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Eine tiefgründige Suche nach Erfüllung zwischen Fernweh und dem Wunsch, in der Liebe Heimat zu finden. Raimund Petersen reist als Seemann um die Welt. Ständig unterwegs, fühlt er sich eher unbewusst immer auf der Suche nach ... ja, wonach? Als leidenschaftlicher Violinist und ehemaliger Theaterregisseur hofft er, vielleicht in den Künsten Antworten zu finden. Überall begegnet er Menschen und immer wieder auch der Liebe. Die es nicht gut mit ihm zu meinen scheint. Doch eine besondere, längst vergangene lässt ihn nicht los. Raimund geht seinen Weg, nachdenklich, hadernd, aber nie ganz verzagt. Und begibt sich schließlich auf seine letzte Reise, in seine Vergangenheit. Kann er dort Heimat und Glück finden? "Ein langer Weg" erzählt auf einfühlsame wie mit-reis(s)ende Weise aus dem Leben eines Mannes, den man mit jeder gelesenen Seite lieber gewinnt, wohl auch, weil ein bisschen Raimund vermutlich in jedem von uns steckt. (Leserstimme)
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Seitenzahl: 385
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Tief-SeEHen
Es zieht das unstet Herz
dich immerfort – wohin?
Fliehst ob deines Weltschmerzes,
zu fühlsehen deinen Sinn.
Das Wo gilt es zu ergründen,
blicke tief und du wirst finden:
Frieden.
In dir.
(Carolin Kretzinger)
Jegliche Überschneidungen oder Ähnlichkeiten mit Personen oder Ereignissen in der Wirklichkeit sind reiner Zufall.
Der Kapitän geht von Bord
Eine Premiere
Wieder auf See
Ein Abendessen mit Musik
Sind sie schon gar?
Eine neue Liebe
Ein Besuch im Teehaus
Ausflug in die Tempelstadt
Ein neues Zuhause
Der Streik
„Bin ich schön?“
Auszüge aus Raimunds Tagebuch
Ein Wiedersehen
Ferien
Puerto Barrios
Eine Begegnung
Wieder ein neues Zuhause
Liebe
Das Konzert
Ein neues Schiff
Eine Begegnung
Eine Reise in die Vergangenheit
Die Heimkehr
Erste Annäherung
Ein Besuch
Auszüge aus Raimunds Tagebuch
Eine Wanderung in die Unendlichkeit
Wer an jenem Dienstag Anfang Mai zu früher Morgenstunde im Hafen von Narvik unterwegs war, mochte vielleicht das Schiff bemerkt haben, das sich eben gerade um die weit ins Meer vorspringende Felsnase schob und sich anschickte, in das weiträumige Hafenbecken einzulaufen. Dieses Schiff war keins dieser üblicherweise ein- und auslaufenden Erzfrachter und es war auch nicht das Schiff der Hurtigruten, das die
Häfen abklapperte, um Passagiere und Waren in die kleinen und größeren Häfen von Norwegens langgezogener Westküste zu bringen und abzuholen. Und ebenfalls handelte es sich nicht um den kleinen Lofot-Dampfer, der regelmäßig von Narvik nach Svolvær auf den Lofoten verkehrte. Nein, dieses Schiff war von gänzlich anderer Bauart und man mochte es wohl eher für einen der norwegischen Eisbrecher halten. Seine Brücke war mit einem Wald von Antennen gespickt, und wenn man genau hinsah, konnte man eine ungewöhnlich große Anzahl von Beibooten und Kränen an den Seiten seiner Decks erkennen.
Es hatte gerade die Felsnase umrundet und steuerte jetzt direkt auf den Anleger des Lofot-Dampfers zu. An dem kurzen Mast seines Peildecks wehte die deutsche Flagge, es war die „Polarwind“, ein Forschungsschiff des Albrecht-Wegener-Institutes, das hier außerplanmäßig der Erz-Stadt im hohen Norden einen Besuch abstattete.
Sie war auf ihrem Wege nach Bremerhaven, direkt aus dem Eismeer kommend, von einem Maschinenschaden betroffen, der sie zwang, Narvik anzulaufen.
Der Kapitän stand in der Nock und schaute hinunter auf die bereits versammelten Vertreter der Hafenbehörde, die Festmacher und die Handvoll Neugieriger, die sich zu so früher Stunde dort bereits eingefunden hatten.
Als das Schiff festgemacht hatte, gingen die Beamten an Bord und dann geschah lange Zeit zunächst einmal gar nichts, sodass sich die Neugierigen nach und nach wieder zerstreuten. Wenn sie indes geblieben wären, hätten sie Zeuge werden können, wie die Hafenbeamten etwa eine halbe Stunde später das Schiff wieder verließen.
Kurze Zeit darauf erschien ein einzelner älterer Mann an der Gangway, verließ das Schiff und stieg in ein Taxi, das bereits einige Minuten zuvor auf dem Kai vorgefahren war. Er war der Mann, der beim Einlaufen auf der Brücke gestanden hatte, inzwischen hatte er seine Kapitänsuniform gegen Zivilkleidung getauscht.
Das Taxi wendete in einem großen Bogen und entfernte sich in Richtung Stadt.
Raimund Petersen drückte sich tiefer in seinen Sitz und schaute aus dem Fenster. Sein Blick, mit dem er auf sein Schiff zurücksah, war voller Melancholie. Es würde jetzt für einige Tage in die Werft verholen und er würde während dieser Zeit nicht an Bord gebraucht werden. So hatte er sich die Tage frei genommen, um sich auf einen, ja, auf einen für ihn sehr schweren Weg in seine Vergangenheit zu begeben.
Aber das war es nicht allein, was in so melancholisch stimmte, denn dies war außerdem seine letzte Reise. Er würde sein Schiff in wenigen Tagen nach Bremerhaven bringen, um es dort für immer zu verlassen. Er war nun fünfundsechzig Jahre alt und von diesen war er nahezu fünfunddreißig Jahre zur See gefahren.
Inzwischen hatte sein Taxi die Kreuzung erreicht, an der es in die Straße abbog, die zum Bahnhof führte. Der Zug, der ihn dort erwartete, stand bereits am Bahnsteig. Es war aber nicht der Lapplandpilen, mit dem er früher so gern gefahren war, denn den hatte man schon vor einigen Jahren eingestellt.
Bald hatte er seinen Sitzplatz gefunden. Bei der Buchung hatte er darauf geachtet, dass dieser sich auf der linken Seite befand, denn er wusste, dass dies der Platz war, von dem aus man eine der herrlichsten Aussichten aller Bahnstrecken der Welt hatte, die jetzt vor ihm lag.
Er musste nicht lange warten, der Zug setzte sich bald darauf in Bewegung und kaum, dass er Narvik verlassen hatte, schraubte er sich, dem Verlauf eines der schönsten Fjorde
Norwegens, folgend, dem Rombaksfjord, hoch und immer höher. Eine herrliche Aussicht jagte die nächste, bis er am Ende aus einer Höhe von gut tausend Metern den langgestreckten Fjord unter sich liegen sah. Er wusste, dass dieser im vergangenen Krieg heftig umkämpft gewesen war. In mehreren hundert Metern Tiefe lagen immer noch die Wracks deutscher Kriegsschiffe.
Oben, im Hochgebirge angekommen, wechselte nun die Landschaft schlagartig in eine karge, von Seen und Eisfeldern bedeckte Hochgebirgsszenerie.
