Zwei Wochen für ein ganzes Leben - Dierk Breimeier - E-Book

Zwei Wochen für ein ganzes Leben E-Book

Dierk Breimeier

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Beschreibung

Eine lange Reise, ein kühnes Unterfangen - ein Experiment fürs Leben. Welches so unerwartete Spuren hinterlässt. Raimund Petersen ist ein junger weltgewandter Mann. Jene hat er bereits als Matrose auf See bereist und sucht nun als Theaterregisseur Inspiration in der Herausforderung: ein Winter in Lappland - einsam, abgeschieden in einer Hütte auf einer kleinen Insel im Flussdelta. Ungeplant findet er Anschluss im entfernten Dorf der Samen. Und spürt schon bald diese unerklärliche Verbundenheit zu ... Lilija. Zwei Leben, zwei Kulturen, zwei Welten - eine Liebe. Wird - ja, kann diese bestehen?

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Sehn[en]SuchtLiebe

Du suchst die Stille, um dich zu finden. Wähnst dich schweigend, damit die Seele spricht. Doch Schicksals Wille ist, zu ergründen ein neues Zweisam – ob die Liebe gewinnt …?

Carolin Kretzinger

Jegliche Überschneidungen oder Ähnlichkeiten mit Personen oder Ereignissen in der Wirklichkeit sind reiner Zufall.

Inhalt

Die Reise nach Lappland

Zu Besuch bei den Nachbarn

Ruska Aika

Raimund bekommt Besuch

Hausmusik

Der Abtrieb der Rentiere

Familienleben

Die große Stille

Das Ende der Einsamkeit

Ein Ausflug

Ausschnitte aus Raimunds Tagebuch

Weihnachten in Lappland

Eine Musikprobe

Eine Fiesta

Lapplandii

Die neue Freundin

Ausschnitte aus Raimunds Tagebuch

Zwei Wochen für ein ganzes Leben

Ein Gespräch

Drei Tage auf der Fjällstation

Eine Schicksalsnacht

Die Rückkehr

Die Reise nach Lappland

Raimund kuschelte sich aufatmend in seinen Sitz und lauschte dem stetigen, mit nichts anderem zu vergleichenden Ton, wenn Räder aus Eisen auf eisernen Schienen laufen, dieses typische monotone Geräusch eines sich in Fahrt befindenden Zuges. Dieses Geräusch sowie das immerwährende Schaukeln des Waggons würden ihn nun für die nächsten achtundzwanzig Stunden begleiten.

Es war der „Lapplandspilen“, der Lapplandpfeil, in dem er saß, und dieser sollte ihn von Malmö, wo er vor wenigen Minuten eingestiegen war, weit über den Polarkreis hinaus bis nach Kiruna bringen.

Draußen glitt die sanft hügelige Landschaft Schonens vorüber. So, wie er jetzt aus dem Fenster sah, blickte er zurück, also in die Vergangenheit; eigentlich hatte er es lieber, nach vorn in Richtung Zukunft zu schauen. Der Grund dafür war, dass er seinen Sitzplatz großzügig einer jungen Frau mit ihrer fünf- oder sechsjährigen Tochter überlassen hatte. Die Frau fuhr nicht so gerne mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, hatte sie ihm gestanden. Ihre Bitte war noch nicht ganz ausgesprochen gewesen, da wusste er bereits, obwohl er kein schwedisch sprach, um ihr Anliegen. Er war dennoch zufrieden, denn heimlich beglückwünschte er sich dafür, dass die beiden seine einzigen Mitreisenden waren. Es bestand natürlich die Möglichkeit, dass am nächsten Bahnhof noch jemand zusteigen würde.

‚Nun gut, man muss es abwarten‘, dachte er.

Ansonsten aber war er rundherum zufrieden.

Frühmorgens war er in Hamburg gestartet, und auf der Fähre von Puttgarden nach Rödby hatte er ein zweites Frühstück in Form von zwei jener köstlichen, unnachahmlichen dänischen „Smörrebröds“ verspeist. Alles passte! Jedes Mal, wenn er von Puttgarden nach Rödby fuhr, hoffte er, eine dänische Fähre zu erwischen, allein nur wegen dieser dänischen Smörrebröds.

Und dann, angekommen am Bahnhof von Kopenhagen, hatte er der Versuchung nicht widerstehen können, sich im Bahnhofsrestaurant noch ein letztes Mal ein kaltes Büfett zu gönnen.

‚Die reinste Völlerei‘, dachte er, aber es würde ja weit über ein halbes Jahr dauern, bis er solcherart Köstlichkeiten wieder zu Gesicht bekommen würde.

Bis auf seinen Kånken, in den er die nötigsten Dinge für die lange Reise gepackt hatte, und seine geliebte Violine hatte er sein gesamtes Reisegepäck schon vor Tagen aufgegeben: den Wanderrucksack mit der daran festgeschnürten Schneeschaufel, eine große Reisetasche und seine Skier samt Stöcken. Es wäre auch wohl ein seltsames Bild gewesen, wenn er mit den Skiern über der Schulter Ende August über Kopenhagens berühmte Einkaufsstraße, den Ströget, gelaufen wäre. Bei diesem Gedanken musste er unwillkürlich schmunzeln. Die Frau, die ihm schräg gegenübersaß, bemerkte es und lächelte ihn freundlich an.

So freuen wir uns mitunter mit, ohne den Grund zu kennen, nur weil ein anderer sich gerade freut.

Nachdem Raimund von dem kalten Büfett ausgiebig Gebrauch gemacht und auch an Nachtisch nicht gespart hatte, war er dann gemütlich durch Kopenhagen zu dem ihm von früheren Besuchen her vertrauten Nyhavn spaziert, an dessen Ende die Tragflügelboote nach Malmö ablegten.

