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Boris Pasternak versuchte die Widersprüche seiner Zeit in seinen Gedichten aufzunehmen. Und doch erschien er vielen selbst wie der lebende Widerspruch: Er stand als einer der Ersten neben dem toten Majakowski, erhielt nächtliche Anrufe von Stalin, den er wenig später im ›Doktor Shiwago‹ zur Rechenschaft zog. Der zweite Band der von Christine Fischer edierten Werkausgabe zeigt Pasternaks Jahre der Entscheidung 1923-1943: Nachdem er - wie er in dem autobiographischen ›Schutzbrief‹ schildert - weder in der Musik, noch in der Philosophie seine Berufung findet, setzt er alles auf die Dichtung und eine Prosa, die zur Schwester seiner Poesie wird. Zwei Rätsel und ein Leben.
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Seitenzahl: 404
Boris Pasternak
Zweite Geburt
Werkausgabe Band 2 Gedichte, Erzählungen, Briefe
Herausgegeben von Christine Fischer
FISCHER E-Books
Themen und Variationen1916–1922
übersetzt von Ilse Tschörtner
An den Zäunen entlang laufen Nischen,
Breschen auf und ab über die Wand,
Wenn der Frühling nachts mit seiner frischen
Fracht Erzählungen kommt über Land.
Sein Herannahen reißt wie ein Recke
Tor und Tür aus den Angeln allein
Mit dem Schall der durchfahrenen Strecke,
Die ein Staubband wirft hinter sich drein.
Sie vernehmen als Erste den Schall.
Morgen, morgen erzähl ich euch mehr –
Wie das Stadtpflaster ihm Knall und Fall
Auf noch heißer Spur springt hinterher;
Wie im Morgen in Terpentinstrahlen,
Dunst aus Frühtau und Nadelsplitt, sich
Die Gebäude von Dach bis Tür baden,
Sich der Wachsoldat spült das Gesicht.
Welchem Baum und Strauch wär es noch neu:
Diese Stadt liegt jetzt leer nach der Nacht,
Weil ein jeder rennt mit dem Konvoi –
Nicht bei Sinn mehr und daher bewacht.
Wie viel Federn, nicht trauend den Ohren,
Aus den Augen sich reibend den Sand,
Springen wiederbelebt diesen Morgen
An die Fenster aus Verskünstlers Hand.
1921
Das Wasser flattert aus Rohren, Baken,
Dachrinnen, Rinnsalen und Kloaken
Von zwei bis eins und von neun bis acht
Und acht bis sieben nach Mitternacht.
Die Stadt hat Glatteis. Der wilde Besen
Des Winds fegt Pfützen wie Müll umher;
Man könnte, ohne ein Menschenwesen
Zu treffen, streifen landab bis Twer.
Um sechs Uhr fällt von der nassen Treppe
Und rauscht ins Wasser, versinkend wie
Bei Hochwasser eine Landschaftsecke,
Ein müdes: »Also, bis morgen früh.«
Der ferne Kolben setzt fort sein Schaben
Zum Osten hin, wo im Vorgefühl
Des Wasserrückgangs der kalte Abend
Mechanisch treibt sein Schamanenspiel.
Die Ferne, die ihre Regentrübe
Mit Streifen glitzernden Reifs drapierte,
Neigt hüstelnd, schwankend im Rausch, sich über
Die Kwass-Suppe, die der März servierte.
Und der Poet und die Märznacht gehen,
Sich Wort zuwerfend und Widerwort,
Zusammen, lehnend im Arm der Böen,
Nach Haus und von der Versammlung fort.
Und manchmal, mitten im Disputieren,
Den Schritt beschleunigend, sehen sie
Ein Spukbild – wie es sich zeigt und wieder
Sich in den Dunkelheiten verliert.
Es tagt, und rings im Amphitheater,
Das auf den Botinnenruf erscheint,
Kehrt das vom Treppenpodest gesagte
»Bis morgen« wieder und holt sie ein.
Es geht vor ihnen mit einem Rahmen,
Darin die Bäume und Häuser fahl
Wie aus dem Jenseits geschnitten ragen,
Wie, diesem Rahmen gleich, irreal.
Mit einer Hexameter-Triade
Versetzt es den Ausschnitt um ein Quadrat.
Was rausfällt, wird tot davongetragen.
Und keiner, der den Verlust gewahrt.
1922
Wie ein Fangseil die Zweige am Leibe zerreißend,
Dunkelroter als Gretchens geschlossener Mund,
Als die Augäpfel Gretchens verschleierter, heißer
Lachte, schluchzte die Nachtigall und schlug sich wund.
Wie der Gräserduft war sie, die Quecksilberfäden
Des im Faulbeerstrauch hängenden Regentalars.
Sie betäubte die Hirnrinde, schlug in den Schläfen,
Sie verflocht sich mit dem sich entflechtenden Haar.
Gretchen bog sich erstaunt, nach dem Silber zu greifen,
Strich sich über die Augen und sank jäh hinab,
Und da war’s, als ob eine im Wehrhelm aus Zweigen
Amazone, zu Boden gestreckt, sich ergab.
Und sie schlang unterm Nacken die Hand um die seine,
Rang nach hinten den Arm, wo, freigebend das Weib,
Sich der Helm, ihr entglitten, entfernte im Haine,
Und zerriss wie ein Fangseil die Zweige am Leib.
1919
Unterm Staub hervor rieselten sie aus den Toren
Am Sonntag, indessen im leeren Zuhaus
Durch die Fenster der Schlafzimmer in hellen Wogen
Der Wolkenbruch einbrach und tobte sich aus.
Üblich war’s überall, dass zum Mittagsmahl Regen
Serviert wurde, meistens beim vorletzten Gang,
Wobei Wind wie ein rasselndes Fahrrad verwegen
Fuhr über Kommode, Tisch, Diwan und Schrank.
Während dort also, knatternd die Stube ausschüttelnd,
Die Seidenstores flatterten, wurden im Freien
Die begriffsstutzig Schläfrigen muntergerüttelt
Von Teich, Graben, Mulde und Steg, Stock und Stein.
Später fanden sich sternstrahlig Wagen an Wagen
Die Kremsergespanne zusammen am Wall,
Wo ein Schatten erstand und sich wand, dass erschraken
Die Pferde, den Hals reißend in Richtung Stall.
Aus der goldüberflossenen Ferne gekommen,
In blutroten Strümpfen mit Knieschleifen, schwer
Das Land trommelnd, wie mit zwei Schlegeln die Trommel,
Schrumm, schritten des Teufels Zweibeine einher.
Und es schien, als ob, schießend durch Laub und Gestänge
Als Feuerstrahl sich überhebenden Muts,
Der Hochmut des Diskus die Erde verschlänge
Und duldete nur diese Federn am Hut.
Schließlich stand er, die Heimfahrer zählend wie Pfähle,
Den Finger zum Hut schwenkend, leutselig, scheint’s,
Und ging weiter, sich biegend im Lachen, erzählend,
Die Pfote gelegt auf die Schulter des Freunds.
1919
Der Kutscherhof und der dem Wasser in Stufen
Entstiegene mordende düstere Tower.
Und Hufschlag und -hall und das heisere Rufen
Des Westminsters, läutend der Welt große Trauer.
Verwinkelte Gassen. Die Wände, wie Schwamm
In quellendem Balkenwerk Feuchtigkeit speichernd,
Das braun ist wie Ale, dumpf wie Ruß, kalt und klamm
Wie London und bucklig wie nächtliches Schleichen.
Und Stille. Und Schnee in Spiralen. Grad hatte
Man zugemacht, als er, durchweicht, lappig, glatt
Wie aus einem Bauchverband rutschende Watte,
Zu fallen begann auf die Schwärze der Stadt.