In Björkliden, der letzten Station im norwegischen Hochland, hielt der Zug. Hier wurde die norwegische Lok gegen eine schwedische getauscht, und bald darauf erreichten sie Riksgränsen. Jetzt ging die Fahrt durch schwedisch Lappland. Hier fühlte sich Raimund fast schon zu Hause. In Abisko schaute er wehmütig aus dem Fenster. Hier hatten vor langer, langer Zeit viele seiner Wanderungen begonnen oder geendet.
Am Mittag erreichte der Zug Kiruna.
Hier war sein Ziel, hier stieg er aus.
‚Würde wohl der Bus nach Nikkaluokta immer noch an der gleichen Stelle abfahren?‘, fragte er sich.
Ja, er tat es, aber Raimund musste noch fast eine Stunde warten. So machte er sich denn auf den Weg ins Zentrum, und suchte eines dieser anheimelnden schwedischen Cafés auf, um eine Tasse Kaffee und zwei Stücke des köstlichen schwedischen Kuchens, den er so gerne mochte, zu sich zu nehmen.
Als die junge Verkäuferin ihm den Kaffee über den Tresen schob, schoss es ihm urplötzlich durch den Kopf: ‚Heiß, schwarz und süß.‘
Er fühlte, wie sich sein Inneres in der Erinnerung an jene Tage vor mehr als fünfunddreißig Jahren schmerzhaft zusammenzog.
Lilija!
‚Kann man die Zeit zurückdrehen?‘, sinnierte er, immer noch mit der Frage beschäftigt, ob er damals nicht dem falschen Lebensweg gefolgt war.
Geblendet von einer glanzvollen Karriere als Theaterregisseur und der Glaube an die Unvereinbarkeit ihrer beiden Welten hatten ihn diesen Weg gehen lassen.
Er seufzte.
‚Nein‘, beantwortete er sich selbst diese Frage.
Aber warum trieb es ihn wieder hierher zurück? Es war ein Zwang, dem zu entziehen er nicht in der Lage war.
Seit sein Schiff den Hafen von Narvik angesteuert hatte, hatte er nur noch diesen einen Gedanken gehabt: ‚Zurückkehren.‘ Und er fragte sich dabei nicht, ob dies falsch oder richtig gewesen war.
„So schwermütig?“, meinte die junge Frau hinter dem Tresen, als er sein Tablett zurückbrachte.
„Oje“, entgegnete er, „sieht man mir das so an?“
Sie nickte.
„Viel Glück!“, rief sie ihm hinterher, als er das Café verließ.
Er drehte sich um.
„Danke!“, sagte er. „Ganz lieben und herzlichen Dank!“
Wenig später, er saß nun umringt von lachenden und munter plappernden Schulkindern im Bus nach Nikkaluokta, wurde ihm sein Herz schwerer, je näher er seinem Ziel kam. Die Fahrt schien ihm eine Ewigkeit zu dauern. An jeder Station leerte sich der Bus ein wenig mehr. Nun aber hatte er endlich die Ufer des Paittasjärvi erreicht.
‚Ob es dort wohl immer noch so aussieht wie früher?‘, dachte er und schaute eifrig aus dem Fenster.
Da! Das war die Brücke! Und der Steg mit den festgemachten Booten mit ihren hochgeklappten Außenbordmotoren, vielleicht einige mehr als früher.
Jetzt war er gleich da.
Sein Herz klopfte zum Zerspringen.
Der Bus machte einen Bogen auf dem kiesbestreuten Platz, hielt und der Fahrer stellte den Motor aus. Aus dem Fenster
konnte Raimund die Cafeteria sehen! Aber sie wirkte irgendwie leer und trostlos.
Das war keine Cafeteria mehr.
Er erhob sich, ging durch den Mittelgang nach vorn und stieg aus.
Da sah er sie! Es gab eine neue Cafeteria, größer und sehr modern. Sie wirkte irgendwie fast fehl am Platz in diesem Ort, der ansonsten aber immer noch aussah wie das kleine Dorf der Samen.
‚Sie wird inzwischen einen anderen Besitzer haben‘, dachte Raimund. Fast wirkte er ein wenig erleichtert.
Er gab sich einen Ruck und marschierte beherzt auf den Eingang zu, öffnete die Tür, zog sich im Vorraum die Schuhe aus, ganz so wie früher, und öffnete die zweite Tür. Als er die junge Frau sah, die hinter dem Tresen stand, setzte für einen Moment sein Herz aus.
Hinter dem Tresen stand Lilija, genau so, wie er sie in der Erinnerung behalten hatte. Und so wie früher blickte sie dem Eintretenden entgegen.
Raimund taumelte. Er musste sich am Türrahmen festhalten. „Ist dir nicht gut?“, fragte die junge Frau und nun wurde ihm bewusst: Natürlich war das nicht Lilija, konnte es doch gar nicht sein!
„Oh, danke“, sagte er, „es geht schon wieder“.
Er suchte sich einen Platz, wo er seine Reisetasche abstellte, um sodann zum Tresen zu gehen.
„Habt ihr eine Ferienhütte zu vermieten?“, fragte er, und setzte hinzu: „Wenn nicht, muss ich wohl gleich wieder mit dem Bus zurück, mit dem ich gerade gekommen bin.“
Die junge Frau lächelte.
„Nein, das wird nicht nötig sein, ja, wir haben eine Hütte für dich.“
Raimund hatte sich wieder etwas gefasst.
„Das freut mich.“
Dabei aber überlegte er: ‚Natürlich ist sie die Tochter, aber sie sieht der Lilija von früher schon verteufelt ähnlich.‘
Ihr Haar war zwar ebenso blond, aber sie hatte braune Augen. ‚Nein, doch nicht‘, dachte er, ‚sie hat blaue Augen!‘
Einen Moment lang war er durcheinander, bis er es verstand: Sie hatte ein braunes und ein blaues Auge.
Die junge Frau lächelte weiter.
„Mach dir nichts draus, es geht den meisten Menschen so, wenn sie mich das erste Mal sehen.“
„Wie lange möchtest du bleiben?“, wollte sie dann wissen und mit einem Blick auf seine Reisetasche: „Zur Kebnekaise Station wirst du so wohl nicht wollen, oder?“
„Nein“, erwiderte er, „ich möchte nur einen Tag hier bleiben. „Übrigens, ich heiße Hjördis“, meinte sie.
„Raimund“, stellte er sich vor und bemerkte, wie sie bei der Nennung seines Namens stutzte.
Aber sie sagte nichts, sondern drehte sich um und ging zu dem Schlüsselschränkchen an der Rückwand. Mit dem Schlüssel in ihrer Hand klimpernd kam sie zu ihm zurück.
„Nummer vier“, sagte sie und beschrieb ihm den Weg zur Hütte. „Möchtest du etwas essen oder trinken?“, fragte sie: „Wir haben „Pytt i Panna.“
„Oh, ja, gerne.“
Sie lächelte.
„Pytt i Panna, oder etwas zu trinken?“
„Beides“, sagte er, „zunächst einen Kaffee, bitte.“
„Was für einen möchtest du?“
„Äh, was heißt: was für einen“, fragte er nach. Aber dann fiel sein Blick auf das Regal hinter ihr.
Sie hatten natürlich inzwischen einen von diesen modernen Kaffeeautomaten.
