dessen Schnelligkeit keine menschliche Kraft zu hemmen vermocht hätte.
Eine Stunde später hörte man an Bord wieder etwas zerreißen. Der Rest des Focksegels war in Stücke gegangen und die Leinwandfetzen flatterten gleich riesigen Möwen durch die Luft.
»Nun haben wir kein Segel mehr«, rief Doniphan, »und ein anderes zu setzen ist ganz unmöglich.«
»Tut nichts!« antwortete Briant. »Verlass dich darauf, dass wir doch noch ebenso schnell vorwärts kommen.«
»Eine schöne Antwort!« erwiderte Doniphan. »Wenn das deine Art und Weise zu manövrieren ist …«
»Achtung auf die Wellen von rückwärts!« unterbrach ihn Moko. »Festgehalten oder wir werden weggeschwemmt …«
Er hatte den Satz kaum beendet, als mehrere Tonnen Wasser über das Backbord hereinstürzten. Briant, Doniphan und Gordon wurden gegen die Treppenkappe geschleudert, wo sie sich zum Glück noch anklammern konnten. Der Schiffsjunge dagegen war verschwunden mit der Wassermasse, welche sich in brodelndem Schwall von hinten nach vorne über den »Sloughi« ergoss und dabei einen Teil des Mastwerkes, die beiden Boote und die Jolle — obwohl diese ganz hereingeholt waren — sowie mehrere Schiffsbalken und das Kompasshäuschen mit fortriss. Da jedoch gleichzeitig die Schanzkleidung streckenweise zerstört war, konnte das Wasser schnell wieder abfließen, was die Yacht vor dem Untergange durch diese ungeheure Überlastung bewahrte.
»Moko …! Moko!« rief Briant, sobald er wieder ein Wort sprechen konnte.
»Ist er etwa ins Meer geschleudert worden?« fragte Doniphan.
»Nein; doch man sieht und hört nichts von ihm«, erklärte Gordon, der sich über die Reling hinausgebeugt hatte.
»Wir müssen ihn retten — ihm eine Rettungsboje oder Stricke zuwerfen!« antwortete Briant.
Und mit lauter Stimme, welche während einiger ruhigerer Sekunden kräftig widerhallte, rief er noch einmal:
»Moko …! Moko.«
»Hierher …! Zu Hilfe!« erklang die Antwort des kleinen Negers.
»Er liegt nicht im Meer«, sagte Gordon. »Seine Stimme kommt vom Vorderteil des Schoners her.«
»Ich werde ihn retten!« rief Briant.
Sofort tastete er sich über das Deck hin unter steter Vorsicht, den Blöcken und Rollen auszuweichen, welche lose an den herabgelassenen Rahen5 hingen, und sich festklammernd, um bei den Bewegungen des Schiffes auf dem schlüpfrigen Verdeck nicht umgeworfen zu werden.
Noch einmal hörte er die Stimme des Jungen, dann war alles still.
Mit größter Anstrengung war es Briant gelungen, die Treppenkappe des Volkslogis zu erreichen.
Er rief laut …
Keine Antwort.
War Moko etwa durch eine neue heftige Schiffsbewegung über Bord geschleudert worden, nachdem er den letzten Schrei ausgestoßen? In diesem Fall musste der unglückliche Bursche schon weit von ihnen, weit hinter dem Winde treiben, denn die Wellenbewegung konnte ihn nicht mit gleicher Schnelligkeit wie der Sturm den Schoner mit fortgetragen haben; dann war er verloren …
Nein; eben drang wieder ein schwacher Hilferuf bis zu Briant, der nach dem Gangspill6 eilte, in dessen Fuß das Ende des Bugspriets eingelassen war. Hier fand er einen sich umherwindenden Körper.
Der Schiffsjunge war es, halb eingeklemmt zwischen die an der Spitze zusammenlaufende Schanzkleidung. Ein Hisstau, das er mit aller Kraft von sich abzudrängen suchte, schnürte ihm den Hals zu. Erst zurückgehalten durch dieses Hisstau, als die gewaltige Woge ihn wegspülte, war er jetzt nahe daran, durch dasselbe erwürgt zu werden.
Briant riss sein Messer heraus, und nicht ohne Mühe gelang es ihm, das Hanftau, welches den Schiffsjungen festhielt, zu durchschneiden.
Moko wurde nach dem Hinterteil zurückgeführt.
»Danke, Herr Briant, danke!« sagte er, sobald er die Sprache wiedererlangt hatte.
Dann nahm er seinen Platz am Steuerrad wieder ein, und alle vier banden sich fest, um gegen die Wasserberge, welche sich hinter dem »Sloughi« auftürmten, gesichert zu sein.
Entgegen der Annahme Briants hatte sich die Geschwindigkeit der Yacht doch etwas vermindert, seitdem vom Focksegel gar nichts mehr übrig war — und darin lag eine neue Gefahr. Die jetzt schneller als jene laufenden Wellenberge konnten über das Hinterteil hereinbrechen und sie mit Wasser anfüllen. Doch war dagegen nichts zu tun und jedenfalls an das Aufhissen eines Segels gar nicht zu denken.
Auf der südlichen Halbkugel der Erde entspricht der März dem Monat September auf der nördlichen, und die Nächte sind noch nicht zu lang. Da es jetzt um die vierte Morgenstunde war, konnte es nicht mehr lange währen, bis der Horizont im Osten, also in der Richtung, nach der der »Sloughi« getrieben wurde, sich aufhellen musste. Vielleicht nahm die Gewalt des Sturmes mit anbrechendem Tage etwas ab. Vielleicht kam auch ein Land in Sicht und das Los dieser Kindergesellschaft entschied sich binnen wenigen Minuten. Wir werden das erfahren, wenn das Morgenrot erst die Tiefen des Himmels färbt.
Gegen viereinhalb Uhr glitt ein schwacher Lichtschein bis zum Zenit empor. Unglücklicherweise beschränkte der Dunst in der Luft den Gesichtskreis auf kaum eine Viertelmeile. Man fühlte es fast, dass die Wolken mit ungeheurer Schnelligkeit dahineilten. Der Orkan hatte nichts an Kraft verloren, und weit hinaus verschwand das Meer unter dem Schaum der sich überstürzenden Wogenkämme. Kam der Schoner in horizontale Lage mit diesen, so wäre er, der jetzt einmal auf dem Scheitel einer Welle tanzte und dann in das Tal derselben hinuntergestürzt wurde, wohl zwanzigmal gekentert.