Das Fenster, in Blei gefasst, sprühend vor Glimmer.
»Ach was, je nach Wetter … Ach, ausschlafen hier,
Das kann man in Freiheit dann, nachher noch immer …
Ach was, rauf aufs Fass! He, das Wasser, Barbier!«
Er lacht, sich rasierend, sich schiefbiegend, über
Den Witzbold, den es so mordssonderlich zieht,
Am Mundstück der türkischen Pfeife vorüber
Solch Unsinn zu blasen. Doch Shakespeare, längst müd
Der Späße, hört plötzlich sein eignes Sonett …
Nachts feurig geschrieben, entrückt der Misere,
Am Tisch, wo der Hummer auf dem Tablett,
In Soße gebadet, umschlang mit der Schere
Den goldroten Apfel, erklärt das Sonett:
»Ich seh Eure Meisterschaft, Meister, mich lesend,
Doch meint Ihr nicht, Ihr hier und der da, mein Lieber,
Der eingeseift sitzt auf dem Fass, dass mein Wesen
Ganz Feuer ist, also der Kaste nach über
Den Menschen, kurz, ich Euch mit Feuer zum Dank
Umgebe, wie Ihr mich mit Knastergestank?
Verzeiht mein juniorisches Aufmüpfen, Vater.
Doch sitzen wir nicht in der Schenke, Mylord?
Was soll ich hier? Geht Eure Brut dies Theater
Des Pöbels was an? Das hier ist nicht mein Ort.
Lest dem vor, Mylord, immer zu! Sir – im Namen
Der Gilden und Bills von ganz London! Fünf Yard
Von hier, und Ihr könnt mit dem Queue vor den Damen
Euch spreizen – dieselbe Fortune: bei Billard!«
»Ihm? Bist du des Teufels?« Er ruft nach dem Wirt,
Den Mispelzweig schwenkend, bezahlt die Portion
Ragout, das Halbpint, schnellt herum, dass es klirrt,
Und schleudert das Mundtuch nach seiner Vision.
1919
übersetzt von Christine Fischer
… Ihr habt sie nicht gesehn,
Ägyptens Statuen, uralt, und doch voll Leben,
Wie sie mit stillem Blick erstarrt und schweigend stehn,
Mit Stirnen, die von Glanz und Krönung Kunde geben.
......................................................................
Ihr habt sie nie erblickt, ihr könnt es nicht erkennen –
Mit jenen Sphingen eint uns ein geheimes Band.
Apollon Grigorjew
Gestein und Sturm. Gestein und Hut und Mantel.
Gestein und – Puschkin. Er, der heute noch
Geschlossnen Auges in der Sphinx betrachtet
Nicht unser Wild; nicht die Vermutungen,
Ergebnislos, des Griechen, nicht das Rätsel –
Nein, seinen Urahn: ein Hamit, flachlippig,
Der Blattern und auch Sand ertragen hat,
Vernarbt ist von den Blattern und der Wüste;
Mehr nicht, nur dies allein: Gestein und Sturm.
Und wie verteufelt strömt herab das Bier
Vom Bart der Schlucht, der Klippe, des Gesteins,
Der Sandbank und der Meilen. Lärm und Flamme
Des Strudels, ganz bespritzt aus voller Wanne
Mit Mondlicht. Rauschen, Qualm und Stern allein.
Hell wie am Tag: Der Schaum lässt alles glänzen,
So dass auf diesem Punkt das Auge ruht.
Und reichlich Kerzen schenkt der Sphinx die Flut,
Die abgebrannten immerzu ergänzend.
Gestein und Sturm. Gestein und Hut und Mantel.
Der Mund der Sphinx ist angehaucht nur leicht
Vom Salz des Dunstes. Und den Sand verwandeln
Die Küsse der Medusen, allzu feucht.
Die Schuppen der Sirenen sind verschwunden;
Wer glaubt an ihren Fischschwanz noch entfernt,
Sobald er selbst aus ihren Knien getrunken
Den wie auf Eis geschlagnen Widerschein des Sterns?
Gestein und Sturm – vor Angebern versteckt
Ein Kinderlächeln, das so zart, so eigen
(Noch aus Psammetichs längst vergangnen Zeiten)
Im Spiel die Mundwinkel der Wüste neckt …
Am Sabbat der Steine, zu denen
Die Stürme, mit Schaum vor dem Mund
Und qualmend, von Trabzon her strömen,
Wenn Ankern und Häfen ringsum,
Wenn strandendem Abfall der Wellen,
Wenn quellenden Leichen, wenn auch
Den Brücken ins Ohr dringt so gellend
Die Wolke aus Pilsen voll Rauch.
Wo hoch aus dem Fels die Fontäne
Emporwächst zum flehenden Ruf
Der Wellen mit berstenden Kämmen
In übler, phosphatreicher Luft,
Wo weißgraues Rasen und Brausen
Mit Donner und Blitz unentwegt,
Wie Bier oder Betel zum Kauen,
Der saugende Sand trockenlegt –
Wer weiß, was das Erbe der Kaffern,
Was Puschkins Lyzeum verspricht?
Zwei Götter – bis morgen noch schlafend,
Zwei Meere – vertauscht im Gesicht.
Naturgewalt freier Gewalten
Und freie Gewalt des Gedichts.
Zwei Tage in zweierlei Welten,
Zwei Dramen, zwei Bühnen, uralt.
Am Ufer über wüstem Meer
Stand er allein, gedankenschwer.
Im Wind lag Wut. Von Sand verdichtet
War blutig, purpurrot die Flut.
Der gleiche Zorn lag ihm im Blut,
Und es entlud sich unbeschwichtigt
In ihm die aufgestaute Wut.
Aus seinem Munde klang ein »Morgen«
Wie »Gestern« klingt aus fremdem Mund.
Im Geist des Kaffern war die Glut
Noch nicht gelebter Zeit verborgen,
Und der noch nicht gewobne Dunst
Sank küssend auf die Wimpern nieder,
Und tränkte all die Seiten wieder
Des Traumromans: Die Kunst
Erstand aus Dunkel, das zu geben
Kein Erdenklima je vermag,
Das keine Schwüle je verjagt.
Selbst Winde können es nicht heben,
Und niemals wird es je zerstreut
Vom Maitag und der Erntezeit.
Am Abhang stand dem Auge offen
Ein weiter Ausblick, wild und karg:
Das Schwimmbad, krumm, mit weißem Schopfe,
Der Windhauch, der in Freiheit starb,
Im letzten Augenblick sich wiegend;
Er blies, dem Widerhall erliegend,
Er kämpfte, bis er sich verbarg
Im Schwinden. Wild und karg
Erschien am Abhang dieser Sektor
Des Erdenrunds, die wilde Hand,
Die niemand je bezwingen kann;
Doch sie vergoss das Salz des Nektars
In Takelagen, die schlecht sehn,
An Tagen, endlos ausgedehnt,
Im nassen Dämmerlicht des Scheiterns,
An Abenden, so schwärzlich grau …
So wild und karg, doch so begeisternd
War dieser Ausblick – frei und rau!
Er stieg herab. In wilden Binsen
Ertönten Dolden, und zuhauf
Erwuchs der Schaum. Bis an den Knauf
Umschlangen Wolfsmilch, Wermut, Ginster
Stets seinen Stock und hemmten ihn;
Im Ohr erklang der Steppenwind.
Er kam zum Strand, den Blasen zierten,
Sanft wiegte Schilfrohr sich und Iris,
Die Flut, gekräuselt, lief herbei,
Und lilafarben, wie aus Blei,
Sah er das Dunkel in der Mitte.