„Ach so, ja, einen Cappuccino, bitte.“
Sie drehte sich um und machte ihm seinen Kaffee.
„So, bitte, Essen kommt auch gleich.“
Sie reichte ihm das Tablett, drehte sich erneut um und verschwand in der Küche.
Raimund hatte allerdings sehr wohl bemerkt, dass es inzwischen auch eine Durchreiche gab, und er vermochte sich nun durchaus vorzustellen, dass die junge Frau aus dem alleinigen Grund nach hinten gegangen war, um ihrer Mutter von diesem Gast zu erzählen.
‚So es denn eine Mutter gibt‘, dachte er und sein Herz begann wieder heftig zu schlagen.
Er rührte gedankenverloren in seinem Kaffee, während er auf sein Essen wartete. Wieder einmal hatte er das Gefühl, als wäre die Zeit stehengeblieben.
Raimund wartete. Zwischendurch nahm er einen Schluck von seinem Kaffee.
Es dauerte eine Ewigkeit.
Schließlich wurde die Tür zur Küche geöffnet. Eine blonde Frau mittleren Alters betrat, einen Teller in der Hand, den Gastraum.
Sie blickte ihn an, erstarrte, und dann fiel ihr der Teller aus der Hand. Sein Mittagessen landete klirrend auf dem Boden. „Lilija!“, rief er, sprang auf und hastete zum Tresen.
Einen Meter vor ihr kam er zum Stehen. Lilija, denn sie war es tatsächlich, hatte sich nicht gerührt. Sie stand immer noch wie erstarrt.
„Raimund?“
Beide standen sich gegenüber und rührten sich nicht, bis die Tochter Lilija von hinten schob, um die Scherben aufzulesen und den Boden zu wischen.
Bleich im Gesicht und langsam, wie in Zeitlupe, trat Lilija einen Schritt auf ihn zu. Immer noch fassungslos blickte sie ihn an.
„Raimund?“, fragte sie dann ein zweites Mal.
„Ja, Lilija, ich bin es“, antwortete er.
In ihrem Blick, als sie sich weiter wortlos ansahen, bemerkte er einen Anflug von plötzlich auftretender Scheu.
„Aber so setzt euch doch“, ließ sich jetzt die Tochter vernehmen, ihr könnt doch nicht ewig hier stehen und euch anstarren.“
„Ja, lass uns hinsetzen“, riss sich Raimund zusammen, drehte sich um und kehrte zurück zu seinem Tisch. Einladend rückte er Lilija einen zweiten Stuhl zurecht.
Sie folgte ihm wie eine Traumwandlerin und ließ sich auf dem ihr dargebotenen Stuhl nieder. Auch Raimund setzte sich.
Wieder sahen sie sich endlos lange schweigend an.
„Ich hab’s nicht glauben wollen, was Hjördis mir da gerade erzählte“, meinte sie schließlich.
„Du hast ihr von mir erzählt“, sagte Raimund, mehr eine Feststellung als eine Frage.
„Nicht die ganze Geschichte“, erwiderte sie, „nur dass es dich gab.“
Wieder schauten sich beide lange Zeit schweigend an, aber es war kein Schweigen der Verlegenheit mehr.
‚Es sind immer noch dieselben blauen Augen‘, dachte Raimund.
In ihrem Blick lagen jetzt Wärme und ein Hauch von Trauer. „Warum bist du gekommen?“, fragte sie schließlich. Aber es lag kein Vorwurf in ihrer Stimme.
Raimund schwieg lange, bevor er antwortete.
„Mein Schiff liegt in Narvik, in der Werft“, sagte er schließlich, „ich konnte nicht anders.“
„Dein Schiff?“, schien sie überrascht. „Ich dachte, du bist Regisseur.“
Raimund lächelte sein schiefes Lächeln.
„Ich bin nie wirklich einer gewesen, bis auf dieses einzige Mal, als ich ‚unser‘ Stück dort in Hamburg inszenierte.“
„Unser Stück!“, rief sie heftig aus. „Nennst du es unser Stück? Ist das nicht ein wenig geschmacklos?“
„Es war wie ein Zwang“, versuchte er sich zu verteidigen, „ich konnte irgendwie nicht anders.“
Er senkte seinen Blick.
„Ich habe nur dieses eine gemacht“, fuhr er fort. „Und ich war mir die ganze Zeit darüber im Klaren, dass es einem Verrat an unserer Liebe gleichkam. Dennoch war es für mich ein
Weg, meine …“, er unterbrach sich, „… unsere Vergangenheit zu verarbeiten. Ich konnte danach nie wieder als Regisseur arbeiten. Niemand hat gewusst, dass es unsere Geschichte ist.“
Wieder machte er eine lange Pause, ehe er weiterredete.
„Mir aber, mir selber, war es allerdings jede Sekunde bewusst,“ rief er dann mit einer Stimme, aus der alle Schattierungen einer tiefen Seelenqual sprachen. „… Und ich wusste es die ganze Zeit über, dass ich danach nie wieder ein Stück am Theater machen könnte.“
Beide schwiegen jetzt und hingen ihren Gedanken nach. Schließlich blickte Lilija auf und sah ihn an, und zum ersten Mal stahl sich ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht.
„War es denn wenigstens ein Erfolg?“, fragte sie.
Raimund blickte sie lange an.
„Oh, ja, ich glaube schon“, sagte er dann.
„Und dann bist du fortgegangen und wieder zur See gefahren.“
„Ja.“
Das Eis zwischen ihnen war gebrochen.
„Und jetzt bist du hier“, stellte Lilija fest. „Komm, erzähle! Was ist das für ein Schiff, auf dem du nach so langer Zeit nach Narvik gekommen bist?“
Raimund lächelte sie nun erleichtert an.
„Es ist die ‚Polarwind‘, ein Forschungsschiff, und ich bin ihr Kapitän.“
„Nun, da hast du es ja immerhin weit gebracht“, sagte sie, „es ist wohl doch etwas anderes, als der Betreiber eines Touristenbootes auf dem Ladtjojaure zu sein.“
Sie sagte es ohne Bitterkeit.
„Oh Gott, Lilija!“, brach es aus ihm heraus.
„Schon gut, meinte sie nur“, und drehte sich zu ihrer Tochter zurück, die in gebührender Entfernung am Tresen gestanden und die beiden gespannt beobachtet hatte.
„Nun bring schon ein neues Mittagessen, liebe Hjördis!“, rief sie. „Der Herr Kapitän hat sicher Hunger.“
Die Tochter, deutlich erleichtert über den offenbar guten Ausgang des Gesprächs, sauste los, um ein neues Essen zu holen.
Lilija blickte auf Raimunds halbvolle Tasse. „… Und auch einen neuen Kaffee!“, rief sie ihr hinterher. „Wie ich sehe, hast du deine Kaffeegewohnheiten ebenfalls geändert“, wandte sie sich wieder zurück an Raimund.
Dem gab es einen Stich ins Herz, und er wurde rot.
„Nun, ja …“
Er gab sich einen Ruck, und wandte sich an Lilija: „Erzähl mir von dir, bist du verheiratet? Hast du noch mehr Kinder?“ „Ich bin geschieden – mein Mann, er ist Schwede, verließ mich eines Tages, er war trübsinnig geworden hier oben im Norden und hat das Trinken angefangen. Er lebt jetzt in Stockholm, und ja, ich habe noch einen Sohn, der fährt jetzt das Touristenboot. Es ist natürlich nicht mehr das alte, es ist fast doppelt so groß und sehr modern. Wir haben uns materiell sehr verbessert.“
„Ich habe es bemerkt.“
Inzwischen war Hjördis mit dem Essen zurück und stellt es vor ihm auf den Tisch.
