Zweitakterhass - Jürgen Will - E-Book

Zweitakterhass E-Book

Jürgen Will

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Beschreibung

Zweitakterhass - Der zweite Öldenettel-Krimi Nach den ersten turbulenten Kriminalfällen und dem tragischen Ausgang des Falles um den „Nadelkunstsammler“ sehnen sich die Kommissare Jan-Wilbur Jergens und Roman Alberts nach etwas Ruhe. Doch der Mord an Frau Harmsen, einer ehemaligen Finanzamt-Mitarbeiterin, ist noch ungelöst. Der gesuchte Mörder, bekannt als „Louis Lustmolch“, bleibt weiterhin auf freiem Fuß. Glücklicherweise greift Kommissar Zufall ein. Die kleine Polizeistation im ostfriesischen Öldenettel erhält Verstärkung durch Vanessa van Aken. Sie soll das Team unterstützen, bis Femke Claaßen wieder im Dienst ist. Vanessa, die eines Tages selbst Kommissarin werden will, wirkt kalt, unnahbar und karriereorientiert, was schnell zu Spannungen im Team führt. Auch Piet Müller, der selbsternannte Medienmogul und Herausgeber der „Umsschau“, sorgt erneut für einiges an Unruhe. Ein neues Gewaltverbrechen erschüttert das verschlafene Örtchen und fordert das Team um Jergens und Alberts erneut bis an ihre Grenzen. Die ungleichen Charaktere der beiden Kommissare müssen sich erneut beweisen und harmonisch zusammenarbeiten, um den Fall zu lösen. Auch im zweiten Teil warten außergewöhnliche Verbrechen mit ungewöhnlichen Motiven auf die Leser. Die Geschichte entwickelt sich abwechslungsreich, mit einer Prise Humor und unerwarteten Wendungen. Wer den ersten Teil genossen hat, wird auch hier begeistert sein.

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Inhaltsverzeichnis

1.

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Haftungsausschluss:

Jürgen Will

Zweitakterhass

Ein Ostfrieslandkrimi aus Öldenettel 2. Band

© / Copyright: 2024

Jürgen Will

1. überarbeitete Neuauflage

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Handlung und alle Namen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit existierenden Personen oder tatsächlichen Geschehnissen wäre rein zufällig.

1.

Endlich die letzte Tour für heute. Die Idee als Pizzalieferant zu arbeiten war nicht unbedingt die schlechteste, wie Benny nun zugeben muss. Zunächst hatte er gezweifelt, doch jetzt ist er überzeugt davon, dass er sich richtig entschieden hat. Brauchbare Bezahlung, dazu einen Motorroller, den er auch privat nutzen darf. Nebenbei findet er ausreichend Zeit für sein Studium. Die Navigations-App seines Smartphones reißt ihn aus seinen Gedanken. „An der nächsten Kreuzung rechts in die Straße ‚Dorfrand‘ abbiegen“, plärrt ihn die elektronische Stimme an.

Er schaltet runter, bremst und biegt in die unbeleuchtete Nebenstraße ein. Nur noch wenige hundert Meter, dann würde er die letzte Pizza für heute ausliefern. Der junge Mann empfindet es zwar als seltsam, dass hier in dieser einsamen Gegend jemand wohnen soll, aber das Navigationsgerät weiß es bestimmt besser als er. Hier ist er zuvor noch nie gewesen. „Sie haben Ihr Ziel erreicht“, ertönt es aus dem Lautsprecher seines Kopfhörers. Verwundert stoppt der junge Auslieferungsfahrer seinen Roller, schaltet den Motor aus, bockt das Zweirad auf den Ständer auf und steigt ab.