Etwa eine Stunde nach Abfahrt hielt der Zug in einer größeren Stadt, ihren Namen hatte er vergessen.

Es stiegen einige Fahrgäste zu, aber niemand kam in sein Abteil. Er hoffte, dass es auch während der Nacht keine weiteren Gäste mehr geben würde.

Um neun Uhr abends kam der Zugbegleiter, der Abteil für Abteil die Fahrgäste auf den Gang bat, um die Rücklehnen der Sitze nach oben zu klappen und die kleine Leiter anzubringen. Raimund hatte nun die Option, sich zwischen zwei Kojen zu

entscheiden, und wählte für sich die untere. Bei seinen beiden Mitreisenden verhielt es sich so, dass das kleine Mädchen unbedingt oben schlafen wollte, und auf diese Weise bezog die junge Frau nun das Bett ihm gegenüber. Er war zufrieden und alle schickten sich zu gegebener Zeit an, in ihre Kojen zu steigen und die kleinen Lampen anzuschalten, um noch ein wenig zu lesen. Bevor Raimund sich niederlegte, stimmte er sich mit seiner Mitfahrerin bezüglich des Abteillichtes ab und schaltete es daraufhin aus. Alles schien insgesamt recht heimelig. Er hatte schon unter schlechteren Bedingungen genächtigt. Dennoch ahnte er, dass er wieder einmal kein Auge würde zumachen können, er gehörte zu den Menschen, denen es unmöglich war, in einem Zug zu schlafen, da half es auch nicht, wenn er sich beide Ohren mit Oropax zustopfte.

Die Kleine oben legte ihr Buch bereits nach etwa zwanzig Minuten beiseite, um zu schlafen, und die Mutter folgte ihr kurze Zeit später nach, aber nicht, ohne Raimund vorher noch eine gute Nacht gewünscht zu haben. So blieb ihm aus reiner Höflichkeit nichts anderes übrig, als ebenfalls sein Licht zu löschen. Aber wie schon befürchtet, an Schlaf war nicht zu denken.

Dennoch fand er es ganz gemütlich in seiner Koje und so von dem fahrenden Zug hin- und hergeschaukelt zu werden, und nach einiger Zeit fiel er doch in einen leicht dösenden Halbschlaf, um allerdings bei jedem Geräusch, das das monotone Rollen der Räder durchbrach, wieder hellwach zu werden. So entging ihm nicht, dass der Zug gegen Mitternacht noch ein weiteres Mal an einer größeren Station hielt. Danach aber fuhr er durch bis zum nächsten Morgen.

Raimund musste wohl erneut ein wenig eingenickt sein, denn als er während des ersten Morgengrauens wieder aus dem Fenster blickte, sah er weit und breit nichts anderes mehr als Kiefernwälder, scheinbar endlose Kiefernwälder, durchsetzt mit großen, sich übereinander türmenden Felsformationen oder

runden Hügeln aus Granit. Ab und zu ein stiller, unberührter See oder das schäumende Wasser eines hurtig fließenden Flusses.

Als es völlig hell war, hörte er schon entfernt den Zugbegleiter durch den Gang kommen, um in jedes Abteil ein ‚Guten Morgen‘ zu rufen. Seine beiden Mitreisenden hatten, im Gegensatz zu ihm, offensichtlich sehr gut geschlafen. Die Kleine in der oberen Koje gähnte und rieb sich die Augen. Ihre Mutter, die sich während der Nacht zur Wand gedreht hatte, regte sich, brauchte aber noch eine ganze Weile, um sich auf den Rücken zu wenden und sodann beide Arme zu recken. Das Ganze hatte etwas liebenswert Familiäres, es erstaunte ihn jedes Mal wieder, wie unkompliziert die Schweden waren.

Auf den Gängen draußen begann jetzt ein emsiges Hin und Her. Die Fahrgäste suchten die Waschseparees und Toiletten auf und es dauerte eine ganze Weile, bis Raimund diese benutzen konnte. Als er zurückkam, lag die Kleine immer noch auf dem Bauch in ihrer Koje und schaute aus großen Augen in die vorübergleitende Landschaft hinein. Beide, Mutter und Tochter, kamen erst richtig in Gang, als Raimund sich bereits auf den Weg zum Speisewaggon machte.

Dieser war nach schwedischer Art ein Selbstbedienungsrestaurant mit einem langen Tresen, an dem man sich aussuchen konnte, wonach einem der Sinn stand. Mit gut gefülltem Tablett und einer Tasse dampfendem Kaffee suchte Raimund sich einen Platz an einem leeren Tisch. Er liebte schwedisches Frühstück, es kam bei ihm gleich nach „English breakfast“.

Er hatte sein Mahl noch nicht ganz beendet, da sah er seine beiden Abteilgefährtinnen am Tresen erscheinen. Als diese sich nach dem Bezahlen umwandten, um nach einem freien Platz zu suchen, winkte er ihnen zu und Mutter und Tochter kamen heran und setzten sich zu ihm. Damit wäre das nur eine Zugfahrt dauernde Familienleben wohl komplett, dachte er leicht amüsiert.

Nachdem sich am Abend zuvor jeder mehr oder weniger um sich selbst gekümmert hatte, begannen sie sich nun näher miteinander bekannt zu machen.