Als sie zurückgehen wollte, lud Raimund sie ein: „Komm, setz dich doch zu uns.“
Sie blickte ihre Mutter an. Lilija nickte und dann saßen alle drei vereint am Tisch.
„Ich weiß nicht viel über euch“, sagte Hjördis, „nur dass …“, sie sah Raimund an, „… du einmal einen ganzen Winter dort draußen in der Hütte im Vistas-Delta verbracht hast und dass sich da zwischen euch beiden etwas angesponnen hat.“
Sie blieb Raimund zugewandt. „Wie bist du hierhergekommen?“, fragte sie. „Du bist nicht gerade wie ein Lapplandtourist gekleidet – eher so wie ein Städter, der sich hierher verirrt hat.“
Hjördis hielt einen Moment inne und blickte ihn weiter direkt an: „Gar nicht so wie jemand, der schon einmal einen ganzen Winter hier verbracht hat.“
„Das hast du fein erkannt“, erwiderte ihr Raimund, „ja, ich komme von Narvik herüber, mein Schiff liegt dort für wenige Tage in der Werft.“
„Raimund ist der Kapitän dieses Schiffes“, ergänzte Lilija.
Hjördis pfiff beeindruckt durch die Zähne.
„Donnerwetter!“, sagte sie. „Erzähl uns von deinen Fahrten.“ „Nun lass ihn erst einmal aufessen“, sagte die Mutter, und an Raimund gewandt: „Wie lange bleibst du?“
„Nur diesen einenTag.“
„Nun, dann haben wir ja kaum Zeit, uns deine Erzählungen anzuhören.“
Raimund verzehrte sein einfaches Mahl.
„Schmeckt großartig“, lobte er zwischen zwei Bissen.
Als er zu Ende gekaut hatte, lehnte er sich kurz zurück, wischte sich mit der Serviette zufrieden über den Mund.
„Mein Gott“, meinte er, „es ist fast wie früher. Ich habe so ein Gefühl, als wäre ich niemals fortgewesen.“
Er beugte sich wieder über seinen Teller, um weiterzuessen, aber dann richtete er sich noch einmal auf: „Es ist ein Gefühl, als wäre ich nach all den langen Jahren endlich nach Hause gekommen.“
Er blickte kurz zu Lilija hinüber und bemerkte, dass ihre Augen feucht geworden waren.
Aber es war Hjördis, die ihn fragte: „Hast du dich denn sonst niemals zu Hause gefühlt?“
„Doch, aber das dauerte nur zwei Jahre. Ich habe vor vielen Jahren in Guatemala mit einer Frau zusammen in einer Hütte gewohnt, die der dort draußen im Vistas-Delta glich.“
Schweigend beendete er sein Mahl und trank den Rest in seiner Tasse aus. Daraufhin blickte er sich in dem leeren Raum um.
„Es sind gar keine Touristen oder Wanderer hier“, stellte er fest.
„Ach, es ist noch nicht die Zeit für Touristen“, sagte Lilija, „wir haben auch erst seit einer Woche wieder geöffnet. Oben im Fjäll ist noch alles vereist und alles ruht noch unter einer dicken Schneedecke.“
„Aber wem erzähle ich das“, setzte sie hinzu.
Raimund schwieg. ‚Mein Gott, es ist alles so furchtbar lange her‘, dachte er.
„Gibt es meine Hütte noch?“, fragte er dann plötzlich.
„Aber ja, es gibt sie noch“, lachte sie, „hier oben bei uns im Norden hält alles ewig.“
‚Ja‘, dachte Raimund, ‚hier hält alles ewig. Ob es wohl ihre kleine Kåta dort oben in der Einsamkeit des Fjälls auch noch gibt?‘
Er sah Lilija an und ihm schien es, als wenn sie seine Gedanken erraten hätte. Aber sie sagte nichts.
„Wie ich hörte, steht sie zum Verkauf “, warf Hjördis ein.
„Wie? Was soll verkauft werden?“, Raimund war verwirrt.
„Na, die Hütte dort im Vistasdalen.“
„Ach so, die!“
„Nicht zu viel Emotion, Nina!“, rief Raimund. „Versuch es trostloser zu sprechen.“ Er sann eine Weile nach: „… Eher klagend als verzweifelt!“
„Ich verstehe“, sagte Nina und versuchte es noch einmal.
„Ja, toll, genau so!“
Er grübelte eine Weile vor sich hin. Schließlich erhob er sich hinter seinem Regiepult.
„Bis hierher – lasst uns an dieser Stelle unterbrechen.“
Gefolgt von seinem Regieassistenten quetschte er sich durch die Sitzreihen und hastete die kleine Treppe an der linken Seite der Bühne hinauf.
Die beiden Schauspieler gesellten sich zu ihnen.
„Soll ich auch dazukommen?“, ertönte die Stimme einer Frau aus der Balkonloge rechts.
„Ja, bitte!“, rief Raimund zu ihr hoch.
Es dauerte eine Weile, bis die Frau sich, ihre Violine in der Hand, der kleinen Gruppe auf der Bühne angeschlossen hatte.
Es war Gunhild aus Kiruna.
Bereits während seiner ersten Proben, noch auf der Probebühne, hatte sich Raimund an sein Versprechen erinnert, Gunhild zur Premiere einzuladen, und dabei war ihm die Idee gekommen, sie zu fragen, ob sie nicht die Musik für seine Produktion machen wolle.
Raimund hatte sich – lange bevor er mit den Proben begonnen hatte – von seiner Idee, einen modernen, zeitgemäßen Shakespeare zu inszenieren, vollständig verabschiedet.
Er nannte sein Stück jetzt „Romeo und Julia in der Arktis“ und inszenierte es, bis auf die Rolle des Vaters, als ein Zwei-Personen-Stück. Für die Dialoge zwischen Romeo und Julia versuchte er weitgehend den Shakespeare-Dialogen zu folgen, hatte aber Spielort und Darsteller radikal verändert.
Es ging ihm hier nicht mehr um den Krieg zweier verfeindeter Familien, die eine Heirat der Protagonisten hintertrieben und damit am Ende die Tragödie auslösten, sondern um die Unvereinbarkeit einer Heirat zweier junger Menschen aus grundverschiedenen Kulturen.
Es war eine nicht eben kleine Herausforderung für die beiden jungen Schauspieler, eine ganze Aufführung lang auf der Bühne zu agieren und die Spannung zu halten. Es war das Wandeln auf einem schmalen Grat, Gefühle zu zeigen und auszulösen, ohne dabei sentimental zu werden. Sie hatten die Herausforderung angenommen.
„Lasst uns an dieser Stelle weitermachen“, beschloss Raimund nun, die kleine diskutierende Gruppe auf der Bühne auflösend, und ging zurück zu seinem Pult.
Alle warteten, bis Gunhild in ihrer Loge angekommen war.
„…vom Ende meiner Musik an?“, fragte sie.