Welch krause Flut! Sie war geglitten
Wie eines Köders leichte Last
Aus Blei hinab in den Morast
Mit unnachahmlicher Grimasse.
Dem Finger sagt die Angelschnur
Auf diese Weise: Keine Spur –
Gefangen hast du nichts als Wasser.
Er sank auf einen Stein, und kund
Tat nicht ein Zug in seinem Wesen,
Dass er zutiefst bewegt gelesen
Des Meeres Evangelium.
Die letzte Muschel kann erahnen
Des Herzens Laut, vom Traum benetzt,
Der alles Leid mit Salz durchsetzt,
Das er geschmiedet. Seinen Kammern
Entreißt kein noch so scharfer Stahl
Das Wesen ewig frischer Qual,
Den Seufzer in beglückter Liebe …
Er strömte aus, erschuf ein Riff
Aus Purpurlippen – und er schlief
Erstarrt am Munde des Polypen.
Sterne eilten. Flut wusch die Gesteine.
Blind erschien das Salz, die Träne trocken,
Dunkel das Gemach. Gedanken eilten –
Nur die Sphinx vernahm Saharas Worte.
Kerzen tropften stetig. Stocken müsste
Auch das Blut des Riesen! Blau durchdrungen
Hatte seinen Mund die heitre Wüste:
Mit der Ebbe war die Nacht bezwungen.
Aus Marokko kam zum Meer die Brise
Des Samum. – Verschneit schlief ganz Archangelsk.
Kerzen tropften. Der Prophet, noch Skizze,
Trocknete. Es wurde Tag am Ganges.
Wolke und Sterne. Dort führt ein
Weg zu Aleko. – Dort liegt
Mondlicht im Auge Semfiras,
Abgründig, glutweiß und tief.
Deichseln, gen Himmel sich wendend,
Stirnen, olivgrün, nein – blau:
Misstrauisch reichten die Fremden
Schmuck zu den Sternen hinauf.
Dies mag an euch noch erinnern,
Dächer Chaldäas! Es schmort
Mondlicht, das Blut will gerinnen.
Eifersucht? Nichtiges Wort.
Halt! Denn du ähnelst dem Syrer,
Sterndeuter, keusch und verdorrt!
Mord blitzt, die Sinne verwirrend –
Rache? Ein nichtiges Wort.
Lästige Schatten, Eunuchen …
Schultern verdeckten den Ort.
Gift? Eifernd schrieb man im Buche,
Selbstmord sei nichtig, ein Wort!
Feurig entflammten die Nüstern.
Bist du noch immer nicht fort?
Leise, mein Rennpferd – sie flüstern …
Flucht? Welch ein nichtiges Wort!
Er war so farbenfroh, so bunt,
Litt an Skorbut und sagte offen,
Das Schilf sei schwarz, von Löchern wund,
Im Land der Winzer und Ganoven.
Der Pferdedieb schlich nah am Zaun,
Der Wein war von der Sonne braun,
An Reben pickte gern der Spatz,
Und armlos nickten Vogelscheuchen;
Die Trauben hielten ihren Schwatz –
Da starb das Tosen, scharf und schneidend.
Da schwand das Meer. Der weite Strand
Erklang, in den sich Schotter wühlte.
Speiübel war dem Wellenkamm,
Die grauen Wolkenschäfchen spielten.
Der Wind blies hinter Schabo rau,
Riss an den Leinen ungezügelt.
Im Salzbad wurde stark das Tau,
Dem Sturm war unbeschreiblich übel.
Ein Lärm erklang in Sumpf und Pfuhl,
Als klirre fern im Bad ein Eimer,
Als spräche leise mit Kagul
Otschakows Möwe, nachts, alleine …
Vom Steppengras gekühltes Licht:
Dem Zaumzeug lauschte in der Stille,
Dem Schellenklang, dem Wort, das spricht,
Die wie die Nacht verträumte Grille.
Die Steppe wehte hin und her
Wie seltsam fremde Kettenglieder
Und wie ein Mundstück ohne Pferd;
Der Wind war zahm, unendlich müde.
Matt schien das bunte Stoffgewirr,
Kühl, wie die Kupferwaage glänzend,
Hob seinen Blick vor dem Gezirp
Der weite Süden, frei von Grenzen –
Er glich dem Lied, unendlich blau;
Vor seinem Liede nahm er auf
Den Atem irgendeiner Nacht,
Den Atem irgendeiner Rast.
Und dieser Augenblick der Zeit
Verdunkelt selbst die Ewigkeit.
1918
übersetzt von Richard Pietraß
Der Kranke spitzt. Den sechsten Tag
Stürmt es, ohne aufzuhören.
Es kollert polternd übers Dach,
Tost und stürzt, um zu verröhren.
Die Weihnacht ist von Schnee umstiebt.
Er träumt: Sie kommen, ihn zu holen.
Er fährt empor: »Etwa mich?«
(Ein Ruf. Ein Klang. Die Neujahrsglocken?)
Fernhin im Kreml dröhnt Iwan.
Er schwimmt, er taucht ins Tiefe.
Und schläft. Groß wie ein Ozean,
Heißt der Schneesturm auch die Stille.
Vom übersternten Dielenboden
Zum Mond, den Zaun entlang
Zieht sich, Strähnen und Locken,
Bäumend das Bruchweidenhaar.
Schaurig ist es, zu vermummen
Mit Rauch die Kassiopeia!
Morgens, wie eine Maulbeerpuppe
Ist die Kirche nicht mehr da.
Was ist das? Der Kiewer Lawra
Kuppelschlaf? Oder die Edda,
Nordengehegt, als offenbare
Perle eines Vorzeitwahnes?
So etwa war das. Damals
Wild und unstet wachsend,
Ging ich im gehörnten Garten
Als Gespenst des Hirtenschattens.
Er war wie ein Elch. Bis an die Knie
Stand er im Schnee. Durch die Büsche
Sah des Elens Blick
Das mitternächtliche Viertel.
Rätselstarr, wie angewurzelt
Schaut er die geschliffne Fläche:
Im Sternenfrost, wie eine Garbe,
Schlug es an die weiße Hocke.
Schneegebeugt, hob er vom Boden
Gequält die Sterne und die Nacht.
Dem Gehörnten war das Chaos
Der Epochen nicht gekappt.
Mag sein, so geht’s, mag’s anders.
Doch an manchem glücklosen Tag,
Drückender als geistlich, schwärzer
Als mönchisch, ereilt uns der Wahn.
Frost. Die Nacht im Fenster: Etikette,
Und sie bleibt wie Eis, so starr.
Im Pelz, im Sessel, summt der Geist – und
Alles eins, eins immerdar.
Und die Aststange und die Mannswange,
Das Parkett und des Feuerhakens Schatten
Schimmern mit dem Traum und der Reue
Des sündigen Schneesturms, nimmersatten.
Still die Nacht. Helle Frostnacht
Und die Milch – ein blinder Welpe.
Mit der Tannen Dunkelheit
Trinkt der Zaun das Licht der Sterne.
Scheinbar tropfen die Tannen. Glimmen.
Scheinbar ist die Nacht gewachst.
Der Fichtzweig lässt den Schnee erblinden,
Die Höhlung – Höhlen nachgemacht.
Scheinbar still, ist es so schrill
Wie Elegien von Radiowellen.
Erwartung, die dem Ruf folgt: »Meld dich!«
Oder Echo andrer Stille.
Scheinbar stumm: die Nadeln, Zweige
Und die Höhen – beinah taub.
Des Weges Blinken: die geneigte
Antwort auf »Hallo«-Radau.