„Ich bin Agnes“, stellte sie sich auf Englisch vor, denn sie hatte längst bemerkt, dass Raimund kein Schwedisch sprach, „und das“, fuhr sie fort, wobei sie auf ihre Tochter zeigte, „ist Inga.“

„Oh, was für schöne Namen! Ich bin Raimund.“

„Wir sind auf dem Weg, Verwandte zu besuchen, in Boden“, sie lachte, „ja, weiter auseinander könnten wir wohl kaum wohnen. Jeder von uns an einem Ende von Schweden.“

„Du bist aus Deutschland, nicht wahr?“, fragte sie dann.

„Ja, aus Hamburg“, nickte Raimund.

„Gehst du wandern in Lappland?“, fragte sie weiter.

Raimund grinste. „Viel schlimmer“, sagte er, „ja, auch wandern – und skilaufen. Ich habe mir vorgenommen, einen ganzen Winter dort oben zu verbringen.“

„Mein Gott“, sagte sie, „warum macht man denn so etwas? Hast du Verwandte in Kiruna oder Gällivare?“

„Nein, ich werde die ganze lange Zeit über in der Wildnis verbringen, ohne Strom und Telefon und Wasser nur aus dem See. Es ist mein langgehegter Wunsch, einmal einen ganzen langen Polarwinter dort oben in einer letzten Wildnis Europas zu erleben, und so habe ich mir eine Hütte gemietet, im Vistasdalen, weit ab von jeder Zivilisation.“ Er unterbrach sich, um dann fortzufahren: „Naja, vielleicht doch nicht gar so weit, mit dem Boot ist es etwa eine Viertelstunde bis Nikkaluokta zu fahren, das ist eine Siedlung der Samen am westlichen Ende des Paittasjärvi, auf Skiern dauert es vermutlich eine halbe Stunde, vielleicht auch mehr. Der Paittasjärvi ist ein großer, langgezogener See westlich von Kiruna.“

„Booah!“, die Frau staunte sichtlich beeindruckt. „Da wirst du dich aber auf die Dauer sehr einsam fühlen. Warst du schon einmal in Lappland?“ Sie schlug sich vor den Kopf: „Natürlich warst du schon einmal da, anders ginge es ja gar nicht.“

Sie hatte bei diesem für sie offensichtlich sehr bemerkenswerten Gespräch fast ihr Frühstück vergessen.

„Irgendwie ganz toll!“, fuhr sie dann kauend fort. „Na, da wünsche ich dir wirklich und von Herzen alles Gute. Sehr mutig! Dass du gesund bleibst und du nicht depressiv wirst und dass nichts Schlimmes passieren möge. Es ist ja sicher auch nicht ganz ungefährlich, nicht wahr?“

„Nein“, sagte Raimund.

„Und so ganz allein!“, meinte sie und blickte ihn mit einem Schimmer von Mitleid in den Augen an.

„Es wird auf diese Weise ein ungleich intensiveres Erleben“, gab Raimund zurück.

„Ja, vielleicht ist es so.“

Die Tochter, die sie beide während ihres Gesprächs die ganze Zeit angeschaut und nichts verstanden hatte, wandte sich jetzt ungeduldig an ihre Mutter, die ihr nun die ganze Geschichte noch einmal auf Schwedisch erzählen musste.

Danach wandte sich die Kleine wieder Raimund zu und sah ihn mit großen, staunenden Augen an.

Mutter und Tochter waren nun inzwischen mit ihrem Frühstück fertig, nahmen ihre Tabletts und erhoben sich, um anderen Wartenden Platz zu machen.

Raimund machte die Reise mit dem „Lapplandspilen“ bereits zum dritten Mal, daher wusste er, dass es gar keinen Sinn hatte, jetzt zum Abteil zurückzugehen. Es würde noch eine Weile dauern, bis ihr „Schafzimmer“ wieder in ein normales Zugabteil zurückverwandelt worden wäre.

Aus diesem Grund befand sich gleich im Anschluss an den Speisewagen ein Zugwaggon ohne Platzreservierungen. Hier konnten sich die Fahrgäste der Schlafabteile, wenn ihnen der Sinn danach stand, jederzeit niederlassen, sei es, weil sie ihr Abteil als überfüllt betrachteten oder ob sie, wie jetzt, auf das Herrichten der Abteile warteten.

Der Zug war inzwischen weit über Stockholm hinaus in das Gebiet der großen Flüsse gekommen, Angermanälv und Umeälv, die aus den schwedischen oder norwegischen Gebirgen kommend, groß, breit und mächtig daherfließend, und unter ihrem fahrenden Zug hindurch dem bottnischen Meerbusen zuströmten. Der sich scheinbar endlos bis über den Polarkreis erstreckende Wald war inzwischen lichter geworden, immer mehr Fichten und auch Birken mischten sich in die Kiefernwälder, ein paar Wiesen zogen vorüber und kleine Orte mit roten und gelben Holzhäusern oder kleinen Kirchen aus Holz mit spitzen Türmen tauchten auf und verschwanden wieder.

Inzwischen hatten die drei Reisenden zurück in ihrem Abteil Platz genommen. Raimund hatte ein Buch hervorgeholt und las darin, „Sieg“ von Joseph Conrad. Es passte nicht ganz zur Landschaft, aber diesen Gegensatz empfand er eher als spannend. Die Mutter beschäftigte ihre kleine Tochter mit Reim- und Ratespielen, bald rückte die Mittagszeit heran.

Der Zug hielt jetzt in Älvsbyn und die Ströme wurden nun noch größer und ihre Fluten noch reißender, Pieteälv und Luleälv waren ihre Namen. Einige Zeit später, am Nach- mittag, erreichten sie Boden und Raimunds Reisegebegleiterinnen waren am Ziel ihrer Fahrt angekommen.