Die vier Knaben betrachteten unverwandt das Chaos der durcheinander wirbelnden Fluten. Sie ahnten wohl, dass ihre Lage, wenn das Meer sich nicht bald beruhigte, eine verzweifelte werden musste. Nimmermehr hätte der »Sloughi« noch weitere vierundzwanzig Stunden dem Anprall der Wogen, welche zuletzt doch die Treppenkappen wegreißen mussten, Widerstand leisten können.
Da ertönte aufs neue Mokos Stimme:
»Land!« rief er jubelnd. »Land!«
Durch einen Nebelspalt glaubte der Schiffsjunge vor ihnen im Osten die Umrisse einer Küste erkannt zu haben. Täuschte er sich nicht? Es ist oft gar so schwer, die schwachen Linien eines Landes zu unterscheiden, wenn von fern gesehen die Wolkenschichten unmittelbar darauf lagern.
»Ein Land.« … hatte Briant geantwortet.
»Ja«, versicherte Moko, »… ein Land … dort im Osten!«
Er wies dabei nach einem Punkt am Horizont, den jetzt schon wieder wallende Nebelmassen verhüllten.
»Bist du deiner Sache sicher …?« fragte Doniphan.
»Ja …! Ja …! Ganz sicher«, behauptete der kleine Neger. »Wenn der Nebel wieder einmal zerreißt, so seht nur scharf dorthin, etwas nach rechts vom Fockmast … da … Achtung … da unten …!«
Die sich eben öffnenden Nebelmassen lösten sich allmählich von der Meeresfläche, um nach höheren Zonen aufzusteigen. Einige Augenblicke später war der Ozean auf die Strecke von mehreren Seemeilen vor der Yacht klar zu übersehen.
»Ja … Land …! Das ist Land …!« rief Briant.
»Und ein sehr niedriges Land!« setzte Gordon hinzu, der die gemeldete Küste schärfer ins Auge gefasst hatte.
Jetzt konnte kein Zweifel mehr aufkommen. Auf einer breiten Strecke des Horizontes zeichnete sich Land, ein Kontinent oder eine Insel, in deutlicher Linie ab. Dasselbe mochte fünf bis sechs Seemeilen von hier entfernt sein. Bei der Richtung, der er folgte und aus der abzuweichen der Sturm ihm gar nicht erlaubte, musste der »Sloughi« binnen einer Stunde unbedingt auf dasselbe geworfen werden. Dabei war freilich zu befürchten, dass er zertrümmert wurde, vorzüglich wenn ihn Klippen aufhielten, bevor er den eigentlichen Strand erreichte.
Hieran dachten die Knaben jedoch gar nicht. In dem Lande, welches so unerwartet sich ihren Blicken darbot, sahen sie nur das Heil, die winkende Rettung.
In diesem Augenblick begann der Wind wieder stärker zu wehen. Wie eine Feder davongetragen, stürmte der »Sloughi« auf die Küste zu, welche sich scharf wie ein Tintenstrich vom weißlichen Grund des Himmels abhob. Hinter dem Strand erhob sich nämlich ein höheres Uferland, das aber nicht mehr als hundertfünfzig bis zweihundert Fuß aufsteigen mochte. Vor ihm dehnte sich ein gelblicher Strand aus, zur Rechten eingerahmt von abgerundeten Massen, welche einem Wald im Innern anzugehören schienen.
Oh, wenn der »Sloughi« dieses sandige Vorland erreichen konnte, ohne auf eine Klippenreihe zu stoßen, wenn die Mündung eines Flusses ihm Zuflucht bot — dann, ja dann konnten seine jungen Passagiere noch heil und gesund davonkommen!
Während Doniphan, Gordon und Moko am Steuer blieben, hatte Briant sich nach dem Vorderdeck begeben und betrachtete das sich sichtlich nähernde Land; so schnell schossen sie dahin. Vergebens suchte er aber eine Stelle, wo die Yacht hätte unter günstigen Bedingungen anlaufen können. Hier zeigte sich weder die Mündung eines Flusses oder Baches, noch selbst ein flach ins Meer abfallender sandiger Strand, auf dem man mit einem Stoße festfahren konnte. Vor dem Strand hin nämlich streckte sich eine Reihe von Klippen, deren schwärzliche Häupter bei den auf und ab schwankenden Wogen auftauchten und wieder verschwanden und an welchen das Wasser fortwährend schäumend brandete. Hier musste der »Sloughi« beim ersten Stoß in Stücke gehen.
Briant sagte sich da, dass es besser sei, im Augenblick der Strandung alle seine Kameraden auf dem Deck zu haben. Er öffnete also die Tür der Kappe und rief hinunter:
»Alle, alle herauf!«
Sofort kam ein Hund herausgesprungen und ihm folgten zehn Kinder, die sich nach dem Hinterteil der Yacht drängten. Die kleinsten stießen beim Anblick der bergehohen Wellen ein entsetzliches Angstgeschrei aus.
Kurz vor sechs Uhr morgens war der »Sloughi« bis an den Rand des Klippengürtels herangekommen.
»Jetzt festhalten!« rief Briant. »Tüchtig festhalten!«
Die Kleider halb abgelegt, hielt er sich bereit, denen zu Hilfe zu springen, welche der Wogenschlag etwa fortriss, denn sicherlich wurde die Yacht über die Klippen hingewälzt.
Da machte sich ein erster Stoß fühlbar. Der »Sloughi« stampfte mit seinem Hinterteil auf einen Felsen, aber trotz der gewaltigen Erschütterung des ganzen Schiffsrumpfes drang doch kein Wasser durch dessen Plankenwand.
Von einer zweiten Welle gehoben, wurde er gegen fünfzig Fuß weiter getragen, diesmal ohne die Klippen zu streifen, welche an unzähligen Stellen emporstarrten. Endlich blieb er, nach Backbord geneigt, inmitten der kochenden Brandung liegen.
Wenn auch nicht im offenen Meer, so befand er sich doch noch eine Viertelmeile vom Strand entfernt.