Er zieht die Handschuhe aus, nimmt den Helm ab und stopft die Handschuhe hinein. Immer noch misstrauisch legt er seine Ausrüstung auf der Sitzbank ab. Hier soll jemand eine Pizza wollen? Noch während er darüber nachdenkt, ob er wohl einem Witzbold aufgesessen ist oder ihn seine Kollegen kurz vor Feierabend noch mal hereinlegen wollen, sieht er in einigen Metern Entfernung eine Lampe aufflackern. Benny ruft in die Richtung der Lampe: „Haben Sie eine Pizza bestellt?“

Eine männliche Stimme antwortet: „Ja, kommen Sie her. Ich habe eine Autopanne und warte auf den Abschleppwagen. Da es wohl noch über eine Stunde dauern soll, will ich mir die Zeit mit einer leckeren Pizza vertreiben.“

Benny schaltet die Taschenlampen-App seines Smartphones ein und beleuchtet damit die Auslieferungstasche auf dem Gepäckträger seines Gefährts. Er nimmt die Lieferung heraus. Dadurch löst er eine leichte Bewegung des Zweirads auf dem Ständer aus, wodurch der Helm von der Sitzbank zu Boden fällt. Leicht genervt geht Benny um den Motorroller herum, hebt den Helm vom Grasstreifen neben der Straße auf und legt ihn nun in den Fußraum des Rollers. Er greift erneut die Pizza und geht in die Richtung, in der eben noch die Lampe zu sehen war.

„Hallo? Sind Sie noch da?“, ruft Benny in die Dunkelheit.

Im schwachen Schein der Smartphone-Lampe geht er weiter und sieht nach wenigen Metern das Auto stehen. Doch der Besteller scheint nicht mehr dort zu sein. Benny bewegt das Smartphone, um einen größeren Radius auszuleuchten. Es ist niemand zu sehen. Langsam kommt es ihm etwas unheimlich vor. Erneut ruft er: „Hallo, wo sind Sie? Sie wollen doch Ihre Pizza haben – oder etwa nicht?“

In diesem Moment hört er hinter sich ein Geräusch und dreht sich um. Im selben Augenblick spürt er einen stechenden Schmerz am Kopf. Jemand schlägt mit einem harten Gegenstand auf ihn ein. Benny beginnt zu taumeln. Ein weiterer Schlag trifft seinen Kopf und der Pizzabote fällt bewusstlos zu Boden.

2.

Kriminalkommissar Jergens betritt sein Büro in der kleinen Polizeidienststelle in Öldenettel. Kollege Alberts sitzt bereits am Schreibtisch. Jergens erwartet ein „Na verschlafen?“ von seinem Kollegen, denn auch heute ist er nicht pünktlich zu Dienstbeginn im Büro. Doch Alberts blickt nur kurz auf, nickt seinem Kollegen zu und widmet sich dann wieder seiner Arbeit. Diese scheint daraus zu bestehen, eine Auflistung durchzugehen.

Auch Jergens verspürt am heutigen Morgen keine große Lust auf Konversation. Noch immer sind die Eindrücke des Erlebten der vor vergangenen Woche präsent. Jergens setzt sich an seinen Schreibtisch, wählt, wie er es seit acht Tagen jeden Morgen macht, die Nummer des Krankenhauses in Sande und lässt sich mit dem, für seine Kollegin Femke Claaßen zuständigen, Arzt verbinden.

„Es tut mir leid, Herr Kriminalkommissar Jergens, aber Ihre Kollegin liegt noch immer unverändert im Koma. Sie hat die erneute Operation hervorragend verkraftet, aber alles andere muss sich erst ergeben. Wir haben aktuell keinen weiteren Einfluss auf Frau Claaßens Genesung.“ Jergens bedankt sich für die Information und legt den Hörer auf.

Er steht auf, geht wie üblich zum Kaffeeautomaten, wählt einen Kaffee mit Milch und blickt, in der unsinnigen Hoffnung, seine Kollegin käme aus der Richtung auf ihn zu, den Gang hinunter. Ebenfalls wie üblich benötigt der Kaffeeautomat einen festen Hieb von der Seite, bevor er unter seltsamen Geräuschen, scheinbar widerwillig, das gewählte Getränk herausgibt.

Im Grunde kannte Jergens Femke Claaßen nur wenige Tage, bevor der gesuchte Mörder sie niederstach. Scheinbar war sie ihm aber doch schneller ans Herz gewachsen als je jemand zuvor während seiner Laufbahn bei der Polizei. Sie war ihm sofort sehr sympathisch und nun vermisst er sie. Ein Rufen reißt ihn aus seinen Gedanken: „Jan, kannst Du bitte mal nach vorn kommen?“ Es ist Polizeimeister Tjark Rosenbohm, der ihn ruft.