Fast empfand Raimund es als einen schmerzlichen Abschied. Sie waren nur Gefährten für eine Nacht und einen halben Tag gewesen, aber Mutter und Tochter waren ihm liebenswerte Reisegenossinnen gewesen.

„Viel Glück für deine lange Zeit im hohen Norden“, wünschte ihm Agnes, „und nochmals, alles, alles Gute!“

„Viel Glück auch für euch“, gab Raimund zurück, „wer weiß, das Leben hält oft seltsame Zufälle bereit, vielleicht treffen wir uns irgendwann einmal wieder.“

Auf dem Bahnsteig, an dem sie ausstiegen, kamen sie noch einmal zu seinem Fenster und winkten ihm, als der Zug langsam anfuhr.

Für Raimund war jeder Abschied einer zu viel, mochten die Zeit kurz oder lang und die Beziehung leicht oder schwer gewesen sein. Er ließ sein Buch, das er sich bereits wieder vorgenommen hatte, sinken und schaute sinnend aus dem Zugfenster in die vorüberziehende Landschaft. Die wurde jetzt zusehends wilder, der Zug hatte seine Richtung geändert, folgte nun nicht mehr der Nord-Süd-Richtung, und fuhr direkt ins Landesinnere hinein.

Die Provinz, die sie durchquerten, war Norrbotten, Schwedens nördlichster Zipfel, und das machte sich auch bemerkbar. Die Landschaft wurde zunehmend sumpfig und unwegsamer, Kiefern waren weitgehend verschwunden und die Fichten sahen lang und dürr aus. Nur noch selten kreuzten Pfade und durch die Sümpfe kam man nun ausschließlich über ausgelegte Holzbohlen.

Mückenland!

Der „Lapplandpilen“ fuhr jetzt auf denselben Gleisen wie die Erzbahn. Die Erzbahn, das waren endlos lange Züge mit Loren voller Eisenerz, die von zwei riesengroßen Loks gezogen wurden. Sie brachten das Erz von Kiruna zum Ostseehafen Lulea.

Während der „Lapplandpilen“ in den dichter besiedelten Gegenden, in der Mitte und im Süden Schwedens, die meisten Stationen einfach haltlos passiert hatte, veränderte er nun völlig seinen Halterhythmus, er stoppte jetzt, wie man so schön sagt, an jeder Milchkanne. Das waren keine Bahnhöfe mehr, sondern nur noch ungepflasterte, leere Bahnsteige; weit und breit war nichts zu sehen, außer vielleicht ein Weg, der irgendwohin in die Wildnis führte.

Sie waren jetzt in Lappland angekommen.

Als der Zug an einem der ersten dieser menschenleeren Bahnsteige hielt, zog Raimund sein Fenster hinunter, um zu

sehen, wer da wohl aus- oder einstieg. Es war eine ältere Frau, schwer beladen mit Tragetüten und Taschen. Nachdem sie mühevoll die Stufen des Waggons heruntergeklettert war, reichte ihr der Zugbegleiter ihre Sachen hinaus. Dann pfiff der Schaffner in seine Pfeife und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Die Frau blieb mit ihren Taschen allein auf dem Bahnsteig zurück.

Noch etwas war Raimund aufgefallen: Ein eisig kalter Wind wehte jetzt zu ihm durchs Fenster hinein. Es war nur Neugier gewesen, die ihn hatte es öffnen lassen, aber die Kälte, die ihm hier entgegenschlug, erstaunte ihn nun doch, es war Mitte August. Aber diese wie leer gefegten Bahnsteige in Lappland kannte er natürlich. Irgendwo hinter den Sümpfen und Fichten mochte es kleine Ansiedlungen geben. Noch höher im Norden gab es nicht einmal mehr das.

Er war selbst einst, von einer etwa zweiwöchigen Wanderung im Fjäll kommend, direkt an einem solchen Bahnsteig gelandet. An dessen Ende fand er damals einen kleinen, eisernen Mast mit einer Signalscheibe vor. Zu jener Zeit kannte er sich noch nicht aus, und so ging er zu diesem Mast, um zu sehen, was es mit diesem auf sich haben könnte. Ein kleines Metallschild verriet ihm, dass man das Signal über einen Hebel ausklappen musste, wenn man wollte, dass der Zug hielt. Er hatte sich damals zwischen der Bergstation Abisko und Kiruna befunden und sich absolut nicht vorstellen können, dass der berühmte „Lapplandpilen“ nur wegen ihm allein hier mitten in der Wildnis halten würde. Er hatte dann, in sengender Sonne und von Mücken umschwirrt, zwei Stunden an dem Bahnsteig gesessen, an den Stamm einer Birke gelehnt, und sich auf dem Spritkocher sein Mittagsessen zubereitet. Es herrschte eine solche absolute Stille, dass das helle Sirren der Mücken das einzige Geräusch war, das an sein Ohr drang. Irgendwann aber geschah es, dass er weit aus der Ferne den Lärm eines sich nahenden Zuges vernahm.

Das Signal hatte Raimund zwar auf Stopp gestellt, aber im Grunde nicht wirklich daran geglaubt, dass der Zug lediglich nur ihm zuliebe hier halten würde. Schnell packte er also sein Geschirr zusammen und lief zu dem Signalmast. Geräusche waren in der Stille bereits kilometerweit zu hören, sodass es doch noch eine ganze Weile dauerte, bis in einer Entfernung von etwa fünfhundert Metern mit Donnergetöse der Zug um eine Biegung herangebraust kam.

Mit grenzenlosem Erstaunen sah ihn Raimund jetzt seine Fahrt verlangsamen, die Bremsen quietschten und dann rollte der „Lapplandpilen“ bis Höhe Bahnsteig und hielt.