Frost. Die Nacht im Fenster: Etikette,
Und sie bleibt wie Eis, so starr.
Im Pelz, im Sessel, summt der Geist – und
Alles eins, eins immerdar.
Lippen, Lippen! Er biss sie aufs Blut,
Bebt, in das Gesicht vertieft.
Im Biographen schwillt ein Sturm
Aus diesem kreidebleichen Motiv.
Ein körperentfremdetes Leben und länger
Führt, wie ein brutunlustiger Pinguin,
Die flügellahme Jacke des Kranken:
Den Flanell zu wärmen, die Lampe rück hin!
Sie denkt an die Skier. Von Krummholz und Leibern,
Im Dunkel verloren, von Herr und Gescherr
Strömt es heran. Als schwitze die Weihnacht!
Es knirschten die Kufen, es keuchte der Gang.
Der Hof und der Horror, letztlich verlassen.
Die Schränke: Kristall, und Teppiche, Truhen.
Den Zaun lockte an, das Haus steh in Flammen,
Die Lüster erschienen entzündet und hustend.
Vom Himmel verzehrt, die Augen voll Winter
Glich das geblähte Gebüsch dem Schrecken.
Zum Fenster hinaus, in den Schnee der Schlitten
Warf lodernd der Herd der Köchinnen Hände.
Wie hingeworfen in den Schnee
Als wüstgefallene Endstation,
In Pfiffen, Lärm, im Mittnachtsweh,
Schleppt er seine Schnörkelkrone,
Wie einer vor dem Ende, erschöpft,
Das Schneegestöber trauernd anruft
Auf dass es nicht die Seele lösch
Zur Unzeit, eh sich alles einmummt,
Wie einer, handgelenkgepackt
Vom Schneesturm, fest an den Manschetten,
Der lachend die Kapuze fasst
Und grüßt, als wäre was zu retten,
Doch manches Mal! Doch manches Mal!
Dem Schiffe gleich, das kurze Zeit
Sich, heulend, aber wunderbar,
Samt Seil von seinem Anker reißt,
In letzter Nacht und ohn Vergleich
Mit irgendwem, im Schaum, im Brass,
Beflaggt: der Kreml, winterreich,
Dem Letzten lässt er seinen Hass.
Und grandios, zurückgewandt
Wie des Visionärs Geschehn,
Entschwebt er drohend, kurzerhand
Durch den Rest ins Neujahr neunzehn.
Ins Fenster dir, im Dämmerlicht
Lässt schlagen er sein Glockenkupfer.
Er ängstigt sich, das Jahr verzischt,
Verfehlt bleibt’s ihm ein fremdes Wunder.
Der Tage Rest, der Stürme Rest:
Der Türme Los im Jahre achtzehn.
Es tost und springt – ein spätes Fest
Zu kurzen Spiels mit langem Nachsehn.
Und hinter Meer und Wetterwand
Verspüre ich, der fast Gestorbne,
Wie dies noch ungeschlüpfte Jahr
Drangehen wird, mich neu zu formen.
Jenes Jahr! Wie oft hat’s zugeraunt
Am Fenster mir: »Stürz dich ins Leere!«
Doch dies, das neue, trieb’s mir aus
Allein mit Dickens’ Weihnachtsmärchen.
Es flüstert mir: »Vergiss, nur Mut!« –
Mit Sonnschein ringt’s im Thermometer,
Strichfein, wie jenes mir Strychnin antrug,
Und fiel ins Zyankaliröhrchen.
Sein Morgenrot und seine Hand,
Wie träge wehen seine Locken!
Verpusten auf der Fensterbank
Bei Vögeln, Dächern, Philosophen.
Ach, käme es und legt’ sich mild
Als Strahl von Steig und Räumpflicht.
Es ist verwegen und erhitzt,
Erbittet lärmend Tee, ist hektisch.
Von Sinnen ist es, frisch verprellt
Vom Lärm des Hofes – welche Bürde.
Es gibt kein Leid auf dieser Welt,
Das der Schnee nicht heilen würde.
Für mich bist du im Dämmer nur Elevin,
Pensionsbewohnerin. Den Förstern graut
Der Waldesuntergang. Ich lieg und sehn mich
Ins Dunkel. Und sieh, wir rufen uns, und laut.
Die Nacht, die Nacht! Ein Höllenhaus des Schreckens!
Erfahre es, leid du nun meine Qual!
Mit ihr – dein Schritt, dein Schnitt, das Ehversprechen,
Sie wiegen schwerer als ein Tribunal.
Gedenkst des Lebens du? Ein Schwarm von Tauben
Flog flockenleicht, brustoffen in das Kreischen,
Vom Wind gewirbelt, prassend, gierig tauchend
Vom Bauchgewerbe in den Schnee der Steige.
Du kamst hindurch! Er aber unterschob uns
Den Teppich, Rodelschlitten und Kristalle!
Das Leben strömte wie das Blut, zur Wolke
Im Brand des Schneesturms sich erhellend.
Gedenkst des Taumels? Der Zeit? Der Krämerin?
Des Zelts? Des Andrangs? Und schließlich beim Bezahlen
Des kühlen Klangs der Münzen. Denkst des jährlichen
Geläuts der Glocken vor den Feiertagen?
O weh, die Liebe! Ja, man muss es sagen!
Womit ersetzen dich? Durch Fett? Verbromten Sud?
Wie Pferdeaugen aus dem Kissenhafer,
So schau ich, scheuend vor dem Schlafentzug.
Für mich bist du im Dämmer nur der Prüfling.
Nur die, die geht. Migräne, Zeisig, Richtschnur.
Doch nachts! Wie flammend bitten sie zu trinken,
Der Kapseln Augen und der Tropfenkur!
1918–1919
übersetzt von Elisabeth Kottmeier
O Engel im Lügen, je eher – je besser.
Mit reinem Gramtrunk brächt ich dir Erliegen!
Doch so – darf ich nicht, doch so – auf dem Messer!
O Schmerz, schon im Anfang verseucht durch die Lüge,
O wehe, o weh, das verpestet!
O Engel im Lügen du, nicht führt das Leiden
Zum Tod, dass am Herzen Ekzeme sich ballen!
Warum aber gabst du der Seele zum Kleide
Beim Abschied das Nesselhemd? Zwecklos entgleiten
Dir Küsse; wie Regen und Zeit, die da fallen,
So tötest du lachend für alle, vor allen!
1918
O Schmach, du Last für mich! Gewissen, es verstummen
Die vielen Träume, oh, im frühen Abbruch nicht!
Wär ich ein Mensch, – vielleicht nur eine leere Summe
Von Wangen, Schultern, Hand, von Schläfen, Mund, Gesicht!
Dann hätt – dem Pfeifen nach, dem Zeichen, Schrei der Strophe,
Der Sehnsucht Festigkeit und ihrer Jugend nach –
Ich allen mich gefügt, sie zur Attacke offen
Geführt, ich hätte dich erstürmt, du meine Schmach!
Alles Denken zieh ich ab von dir,
Wenn nicht auf Visite, so im Himmel dann.
Wird beim Klingeln doch der Nachbarn Tür
Aufgemacht für irgendeinen irgendwann.
Ja, zu ihnen, wo Dezember klirrt.
Nur die Tür – da bin ich! – Nur ein Korridor.
»Ach woher? Erzählen Sie, was wird?
Wovon klatscht man? Eine Moritat?«
Geht die Sehnsucht wirklich immer fehl?
Flüstert dann: »Wie – ihr aus dem Gesicht geschnitten«,
Schon bereit zum Absprung, ungezählt
Vierzig Fuß tief, mit dem Ruf: »Sind Sie es bitte?«
Haben Plätze keinen Marterpfahl?