Jergens geht zum Bereitschaftsraum. Dort steht eine schlanke, junge Frau mit dunklen Haaren. Ihr Alter schätzt Jergens auf Ende zwanzig. Ihr Kleidungsstil wirkt eher edel und es scheint, dass sie viel Wert auf ein optisch perfektes Auftreten als Frau legt. Ein süßlicher Parfümgeruch geht von ihr aus. Neben ihr steht Kriminalrat Buchtmann. Als er Jergens sieht, kommt er auf ihn zu, streckt ihm die Hand entgegen und sagt: „Guten Morgen, Herr Kriminalkommissar Jergens. Ich möchte Ihnen die Kollegin Vanessa van Aken vorstellen. Sie wird ab sofort hier ihren Dienst verrichten. Auf der Polizeischule hat sie als Jahrgangsbeste die Ausbildung beendet. Erste Erfahrungen konnte sie bereits in einer anderen Dienststelle sammeln, in der sie zuletzt sechs Monate mitarbeitete. Nun möchte ich, dass Sie sie gemeinsam mit dem Kollegen Alberts weitergehend und tiefer in die Polizeiarbeit einführen. Langfristig soll sie zur Kommissarin ausgebildet werden. Setzen Sie sie bitte für typische Tätigkeiten des Arbeitsalltags ein. Doch lassen Sie sie bitte nicht nur einfache Büroarbeit, sondern gerne auch anspruchsvolle Aufgaben erledigen. Letztlich liegt es in Ihrem Ermessen. Sollte, was ich allerdings nicht erwarte, ein erneutes Gewaltverbrechen geschehen, so lassen Sie sie auch an den Ermittlungen teilhaben. Auch darf sie gerne Einblick in die aktuelle Suche nach dem dritten Mann im Fall Harmsen bekommen. Frau van Aken wird zunächst für sechs Monate in dieser Außenstelle bleiben. Bis zur Genesung von Frau Claaßen kann sie, sofern aufgrund ihrer Erfahrung bereits möglich, die Arbeiten der Kollegin übernehmen. Die Leitung der Dienststelle habe ich Ihnen ja bereits letzte Woche übertragen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie Frau van Aken anfänglich in die tägliche Arbeit und die Abläufe in diesem Revier einführen und Ihre beruflichen Erfahrungen mit ihr teilen. Kollege Alberts wird ihr dann den Bereich der Einhaltung von Dienstvorschriften sowie die allgemein üblichen Vorgehensweisen erläutern und ihr alles Wichtige in dieser Richtung beibringen. Das ist nicht so ganz Ihre Stärke.“

Den letzten Teil von Buchtmanns Erklärung ignoriert Jergens. „Dann herzlich willkommen bei uns im Revier. Ich denke, dass Sie bei uns einiges lernen können.“

„Guten Morgen, Herr Kriminalkommissar Jergens. Auch ich freue mich, dass ich hier meinen Dienst beginnen kann“, begrüßt Vanessa van Aken ihren neuen Vorgesetzten etwas sehr förmlich und zurückhaltend.

„Ich werde dann ja hier nicht mehr gebraucht“, merkt Buchtmann an. „Den Kollegen Alberts stellen Sie ihr dann bitte vor. Ich muss zurück ins Präsidium. Tschüss und einen angenehmen Tag.“ Buchtmann nickt beiden nochmals zu und verlässt dann den Dienstraum.

Jergens bedeutet der jungen Frau, ihm das Gemeinschaftsbüro der beiden Kommissare zu folgen. Als sie das Büro betreten, blickt Alberts zu ihnen auf.

„Herr Kollege Alberts, das ist unser Neuzugang, Polizeimeisteranwärterin Vanessa van Aken. Sie soll langfristig Kommissarin werden und wir beide haben die Aufgabe, ihr die praktische Arbeit näherzubringen. Kriminalrat Buchtmann möchte, dass sie von uns beiden die jeweiligen Fähigkeiten und Tricks erlernt, um zukünftig einwandfreie Polizeiarbeit machen zu können.“

„Von uns beiden?“, hakt Alberts nach.