Die Stille, die dem soeben noch ertönten Getöse folgte, war derart unwirklich, dass Raimund eine Weile wie gelähmt war. Hier stand er nun, der Lapplandpilen, und wartete offensichtlich und wie ungeduldig darauf, dass er endlich einstieg. Er hatte schon eine der Türen aufgezogen, da besann er sich, um schnell noch einmal zum Mast zurückzulaufen und das Signal wieder herunterzuklappen.

Das war eine andere Welt hier oben im Norden. War das wirklich derselbe Zug, der einst fast dreitausend Kilometer entfernt im Bahnhof von Malmö auf einem der vielen Gleise gestanden hatte, um auf Fahrgäste zu warten?

Raimund musste unwillkürlich schmunzeln, als er jetzt das Fenster wieder schloss. Ja, es war in der Tat eine andere Welt, und er befand sich auf dem Weg, noch tiefer und noch intensiver in diese einzutauchen.

Etwa auf der halben Strecke zwischen Boden und Nattavaara hielt der Zug erneut an solch einem Bahnsteig, mitten in der Wildnis. Dieser unterschied sich in nichts von den Vorhergehenden bis auf ein großes Schild und auf dem stand: „Polcirkeln“.

Er war nun in der Arktis angekommen. Raimund war nicht das erste Mal hier und mit Ausnahme des südlichen Polarkreises hatte er bereits alle diese geografischen Grenzmarken der Welt überquert.

In etwas über einer Stunde würde er nun Kiruna erreichen und obwohl es bereits seine dritte Reise hierher war, war er nun doch ein bisschen aufgeregt, nach dieser so endlos langen Fahrt.

Kopenhagen? War das nicht erst gestern gewesen?“, sinnierte er. Nein, das musste schon lange, lange her gewesen sein.

Als der Zug in Gällivare, der letzten Station vor Kiruna, hielt und er aus dem Fenster schaute, bemerkte er, dass die Menschen auf dem Bahnsteig Wollmützen und Handschuhe trugen. Das erschreckte ihn nun doch ein wenig. Und als er sein Fenster öffnete, schlug ihm frostige Luft entgegen.

Seine Winterbekleidung befand sich natürlich in dem aufgegebenen Reisegepäck.

Aber es wurde dann doch alles nicht so schlimm. Am Bahnhof in Kiruna erwartete ihn bereits der Agent, der ihm die Hütte vermietet hatte. Es war ein Mann mittleren Alters, gekleidet wie der typische Nordländer, und er schüttelte ihm sogleich die Hand.

„Kalt hier oben bei euch“, war das Erste, was Raimund herausbrachte.

„Har du ingen mössa? – Hast du keine Mütze?“, fragte der Agent.

„Oh ja, doch“, entgegnete Raimund, „aber die befindet sich in meinem aufgegebenen Gepäck.“

„Nun, dann wollen wir als Erstes dieses Gepäck holen. Ich bin übrigens Torben!“

„Raimund.“

Zusammen gingen sie zur Gepäckausgabe des Bahnhofs, wo Raimund seinen Abholschein abgab. Nach einer langen Weile kam der Beamte zurück und zog einen Rollwagen hinter sich

her. Raimund freute sich sehr, seinen vertrauten Wanderrucksack und seine Skier wiederzusehen. Aus seiner großen Reisetasche kramte er seine Mütze und die Handschuhe hervor. Er werde sie wohl brauchen, sagte Torben, und dann stiegen sie in dessen schon etwas betagten Volvo und machten sich zusammen auf den Weg, tief hinein ins Herz Lapplands. Nach einer Fahrt von etwa anderthalb Stunden auf einer schmalen, ungepflasterten Straße erreichten sie den langgezogenen See Paittasjärvi, an dessen Ende die Samensiedlung Nikkaluokta lag.

Ursprünglich ein Winterlager der Samen, war diese Siedlung, bedingt durch Sesshaftigkeit und nicht zuletzt durch den Wandertourismus ein richtiger, wenn auch winzig kleiner Ort geworden, sogar mit einer kleinen Holzkirche auf einem Hügel und einer Cafeteria, an die noch ein kleiner Laden angeschlossen war. Zu den verzweigt aus dem Grün der Birken herausschauenden Holzhütten führten lediglich schmale Trampelpfade. Hier und da war es zwischen den Häusern so sumpfig, dass man Holzbohlen ausgelegt hatte.

Etwa drei Kilometer vor der Siedlung, dort, wo sich auf der rechten Seite das verzweigte Flussdelta des Vistasdalen erstreckte, seit zwei Jahren gab es hier jetzt einen Damm und eine Brücke, stoppte Torben seinen Volvo auf einem kiesbestreuten Parkplatz.

Die Dämmerung begann schon langsam hereinzubrechen, als Raimund aus dem Wagen stieg.

Dort, wo sich das Delta zu einem See weitete, befand sich ein Steg, an dem mehrere Boote lagen. Torben begann bereits, seinen Volvo leerzuräumen, um Raimunds Gepäck in einem der Boote zu verstauen. Dann ließ er den hochgestellten Außenbordmotor zu Wasser, Raimund warf die Leine los und sprang ins Boot. Der Motor begann zu schnurren und schon löste sich das Boot vom Ufer, um in einem weiten Bogen in den See hineinzuschwenken. Eine Fahrt von etwa zehn Minuten, um die Nasen einiger Inseln herum, brachte sie zu einer größeren Insel, auf der Raimund jetzt das grüngestrichene Holzhaus entdeckte, welches ihm von früheren Besuchen her bereits bekannt war. Freilich hatte er es stets nur von Weitem gesehen.