Schoner-Segelschiff mit zwei Masten, von denen der hintere höher als der vordere ist. <<<
Die Takelage eines Schiffes umfasst alles für die Bemastung sowie die Besegelung erforderliche Tauwerk nebst Befestigungen. <<<
Der erste Steuermann auf großen Segelschiffen, in der Marine ein Deckoffizier. <<<
machtlos <<<
waagerechte Stangen am Mast, an denen die Segel befestigt sind <<<
Spill mit senkrechter Welle, in dessen Kopf Speichen eingesetzt werden, die von den Matrosen im Rundgang herumgedreht werden, um (Anker)ketten auf- und abzuwinden <<<
In der Brandung. — Briant und Doniphan. — Die Küste. — Vorbereitungen zur Rettung. — Das umstrittene Boot. — Von der Höhe des Fockmastes. — Ein mutiges Unternehmen Briants. — Eine Folge der Springflut.
———
Die von der Nebelwand befreite Atmosphäre gestattete jetzt einen weiten Ausblick rings um den Schoner. Die Wolken flogen noch immer mit rasender Schnelligkeit am Himmel hin, der Sturm hatte noch immer nicht ausgewütet. Vielleicht peitschte er dieses unbekannte Gebiet des Stillen Ozeans aber doch nur mit seinen letzten Ausläufern.
Das war mindestens höchst wünschenswert, denn die Lage des »Sloughi« war jetzt nicht minder beängstigend als in der Nacht, wo er gegen das empörte Meer ankämpfte. Eines sich an das andere schmiegend, mussten diese Kinder sich verloren glauben, wenn eine Woge über die Schanzkleidung schlug und sie alle mit Schaum bedeckte. Die Stöße waren jetzt desto härter, da der Schoner denselben nicht frei nachgeben konnte. Jedenfalls erzitterte er bei jedem Anprall bis in alle Rippen und doch schien es nicht, als ob seine Wand geborsten wäre, weder als er den Rand der Klippen streifte, noch als er sich zwischen den Köpfen der Klippen sozusagen festkeilte. Briant und Gordon, die nach den unteren Räumen gegangen waren, überzeugten sich wenigstens, dass noch kein Wasser in den Rumpf eindrang.
Sie beruhigten in dieser Hinsicht nach Möglichkeit ihre Kameraden, vorzüglich die kleinsten derselben.
»Habt nur keine Angst …!« wiederholte Briant immer wieder. »Die Yacht ist fest gebaut …! Der Strand ist nicht mehr fern …! Wartet nur, wir werden den Strand schon erreichen!«
»Und warum sollen wir warten?« fragte Doniphan.
Doniphan
»Ja … Warum denn …?« setzte ein anderer, zwölfjähriger Knabe, Wilcox mit Namen, hinzu. »Doniphan hat recht. Warum denn warten?«
»Weil der Seegang noch zu schwer ist und uns auf die Felsen schleudern würde«, erwiderte Briant.
»Und wenn die Yacht nun in Stücke geht …?« rief ein dritter Knabe, namens Webb, der mit Wilcox etwa gleichaltrig war.
»Ich glaube nicht, dass das zu befürchten ist«, antwortete Briant, »mindestens nicht mehr, wenn die Ebbe eintritt. Sobald das Wasser sich soweit zurückgezogen hat, wie der Sturm das zulässt, werden wir an unsere Rettung gehen!«
Briant hatte völlig recht. Obwohl die Gezeiten im Stillen Ozean verhältnismäßig schwach auftreten, so können sie doch zwischen Flut und Ebbe eine nicht unbeträchtliche Verschiedenheit des Wasserstandes hervorbringen. Es war also von Vorteil, einige Stunden zu warten, zumal wenn dann auch der Wind abflaute. Vielleicht legte die Ebbe einen Teil der Klippen trocken; dann war es leichter, den Schoner zu verlassen und die letzte Viertelmeile bis zum Strand zu überwinden.
So vernünftig dieser Rat indes erschien, zeigten sich Doniphan und zwei oder drei andere doch gar nicht geneigt, demselben Folge zu geben. Sie traten auf dem Vorderdeck zusammen und sprachen gedämpften Tones miteinander. Es trat schon klar zutage, dass Doniphan, Wilcox, Webb und ein anderer Knabe, namens Cross, keine Lust hatten, sich mit Briant zu verständigen. Während der langen Fahrt des »Sloughi« leisteten sie ihm noch Gehorsam, weil Briant, wie erwähnt, einige seemännische Erfahrung besaß. Sie hegten dabei aber stets den Gedanken, sofort nach dem Wiederbetreten eines Landes sich ihre Freiheit des Handelns zu wahren — vor allen Doniphan, der sich durch genossenen Unterricht und natürliche Veranlagung sowohl Briant wie allen seinen Kameraden überlegen dünkte. Diese Eifersucht Doniphans gegen Briant bestand übrigens schon seit langer Zeit, und schon weil letzterer von Geburt Franzose war, empfanden junge Engländer wenig Neigung, sich seiner Oberherrschaft zu fügen.
Es lag also die Befürchtung nahe, dass diese Umstände den Ernst der ohnehin beunruhigenden Lage noch verschlimmern könnten.
Inzwischen betrachteten Doniphan, Wilcox, Cross und Webb das schäumende, von Wirbeln aufgeregte und von Strömungen hingerissene Wasser, welches freilich schwer zu überwinden schien. Der geübteste Schwimmer hätte der Brandung des zurücksinkenden Meeres, welches der Sturm von rückwärts packte, nicht zu widerstehen vermocht. Der Ratschlag, einige Stunden zu warten, rechtfertigte sich also von selbst. Doniphan und seine Kameraden mussten das endlich einsehen, und so kehrten sie wieder nach dem Hinterdeck zurück, wo die Kleinen sich aufhielten.
Da sagte Briant zu Gordon und einigen anderen, die ihn umstanden:
»Wir dürfen uns auf keinen Fall trennen …! Bleiben wir zusammen, oder wir sind verloren!«
»Du nimmst dir doch nicht heraus, uns Vorschriften machen zu wollen?« rief Doniphan, der jene Worte verstanden hatte.
»Ich nehme mir gar nichts heraus«, antwortete Briant, »und verlange nichts, als dass wir zum Heile aller vereinigt handeln.«
»Briant hat recht«, erklärte Gordon, ein ernster, schweigsamer Knabe, der nie sprach, ohne seine Worte reiflich erwogen zu haben.