Ach, ihr kennt nicht diese Quälerei,
Wenn die Straße einen hundertmal
Schnappt am Tag durch eine Ähnlichkeit!
Also stör mich, probier’s, komm, vollführe ein Löschattentat
Auf den Anfall von Gram, der wie Quecksilberhall Torricelli’scher Leere sich äußert.
O Verstörtheit, verbiete es mir, – und fass zu, komm herein!
Also stör meinen Lärm um dich! Schäm dich nicht, wir sind allein.
O so lösche doch, lösche! – Noch heißer!
Diesen Regen der Ellbogen winde und Wellen darein
Der durch Ohnmacht wie Atlas der Kalla gebietenden Hände!
Und so schlage denn, Jubel! Ins Freie! So fang sie, dies tollende Beispiel vereint
Sich dem Waldhall, der Widerhall schluckt kalydonischer Jagd, der enthemmten,
Als Aktaion, berückt, Atalante verfolgt wie die Hindin vorm Hain,
Da man liebte als letzter Azur, der sich pfiff in das Pferdeohr ein,
Da man küsste, wie Hatzlaut verschwimmt im Gelände,
Wenn Liebkosung als Hörnerschall, Krachen von Bäumen und Krallen und Hufen erscheint.
– Oh, ins Freie, ins Freie – von einst!
Enttäuscht bist du? Dachtest, ein Schwanensang-Requiem
Vertusche die Tatsache, dass wir uns trennen?
Auf Harm die Pupillen geweitet, berechnetest du
Die Unüberwindlichkeit je nach den Tränen.
Es mag bei der Messe das Fresko herabrieseln,
Erschüttert vom Spiel auf Sebastians Lippen.
Doch seit heute Nacht sieht in allem mein Hass dieses –
Die Peitsche fehlt leider für dieses Verschleppen.
Er fasste sich ohne die zaudernde Nachdenklichkeit,
Beschloss, dass er alles gleich umpflügen werde.
Und dass – es jetzt Zeit. Dass der Selbstmord nicht dienlicher sei,
Nur eine von Schnecken gezogene Beschwerde.
So, Freundin, zärtliche, wie nachts Seetauchern, über Bergen polwärts auf den Schwingen
Getragnen, heißen Flaum der Schneefall von den Füßen stieß,
So schwör ich, Zärtliche, und ohne mich zu zwingen,
Wenn ich dir sage – Freundin, du sollst schlafen nun, vergiss!
Wenn ich, so tot wie ein bis an den Schlot vereister Frachter
In Winters Traumgesicht, das keinen Mast voll Reif bewegt,
Durchschweife deiner Augen Nordlicht als gescherztes »Sachte,
So schlaf doch, bis zur Hochzeit heilt es, reib die Tränen weg!«
Wenn ich, wie der dem arktischen und argwöhnischen Eise
Verborgene Norden, der weit von des letzten Siedlers Schuss
Als Mitternachtsgewölbe blinde Robbenaugen auswäscht – leise
Also sage: »Wisch nicht, schlaf, vergiss: es ist doch alles Stuss.«
Mein Tisch ist nicht so breit, dass man umschließe,
Die Brust an Bord gelehnt, den ganzen Schmerz
Mit einer Ellenbeuge, diesen Isthmus
Des »Lebewohl«, durchgraben so viel Werst.
(Dort ist nun Nacht.) Den Nacken, deinen heißen.
(Man ging zur Ruh.) Um deiner Schultern Reich.
(Und löscht das Licht.) Früh müsste ich sie lassen
Der Vorlaube, verschlafner Zweige Kreis.
Nicht Flocken! Mit den Händen zu! – Dann reicht es.
Zehn Finger der Passion, es furcht der Pflug
Der Raunachtsterne, des Verspätungszeichens
Für einen nordwärts schneegejagten Zug.
Den Lefzenschaum leckt sich der Flügel zitternd.
Für dich kann dieser Wahn nur Sense sein.
Da sprichst du: – Lieber! – Nein, ich rufe – nein.
Beim Musizieren?! – Lässt sich Nähe wittern
Mehr als im Dunkel, wenn man dem Kamin
Wirft Tagebücherstapel zu: Akkorde?
O winke doch, Gedenken, winke hin,
Du wirst bestürzt sein! – Du bist frei geworden.
Ich binde nicht. Geh hin und tue was.
Zu andren geh. Den Werther schrieb schon einer.
Dass Luft nach Tod riecht, weiß man ja gemeinhin:
Sei’s Fensteröffnen oder Aderlass.
1918
übersetzt von Ilse Tschörtner
O Kindheit, du Schöpfmaß der Seelentiefe,
Du aller Wälder Urgewächs,
In Eigensinn wurzelnd und Eigenliebe –
Mein Inspirator, Priester, Rex!
Wie oft ist verflogen vom Blatt der Scheibe
Und Teerose der Tränen Samt,
Das welkende Chaos, plötzlich treibend,
Als roter Farn neu aufgeflammt;
Wie oft sind die Tasten umhergeirrt,
Kaum angerührt, im Phantasieren
Der trauernden Klaviatur! – Man wird
Mir heimzahlen ihr Denunzieren!
Denn alles und jegliches denunziert.
Die Nachbarschaft mit reichen Leuten,
Das Hauswesen hinter geschlossener Tür,
Vergnügtes leises Schlüsselläuten.
Der Heuchelei Händedruck denunziert,
Die Frische des Manschettenhemds,
Das Auge des Handdeuters denunziert,
Der Feingeschmack eines Geschenks.
Des Lebensjahrs Nichtigkeit denunziert.
»Ihr Grünschnäbel! Und wir? – Ihr Linken!
Und wir, doch viel linker als ihr, die wir
Im Rot-Erblühen uns verjüngen?«
O Sonne, Erbarmen! »Geh was verscherbeln!«
O Kiefer, träumt’s uns? »Halt dich ran!«
O Leben, du heißt uns entarten, sterben,
Zum Hohn dir selbst und deinem Plan.
O Hellseher Duncan, hilf aus der Schlinge!
Die Wut der mitreisenden Leute!
O Himmel, für wie viele Silberlinge
Verkauftest du uns dieser Meute?
1917
Konnte ich sie vergessen? Für das Meer, die Familie?
Um der Platzkarte willen, des Pfunds Viktualien?
In die Fallgrube tappen im Exzess der Gefühle,
Ins verborgene Netz der Parteiordinalien?
Am Coupéfenster sitzen, am Proviantkanten nagen?
Landen da und da, da und da nehmen Quartier?
Ich bin froh über dieses mein Martyrium! Ja, schlage!
Deine Reißkrallen, Löwin, verrieten dich mir!
Für das Meer, die Familie, die verzweifelte Lage,
Wie bestehn, überstehn?, ihre Absurdität?
Keinem Sträfling verpasst man solche Strafe! Ja, schlage!
O nicht ihr, nicht ihr – unsereins ist der Prolet!
Ich erlag, ich bekenne, unterlag meilenweit
In der sorglosen Selbstüberschätzung des Tiers.
Mich erniedrigte ich bis in die Ungläubigkeit,
Dich erniedrigte ich bis zur Melancholie.
1921
Zwei Jahre bist du alt, beginnst
Entwöhnt in dunklen Klang zu tauchen.
Du zwitscherst, pfeifst – du wirst, mein Kind,
Ein drittes Jahr zum Sprechen brauchen.
So fängst du zu verstehen an.
Und wenn Turbinen lauthals lärmen,
Scheint dir die Mutter unbekannt,
Du bist nicht du, dein Heim ist Fremde.