Dieses Mal jedoch sollte jene einsam gelegene Hütte sein neues Domizil sein! Er hatte davon geträumt, irgendwann einmal einige Monate hier zu verbringen, seit er das erste Mal als Wanderer hier vorübergekommen war. Nun, endlich, sollte sich sein Traum erfüllen.

Zwischen zwei runden Felsbuckeln befand sich ein winziger Strand, hierhin lenkte Torben das Boot und stellte den Motor ab. Mit dem Rest Fahrt ließ er das Boot bei gedrosseltem Motor auf den Sand laufen, wobei er gleichzeitig den Außenborder hochklappte. Torben hatte es jetzt plötzlich eilig. Raimund würde ihn ja zunächst wieder zurück zu seinem Auto bringen müssen und bei zunehmender Dunkelheit befürchtete Torben, dass Raimund Schwierigkeiten bekommen könnte, seine kleine Insel wiederzufinden. Sie erreichten also die Insel, und bevor sie sich daranmachten, Raimunds Gepäck auszuladen, zeigte Torben ihm die Nebengebäude, den Holzschuppen, in dem neben einem Beil sogar eine Motorsäge lag, die abseitsstehende „Toilette“ und den Sack mit ungelöschtem Kalk.

„Ungefähr einmal in der Woche eine Schaufel voll darüberstreuen“, sagte er.

Dann gingen sie zum Haus, die Tür war nicht abgeschlossen, offenbar gab es auch gar keinen Schlüssel.

„Hier oben im Norden schließen wir unsere Häuser nicht ab“, erklärte Torben.

Er zeigte auf die Vorratsschränke: „Es gibt hier Lebensmittel für etwa sechs Monate. Dosen, Gläser, Tüten, alles, was man so braucht. Alles andere musst du dir aus Kiruna besorgen. Hier liegt der Busfahrplan und dort ist eine Liste mit Telefonnummern. Zum Telefonieren musst du allerdings zur Cafeteria in Nikkaluokta fahren.“

„Ist ja hier gleich um die Ecke“, er lachte, „und nun fährst du mich zurück zum Parkplatz, damit du vor dem Dunkelwerden noch zurückkommst. Wenn du Fragen hast, ruf mich an.“

Mit diesen Worten wandte er sich dem Boot zu und dieses Mal war es eben Raimund, der ihn mit dem Boot zurück zum Parkplatz brachte, wo Torben in seinen Volvo stieg und davonfuhr. Raimund winkte ihm noch hinterher und schaute, bis das Auto hinter einer Biegung verschwunden war. Und dann stand er plötzlich allein in dieser absoluten Stille, die er schon von früheren Besuchen her kannte. Bereits jetzt befiel ihn das Gefühl einer grenzenlosen Einsamkeit. Ein Hauch von Melancholie wehte ihn an. Nun gab es kein Zurück mehr. Acht lange Monate, davon zwei in völliger Dunkelheit, lagen vor ihm, ein Abenteuer, wie er noch keins erlebt hatte. Seufzend und doch auch irgendwie glücklich wandte er sich seinem Boot zu. Leine los und kräftig abgestoßen, startete er den Motor und wendete, um zurück in sein neues Heim zu fahren. Als er an dem kleinen Stück Strand unweit seiner Hütte aus dem Boot stieg, war es fast dunkel.

„Da hat der Kerl wohl doch recht gehabt“, sagte er halblaut zu sich selbst, „im Dunkeln hätte ich wohl nimmermehr wieder hierhergefunden.“

Nun aber war er angekommen!

Mutterseelenallein in dem weiten verzweigten Vistas-Delta, mit seinen Inseln und sumpfigen Ufern. Bevor er ins Haus ging, blieb er noch eine ganze Weile auf dem kleinen Stück Strand stehen und atmete tief durch.

Nach dem Lärmen des Außenborders war die Stille, die in jetzt umgab, umso eindringlicher. Nicht ein einziger Laut drang an sein Ohr.

Diese Stille würde ihn nun Wochen und Monate begleiten. Er war sich gar nicht mal sicher, ob er das würde aushalten können. Zunächst kramte er nach seiner Taschenlampe, zum Glück wusste er, wo ungefähr er sie verstaut hatte. Dann ging er

den ausgetretenen Pfad zur Hütte, stieg die drei Stufen des kleinen Vorbaus hoch und öffnete die Tür zu seinem neuen Zuhause. Im Schein seiner Taschenlampe suchte er nach Streichhölzern und Kerzen, um Licht zu machen. Anschließend machte er sich daran, sein Gepäck zu holen.

Das gesamte Innere des Häuschens bestand nur aus diesem einen Raum. An der Seite zum See gab es links und rechts der Tür zwei nicht sehr große Fenster, dazu jeweils eines an den Seiten. Wie eigentlich überall in Schweden waren es Sprossenfenster, die dem Raum ein gemütliches Gepräge gaben. Etwa zwei Meter mittig vor der Rückwand ragte ein Schornstein auf und davor stand ein großer gusseiserner Ofen. Rechts daneben befand sich eine Art Anrichte mit einem Gasherd und darüber an der Wand Regale mit Töpfen, Pfannen und Geschirr.

Hinter dem Schornstein war ein Verschlag, der mit einer Tür abgeteilt war, die Vorratskammer.

Das doppelstöckige Bett hatte links vom Ofen seinen Platz und an den Seitenwänden war noch Raum für einen Schrank und ein Regal. Der Tisch mit vier Stühlen stand direkt vor dem Ofen in der Mitte des Zimmers.

Die gesamte Einrichtung zusammen mit den im Laufe der Zeit dunkelbraun gewordenen Wänden, die zur Decke hin noch dunkler wurden, gab dem Raum etwas absolut Heimeliges.