»Ja …! Ja …!« riefen einzelne der Kleinen, welche eine Art geheimer Instinkt trieb, sich an Briant anzuschließen.
Doniphan erwiderte nichts mehr; doch er und seine Kameraden hielten sich abseits in Erwartung der Stunde, wo zur Rettung geschritten werden sollte.
Doch welches Land lag eigentlich vor ihnen? Gehörte es zu einer der Inseln des Stillen Ozeans oder zu einem Festland? Diese Frage musste vorläufig offenbleiben, da der »Sloughi« sich viel zu nahe dem Ufer befand, um einen hinreichenden Gesichtskreis überblicken zu können. Seine hohle, eine geräumige Bucht bildende Masse lief in zwei Vorgebirge aus — das eine ziemlich hoch und nach Norden zu scharf abgeschnitten, das andere in einer nach Süden vorgestreckten Spitze endigend. Vergebens suchte aber Briant mit einem der an Bord befindlichen Fernrohre zu erkennen, ob das Meer jenseits dieser Vorberge die Uferlinien einer Insel badete.
Im Fall dieses Land nämlich eine Insel war, entstand die ernste Frage, wie man diese wieder verlassen könne, wenn es sich als unmöglich erwies, den Schoner wieder flottzumachen, den die nächste Flut schon dadurch, dass sie ihn auf den Klippen hin und her warf, elend zertrümmern musste. Und war diese Insel obendrein unbewohnt — solche gibt es im Stillen Ozean gar viele —, wie sollten auf sich selbst angewiesene Kinder, die nichts besaßen, als was ihnen vielleicht von den Vorräten der Yacht zu bergen gelang, sich die notwendigsten Lebensbedürfnisse verschaffen?
Auf festem Land dagegen hätte sich die Aussicht auf Rettung entschieden verbessert, weil dieses Festland kein anderes als Südamerika sein konnte. Da mussten sie, auf dem Gebiet von Chile oder Bolivien, jedenfalls Hilfe finden und wenn auch nicht sofort, so doch wenige Tage nach stattgehabter Landung. Freilich waren auf diesen Nachbargebieten der Pampas mancherlei schlimme Begegnungen zu fürchten — jetzt handelte es sich aber einzig darum, überhaupt erst das Land zu erreichen.
Die Witterung war jetzt klar genug geworden, um alle Einzelheiten desselben zu erkennen, und deutlich unterschied man das Vorland des Strandes, das hohe, diesen im Hintergrund einrahmende Ufer, nebst verschiedenen, auf letzterem zerstreuten Baumgruppen. Briant erkannte sogar die Mündung eines Rio rechts am Ufer.
Wenn der Anblick dieser Küste auch nichts besonders Anziehendes bot, so wies doch der grüne Vorhang derselben auf eine gewisse Fruchtbarkeit hin, welche der der Länder unter mittlerer Breite zu entsprechen schien. Voraussichtlich zeigte die Vegetation jenseits der Uferhöhe, wo sie Schutz vor den Seewinden und gewiss noch günstigeren Boden fand, eher eine üppige Entwicklung.
Bewohnt schien der sichtbare Teil des Ufers nicht zu sein, wenigstens bemerkte man hier kein Haus und keine Hütte, nicht einmal an der Mündung des Rios. Vielleicht wohnten die Eingeborenen, wenn es solche gab, mit Vorliebe mehr im Innern des Landes, wo sie dem heftigen Ansturm des Westwindes am wenigstens ausgesetzt waren.
»Ich kann nicht den geringsten Rauch entdecken«, sagte Briant, das Fernrohr senkend.
»Und am Strand befindet sich kein einziges Boot«, bemerkte Moko.
»Wie sollte das der Fall sein, da hier kein Hafen vorhanden ist …?« warf Doniphan ein.
»Ein Hafen ist dazu nicht gerade notwendig«, erwiderte Gordon. »Einfache Fischerboote können auch in einer Flussmündung Schutz finden, und es wäre möglich, dass diese des Sturmes wegen sich hätten weiter landeinwärts zurückziehen müssen.«
Gordons Bemerkung war ganz richtig. Mochte es nun diesen oder jenen Grund haben, jedenfalls war nirgends ein Boot wahrzunehmen, und in der Tat schien dieser Teil des Ufers keine Bewohner zu haben. Es musste demnach die erste Aufgabe der jungen Schiffbrüchigen werden, festzustellen, ob dasselbe sich überhaupt als bewohnbar erweise.
Inzwischen sank das Wasser mit der Ebbe, doch sehr langsam, weiter zurück, denn der Wind von der Seeseite hemmte dessen Abfluss, obwohl dieser bei einer gleichzeitigen Drehung nach Nordwest schwächer zu werden schien. Jetzt galt es also sich bereitzuhalten für den Augenblick, wo die Klippenreihe einen Übergang gestatten würde.
Es war nun gegen sieben Uhr. Jeder beschäftigte sich damit, die für den ersten Bedarf notwendigsten Gegenstände auf das Deck zu schaffen, in der Hoffnung, die übrigen aufzufischen, wenn die Wellen sie ans Ufer trügen. Die Großen wie die Kleinen legten hierbei die Hände an. An Bord befand sich unter anderem ein großer Vorrat an Konserven, Biskuit, an gepöckeltem und geräuchertem Fleisch. Diese Nahrungsmittel wurden zu handlichen Ballen verpackt und sollten, unter die Größeren verteilt, von diesen ans Land geschafft werden.
Um das aber ausführen zu können, musste die Klippenreihe erst einen trockenen Weg bieten, und niemand wusste doch, ob das Meer sich auch beim niedrigsten Stand soweit zurückziehen würde, um die Felsen bis zum Strand bloßzulegen.
Briant und Gordon beobachteten unablässig und aufmerksam das Meer. Mit der Veränderung der Windrichtung wurde die Luft merkbar ruhiger und die Gewalt der Brandung begann ebenfalls nachzulassen, so wie man leicht bemerken konnte, dass das Wasser an den hervorragenden Felsblöcken niedersank. Der Schoner selbst lieferte einen Beweis für diese Abnahme des Wasserstandes, da er sich noch etwas weiter nach Backbord überneigte. Es war sogar zu befürchten, dass diese Neigung noch ferner zunahm und er sich ganz auf die Seite legte, denn er hatte sehr feine Formen und einen schlank abgerundeten Rumpf mit hohem Kiel, gleich den schnellsegelnden Yachten. Wenn das Wasser dann das Vorderdeck des Fahrzeuges eher erreichte, als man das letztere verlassen konnte, musste die Situation sich äußerst bedrohlich gestalten.