Was soll das schrecklich schöne Bild
Des Flieders auf den Gartenbänken,
Wenn er nicht kleine Kinder stiehlt?
So wächst Verdacht, entstehn Bedenken.
So siehst du Furcht. Mit welcher Kraft
Lässt jener seinen Stern gewinnen,
Der einmal Faust ist, dann Phantast?
Nomaden mögen so beginnen.
So öffnen sich, wohin du schaust,
Statt Häusern über Zäunen schwebend,
Die Meere wie ein Klagelaut –
So fangen Jamben an zu leben.
So ist manch Sommernacht; sie spricht
Im Hafer liegend: Ach, erfüll dich!
Sie droht mit deinem Aug dem Licht
Und streitet mit der Sonne willig.
So lebst du künftig im Gedicht.
1921
übersetzt von Christine Fischer
So der Anfang. Mit kaum zwei lauschst du auf und strebst fort
Von der Amme ins Chaos der Melodien.
Du trillerst und zwitscherst. Das gesprochene Wort
Wird im dritten Jahr dich bei der Zunge ziehen.
Du beginnst zu begreifen. Ein Turbinengebrause
Aber macht plötzlich, dass in dir Zweifel frisst,
Ob die Mutter die Mutter ist, Zuhaus das Zuhause
Und du selbst, wie du hier bist, du selber bist.
Was kann die beängstigende Schönheit des Flieders,
Der sich neben dich setzt auf die Bank, dafür,
Dass Kindsraub verboten ist, den Sitten zuwider?
So kommt Argwohn und Widerspruch auf in dir.
Und so Furcht. Warum kannst du einen Stern, der dir winkt,
Mit den Händen nicht greifen, die nach ihm greifen,
Wenn du Faust bist, ein Zauberer, Phantast? So beginnt
Der Zigeuner in dir dich umherzutreiben.
So erhebt sich, sich wölbend über Zäune und Mauern,
Wo Häuser sein sollten, ein Ozean,
Unversehens wie Seufzen, Atemschöpfen, Erschauern.
So heben Daktylen und Jamben an.
So lehnt die Augustnacht, die ins Haferfeld sank,
Flehend: geh in Erfüllung!, mit deinen weiten
Pupillen sich auf gegen den Sonnenaufgang.
So beginnst du dich mit der Sonne zu streiten.
So beginnst du zu leben im Vers.
1921
Wir sind wenige. Drei nur vielleicht,
Donezkische, Stürmische, Höllische –
In der fliegenden Hülle der Wolken,
Regenschauer, Soldatenräte
Und Gedichte und Diskussionen
Über Kohletransport und Kunst.
Nicht Menschen mehr, sondern Epochen.
Uns verschlug es; uns peitscht es im Tross
Der Tundra, im Tendergepolter
Und Stampfen der Kolben voran.
Wir spannen uns, stieben im Wirbel
Drauflos, stören auf – und sind weg.
Uns deuten werdet ihr später.
So besteht die Spur eines Sturmwinds,
Der nachts in ein Strohfuder schlug,
Fort in den stürmischen Reden
Einer Wipfelversammlung über
Den Dachschindeln anderentags.
1921
Mir schiefe Bilder, die bei Regen
Hereinschwirrn, dass die Kerze sprüht,
Zu holen von den luftigen Nägeln
Ins Versmaß, werde ich nicht müd.
Das Universum liebt die Maske –
Was gilt’s!; kein Spalt, der nicht mit Filz
Sich zupflastern zu lassen hastet,
Wenn Winter droht – was hilft’s, was gilt’s!
Die Dinge stoßen ab die Larve
Und lassen Macht und Ehre fahren
Beim ersten Ruf der Regenharfe,
Sich im Gesang zu offenbaren.
1922
übersetzt von Ilse Tschörtner
Schön wie ein Fakt im Fragebogen
Sind alle Daten, die erzählen
Vom trunkenen Nachaußenwogen
Des Kurzweiligen einer Seele.
Auch es – ein Garten, voll von Arten,
Die müde abwarfen den Flor,
Und bunten Spielen, wie der Garten
Vom Weg am Ufer bis ans Tor.
Auch es wird, birgt es den bizarren
Park hinterm Pavillon im Teich,
Dem Schattenriss einer Gitarre,
An der die Saiten sprangen, gleich.
1917
Von Wohlstand, gar üppigen Mählern
Und Jakob-Möbeln umstellt,
Verdorrt das wie Zweige von Käfern
Singsummende Naturell.
Es springt durch die Zinken wie Funken,
Berührst und traktierst du, sie stramm
Zu raffen, die Teufelshalunken
Der Selbstliebe mit dem Kamm.
Die Haltung: »Wie kommt ihr dazu?«
Ist Liebe, doch hüllt geschwinde
Dein Mund dich in Spott: »He ihr, Ruhe!
Verrückter als kleine Kinder!«
O Frische, smaragdene Dolden,
Vom Regen berauscht, Gefrans
Süß schläfernden Unfugs, o golden-,
O göttlicher Firlefanz!
1917
Der Nussstrauch enthebt dich des Tages im Wald,
Und Sonnmünzen fallen bald mit dem Kopf
Aufs schwelende Schwarz eines Baumstumpfes, bald
Mit trübgrünem Adler auf einen Frosch.
Gebüsch überholt dich, der Wald wird, dein Heim,
Je tiefer du heimkehrst, ein Ozean.
Sich lichtende Wipfel und Rundholz in Reihen,
Ein Fink wie ein Schiffchen, wie Schaum Gesang.
Und – querdurch, mit Tauchen, im Zickzack herum,
Azurbläue sammelnd, und mit der Fracht
Vorbei und davon … Und der Wald reckt sich stumm
Und staunt aus den Wolken dem Schiffchen nach.
Wo Himbeere und Gewitter sich finden,
Sich Wolke und Flechtendorn berühren,
Dort glimmt violett, dass die Sinne uns schwinden,
Der Moorgrund verglommener Heidentümer.
1917
Ein lila Schleier Hitze trübt die Wiese,
Und Kathedralendämmer füllt den Wald.
Wie hier nicht küssen? Hat sie nicht den Riesen
Wie heiße Wärme Wachs ganz in Gewalt?
So träumt’s sich auch – du schläfst nicht, liegst versonnen
Und spinnst dir einen Traum, du dämmerst müd,
Und auf den Wimpern brennen schwarze Sonnen,
Hervorgelassen unter hellem Lid.
Rings rinnen Lichter, Schillerkäfer, schimmernd
Steht über deiner Stirn Libellenglas.
Den Wald erfasst ein angespanntes Flimmern
Wie eines Uhrmachers Pinzette, die nicht fasst.
Als wär er eingenickt von diesem Ticken.
Doch über allem schlägt, im Bernsteinbrand
Des Äthers, die erprobte Uhr, dort rücken
Die Zeiger weiter nach dem Hitzestand.
Es schiebt und schüttelt sie, die Nadeln beben,
Sät Schatten, attackiert, durchlöchert, plagt
Die Rahen Finsternis, die höher streben
Ins blaue Uhrblatt, in die Glut des Tags.
Als kreiste hier des Glückes Urzeit, gleißte
Im Abendrot von Träumen die Natur.
Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, heißt es.
Doch diese beiden, scheint es, schlafen nur.
1917
Ein September wie selten entblättert sich wieder,
Wieder heißt es aus Spasskoje fort in die Stadt.
Hinterm Zaun tauschen Echo und Hirt ihre Lieder,
Überm Wald schallt und hallt eine einsame Axt.
Diese Nacht ging ein Frösteln durchs Moor hinterm Park.
Dann kam Sonne – erschien und verwischte zum Schemen.