„Ja, das waren die Worte von Herrn Buchtmann. Ihre genauen Kenntnisse von Vorschriften und entsprechend konformen Vorgehensweisen soll sie ebenso lernen, wie meine intuitiven und manchmal etwas außergewöhnlichen Varianten der Polizeiarbeit“, antwortet Jergens.

Alberts schaut Jergens verwundert an. Es ist das erste Mal, dass Jergens selbst zugibt, dass seine Methoden oftmals nicht der Norm entsprechen. An die neue Kollegin gerichtet sagt er: „Herzlich willkommen, dann werden wir mal sehen, ob wir Ihnen das praktische Grundwissen unserer Arbeit vermitteln können und Sie eines Tages eine Kommissarin sind, die unsere beiden Stärken in sich vereint.“

Nun ist es an Jergens, verwundert zu schauen, denn es ist das erste Mal, dass Alberts Jergens teilweise unkonventionelle Arbeitsweise, wenn auch nur indirekt, als Stärke darstellt. Vielleicht gibt es ja noch Hoffnung, dass sich Alberts ein wenig aus der Deckung der Vorschriften und ordnungsgemäßen Vorgehensweisen herausbewegen wird.

„Ich weiß nicht, was Sie bevorzugen, Frau Kollegin, ich halte die Verwendung des "Sie" für die korrekte Anrede, Kollege Jergens duzt die Kollegen gerne.“

„Ich passe mich dem an, wie es hier üblich ist, habe aber gegen das Duzen eigentlich nichts einzuwenden“, entgegnet van Aken schon etwas entspannter.

„Gut, ich bin Jan-Wilbur, kurz Jan. Kollege Alberts hat zwar auch einen Vornamen, dieser ist hier aber bisher niemandem bekannt. Vermutlich ist der noch seltsamer als meiner und deshalb neigt er zum ‚Sie‘“, stichelt Jergens ein wenig in Richtung des Kollegen.

„Ich weiß nicht, was an dem Vornamen Roman seltsam sein soll. Ich halte es eben eher mit den weniger persönlichen Umgangsformen und fühle mich dabei besser. Aber, da sich hier alle mit dem Vornamen ansprechen, will ich es ausnahmsweise nicht verkomplizieren und bin ab sofort damit einverstanden, dass Sie mich mit Roman ansprechen.“

Jergens ist sprachlos. Er fragt sich, was in dem sonst so steifen Kollegen vorgeht, dass er einen solchen Schritt macht. Jergens beschließt aber nicht weiter darauf einzugehen, um diese winzige menschliche Annäherung ans Team nicht wieder zu zerstören.

„Vanessa, ich denke, Du kannst in dem vorderen Büro, den Gang runter, links vor dem Dienstraum, Deinen Arbeitsplatz einrichten. Das Büro wird flexibel genutzt, aber aktuell ist es ja nicht besetzt. Tjark wird Dir helfen, den PC für Dich einzurichten und Dir alles Weitere erklären. Üblicherweise würde es an die eher langweilige Arbeit gehen. Wir bekommen einiges an Beschäftigungstherapie, solange hier nichts passiert. In solchen Fällen arbeiten wir Akten durch, suchen Informationen jeglicher Art für die Kollegen in Oldenburg, Wilhelmshaven und Varel oder ergänzen Datensätze. Alles nicht sonderlich spannend, aber wir sollen eben nicht nur sitzen und auf das nächste Verbrechen warten. Insofern sind wir so eine Art Truppe für alles, was gemacht werden muss und keiner Präsenz in anderen Dienststellen bedarf, dem Internet sei Dank“, erklärt Alberts. „Wir sind eben keine TV-Kommissare, die nur arbeiten, wenn ein Fall anliegt. Wir müssen auch abseits davon tätig werden.“

„Da wir aber aktuell nach einem Tatbeteiligten suchen, der gemeinsam mit zwei Komplizen eine Frau tötete oder zumindest ihren Tod billigend in Kauf nahm sowie einen seiner Kumpanen erschoss, gibt es reichlich ‚echte‘ Polizeiarbeit zu erledigen“, klärt Jergens über die aktuelle Lage auf. „Auch in diesem Fall soll Tjark Dir die vorhandenen Informationen zugänglich machen.“