Wie beklagenswert erschien es nun, dass die Boote vom Sturme weggerissen worden waren. Diese hätten hingereicht, die ganze Gesellschaft aufzunehmen, und die jungen Leute wären jetzt schon in der Lage gewesen, einen Landungsversuch zu unternehmen. Und welche Bequemlichkeit eine Verbindung zwischen Schoner und Küste zu unterhalten, um vielerlei nützliche Gegenstände, die jetzt an Bord zurückgelassen werden mussten, fortzuschaffen! Wenn der »Sloughi« schon die nächstfolgende Nacht vielleicht in Stücke ging, was waren seine Wracktrümmer wert, nachdem die Brandung sie durch die Klippenreihe hingewälzt hatte? Konnten diese überhaupt noch nützliche Verwendung finden? Würden dann die noch übrigen Vorräte nicht vollständig havariert sein? Sahen sich die jungen Schiffbrüchigen nicht in kürzester Zeit allein auf die Hilfsquellen angewiesen, welche dieses Land ihnen bot?
Ja, es war ein beklagenswerter Umstand, dass kein Boot mehr vorhanden war, um die Ausschiffung zu bewerkstelligen.
Plötzlich ertönte vom Vorderdeck ein lauter Aufschrei. Baxter hatte eine jetzt hochwichtige Entdeckung gemacht.
Die für verloren gehaltene Jolle hatte sich unter dem Knie des Bugsprits in den Ketten des letzteren gefangen. Diese Jolle konnte freilich nur fünf bis sechs Personen aufnehmen; doch da sie sich unbeschädigt zeigte, was leicht zu erweisen war, nachdem man sie aufs Deck gezogen hatte, erschien es nicht unmöglich, sie zu benutzen, im Falle das Meer die Überschreitung der Klippen trockenen Fußes verhinderte. Hierzu musste man natürlich den niedrigsten Stand der Ebbe abwarten, und inzwischen kam es wieder zu einer lebhaften Auseinandersetzung, vorzüglich zwischen Briant und Doniphan.
Doniphan, Wilcox, Webb und Cross, die sich der Jolle bemächtigt hatten, gingen nämlich schon daran, sie wieder über Bord zu befördern, als Briant auf sie zutrat.
»Was beginnt ihr hier?« fragte er.
»Was uns passt!« antwortete Wilcox.
»Ihr wollt dieses kleine Fahrzeug besteigen …?«
»Ja«, erwiderte Doniphan, »und du wirst uns nicht davon abhalten.«
»Das werd’ ich doch tun, ich und alle die übrigen, die du verlassen willst.«
»Verlassen …? Wer sagt dir das?« antwortete Doniphan hochmütig. »Ich will niemand verlassen, verstehst du? Wenn wir erst am Strand sind, wird einer die Jolle zurückrudern …«
»Und wenn er nicht zurückkehren kann«, rief Briant, der sich nur mit Mühe beherrschte, »wenn sie zwischen den Felsen leck würde …«
»Einsteigen …! Zum Einsteigen fertig!« unterbrach ihn Webb, der Briant zurückdrängte.
Von Wilcox und Cross unterstützt, hob er schon das leichte Fahrzeug auf, um es ins Wasser zu bringen.
Briant packte dasselbe an dem einen Ende.
»Ihr werdet nicht einsteigen!« rief er.
»Das wollen wir doch sehen!« antwortete Doniphan.
»Ich sage euch, ihr steigt nicht ein!» widerholte Briant, entschlossen im Allgemeinen Interesse Widerstand zu leisten. »Die Jolle muss zunächst für die Kleinsten zurückbehalten werden, im Falle auch bei niedrigem Meere zu viel Wasser stehenbliebe, um den Strand zu erreichen.«
»Lass uns in Ruhe!« schrie Doniphan aufbrausend. »Ich erkläre dir nochmals, Briant, du wirst uns nicht hindern zu tun, was wir wollen.«
»Und ich wiederhole dir, Doniphan«, herrschte ihn Briant ebenso laut an, »dass ich euch doch hindern werde!«
Die beiden Knaben waren schon bereit, aufeinander loszustürzen. Bei diesem Streit hätten Wilcox, Webb und Cross natürlich für Doniphan Partei ergriffen, während sich Baxter, Service und Garnett voraussichtlich auf Briants Seite stellten. Die Sache hätte die schlimmsten Folgen haben können, als Gordon sich noch ins Mittel legte.
Gordon, der älteste und besonnenste von allen, sah das Beklagenswerte eines solchen Zwischenfalls ein, und war vernüftig genug, sich zu Gunsten Briants auszusprechen.
»Halt! Halt, Doniphan!« rief er, »etwas Geduld! Du siehst doch, dass der Seegang noch stark ist und wir Gefahr laufen, unsere Jolle ganz einzubüßen.«
»Ich mag es nicht leiden, dass Briant uns Gesetze vorschreibt, wie er sich das seit einiger Zeit angewöhnt hat«, erwiderte Doniphan heftig.
»Nein …! Nein …!« ließen Cross und Webb sich vernehmen.
»Es fällt mir gar nicht ein, irgendwem Gesetze vorzuschreiben«, antwortete Briant, »ich werde das aber auch keinem anderen gestatten, wenn es sich um das Interesse aller handelt.«
»Das liegt uns ebenso sehr am Herzen wie dir«, schleuderte ihm Doniphan entgegen; »und jetzt, wo wir auf dem Lande sind …«
»Leider noch nicht«, fiel ihm Gordon ins Wort. »Trotze nicht ferner, Doniphan, und lass uns einen günstigen Augenblick abwarten, wo wir die Jolle verwenden können.«
Gordon trat zu sehr gelegener Zeit als Vermittler zwischen Briant und Doniphan — wozu er übrigens schon mehrfach Veranlassung gefunden hatte —, und die Kameraden fügten sich seinen Vorstellungen.
Der Wasserstand hatte jetzt um zwei Fuß abgenommen, und es entstand die Frage, ob sich zwischen den Klippen vielleicht eine Art Kanal hinziehe.