Selbst die Gräser friert’s unter dem Tau bis ins Mark,
Und die Birkenhaut blaut wie von Kälteödemen.
Und der Wald murrt, auch er möchte ausruhn vom Tanz,
Seine Schneehöhle baun, seinen Bärenschlaf halten.
Überhaupt, gleicht er mit seinen Schneisen nicht ganz
Einem Nachruf mit trauergeränderten Spalten?
Gab er auf, sich zu regen, zu häuten und flecken,
Tiefer senkend den wässrigen Stirnbalg, zu haaren?
Doch er spricht noch, und wieder sind Sie, und erschrecken,
Wieder fünfzehn!, o Kind, ach, wohin mit den Jahren?
Sind es nicht schon zu viele für Übermutsspiele?
Viel wie Vögel in Sträuchern und Mäuse im Feld!
Manchen Horizont hat man sich selber mit ihnen
Oder anderen bis zum Erblinden verstellt.
Ein an Typhus erlöschender Komiker hörte
Die homerischen Lachsalven der Galerie –
Ähnlich hat es ein Holzhaus, voll schmerzlicher Zärte,
Heut am Wege aus Spasskoje halluziniert.
1918
Morgendämmer wiegt die Kerze,
Zündet die Schwalbe an, lässt sie frei.
Und wieder sage und sag ich euch:
So frisch wird auch das Leben sein.
Ein Schuss ins Dunkel – die Morgenröte,
Babach! Im Fluge erlischt der Brand,
Gelegt von dem fernen Ladestock.
So frisch wird auch das Leben sein.
Nach außen ist es nur ein leichter Wind,
Was zitternd sich an uns schmiegte nachts.
Der Regen blieb fröstelnd im Morgen stehen.
So frisch wird auch das Leben sein.
Ein unwahrscheinlicher Narr, zum Lachen.
Was spielte er sich zum Wächter auf?
Er sah doch: Eintritt ist nicht erlaubt.
So frisch wird auch das Leben sein.
Gebiete, solange du Herrin bist,
Gebiete nur mit dem Wink des Tuchs,
Solange wir im Dunkeln sind,
Solange der Brand nicht erloschen ist.
1919
Die Luft sinkt in grauen Falten herab,
Und leise erinnert der Schnee an: »So müde …«
Und: »schlummern, ’s ist Zeit« und dann – wie der Tag
Mit Singsang und Sirup fiel hinter die Wiege.
Herauskommend rangst du erst mal nach Atem,
So stach die Haut. Kinder mit Ranzen, der Weg
Ins Weite, wie er sich lautlos in Falten
Wie die eines riesigen Fischernetz’ legt.
Wie leicht legten sich zusammen: das Märchen
Vom Fisch, der vom Wagen schwirrt, oder vom Fuchs
Und Baum, Schuppen, Fenster, Wollfaden, Scherchen,
Der Fäustling, die kalte verwunderte Luft.
Und dann, von den Blümchen, unter dem Zeisig,
Begann es durch Mutwillen oder Addieren,
Durch sie wohl, die Arithmetik, so eisig,
Die Schultafel rüttelnd, zu stürmen und stieben.
Ein Zahn blutete, man pinselte ihn.
Im Auge des Doktors indes spielte schummernd
Gekästelter Irrwitz: Schneebälle hin
Und her, dazu Ranzen und schläfrige Krakel als Summe.
Dies Märchen heut wieder: summend und gähnend,
Die Zeitung mit Schnee fegend, über die Weiten
Der Schaumkronen aus Trottoiren und Mähnen
Sich hin wie ein riesiges Fischernetz breitend.
Der nämliche Schreck der nestlosen Wipfel
Heut, wattig, gefroren, mit Klappfensterwucht,
Zerräufelt beim Tee die wollenen Zipfel
Der Schneenacht zu kalter verwunderter Luft.
1918
Wie Kinder für sich, die lachend
Besinnungslos Unsinn machen,
Haben wir Nacht, Tag und Nacht
Durchredet, durchlesen, durchlacht.
Und mancher, den eine Note
Im Vers nicht mehr losließ, drohte
Dem Morgen, sich zu betrinken,
Bevor die Trambahnen gingen.
Und morgens rief, scharrend im Schnee
Und schaukelnd, ein Vogel: He,
Welch Schnapskorken hat dir Schalk
Nachts solch eine Fratze gewalkt?
Und auf stand der Tag aus heißem
Müllgrubenschimmel, den Kreisen
Der Feuerleitern, vom Ragen
Der Holzstapel angeschlagen.
1919
Ich weiß nicht, was scheußlicher ist:
Ein fauliges Blatt aus dem Viehstall
Oder das, was alles im Schal,
Unterm Schnee ist und im Vergangnen.
Ein Tunichtgut, Tölpel und Tor,
Zwischen Bäumen hier, da zwischen Häusern,
Lässt der graue Oktober die Krähen
Über Karakuljacken flattern.
Das Knacken der Zweige hört sich an
Wie das Knacken hartbackener Kringel.
Dass der Wind sie, statt zu schütteln, doch raffte!
So fallen sie ab Stück für Stück.
Sie fallen auf den frostigen Staub.
Ach, frühzeitig wohl, noch im Dunkeln
Fing der Wirbelwind heute an,
Die Kümmelkringel zu schütteln.
1919
Na, das musste nun sein – sich recken,
Krächzen und in dies Chaos aufschießen,
Um den ganzen Oktoberschrecken
Auf dem Kiosk wie Flügel zu schließen.
Von den Türmen ein Sodom schicken
Auf das rastlose Köpfegewoge,
Wo auch du, mit dem Hütchen nickend,
Das Gesicht in den Schleier gezogen,
Wo auch du, mein Gedankenbitter,
In Glacézeug und Robbe gepuppt,
In Galoschen mit Trippelschritten
Schwimmst im Muffmeer und winkst mit dem Muff.
1919
Alle seid ihr, Leserinnen,
Heuchler, nebenbei erwähnt.
Euer Meister ist das Fenster,
Das, aus dem ihr so gern lehnt.
Schillernd wie eine Ballade
Vor Geheimnis, wie gerührt
Tränen weinend, Blicke werfend,
Ist es doch nur Eis wie ihr.
Und wie ihr bläht es mit gieriger
Iris ins Monströse auf
Sperlingkleine ferne Kirchlein,
Ferner Fohlen heitern Lauf.
Ein Plakat-Tschaikowski kann es
So, gleich euch, ergreifen, dass es
Übers Dach fliegt flügelklappernd
In den Wind der Opernkassen.
1919
Ich komme von da, wo die Ferne unter Alarm,
Die Pappel im Schock ist, das Haus bangt, sich nicht mehr zu halten,
Die Luft fleckig blaut wie das Wäschebündel im Arm
Des wieder genesen die Klinik verlassenden Alten,
Wo leer ist der Abend wie ein Erzählungsbeginn,
Den mitten im Wortgang der Stern seines Fortgangs verließ
Vor Tausenden Augen, die, ihrem Ausdruck und Sinn
Entzogen, erlöschen und dumpf werden und abgrundtief.
1918
Ein Paar Lüftfenster-Angeln, ihr Knarren.
Der Nachhall des Spätfebruar.
Lasst uns trinken, bevor sie’s gewahren,
Trinkt, Schläfen, Stirn, Scheitel und Haar!
Wie ein Ladestock schlägt das Getön
Herein. Immerzu, Wilder, schlage!
Deine Rede, mein Freund – über wen?
Die Lüfte der Freiheit und Klage?
Diese Schwemme, welch Sinn ist ihr inne?
Mein Gott, und was macht uns auf Dauer
So gewöhnlich (die Sprache? die Sinne?)