„Nein, vom Beginn der Musik!“, rief Raimund zu ihr hoch, wandte sich zurück zur Bühne und fügte mit dem ihm eigenen schiefen Lächeln hinzu: „Das bringt uns alle vielleicht ein wenig leichter in die Stimmung der Szene zurück.“
Sein Bühnenbildner hatte Raimund ein riesiges, karges Bühnenbild geschaffen, in dem die Personen zwar sehr verloren und dennoch kraftvoll agierten. Es bestand aus einem neun Meter hohen weißen Rundhorizont, der sich angefangen am linken Portal über die gesamte Bühnenfläche bis zur Rückwand zum rechten Bühnenportal spannte. Der Boden war mit einem ebenfalls weißen Bodentuch bedeckt. Es war ein dickes und flauschig weiches Textil aus Kunststoff, das die beiden Schauspieler in die Lage versetzte, sich auf Skiern an den Füßen zu bewegen. In der Bühnenmitte, ziemlich weit hinten, sah man eine typisch lappländische Kåta und nach oben schloss ein weißer Plafond das Bühnenbild ab. Er bestand aus einem Material, das man von oben beleuchten konnte wie einen arktischen Himmel. Was die Musik für das Stück betraf, hatte Raimund Gunhild völlig freie Hand gelassen. Das leise, getragene, aber immer wieder jäh ansteigende Spiel ihrer Violine unterstützte unaufdringlich die Dialoge der beiden Schauspieler in diesem ansonsten karg minimalistisch inszenierten Theaterstück.
Raimund hatte, sich sehr bewusst, wie hart er sich damit an der Grenze zum Kitsch bewegte, drei Tänzerinnen engagiert. Er setzte sie, gekleidet in lang wallenden weißen Gewändern, immer dann ein, wenn er hin und wieder die Szene aus der Realität eines arktischen Winters in eine Traumsequenz hinübergleiten ließ.
Die ganze Produktion war ja eine Gratwanderung, und ohne seinen Dramaturgen, der stets neben ihm am Pult saß, hätte Raimund wohl einige Male die Grenze zu einem vielleicht recht zauberhaften, aber reinen Unterhaltungstheater überschritten.
Während der gesamten Probenzeit lag seine treue Hündin Akka von Kebnekajse zwischen den Sitzreihen zu seinen Füßen. Eine seiner Hospitantinnen hatte sich sehr gern bereitgefunden, zwischen den Proben mit dem Hund spazieren zu gehen. Raimund war sich bewusst, dass dieses Leben für einen Hund, der die Weite Lapplands gewohnt war, nicht sehr optimal war, aber das Wichtigste für sie schien, dass sie immer bei ihm sein konnte. Und ebenso hatte auch er das Gefühl, nicht arbeiten zu können, ohne Akka bei sich zu wissen. Gunhild hatte einmal im Scherz gesagt, dass Akka eigentlich als Co-Regisseurin im Programmheft erscheinen müsste.
Die Tage gingen dahin, schneller als sie alle gedacht hatten. Nun endlich war es so weit, in wenigen Tagen sollte die Premiere sein und Raimund war mit seiner Kraft ziemlich am Ende. Er musste sich sehr zusammenreißen, um nicht immer wieder die Nerven zu verlieren.
Mit seinen beiden jungen Hauptdarstellern hatte er aber wahrlich einen Glücksgriff getan. Sie waren erst vor noch gar nicht so langer Zeit von der Schauspielschule gekommen. Sie hatten es grandios verstanden, sich in ihrem Spiel zurückzunehmen und überzeugend in ihre Rollen und das Thema des Stückes zu finden.
Das, was Raimund hier inszenierte, war nichts weniger als sein eigenes Leben, aber mit Ausnahme von Gunhild wusste das glücklicherweise niemand. Nun, manch einer mochte es ahnen, denn alle hatten natürlich von seiner achtmonatigen Überwinterung in Lappland gehört, aber natürlich dachten sie, dass er dies aus dem einzigen Grund gemacht habe, um Erfahrungen für sein Stück zu sammeln. Gunhild allein bemerkte aus ihrer Loge heraus, wie Raimund während der Durchläufe mehr als einmal mit seinen Tränen zu kämpfen hatte, wenn die beiden Schauspieler allzu lebensecht in ihren Rollen agierten.
Schließlich war er gekommen, der große Tag. All die vielen Mitarbeiter, die an dieser Produktion mitgewirkt hatten, wuselten voller Aufregung und anscheinend ohne Sinn und Ziel durcheinander. Man fiel sich in die Arme, wünschte einander toi, toi, toi, und alle beschenkten einander mit einer Kleinigkeit, die auf irgendeine Weise mit dem Stück im Zusammenhang stand.
‚Das ist auch so eine schöne Tradition am Theater‘, dachte Raimund.
Alle standen unter schrecklicher Anspannung. Raimund ließ es sich nicht nehmen, noch nach vorn in den Zuschauerraum ins Beleuchter-Stellwerk zu gehen und den Kollegen vom Licht ebenfalls toi, toi, toi zu wünschen.
Schließlich kam von der Inspizientin das Zeichen für den Einlass.
Raimund wartete auf der linken Bühnenseite am Inspizientenpult, bis das Stück begonnen hatte, und zog sich dann leise zurück, um in die Kantine zu gehen. Natürlich hätte er die Möglichkeit gehabt, von einer der Logen aus, seine Premiere zu verfolgen, aber es war ihm unmöglich, das auszuhalten. Er setzte sich an einen entfernten Tisch. Eine Gruppe von Mitarbeitern hatte sich um den Monitor geschart, um das Geschehen auf der Bühne in atemloser Spannung zu verfolgen.
Raimund war so zumute, dass er sich am liebsten betrunken hätte. Seine Mitarbeiter achteten sein Bedürfnis nach Abgeschiedenheit und ließen ihn taktvoll in Ruhe. Natürlich konnte er vom Monitor herüber die Dialoge und das Spiel von Gunhilds Violine hören.
Das Stück lief ohne eine Pause und die Zeit wollte und wollte – im krassen Gegensatz zu den Proben – nicht vorangehen.
Alles schien sich wie in Zeitlupe abzuspielen.
Endlich, nach scheinbar endlosem Ausharren, erklang der Durchruf der Inspizientin: „Bitte alle Beteiligten zum Stückschluss und zum Applaus!“
Raimund sprang wie elektrisiert auf und eilte zur Bühne. Sein Herz klopfte rasend.
Am Inspizientenpult hatte sich bereits eine kleine Schar versammelt.
„Wie ist es gelaufen?“, fragte er die Inspizientin flüsternd.
„Super!“, wisperte diese zurück und wandte sich wieder ihrem Mikrofon zu.
„Achtung bitte, für den Blackout“, sprach sie in ihr Mikrofon zum Beleuchtungs-Stellwerk.
„Danke“, kam es lakonisch zurück und dann auf einmal – zack – verlöschte das Bühnenlicht.
Eine quälend lange Zeit herrschten Dunkelheit und Stille, bevor der Applaus losbrach.
Das Licht ging an, die Schauspieler gingen, sich an den Händen haltend, aufatmend und gelöst an die Rampe, um sich zu verbeugen.
Der Applaus steigerte sich noch einmal um fast das Doppelte, als sie herauskamen. Das, was sie geleistet hatten, war eine schauspielerische Meisterleistung, und das Publikum lag ihnen zu Füßen.
„Bravo! Bravo!“, von überall kam es her und: „Bravo!“, immer wieder.
„Achtung für die Schwarzen!“, rief jetzt die Inspizientin.