In der Meinung, von der Höhe des Fockmastes die ganze Anordnung des Klippengürtels besser übersehen zu können, begab sich Briant nach dem Vorderdeck, erklomm die Steuerbordwanten und kletterte dann noch an den Tauen der Bramstenge1 hinauf.
Quer durch die Klippenbank zeigte sich da eine Durchfahrt, deren Richtung durch viele, sie auf beiden Seiten begrenzende Felsblöcke angedeutet war und der man folgen musste, wenn man mit Hilfe der Jolle nach dem Strand gelangen wollte. Augenblicklich freilich brodelte und wirbelte die Brandung hier noch viel zu heftig, um sich jener mit Erfolg bedienen zu können. Unfehlbar wäre die Jolle auf eine Felsspitze geworfen und damit schwer beschädigt, wenn nicht vernichtet worden. Es empfahl sich also, noch so lange zu warten, bis das sinkende Meer hier eine gefahrlosere Wasserstraße zurückließ.
Von der Oberbramrah aus, auf welcher Briant reitend sich anklammerte, bemühte sich dieser, das Uferland noch genauer zu besichtigen. Er suchte mit dem Fernglas Stück für Stück den Strand ab, bis zu der höher ansteigenden Hinterwand desselben. Zwischen den beiden, etwa acht bis neun Seemeilen voneinander entfernten Vorgebirgen schien die Küste völlig unbewohnt zu sein.
Nach halbstündigem Auslugen stieg Briant wieder hinunter und berichtete seinen Gefährten, was er gesehen. Wenn Doniphan, Wilcox, Webb und Cross ihm zuhörten, ohne etwas zu sagen, so fragte ihn Gordon dagegen:
»Als der ›Sloughi‹ strandete, Briant, war es da nicht gegen sechs Uhr morgens?«
»Ja«, antwortete Briant.
»Und wie lange dauert es bis zum niedrigsten Wasserstande?«
»Ich glaube fünf Stunden. — Nicht wahr, Moko?«
»Ja, zwischen fünf und sechs Stunden«, erklärte der Schiffsjunge.
»Das träfe also gegen elf Uhr ein«, fuhr Gordon fort. »Dann wäre der günstigste Zeitpunkt zu dem Versuch, die Küste zu erreichen.«
»So hatte ich auch gerechnet«, bemerkte Briant.
»Nun wohl«, nahm Gordon wieder das Wort, »wir wollen uns für diese Zeit bereithalten und inzwischen etwas essen. Sind wir gezwungen, selbst ins Wasser zu gehen, so geschehe das wenigstens mehrere Stunden nach eingenommener Mahlzeit.«
Ein guter Rat, wie er von diesem klugen Knaben zu erwarten war. Jetzt ging’s also an das erste, aus Konserven und Biskuit bestehende Frühstück. Briant besorgte und überwachte dabei vorzüglich die Kleinen. Jenkins, Iverson, Dole, Costar begannen sich bei der glücklichen Sorglosigkeit ihres Alters schon wieder völlig zu beruhigen und hätten gewiss ohne jede Rücksicht darauf losgegessen, denn sie hatten seit vierundzwanzig Stunden nichts über die Lippen gebracht. Alles ging jedoch gut ab, und einige Tropfen mit Wasser verdünnten Brandys lieferten ein anregendes Getränk.
Nach eingenommenem Frühstück begab sich Briant wieder nach dem Vorderteil des Schoners und beobachtete, auf die Schanzkleidung gestützt, die Klippenreihe.
Wie langsam wich doch das Meer zurück! Es lag aber auf der Hand, dass dessen Niveau sich erniedrigte, denn die Schieflage des Schoners nahm noch weiter zu. Moko hatte mittels eines Senkbleis gefunden, dass noch mindestens acht Fuß Wasser über der Bank standen. Dass die Ebbe so tief sinken würde, um jene völlig trockenzulegen, glaubte Moko nicht annehmen zu dürfen und teilte seine Ansicht Briant heimlich mit, um niemand unnötig zu erschrecken.
Briant setzte dann Gordon hiervon in Kenntnis. Beide begriffen, dass der Wind, obwohl er noch weiter nach Norden umgegangen war, doch das Meer verhinderte, soweit zurückzusinken, wie es bei stillem Wetter der Fall gewesen wäre.
»Was beginnen wir dann also?« sagte Gordon.
»Ich weiß es nicht … Ich weiß es nicht …!« antwortete Briant. »Und welches Unglück, es nicht zu wissen … welches Unglück, in unserer Lage fast noch Kinder und, wo es so nötig wäre, nicht Männer zu sein.«
»Die Notwendigkeit wird unsere Lehrmeisterin sein«, versicherte Gordon. »Verzweifeln wir nicht, Briant, und handeln wir klug!«
»Ja, handeln, Gordon! Wenn wir den ›Sloughi‹ vor Wiedereintritt der Flut nicht verlassen haben, wenn wir noch eine Nacht an Bord bleiben müssen, sind wir verloren …«
»Kein Zweifel, denn die Yacht wird dann zertrümmert werden. Wir müssen dieselbe auf jeden Fall verlassen haben …«
»Gewiss; um jeden Preis, Gordon!«
»Wäre es nicht ratsam, eine Art Floß oder etwas wie eine Fähre herzustellen?«
»Daran hab’ ich wohl auch gedacht«, antwortete Briant, »leider hat uns der Sturm aber alles dazu geeignete Material entführt. Die Schanzkleidung abzubrechen, um aus deren Teilen ein Floß zusammenzuzimmern, dazu fehlt uns die Zeit. So bleibt nur die Jolle übrig, deren wir uns aber bei dem schweren Seegange nicht bedienen können. Doch nein, wir könnten auch noch versuchen, ein Tau durch den Klippengürtel zu ziehen und dessen Ende an der Spitze eines Felsens zu befestigen. Vielleicht gelingt es uns, daran bis ganz in die Nähe des Strandes hingleiten zu können …«
»Wer soll das Tau aber auslegen?«
»Ich«, erklärte Briant.
»Und ich werde dir helfen«, sagte Gordon.
»Nein, ich vollbring es allein«, versetzte Briant.
»Denkst du, dabei die Jolle zu benützen?«
»Das hieße, es wagen, sie ganz einzubüßen, Gordon, und es ist besser, diese als allerletztes Hilfsmittel aufzubewahren.«
Bevor er zur Ausführung seines gefahrvollen Vorhabens schritt, wollte Briant jedoch, um jede unglückliche Möglichkeit auszuschließen, noch eine nützliche Maßregel treffen.