Van Aken nickt verstehend. „Ich gehe dann nach vorn und melde mich bei Tjark. Er und Helge haben sich mir schon kurz vorgestellt, als Polizeirat Buchtmann und ich auf Jan warteten.“

„Eines noch“, fügt Alberts hinzu. „Sie, äh, Du weißt, dass alle Informationen streng vertraulich sind und zu keiner Zeit außerhalb der Dienststelle erwähnt oder besprochen werden dürfen. Weder mit Deinem Freund, Deiner Familie, Deiner besten Freundin noch mit Pressevertretern. Ich denke, Du hast eine entsprechende Erklärung unterschrieben, richtig?“

„Ja, diese wurde mir von Herrn Buchtmann vorgelegt und ich wurde über die Geheimhaltungspflicht aufgeklärt“, bestätigt die junge Frau.

Sie verlässt das Büro und geht den Gang hoch nach vorn.

„Roman, das ist doch kein schlechter Name“, meint Jergens zu Alberts. „Also sind wir jetzt beim ‚Du‘.“

„Ja, ich denke, dass es in einem solch kleinen Team schon wichtig ist, etwas näher zusammenzurücken. Das bedeutet aber nicht, dass wir beide jetzt jeden Abend in der Kneipe sitzen und etwas gemeinsam trinken. Unser Aufenthalt im Nachtclub am vorletzten Freitag, auch wenn er nur beruflich begründet war, reicht mir zunächst für weitere Aktivitäten dieser Art. Wir werden weiterhin nur Kollegen sein, die miteinander arbeiten. Durch diesen etwas persönlicheren Umgang werden sich bestimmt auch bessere Ergebnisse erzielen lassen. Zumindest habe ich das gerade ihn einer Studie gelesen.“

„Ah, daher weht der Wind. Du bist so entgegenkommend, weil es in einer Studie steht. Wie auch immer, sofern es etwas bringt, soll mir der Grund egal sein. Hast Du aktuell was Neues bezüglich des durchgeknallten Tätowierers herausgefunden?“

„Ja und nein. Ich habe einige Informationen über ihn von den Kollegen aus Berlin erhalten, aber darin ließ sich nichts Neues finden. Allerdings haben die Kollegen ermittelt, dass er wohl irgendwo im Umland der Stadt einen Lagerraum gemietet hatte. Sie wollen den demnächst mal in Augenschein nehmen. Sollten sie etwas finden, dann melden sie sich bei uns. Sobald wir dadurch weitere Informationen erhalten, können wir ihn damit konfrontieren und vielleicht bekennt er sich doch zu seinen weiteren Taten.“

„An letzterem zweifle ich offen gestanden. Unser erstes Gespräch mit ihm war auch nur von Hass und Verachtung geprägt. Dennoch bin ich gespannt, welche weiteren grausigen Details noch herauskommen werden, denn schließlich haben wir bisher nur zwei von den Leichen, bei denen er die Tattoos herausgeschnitten hat, gefunden. Irgendwo müssen doch die sein, deren Tattoos bei ihm in seiner Sammlung an der Wand hingen.“

„Ich mache mich jetzt wieder an unsere zugeteilten Aufgaben und befürchte, dass wir die nächsten Jahre hier als Aushilfskräfte für unliebsame Arbeiten missbraucht werden“, sagt Alberts mit etwas genervtem Unterton und schluckt vernehmlich, wie er es immer macht, wenn ihn etwas ärgert. Offenbar hatte ihm der Einsatz trotz des unerwarteten Endes besser gefallen, als er bislang durchblicken lässt. Es ist immer ein Zwiespalt, in dem die Kommissare stecken. Natürlich will ein Kommissar ermitteln, andererseits ist es natürlich besser, sofern es nichts zu ermitteln gibt. Verbrechen sind für gewöhnlich kein Grund zur Freude.

„Bezüglich unseres ‚dritten Mannes‘ gibt es keine neuen Erkenntnisse?“, hakt Jergens nach.