Raimund lief automatisch und fast wie in Trance mit den anderen los und verbeugte sich vor dem Publikum.
Wieder riefen die Zuschauer: „Bravo! Bravo!“ Aber
vereinzelt war jetzt auch ein „Buuuh!“ zu hören.
Raimund hatte damit gerechnet, er war sich seiner Gratwanderung zwischen Kunst und Boulevard sehr wohl bewusst. Aber es kränkte ihn nicht. Er fühlte sich gelöst und glücklich.
Mehrmals musste er zusammen mit seinen Schauspielern hinaus.
Jetzt waren nur noch Bravos zu hören.
Er hatte sich mit Gunhild abgesprochen: „Wird es ein Erfolg, spielen wir.“
Und nach dem nächsten Vorhang kamen sie allein heraus.
Beide hielten sie ihre Violine in der Hand.
Es wurde totenstill im Saal.
Sie nickten sich kurz zu, setzten ihre Violinen an und spielten zusammen „Solveigs Song“, und als ihre Instrumente verklungen waren, riss es die Zuschauer von den Sitzen.
Sie verbeugten sich, winkten mit der Hand zur Seitenbühne und Nina und Johannes kamen noch einmal dazu. Schließlich verebbte der Applaus und langsam ging das Saallicht an. Auf der Seitenbühne hatte man inzwischen einen Tisch mit Sekt und Gläsern bereitgestellt. Es wurde angestoßen und jeder umarmte jeden.
„Danke, liebe Nina“, sagte Raimund ein ums andere Mal und drückte sie innig. Sie sah ihn mit glückstrahlenden Augen an.
Plötzlich aber umwölkte sich ihr Blick.
„Oh Gott, keine Tränen, Raimund“, bat sie.
Er hatte sich wochenlang beherrscht, aber nun konnte er sich nicht mehr zurückhalten.
„Bitte keine Tränen!“, wiederholte Nina, aber dann kullerten auch bei ihr die salzigen Perlen.
Glücklich lächelnd schauten sie sich durch tränenverschleierte Augen an und umarmten einander ein weiteres Mal.
Und dann kam Johannes an die Reihe. Auch ihm wurden die Augen feucht, und als schließlich Gunhild zu Raimund trat, um ihn zu herzen – sie war ja die Einzige, die um seine Geschichte wusste – da öffneten sich noch einmal die Schleusen. Ganz fest drückte Gunhild ihn und er zitterte unter dem Griff ihrer Arme. Es wurde eine sehr lange Umarmung und dann kam sein Intendant an die Reihe. Dieser klopfte ihm begütigend den Rücken und all die anderen – sein Bühnenbildner, seine Assistentin, und nicht zuletzt sein Dramaturg.
Eigentlich hatte Raimund jetzt nur noch den einen Wunsch, nach Hause zu gehen, aber er musste das Spiel bis zum Ende spielen. Alle strebten nun in die Kantine, wo die Premierenfeier stattfand. Er gehörte nun einmal dazu, er konnte sich jetzt nicht so einfach verdrücken.
Völlig unbekannte Menschen drückten ihm die Hand und beglückwünschten ihn.
Aber schließlich kam die Zeit, da er glaubte, nun unauffällig verschwinden zu können. Seine Augen suchten Gunhild und er nickte ihr zu. Sie bahnte sich sofort ihren Weg durch das Gedränge. Zusammen gingen sie nach draußen, um sich dort in Ruhe voneinander zu verabschieden. Gunhild war die Einzige, der er seine Pläne vorab anvertraut hatte.
Diese war Raimunds letzte Theaterpremiere gewesen. Er wollte und konnte hiernach nicht mehr weiter am Theater arbeiten. Er fühlte sich Lilija gegenüber wie ein Verräter.
Es war am Nachmittag nach der Generalprobe gewesen, da hatte er Gunhild gebeten, sie nach Hause begleiten zu dürfen.
„Ich habe Wichtiges mit dir zu besprechen“, hatte er gesagt,
„etwas, das mir sehr am Herzen liegt.“
Und so waren sie, begleitet von Akka von Kebnekajse, zu ihr in ihre Wohnung gegangen.
„Ich möchte, dass du sie mit zurück nach Lappland nimmst“, hatte er gesagt. Und weiter hatte er ihr erklärt, dass er seine Laufbahn als Theaterregisseur mit dieser Premiere beenden würde.
„Ich kann so nicht weitermachen, nicht nach diesem Stück! Ich gehe fort vom Theater. Ich fahre wieder zur See. Ich gehe von hier aus zur Seefahrtsschule in Cuxhaven und mache dort mein Steuermannspatent.“
Gunhild hatte ihn daraufhin lange Zeit schweigend und mit entsetztem Blick angestarrt.
„Bitte bring Akka zurück zu Lilija – ich weiß, es wird ihr das Herz zerreißen. Sag ihr, was ich vorhabe. Vielleicht kann sie es verstehen.“
Gunhild hatte lange nachgedacht.
„Und warum gehst du nicht zurück nach Lappland?“
„Derselbe Grund, weswegen es mir nicht möglich ist, weiterhin einer Theaterlaufbahn zu folgen, würde ebenso für meine Rückkehr gelten. Immer wird mir vor Augen stehen, dass ich um meiner Karriere willen, eine Liebe verloren habe.
Es ist die Aussage meiner Inszenierung, für ein einfaches Leben in der Wildnis muss man geboren sein. Würde unsere Liebe ausreichen, um ein ganzes Leben dort oben leben zu können? – Nein!“
Gunhild dachte wieder lange nach.
„Also läufst du davon!“, hatte sie schließlich festgestellt. „Du weißt vermutlich, dass dies eine Flucht vor dir selber sein wird.“
„Ja, und vor sich selber kann man nicht fliehen“, hatte er daraufhin erwidert.
„Nein!“
„Weißt du etwas Besseres?“
„Nein.“
Und nun standen sie beide vor dem Bühneneingang.
„Lebe wohl, Gunhild“, sagte er und drückte sie an sich, „wer weiß, vielleicht werden wir uns ja irgendwann einmal wiedersehen.“
„Lebe wohl, lieber Raimund, es war eine schöne Zeit mit dir.“
„Grüß Lilija von mi…“, wollte er sagen, aber besann sich:
„nein tue es nicht, bring ihr einfach nur den Hund. Es wird ohnehin schlimm genug für sie sein.“
Raimund drehte sich um, und ohne noch einmal zurückzuschauen, ging er davon.
„Lebe wohl, lieber Raimund“, flüsterte Gunhild, „alles Gute für dich, auf all deinen Wegen.“
Sie blickte ihm nach, bis er um die nächste Straßenecke verschwunden war.
Es war bereits Nacht, als Raimund mit seinem Handgepäck am Hauptbahnhof Hamburg in die U-Bahn in Richtung St. Pauli Landungsbrücken stieg. Er hatte schon am Nachmittag sein Gepäck an Bord gebracht und sich dem Kapitän und seinem Ersten Offizier vorgestellt.
Nun sollte es endlich losgehen. Es waren nicht wenige Jahre vergangen, dass er zum letzten Mal das Deck eines Schiffes betreten hatte.
Mitternacht war eben vorbei, als er die Station verließ. Auf der Brücke, die über die Straße zu den Landungsbrücken hinüberführte, hielt er für einen kurzen Moment inne, um seinen Blick über den nächtlichen Hafen mit all seinen vielen Lichtern schweifen zu lassen.