Raimund fühlte sich hier vom Augenblick seines Eintretens an ausgesprochen wohl.

„Nun will ich aber zunächst schauen, was es so zu essen gibt“, sagte er zu sich selber.

In der Vorratskammer entdeckte er kartonweise Tüten mit Fertiggerichten von „Blåband“. Die kannte er von früheren Wanderungen nur allzu gut. Nirgendwo sonst in der Welt hatte er so schmackhafte Fertiggerichte gefunden wie hier in Schweden. Er suchte sich eine Tüte heraus, setzte einen Topf mit Wasser auf eine der zwei Flammen des Gaskochers und rührte

das Pulver hinein. Auf der zweiten Flamme erhitzte er Teewasser.

Als er dann schließlich am Tisch saß und sein Mahl einnahm, zu seiner Freude hatte er in der Vorratskammer zudem zahlreiche dieser großen runden Pakete Knäckebrot gefunden, von denen er nun ein Stück zu seinem Schnellgericht aß. Er fühlte sich rundherum wohl.

Nun gut, es hätte wärmer sein können, aber es lohnte für den Abend nicht mehr, den Ofen anzuheizen. Nach dem Essen ging er noch einmal vor die Tür. Es war eine dieser klaren Augustnächte, an denen Millionen von Sternen am Himmel standen. Auf der kleinen Veranda mit dem spitzen Vordach stand neben der Tür ein Stuhl. Hier ließ er sich für einen Moment nieder und schaute hinauf zum Firmament.

Unwillkürlich suchten seine Augen den Polarstern und natürlich hatte er keine Mühe, ihn zu finden, denn schließlich war er einst Matrose auf einem Frachtschiff gewesen.

Wie oft hatte er so an Deck auf der anderen Seite der Erdhalbkugel gesessen und versonnen das Kreuz des Südens betrachtet. Beide, der Nordstern und das Kreuz des Südens, waren die jeweils prägenden Sterne der beiden Erdhalbkugeln und ihm nur zu geläufig.

Freilich, es war wohl ein wenig wärmer dort im Süden gewesen, dachte er. Und weil er anfing zu frösteln, stand er bald auf, ging hinunter zum Boot, um zu schauen, ob es hoch genug auf den Kies geschoben war.

Wieder zurück in der Hütte suchte er nach seiner Seifendose und seinem Handtuch, deponierte beides auf einem der Balken, die das Vordach bildeten, suchte das Plumpsklo auf und wusch sich danach die Hände im See.

Er war hundemüde nach seiner langen Reise und hatte nun keinen anderen Wunsch mehr, als sich in seine Koje zu verkriechen. Raimund wählte die obere. Beide waren mit weichen Rentierfellen ausgelegt, und als er nun in seinen

Schlafsack kroch, fühlte er sich hier so geborgen, dass er nach wenigen Minuten eingeschlafen war.

Zwei lange, ereignisreiche Tage lagen hinter ihm.

Was ihm indes die Zukunft bringen würde, war ungewiss.

Zu Besuch bei den Nachbarn

Es war die Stille, die Raimund am nächsten Morgen aus tiefem Schlaf weckte, und es dauerte einige Minuten, bis er überhaupt begriff, wo er war. Durch die vier Sprossenfenster drang graues Licht, das den Raum nur schwach erhellte.

„Ich befinde mich mitten in Lappland, weitab von jeder Stadt“, sagte er zu sich und wurde sich dabei bewusst, dass das Sprechen mit sich selbst wohl bald zu einer Gewohnheit werden würde. Doch dann gab er sich einen Ruck und schlüpfte aus seinem warmen Schlafsack, um als Allererstes Feuer in dem gusseisernen Ofen zu machen. Als das Feuer lustig brannte, warf er sich sein Handtuch über und ging nach draußen. In dem kleinen Vorbau blieb er eine Weile stehen, holte tief Luft und breitete seine Arme aus. Vor ihm lag das stille Gewässer des Vistas-Deltas mit seinen birkenbewachsenen Inseln. Es war fürwahr ein Anblick zum Träumen. Dann ging er hinunter zu dem kleinen Strand, um sich in dem kristallklaren Wasser zu waschen.

Es war eiskalt.

Schnell rubbelte er sich ab und strebte dem nun bereits warmen Ofen zu. Nachdem er sich angezogen hatte, setzte er Kaffeewasser auf und schaute, ob er etwas Passendes zu essen finden würde.

Das Frühstücksangebot erschien ihm zunächst ein wenig mager. In einem der Regale jedoch entdeckte er eine stabile Holzkiste mit einem festen Deckel. Als er sie öffnete, siehe da, fand er in ihrem Inneren mehrere Stücke Butter, eine ganze Wurst und ein großes Stück Speck. Seine gute Laune steigerte sich zusehends bei diesem Anblick und so wurde es dann doch ein Frühstück ganz nach seinem Geschmack.

Er briet sich Speck in der Pfanne, aß dazu eine Hälfte des runden Knäckebrotes mit dem Loch in der Mitte, bestrichen oder besser gesagt belegt mit der gesalzenen Butter, denn diese war, bedingt durch ihren kalten Aufbewahrungsort, steinhart.

Als er den ersten Schluck seines heißen, schwarzen und gesüßten Kaffees nahm, fühlte er sich ringsherum wohl.

Nach dem Frühstück trieb ihn die Neugier auf seine neue Umgebung aus dem Haus. Den Holzschuppen fand er zwar leer vor, es gab also zunächst nur die paar Scheite, die beim Ofen lagen, aber einige Meter über den Hof hinweg, am Rand des kleinen Birkenwäldchens, entdeckte er einen riesigen Haufen mit etwa zwei bis drei Meter langen Birkenstämmen.