„Nein, die Ermittlungen sind in einer Sackgasse. Auch Fischer hatte, wie Du bestimmt weißt, bei der offiziellen Vernehmung letzte Woche nicht mehr über die Person zu erzählen, als schon an dem Abend, an dem er bei uns seine Seele erleichterte. Ich bin die schriftliche Aussage nun schon dreimal durchgegangen, aber es gibt da keinerlei Anhaltspunkte, die uns zu Louis Lustmolch führen könnten“, fasst Alberts zusammen. „Ergibt sich nicht durch Zufall etwas, werden wir ihn wohl nie erwischen“, resigniert der Kriminalkommissar.

„Eines Tages macht er einen Fehler und wird wieder auftauchen, denn wer einmal bei solchen Sexpartys dabei war, der wird es auch in Zukunft nicht lassen können. Er weiß zudem nicht, dass wir nach ihm suchen. Laut offizieller Pressemitteilung waren es nur zwei Täter und davon ist einer tot, und der andere, Fischer, sitzt in Haft. Meine langjährige Erfahrung und besonders mein Bauchgefühl sagen mir, dass wir in Kürze wieder mit ihm zu tun haben werden“, ist sich Jergens sicher.

Alberts schaut ihn an, überlegt, was er antworten will, besonders auf das Bauchgefühl bezogen, nickt dann aber nur bestätigend und meint: „Warten wir ab, ob Du richtig liegst.“

„Während Du Dich an die langweiligen, zugeteilten Arbeiten für die Zentrale machst, werde ich abermals mit Fischer reden; eventuell ist ihm doch noch etwas eingefallen. Hatte er uns eigentlich eine Personenbeschreibung gegeben?“, will Jergens wissen. Alberts schaut in die Akte und sagt: „Nein, dazu hat er nichts gesagt. Meinst Du, dass er doch weiß, um wen es sich handelt und er uns Informationen vorenthält?“, wird Alberts nachdenklich.

„Er hat den Mann mindestens zweimal getroffen, einmal bei der bizarren Sexparty und später, als sie gemeinsam ihren Komplizen beseitigten. Louis Lustmolch wird kaum einen schwarzen Sack über dem Kopf getragen haben“, meint Jergens.

„Jan, ich denke, dass die langweilige Arbeit warten kann und wir ihn gemeinsam erneut verhören. Vielleicht sollten wir auch seine weiteren Angestellten im Finanzamt nochmals unter die Lupe nehmen. Sie wurden zwar von einem Kollegen aus Wilhelmshaven befragt, aber der ist noch recht jung. Alte Füchse wie wir, werden da eventuell mehr herausbekommen können“, ist Albert hoch motiviert.

Jergens schaut ihn an. „Echt, Du willst die Dir zugeteilten Aufgaben einfach auf später schieben?“, fragt er mit leicht ironischem Unterton.

Alberts schaut ihn an und erkennt die Ironie. „Ja, denn aktuelle Ermittlungen, die unsere Fälle betreffen, sind definitiv vorrangig zu behandeln. Ich denke, ich finde dazu auch die passende Dienstvorschrift“, antwortet Alberts ungewohnt aufsässig. „Du erstaunst mich immer wieder“, antwortet Jergens. „Machen wir uns auf den Weg.“

„Ja, gleich. Ich werde unseren Besuch in der JVA ankündigen, dann geht es etwas schneller, sobald wir dort ankommen.“

3.

Rund eine Dreiviertelstunde später erreichen sie die JVA in Wilhelmshaven. Auch wenn sie noch neu in der Gegend sind, so erkennen die Pförtner sie bereits. Optisch fällt das Kommissaren-Duo sofort ins Auge.

„Hallo, Sie kennen das Prozedere“, begrüßt sie einer der beiden Pförtner. „Herr Fischer ist bereit, mit Ihnen zu sprechen. Einen Anwalt wollte er nicht hinzuziehen“, informiert er die beiden Beamten aus Öldenettel.

„Davon waren wir ausgegangen, da uns Herr Fischer volle Unterstützung zugesagt hat. Er scheint noch etwas Anstand zu besitzen und versucht, seine Verfehlungen wenigstens ansatzweise wieder-gutzumachen“, antwortet Alberts.