Er war in einer etwas melancholischen Stimmung. Mein Gott, sollte das mit den Gefühlen denn immer so weitergehen? Heute hier, morgen dort, nirgendwo lange, nirgendwo zu Hause. Aber ein aufregendes Leben war es schon, das nun wieder vor ihm lag. Eine Reise dorthin, was sich hinter dem Horizont verbarg. Das Unbekannte, das Abenteuer, das wir unsere Welt nennen.
Raimund gab sich einen Ruck und setzte seinen Weg fort über die Brücke, die zu den Pontons hinunterführte.
Eine Gruppe später Heimgeher begegnete ihm, junge fröhliche Menschen, die aus einem der Lokale oder von einer Feier kamen. Sie lachten, redeten und schrien alle durcheinander. Die jungen Burschen hielten ihre Begleiterinnen im Arm. Ein schöner Abend schickte sich für sie an, zu Ende zu gehen.
Unten auf den Pontons war es still. Niemand war hier mehr unterwegs. Raimund wandte sich nach links, dorthin, wo die Wassertaxis lagen, und ließ sich zum Kuhwerder Hafen übersetzen.
Als die kleine Barkasse in den großen Strom einschwenkte, ging ihm plötzlich ein Lied durch den Kopf, das er oft gehört hatte, als er als Kind abends im Bett lag und von fernen Ländern träumte:
„Mitternacht von Fähre sieben,
mussten wir nach Tollerort.
Sagten wir: Bye-bye, ihr Lieben,
nächster Hafen wird geschrieben,
ob auch alles wohl an Bord.“
‚Ein Abschied ist zugleich auch immer eine Verheißung‘, dachte er, ‚wenn man nach so langer Zeit wieder hinausfährt in die Welt.‘
Es war nicht wenig, was er hinter sich zurückließ: eine vielversprechende Karriere als Theaterregisseur, der er seinen lappländischen Traum vom einfachen Leben geopfert hatte.
Wieder einmal war er auf der Flucht, einer Flucht vor sich selbst. Wie oft würde er noch davonlaufen?
Es lag nur noch ein einziges Schiff an der Kaimauer des Schuppens 75, und es war sein neues Schiff, sein neues Kommando.
In dem Augenblick, als er die Gangway halb emporgeklettert war, war er Dritter Offizier auf der MS „Hammonia“.
Raimund schaute sich noch einmal um.
Das Laden war bereits beendet, die großen Schiebetüren der Lagerschuppen geschlossen. Einige Hängelampen unter dem Vordach verbreiteten ein trübes Licht. Er wischte sich kurz über die Augen und setzte entschlossen seinen Weg fort. Oben an der Reling bemerkte er jetzt erst den jungen Mann, der ihn anscheinend schon eine ganze Weile beobachtet hatte. Dieser hielt beide Arme auf der Reling aufgestützt, eine brennende Zigarette hing ihm im Mundwinkel.
„Moin, Stürmann“, brummte er, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen.
Es hatte sich also bereits herumgesprochen, dass es einen neuen Dritten Offizier gab.
„Moin“, nickte Raimund ihm zu.
Schon im Begriff, durch das Schott ins Innere des Schiffes zu gehen, drehte Raimund sich zu dem anderen zurück.
„Welche Wache?“
Der Matrose nahm jetzt seine Zigarette aus dem Mund und grinste: „Die Hundewache, genau wie Sie.“
Raimund räusperte sich: „Ah, so, na denn, auf gute Zusammenarbeit.“
Er hielt ihm seine Hand hin.
„Raimund Petersen“, stellte er sich vor.
„Holger Burmester!“
„Bis später“, erwiderte Raimund und verschwand durch die Tür.
Er folgte einem Gang bis zur Mitte des Schiffes und stieg hier die links abzweigende Treppe hinauf. Oben angekommen, befanden sich auf der Backbordseite die Kammern der Offiziere. Vor einer Tür aus dunklem Teakholz machte er Halt. Über der Tür war ein Messingschildchen angebracht, darauf stand: „Dritter Offizier“. Hier war nun für unbestimmte Zeit sein Zuhause.
Raimund betrat den Raum und schloss die Tür hinter sich. Seine Uniform, bereits ausgepackt, lag ausgebreitet über seiner Koje. Der Raum machte einen durchaus gemütlichen Eindruck. Seine Koje befand sich gleich rechts neben der Tür und an der gegenüberliegenden Wand bemerkte er ein Bullauge. Nein, Bullauge konnte man es eigentlich nicht nennen. Wenn auch nur ein kleines, so war es doch ein richtiges Fenster mit abgerundeten Ecken und sogar einer kleinen Gardine versehen. Links neben der Tür war ein Waschbecken mit einem niedrigen Toilettenschränkchen daneben. An der gegenüberliegenden Wand neben dem Bullaugenfenster stand ein Schreibtisch, davor ein gepolsterter Schreibtischstuhl mit runder Rückenlehne und Armstützen. Hier konnte man sich durchaus wohlfühlen, fand er.
Ein Blick auf die Uhr zeigte Raimund, dass es Zeit war, sich zum Ablegen bereitzumachen, und so tauschte er seine Zivilkleidung gegen die Uniform und begab sich ohne große Eile aufs Achterdeck. Hier hatte er beim Ablegen des Schiffes die Aufsicht. Seine drei Matrosen waren bereits da, Holger Burmester einer von ihnen.Raimund gab den beiden anderen die Hand und stellte sich vor.
„Na, dann wollen wir mal“, sagte er, woraufhin die drei Matrosen pflichtschuldig grinsten.
Die Luken des Schiffes waren bereits geschlossen, und als er seinen Blick über das träge an die Bordwand schwappende Hafenwasser schweifen ließ, entdeckte er auch schon das Festmacherboot, das soeben um das Höft herumgeschippert kam.
Raimund folgte mit seinen Augen dem Boot, bis es an einer der eisernen Leitern des Kais festmachte. Die vier Insassen kletterten auf den Kai hinauf und bezogen Stellung bei den Pollern, an denen die „Hammonia“ festgemacht war. Nun schaute er zur Brücke hinauf, wo der Erste Offizier bereits in der Nock stand und auf den Kai schaute.
Raimund sah ihm an, dass jener seinen Blick fühlte, aber er erwiderte diesen nicht. Raimund lächelte in sich hinein, er kannte den Grund.
Nun aber tauchten zwei Schlepper hinter dem Höft auf und strebten mit schäumender Bugwelle auf sie zu. Einer von beiden verhielt am Bug des Schiffes und der andere kam zu ihnen ans Heck und drosselte seine Fahrt. Zwei Matrosen standen an seinem Heck, bereit, die Schlepptrosse zu übernehmen. Raimund tippte grüßend an den Schirm seiner Mütze.
„Klar bei Wurfleine“, kommandierte er, aber Holger hielt sie bereits aufgeschossen um seinen Unterarm, ihr Ende mit dem Wurfknoten in der anderen Hand, bereit zum Werfen.
Jetzt winkte einer der Decksleute auf dem Schlepper.
„Leine rüber!“, brüllte Raimund, und da flog sie auch schon in hohem Bogen hinüber.
Der Mann unten auf dem Schlepper fing sie behände auf und beide zogen mit vereinten Kräften die schwere Festmachertrosse herüber, um sie auf dem großen eisernen Haken des Schleppers zu belegen. Der vordere Schlepper hatte ebenfalls bereits die Trosse übernommen und Raimund blickte zu seinem Ersten in der Nock hinauf.