An Bord befanden sich verschiedene Schwimmgürtel, und er veranlasste die kleinsten Gefährten, sich sofort mit denselben auszurüsten. Im Fall sie die Yacht verlassen mussten, während das Wasser noch so tief war, dass diese mit den Füßen keinen Grund fanden, würden diese Apparate sie schwimmend erhalten, und die größeren Knaben, welche an dem Tau hinglitten, sollten sie dann nach dem Strande zu vor sich herschieben.
Es war jetzt zehneinviertel Uhr. Binnen fünfundvierzig Minuten musste die Ebbe den tiefsten Stand erreicht haben. Am Steven des »Sloughi« maß man nur noch vier bis fünf Fuß Wasser, es schien aber nicht, als ob dieser Stand sich noch mehr als wenige Zoll erniedrigen sollte. Gegen sechzig Yards weiterhin stieg der Grund freilich merkbar höher auf, das verriet sich deutlich an der mehr schwärzlichen Farbe des Wassers, sowie an den zahlreichen Spitzen, die längs des Strandes aufgetaucht waren. Die Schwierigkeit lag nur darin, über die tiefere Stelle vor dem Schiffe glücklich hinwegzukommen. Gelang es Briant, in dieser Richtung ein Tau auszulegen und es an einem Felsen haltbar zu befestigen, so musste dieses Tau, nach dessen Anspannung mittels des Gangspills an Bord, es ermöglichen, eine Stelle zu erreichen, wo man wenigstens Grund fand. Holte man an demselben Kabel die Ballen mit Mundvorräten und Werkzeugen herüber, so gelangten diese voraussichtlich unbeschädigt ans Land.
Wie gefährlich dieser Versuch auch sein mochte, so wollte Briant doch niemand gestatten, für ihn einzutreten, und er traf demgemäß seine Vorbereitungen.
An Bord befanden sich mehrere schwächere Taue von etwa hundert Fuß Länge, welche gelegentlich als Trossen gedient hatten. Briant wählte eines von mittlerer Dicke, das ihm am geeignetsten erschien, und befestigte dasselbe, nachdem er sich halb entkleidet, am Gürtel.
»Jetzt, Achtung, ihr anderen!« rief Gordon. »Seid bei der Hand, das Tau nachgleiten zu lassen. Hierher aufs Vorderdeck!«
Doniphan, Wilcox, Cross und Webb konnten ihre Mithilfe bei einem Unternehmen nicht verweigern, dessen Wichtigkeit sie einsahen. Trotz ihrer Misslaune ließen sie sich dazu herbei, an dem Tau mit anzufassen und dieses je nach Bedarf nachschießen zu lassen, um Briants Kräfte möglichst zu schonen.
In dem Augenblick, wo dieser bereitstand, über Bord zu springen, näherte sich ihm sein Bruder und rief:
»Ach, Briant, was wagst du?«
»Keine Furcht, Jacques! Ängstige dich nicht um mich!« antwortete der mutige Knabe.
Briant und Jacques
Gleich darauf sah man ihn schon im Wasser auftauchen und mit kräftiger Bewegung fortschwimmen, während das Tau ihm nachrollte.
Selbst bei ruhigem Meere wäre dieses Unternehmen sehr schwierig gewesen, denn die Brandung schlug stets heftig gegen das Felsengewirr. Strömungen und Gegenströmungen hinderten den unerschrockenen Knaben oft, eine gerade Richtung einzuhalten, und wenn sie ihn packten, hatte er große Mühe, sich wieder herauszuarbeiten.
Immerhin kam Briant dem Strand allmählich näher, während seine Kameraden das Tau nach Bedarf ablaufen ließen. Offenbar aber nahmen seine Kräfte ab, obwohl er sich fünfzig Fuß weit vom Schoner befand. Vor ihm tobte jetzt ein heftiger Wirbel, erzeugt durch verschieden aufeinandertreffende Wellen. Gelang es ihm, um diesen herumzukommen, so durfte er hoffen, sein Ziel zu erreichen, denn hinter demselben war das Wasser bedeutend ruhiger. Er versuchte also sich mit aller Anstrengung nach links zu werfen. Vergeblich! Auch der beste Schwimmer im kräftigsten Mannesalter wäre hieran gescheitert. Von der durcheinanderschießenden Wellenbewegung erfasst, wurde Briant unwiderstehlich nach der Mitte des Wirbels gezogen.
Briant nach der Mitte des Wirbels gezogen.
»Zu Hilfe …! Zieht an …! Holt ein!« hatte er noch die Kraft zu rufen, bevor er verschwand.
An Bord der Yacht verbreitete sich ein unbeschreiblicher Schrecken.
»Holt ein …!« rief Gordon kaltblütig.
Seine Kameraden beeilten sich, das Tau schnell einzuziehen, um Briant wieder an Bord zu holen, ehe er durch zu langes Verweilen unter Wasser erstickte.
Binnen weniger als einer Minute war Briant — freilich bewusstlos — an Bord geholt; er kam jedoch in den Armen seines Bruders bald wieder zu sich.
Der Versuch, ein Tau irgendwo an der Klippenreihe zu befestigen, war missglückt und keiner hätte ihn mit Aussicht auf Erfolg wiederholen können. Die unglücklichen Kinder waren also darauf angewiesen, ruhig zu warten … Auf was denn zu warten …? Auf Unterstützung …? Doch von welcher Seite und von wem hätte eine solche kommen können?
Jetzt war schon Mittag vorüber; die Flut machte sich bereits bemerkbar und die Brandung wurde stärker. Da gleichzeitig Neumond war, musste die Flut sogar höher steigen als am vergangenen Tage. Wenn dazu der Wind wieder mehr nach der Seite des hohen Meeres zurückging, lief der Schoner Gefahr, von seinem Felsenbett noch einmal abgehoben zu werden … Er streifte dann von Neuem den Grund, er musste an den Klippen kentern! — Diesen endlichen Ausgang des Schiffbruchs hätte keiner überlebt. Und jetzt war nichts zu tun … nichts!