‚Aha!‘, dachte er. ‚Da muss ich wohl erst mal Feuerholz machen.‘

Im Schuppen befanden sich auch Kanister mit Benzin für den Außenborder, die Kettensäge und drei Gasflaschen für den Gaskocher. Das alles wirkte sehr beruhigend auf ihn.

Als Nächstes machte er sich daran, seine Insel zu erkunden. Sie mochte wohl so etwa achtzig Meter in der Länge und dreißig in der Breite sein. An ihrer Rückseite ging das feste Land in ein etwa zwanzig Meter breites Sumpfgebiet über. Dahinter konnte er einen schmalen Streifen Wasser sehen, an dessen gegenüberliegenden Ufer sich wiederum ein ausgedehntes Sumpfgebiet anschloss.

‚Schade‘, dachte er.

Im Stillen hatte er gehofft, einen Übergang zum festen Land zu finden. Er dachte dabei an die Übergangszeit, wenn das Eis bereits zu dick für sein Boot sein würde, aber noch nicht dick genug, um es ohne Gefahr betreten zu können. Nach dieser Erkundung wandte er sich wieder seiner Hütte zu. Zunächst holte er zwei Eimer Wasser aus dem See und trug sie in die Hütte. Dann setzte er Wasser zum Abwaschen auf und nachdem er auch das geschafft hatte, putzte er sich in derselben Schüssel die Zähne. Nun war schon ein guter Teil des Vormittages vergangen und er überlegte, dass es vielleicht gut wäre, einen Antrittsbesuch in der Cafeteria von Nikkaluokta zu machen. Er zog sich also eine warme Jacke an, schob das Boot vom Strand und sprang, kurz nachdem es schwamm, hinein. Mit einem der

darinliegenden Paddel stieß er sich kräftig ab, klappte den Außenborder herunter und startete. Nach zweimaligem kräftigen Ziehen sprang dieser auch an und dann schipperte er in mäßigem Tempo um die drei, vier Inseln herum, die verstreut vor ihm lagen. Als er ins freie Gewässer kam, gab er ein wenig mehr Gas und steuerte in einem großen Bogen auf die in der Ferne erkennbare Brücke zu. Als er sie nach etwa zehn Minuten erreicht hatte und darunter durchfuhr, grüßte ihn in der Ferne schon die kleine rote Holzkirche von Nikkaluokta mit ihrem Dachreiter.

Nikkaluokta besaß einen eigenen Anleger. Als er sein Boot dort vertäut hatte, ging er gemütlichen Schrittes hoch zur Cafeteria, aus deren Schornstein blaugrauer Rauch aufstieg.

Im Vorraum zog er sich seine Stiefel aus und betrat in Strümpfen den wohlig anmutenden Aufenthaltsraum. An einem der hinteren Tische saßen zwei Wanderer, die entweder bereits von ihrer Tour zurückgekehrt waren und nun auf den Bus warteten oder gerade erst vorhatten, loszugehen.

Hinter dem Tresen drehte ihm eine junge Frau mit einem langen, dicken und fast weißblonden Zopf, der ihr bis zur Taille reichte und unten mit einer hellblauen Schleife zusammengebunden war, den Rücken zu. Sie war mit dem Abwaschen von Tassen und Tellern beschäftigt, wandte sich aber nun zu ihm hin.

„Hej!“, rief Raimund in den Raum und „Hejhej“ kam es aus der Ecke zurück.

Raimund winkte den Wanderern kurz zu und begab sich zum Tresen. Die junge Frau trat nach vorne, während sie sich mit dem Geschirrtuch die Hände abtrocknete.

„Ich bin Raimund“, stellte er sich auf Englisch vor, „und in gewisser Weise dein neuer Nachbar.“

Sie streckte ihm die Hand zum Gruß über den Tresen entgegen. „Ich bin Lilija“, sagte sie schlicht, „du wurdest uns bereits angekündigt.“

Raimund war bass erstaunt: „Wie das?“

Die junge Frau lachte. „Torben!“, sagte sie nur.

Nun lachte auch Raimund und während er die junge Frau ein wenig eingehender musterte, stellte er fest, dass sie offenbar ein ausgezeichnetes Englisch sprach. Sie hatte auffallende, leuchtend blaue Augen, Raimund musste unwillkürlich an einen der stillen Seen oben auf dem Fjäll denken.

„Möchtest du etwas trinken oder essen?“, fragte sie ihn.

„Oh, es ist noch nicht lange her, dass ich Frühstück hatte, aber einen Kaffee nehme ich gerne.“

Sie wandte sich wieder ab, um ihm seinen Kaffee zu bereiten, und stellte ihm die dampfende Tasse auf den Tresen.

„Milch und Zucker?“, fragte sie.

„Nur Zucker!“

Sie lachte. „Schwarz wie die Nacht!“

Er nahm seine Tasse und suchte sich einen Platz – und er hatte noch nicht lange gesessen, da folgte sie ihm nach und setzte sich zu ihm an den Tisch.

„Du bist also der Mann aus Deutschland, der einen ganzen Winter hier bei uns in der Einöde bleiben möchte“, sagte sie, blickte ihn zwei, drei Sekunden sinnend an. „Halte mich bitte nicht für unhöflich oder aufdringlich, aber vielleicht magst du mir verraten, wo genau du herkommst? Ich frage mich natürlich, wie jemand auf solch eine ungewöhnliche Idee kommt.“ Sie machte eine Pause und sah ihn eine Weile prüfend an. „Darf ich raten?“, fuhr sie dann fort.