„Achterspring los!“, rief dieser nun und kurze Zeit darauf: „Vorspring los!“, worauf die Matrosen der „Hammonia“ lose auf die Leine gaben.
Die Festmacher auf dem Kai lösten nun die schweren Leinen vom Poller. Sie fielen mit einem lauten Klatschen ins Wasser und wurden von den Matrosen kräftig eingeholt. Nur wenig später kam von der Brücke das Kommando: „Achterleine los!“, und als Letztes: „Vorleine los!“
Die beiden Schlepper nahmen nun Fahrt auf und wenig später befand sich die „Hammonia“, von den Schleppern gezogen, bereits in der Ausfahrt in den großen Fluss. Jetzt kam aus ihrem Schornstein ein dumpfes hustendes Fauchen, ganz von unten herauf aus der Tiefe des Schiffes. Die Maschine war angeworfen worden, die „Hammonia“ zum Leben erwacht. Das Schraubenwasser schäumte unter dem Heck des großen Schiffes und die Leinen zu den Schleppern wurden losgeworfen. Sanft und nahezu lautlos glitt der Frachter in das Fahrwasser der Elbe. Niemand mehr war an den Ufern des nachtschwarzen Stromes, um ihren Abschied in die große weite Welt mitzuerleben. Raimund nickte seinen Männern zu und machte sich auf den Weg zur Brücke. Es war just die Zeit, in der er Brückenwache hatte. Er betrat das Brückenhaus und nickte dem Ersten kurz zu, der sich gerade anschickte, an ihm vorbei die Brücke zu verlassen. Der Kapitän, der links neben dem Rudergänger stand, wandte sich ihm zu und lächelte.
„Ah, Herr Petersen, schön, Sie zu sehen“, begrüßte er Raimund und an den Mann mittleren Alters gewandt, der in Zivilkleidung neben ihm stand, fuhr er fort: „Darf ich Sie mit unserem Dritten, Herrn Petersen, bekanntmachen?“
Der Mann streckte die Hand aus und begrüßte Raimund.
„Kramer“, sagte er.
Er war der Lotse.
Raimund nickte nun auch dem Rudergänger zu und alsdann kam einer der drei Matrosen vom Achterdeck auf die Brücke, meldete sich und bezog seinen Posten als Ausguck in der Steuerbordnock. Ganz vorn am Steven, Raimund konnte es in der Dunkelheit kaum erkennen, glaubte er, den Ausguck auf dem Vorschiff zu sehen.
‚Ach Gott‘, dachte er, ‚wie lange mag es wohl her sein, dass ich selbst dort vorn gehockt habe, wenn mein Schiff wieder einmal die Elbe hinunter Richtung See unterwegs war.‘
Er hatte es so geliebt, dort vorn im Steven zu stehen und voraus in das Fahrwasser zu schauen. Es war der stillste Ort auf einem Schiff, wenn es in Fahrt war. Hier vorn hörte man nichts anderes als das leise Plätschern, mit dem der Bug durchs Wasser glitt. Und immer wieder war es wie eine Verheißung, nein, ein Versprechen gewesen. Es lockten ferne Länder und ganz besonders die Tropen, die er so liebte.
Die Personen auf der Brücke standen bis auf den Rudergänger vorn an den Fenstern und schauten in die Nacht hinaus. Ab und zu ertönte ein leises Kommando des Lotsen.
„Ruder fünf Grad Backbord!“
Es waren nicht mehr viele Lichter am Elbufer und am Süllberg zu sehen. Die Menschen schliefen. Nach etwa einer halben Stunde verzog sich der Kapitän und ließ Raimund mit dem Lotsen allein. Dieser war glücklicherweise ein Mensch, der das Schweigen dem Reden vorzog. Im Stillen dankte ihm Raimund dafür. Je mehr sich das Schiff der offenen See näherte, desto mehr verflüchtigte sich seine Melancholie. Die Tropen riefen ihn. Er konnte es förmlich hören und mit einem Mal wurde er von einer wilden Abenteuerlust erfasst.
„Hinaus! Hinaus in die Welt!“, rief es. „Mögen all die Trübsal und die Sorgen hinter dir zurückbleiben.“
Jetzt begannen drei lange Wochen auf See, drei Wochen nur Wasser und nichts als Wasser und einmal ringsherum der weite Horizont.
Sein nächster Hafen hieß Singapur.
Es war ein weiter Weg
Als die „Hammonia“ das Kap Finisterre an Backbord passiert hatte, war es langsam wärmer geworden, und wärmer wurde es nun mit jedem Tag, so lange, bis sie die heiße Zone erreichen und den Äquator kreuzen würden. Dann würde die Temperatur wieder zurückgehen und mit Erreichen des Kaps der guten Hoffnung erneut ansteigen. Aber auf einem Schiff ging das alles so langsam vonstatten, dass sich die Menschen gut daran gewöhnen konnten.
Nun, da sie die Küste Marokkos querab hatten, begann der Zimmermann mit Hilfe einiger Matrosen auf dem Achterdeck, direkt hinter den Aufbauten, das Schwimmbecken zu konstruieren. So war es allgemein üblich auf den Frachtschiffen, die die Weltmeere befuhren.
Wenn die Decksleute mit der Arbeit fertig waren, versammelte sich hier Abend für Abend die Mannschaft, um sich im warmen Seewasser zu vergnügen oder auch nur auf der Bank zu sitzen und sich zu unterhalten. Es war so schön hier, dass sich hin und wieder sogar einer von den Passagieren dort einfand, um den Geschichten zu lauschen, die sich die Seeleute hier erzählten.
Raimund stand als Dritter Offizier in der Hierarchie zwischen der Schiffsführung und der Mannschaft gleichsam mit einem Bein noch auf der einen Seite und mit dem anderen bereits auf der anderen. Die Schiffsführung sah es in der Regel gar nicht gern, wenn ihre Offiziere zu sehr mit der Mannschaft fraternisierten. Das aber sollte Raimund keinerlei Schwierigkeiten bereiten, denn er hatte bereits vorab einiges klargestellt.
Es verhielt sich nämlich so, dass ihn der Erste gleich bei seinem Antrittsgespräch ermahnt hatte – zumal es Raimunds erste Reise als Dritter Offizier war –, sich nicht zu sehr mit der Mannschaft gemein zu machen.
Das aber hatte ihm nun gar nicht geschmeckt, schließlich war er kein grüner Junge mehr.
Um nun diesen oder ähnlichen Ermahnungen seitens des Ersten Offiziers ihm gegenüber gar nicht erst Raum zu geben, hatte er jenem gleich zu Beginn sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er auf Ratschläge dieser Art jetzt und in der Zukunft keinerlei Wert legte. Er hatte sorgsam ein Bein über das andere gelegt und seinem Ersten Offizier in aller Ruhe erwidert:
„Lieber Herr Leineweber, es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass ich bereits einige Jahre älter bin als die Dritten Offiziere, die normalerweise ihr neues Kommando antreten. Seien Sie also bitte versichert, dass ich, bedingt durch meinen beruflichen Werdegang, bereits über ausreichend Menschekenntnis verfüge, um selber entscheiden zu können, wie ich mit der Mannschaft umgehe.“
Der Erste war bei dieser Zurechtweisung durch einen „Untergebenen“ knallrot geworden.