Die beiden Kommissare legen ihre Waffen, Telefone sowie Gürtel, Schlüssel und sonstigen Gegenstände, die beim Durchschreiten der Sicherheitsschleuse einen Alarm auslösen könnten, in eine Kunststoffbox. Hinter der Schleuse nehmen sie mit Ausnahme ihrer Dienstwaffen alles wieder an sich.

In einem Verhörraum wartet bereits Fischer in Begleitung eines Justizvollzugsbeamten auf sie. Er sitzt an der einen Seite eines in der Mitte des Raumes stehenden Tisches.

Jergens und Alberts setzen sich ihm gegenüber an den Tisch.

„Guten Tag, Herr Fischer. Wie geht es Ihnen hier?“, fragt Alberts.

„Guten Tag, die Herren. Wie soll es einem im Gefängnis schon gehen? Mittlerweile ist mir in vollem Umfang bewusst geworden, an welchen üblen Dingen ich beteiligt war. Ich hatte viel Zeit nachzudenken und rückwirkend erkenne ich mich selbst nicht wieder. Es war mehr oder weniger, als würde ich von außen gelenkt und konnte mich nicht entziehen“, antwortet Fischer.

„Sie erwarten jetzt aber nicht, dass wir Ihr Vorgehen verstehen und Sie womöglich bedauern, oder?“, antwortet Alberts.

„Nein, natürlich nicht. Ich stehe zu den Dingen, die ich gemacht habe und auch zu der Aussage, dass ich Sie bei der Suche nach Louis Lustmolch unterstütze.“

„Gut, genau deswegen sind wir hier. Sie sagten selbst bereits, dass Sie viel Zeit hatten, um nachzudenken. Können Sie uns nun doch nützliche Informationen zu seiner Person sagen? Aussehen, Sprache, Bewegungen, irgendwelche Auffälligkeiten?“, fragt Jergens. „Vielleicht kennen Sie den Mann doch aus Ihrem Alltag. Oder wollen Sie etwa jemanden schützen?“

Fischer schüttelt vehement den Kopf. „Nein, ich will niemanden schützen, das sagte ich doch schon. Ich kenne den Mann nicht. Ich habe ihn zweimal gesehen. Einmal bei unserer Sexparty, das andere Mal, als wir gemeinsam Jack zur Rede stellten und Louis ihn letztlich tötete. An die Sexparty kann ich mich, außer an das Unglück, kaum und wenn, dann nur verschwommen erinnern. Ich hatte Alkohol und Kokain in großen Mengen intus. Louis trug, genau wie ich, während der gesamten Sexparty eine Maske vor dem Gesicht. Das waren solche Masken aus Papier, die man in jedem Spielzeugladen bekommt.“

„Die haben unsere Leute gefunden. An der Katzenmaske waren Ihre DNA-Spuren, an der Hundemaske, die von Jack, dessen Identität wir ebenfalls weiterhin nicht kennen. An der Eselmaske waren unbekannte DNA-Spuren, vermutlich die von Louis, sofern es stimmt, was sie erzählt haben. Hieß Ihr Motto des Abends ‚Bremer Stadtmusikanten‘, oder wie?“, will Jergens wissen.

Fischer überlegt kurz und sagt dann: „Ja, im weiteren Sinn tatsächlich. Wir hatten den Account, über den wir gestreamt haben, „Bremer Stadtmusikanten“ genannt. Einer von den beiden anderen hatte die Masken besorgt und weil es vier Masken unter dem Motto waren, dachten wir uns, es wäre lustig und gleichzeitig unverdächtig, wenn wir die Übertragung so nennen würden. Ehrlich, das hatte ich vergessen. Es fiel mir eben erst wieder ein, als Sie das Motto erwähnten.“

Jergens und Alberts schauen sich an. Dann poltert Alberts los: „Eine solche wichtige Sache haben Sie vergessen? Dennoch behaupten Sie, dass Sie uns helfen wollen. Was haben Sie sonst noch vergessen?“

Erschrocken rutscht Fischer etwas mit dem Stuhl zurück. Dann antwortet er kleinlaut: „Sie haben recht, ich hätte mich erinnern müssen, aber mein Gedächtnis hat bei all den Ereignissen dichtgemacht.“

„Gut, dann öffnen Sie Ihr Gedächtnis mal schnellstens wieder, sonst müssen wir annehmen, dass Sie doch vorsätzlich an einem Mord beteiligt sind“, fordert Alberts ihn mit harter Stimme auf.