Auf dem Achterdeck versammelt, die Kleinen in der Mitte der Großen, betrachteten alle das Wiederanschwellen des Meeres, das sich durch die nacheinander verschwindenden Klippenhäupter verriet. Leider war der Wind wieder nach Westen umgeschlagen, und wie in vergangener Nacht peitschte er das Land mit voller Wucht. Mit dem sich vertiefenden Wasser wuchsen auch die Wellen wieder an, hüllten den »Sloughi« in feuchte Dünste und mussten bald über denselben hinwegbranden. Gott allein konnte den jungen Schiffbrüchigen zu Hilfe kommen, und ihre Gebete vermischten sich mit ihren Angstrufen.
Kurz vor zwei Uhr hatte der Schoner sich wieder aufgerichtet und lag jetzt nicht mehr nach Backbord geneigt. Infolge seines Stampfens stieß er aber mit dem Vorderteil auf den Grund, obwohl sein Hintersteven noch auf dem Felsen festsaß. Bald wiederholten sich die Stöße ohne Unterlass, und der »Sloughi« rollte dabei von einer Seite zur anderen. Die Kinder mussten sich fest aneinanderhalten, um nicht über Bord geschleudert zu werden.
In diesem Augenblick kam ein schaumgekrönter Berg von der offenen See her angestürmt und türmte sich zwei Kabellängen von der Yacht noch höher auf. Man hätte ihn für die ungeheure Woge einer Springflut, wie diese in einige große Ströme sich eindrängt, halten können. In einer Höhe von über zwanzig Fuß kam er herangedonnert, brauste über den Klippengürtel hinweg und hob den »Sloughi« auf, den er über die Felsen wegtrug, ohne dass sein Kiel die Felsen nur streifte.
Binnen weniger als einer Minute wurde der »Sloughi«, umhüllt von der gurgelnden Wassermasse, bis mitten auf den Strand und hier auf einen Sandhügel geworfen, sodass er kaum zweihundert Schritte von den Bäumen des hohen Uferrandes entfernt lag. Hier blieb er, diesmal auf dem festen Land, unbeweglich sitzen, während das wieder abflutende Meer den Strand trocken zurückließ.
zweitoberste Verlängerung eines Mastes <<<
Die Pension Chairman in Auckland. — Große und Kleine. — Ferien auf dem Meere. — Der Schoner »Sloughi«. — Die Nacht des 15. Februar. — Verschlagen. — Sturm. — Beratung in Auckland. — Was vom Schoner übrig ist.
———
Zurzeit, da unsere Geschichte spielt, war die Pension Chairman eine der angesehendsten in Auckland, der Hauptstadt Neuseelands, jener bedeutenden englischen Kolonie im Stillen Ozean. Dieselbe zählte gegen hundert den besten Familien des Landes angehörige Zöglinge. Die Maoris, die Eingeborenen der Inselgruppe, konnten in derselben ihre Kinder nicht unterbringen, doch waren für letztere andere Unterrichts- und Erziehungsanstalten vorhanden. Die Pension Chairman besuchten nur junge Engländer, Franzosen, Amerikaner und Deutsche, lauter Söhne von Plantagenbesitzern, Rentnern, Kaufleuten oder Beamten des Landes. Sie erhielten hier eine allseitige Erziehung und Ausbildung, vollkommen entsprechend derjenigen, welche die ähnlichen Anstalten des Vereinigten Königreiches gewähren.
Der Archipel von Neuseeland besteht zunächst aus zwei Hauptinseln, nämlich Ika-Na-Mawi oder die Fischinsel im Norden und Tamaï-Ponamu oder Nephrit-Land im Süden. Durch die Cookstraße getrennt, liegen diese zwischen dem 34. und 45. Grad südlicher Breite, was auf der nördlichen Halbkugel etwa der Lage Nordafrikas und Italiens entspricht.
Die in ihrem südlichen Teil stark zerrissene Insel Ika-Na-Mawi bildet eine Art unregelmäßiges Rechteck, das sich nach Norden zu in einem durch das Kap Van Diemen abgeschlossenen Bogen fortsetzt.
Fast am Anfang dieses Bogenstückes und an einer Stelle, wo die Halbinsel nur wenige (englische) Meilen (zu je 1609 Meter) Breite misst, ist Auckland erbaut. Die Stadt liegt also ganz ähnlich wie das griechische Korinth und hat wirklich auch den Namen »das südliche Korinth« erhalten. Im Westen und im Osten besitzt sie je einen offenen Hafen. Da der östliche, der im Hauraki-Golf liegt, nicht tief genug ist, hat man mehrere jener langen »Piers« (nach englischem Vorbilde) erbauen müssen, an denen wenigstens Schiffe von mittlerem Tonnengehalt anlegen können. Unter diesen befindet sich der »Commercial-Pier«, an welchem die Queens-Street, eine der Hauptstraßen der Stadt, ausmündet.
In der Mitte dieser Straße hat man die Pension Chairman zu suchen.
Am Nachmittag des 15. Februar 1860 traten aus genanntem Pensionat gegen hundert Knaben, begleitet von ihren Eltern und mit lustigen Gesichtern und freudiger Lebendigkeit — junge Vögel, deren Käfig man geöffnet hatte.
Es war nämlich der Beginn der Ferien. Zwei Monate Unabhängigkeit, zwei Monate Freiheit! Einer beschränkten Anzahl dieser Zöglinge winkte die verlockende Aussicht einer Seereise, welche schon lange Zeit vorher in der Pension Chairman der Gegenstand lebhafter Gespräche gewesen war. Wir brauchen wohl nicht zu schildern, welche freudige Erwartung diejenigen erregte, denen günstige Umstände gestatteten, sich an Bord der Yacht »Sloughi« einzuschiffen, um mit derselben an einer Umsegelung von ganz Neuseeland teilzunehmen.
Der von den Eltern der Zöglinge gecharterte hübsche Schoner war für eine Reise von sechs Wochen ausgerüstet. Er gehörte dem Vater eines derselben, Mr. William H. Garnett, einem ehemaligen Kapitän der Handelsflotte, zu dem man das beste Vertrauen haben konnte. Eine unter die verschiedenen Familien verteilte Subskription1 sollte die Kosten der Reise decken, die voraussichtlich die denkbar größte Sicherheit und Annehmlichkeit zu bieten versprach. Für die jungen Leute war das natürlich eine große Freude, und schwerlich hätte man die wenigen Wochen Ferien besser verwenden können.