„Können Sie mir sagen, bei welcher Plattform Sie sich angemeldet haben, um die Sexparty zu streamen?“, will Jergens mit ruhiger Stimme von Fischer wissen.

„Nein, das hat alles Annegret organisiert. Sie kannte sich da besser aus als ich. Vielleicht hat sie ja was auf ihrem Rechner im Finanzamt gespeichert“, antwortet Fischer. „Laut Aussage Ihrer Mitarbeiterin Frau Jacobi, soll das nicht möglich sein, da abends alle lokalen Daten wieder gelöscht werden“, entgegnet Jergens.

„Ja, das ist richtig. Aber wir haben eine kleine Partition einrichten können, die das nicht betrifft. Das war zwar illegal, aber so konnten wir Daten behalten, die wir lokal dort gespeichert haben. Ich schreibe Ihnen den Pfad und das Passwort auf, dann bekommen Sie dort Zugriff. Eventuell sind dort auch noch Sicherheitskopien hinterlegt, die Annegret angefertigt hat.“

Jergens hält Fischer sein Smartphone hin und fordert ihn auf: „Tippen Sie das bitte in die Notizfunktion ein, da ich keinen Block und Schreiber dabeihabe.“

„Warum haben Sie uns das nicht gleich gesagt?“, will Alberts wissen. „Irgendwie habe ich immer mehr das Gefühl, dass Ihre Hilfe bei der Aufklärung immer nur so weit geht, wie es sich nicht verhindern lässt, weil wir Erkenntnisse haben, die Sie nicht leugnen können. Also, ich fordere Sie letztmalig auf, mit jeglicher Information herauszurücken, die Licht in diesen Fall bringt. Ansonsten werde ich mit dem Staatsanwalt reden und ihm mitteilen, dass Sie der Drahtzieher der ganzen Angelegenheit sind und entsprechend zwei Todesfälle zu verantworten haben“, herrscht Alberts Fischer erneut sehr laut an.

Jergens schaut zu Alberts, sagt aber nichts, obwohl er denkt, dass Fischer bei so harscher Ansprache abblocken und es sich anders überlegen könnte. Mit etwas Einfühlungsvermögen besteht wenigstens eine geringe Chance, weitere Informationen zu bekommen.

Fischer sieht Alberts an und sagt: „Wissen Sie was, Herr Kommissar Alberts, ich werde gar nichts mehr sagen. Sie schnauzen mich an, obwohl ich Sie in Ihrer Arbeit unterstütze. Vergessen Sie nicht, dass ich Leiter einer behördlichen Außenstelle war und einen gewissen Umgangston erwarten kann. Ja, ich habe einen großen Fehler gemacht, das steht außer Frage. Dennoch lasse ich mich nicht von Ihnen anfahren wie ein kleiner Drogendealer vom Bahnhof. Ich kann wohl trotz allem einen gewissen Respekt vor meiner Person erwarten. Jegliche weiteren Gespräche finden nur in Anwesenheit eines Anwaltes statt. Fortan endet meine Bereitschaft, mich an Details zu erinnern und entsprechende Auskünfte zu geben“, erklärt Fischer mit Nachdruck. Zu dem Justizvollzugsbeamten gerichtet sagt er: „Bitte bringen Sie mich zurück in meine Zelle.“ Der Schließer schaut zu Jergens, der bestätigend nickt. Ihm ist klar, dass Alberts durch seine harte Art der Gesprächsführung die Chance auf Fischers weitere Mithilfe zunichtegemacht hat. Ohne ein weiteres Wort verlässt Fischer in Begleitung des Wachtmeisters den Verhörraum.

Alberts schweigt, denn ihm wird bewusst, dass er Schuld daran trägt, dass Fischer jetzt nicht mehr zur Aufklärung des Falles beitragen will.

---ENDE DER LESEPROBE---