Dies göttliche Plätschern und Schauern?
März, wer bist du? Das Eis schwitzt und schwimmt,
Die Droschke, hervor aus den Toren
In die Straßen geschleudert, beginnt
In deinem Geloder zu schmoren.
Lehre mich, so zu fassen das Wort,
Dass glücklich sind bis zur Ekstase
Über dich, diesen Abend und Ort
Die Droschken und Dandys der Straße.
1919
Feiner Regen fädelt vom Himmel.
Grau und löchrig kümmert der Schnee.
Nicht mehr viel, und auf reißt der Himmel,
Und das Tosen kommt, und los geht’s.
Wie von jeher kommt es mit flatterndem
Schal, den Mantel offen, und kehrt
Ganze Schwärme schriller, verdatterter
Morgenvögel wild vor sich her.
Kommt zu dir auch, pustend vom Sprinten,
Polkt am Licht, sitzt, seufzt, gähnt dich an
Und erwähnt, dass die Hyazinthe
Heute freigedeckt werden kann.
Lacht und hebt die wirbligen Brauen
Und verwirrt dich, Wort für Wort sich
Widersprechend, mit einer schlauen
Dummen Ammenmär über mich.
1918
Du schließt die Augen, und in diesem tauben
Organ stehn sie in selbstvergessnem Raum
Zu Paaren, streuend Rascheln, Scharren, Schnauben,
Trance, Taumel, Lallen, Lachen und Geraun.
Sie können sich nicht in den Frühling finden,
Wie sehr sie sich auch mühen – wie ich auch.
Ein Nahzug schickt mir im Vorübersingen
Und diesen armen Muckern ein Pud Rauch.
Wann war es, dass im Schutz der Mönchskapitel,
Die im Ornat aus Tanne hielten Liturgie,
Der Laie März mit seinen windigen Mitteln
Den dunklen Park mit Bläue unterlief?
Im Alter werd ich büßen für die Sünden
Des März; er korkt den Weiden-Branntwein auf,
Zieht sich zurück ins Setzlingsbeet, verschwindet
Im Tümpel des in Rausch sinkenden Strauchs.
Im Abend stehen still die Aquarelle
Der Rinnsale und Pfützen, an den Türen
Erscheinen Abkömmlinge der Gesellen
Aus unsern ersten Fibeln, ersten Spielen.
1921
Hell singen die Vögel, ganz Seele und Singen.
Im Lack der Gefährte schäumt Sonnengischt.
Kein Fünkchen mehr will aus der Schleifscheibe springen,
Und springt eins – zerspringt es im Licht, erlischt.
Ins Schulfenster schweben drei Wölkchen und lassen
Sich nieder auf Reihen von Näharbeit.
Der Saum läuft kaum merklich ein, sehn sie, vom Wasser,
Doch Rücken und Taille zwei Finger breit.
Hell singen die Vögel, und hell aus der Schule
Fällt wie eine Welle auf Weg und Steig
Das Klappern und Surren von Schiffchen und Spule,
Nicht endender Singsang und Lachgeläut.
Kein Fünkchen springt; springt eins – zerspringt’s augenblicklich.
Ein üppiger Tag heute, voller Schwaden
Von Wölkchen wie Gas. Und der Schleifer ist glücklich,
Dass so viele Fraunzimmer Messer haben.
Zwei grobe Stimmen. Noch war nicht geschlossen,
Als: »Raus hier! Scher dich ins Loch deiner Gosse!«
Zerbalgtes Haar, eine Wolke Gezänks,
Im Strom darüber Etüden Chopins.
Genie, nein – Fisch gabst du sicher nicht aus
Im weißen Haus beim Genossenschaftshaus,
Da bis zum Weltrand die Mondschweife schwangen
Wie Gärten nachts in nicht endender Schlange.
1918
Von früh an strömt aus den Rabatten
Ein Duft von Rosen, Koriander,
Torf, Rosmarin, Ozon und Nattern
Und steht erschlafft der Oleander.
Blau flimmern Dach und Mezzanin,
Das ganze Landgut liegt im Schlummer.
Blassgrau der Schlehdorn, hinter ihm
Seiner Präludien lila Schummer.
Wem wispert was ein Schlänglein zu
Und winkt im Abschied die Arkade?
Zurück zwingt ein Depeschenruf
Chopin zur leidenden Ballade.
Sie heilen eilen, denn sonst leidet
Der Sommer weiter Diphtherie,
Und schnell den heißen Quell befreien,
Die Adern aufschließen für sie!
Als Universum sich und Hand
Berührten, war ein Kreis geschlagen,
Wo auch schwül duftend Tabak stand
In bläueflimmernder Plantage.
1918
Der Pianist kann die Lumpensammler verstehen;
Sie ziehn, auf den Schultern das schiefe Gestell
Der Halden, umher – ihre Strohkiepen fristen
Ein Los wie der offene Deckel des Flügels.
Er strolcht über Bauplätze mit ihrer Horde,
Findet irgendwo unter den Trümmern den Schatz
Einer Ziegelstein-Wolke und hängt ihn am Bügel
Zur Sommergarderobe wie eine Robe.
Und reckt sich, wie nach der Feldflasche, gierig,
Auf der Kriegskarte des Gewitters den Blick,
Zum Flügel, der überströmt von der Feuchte
Des schwülen gewaltigen städtischen Sommers,
Da, lautlos herangepirscht auf allen vieren,
Vergehend vor Durst, das Gewitter sich stürzt
Auf Tonnen mit Mörtel und anfängt zu dröhnen
Mit den fliegenden, springenden Tatzen des Regens.
1921
Ich hänge an der Feder des Schöpfers,
Ein Tropfen violettlila Lichts.
Unterm Fenster der Rinnsteine Rätsel,
Und die Luft, an den Bahnhöfen flackernd,
Atmet Wodka- und Kokskohledunst.
Doch indem sie den Dämmer bewältigt,
Wird die Nacht selber rosig wie er.
Getroffen von diesem Absurdum,
Murrt der Zaun: Schiebe auf bis zum Morgen
Dein ratloses Spiel mit der Farbe.
Madig, tot ist der Grund und das Echo
Wie die Kugel der Kegelbahn schrill.
Frühlingswind, Schmutz und Müll und Cheviot
Und das Hallen sich öffnender Tore,
Während über die Raspel des Pflasters
Der Morgen wie ein Meerrettichstrunk
Kleine weißliche Tränen verteilt.
Ich hafte an der Feder des Schöpfers,
Ein Tropfen geronnenen Bleis.
1922
Trink, Dichter, und schreibe – vom Streifenkommando
Der Straßenlaternen aus Straßen bewacht,
Die untergehakt, mit dem Bierkrug wandern,
Aus welchem du trankst, durch die Mittsommernacht.
O heißer grünäugiger Durst der Giganten!
Von Dächern auf Tische herab prasseln blechern
Mixed Pickles von Pappeln. »He, Ruhe, Trabanten,
Pst!« wispern die Buchstaben-Schwünge des Zechers.
O stürmischer Rembrandt-Krug mit den Gebirgen,
Wie bliebst du in dieser Gewitterluft frisch!
Ein Sturm kommt. Gesichte, zurück in die Hürden!
Hirn, blase den Rückzug zu Bier und Tisch!
O Zeitalter, wie deinem Rad in die Speichen,
Ins bodenlos Einstige rasenden, greifen!
Nie werden Masuriens Sümpfe den bleichen
Hornisten Samsonows die Stiefel abstreifen.
Dann knatterte an der Moskwa ein Motorrad,
Als warnte es in einem zweiten Gesicht
Vor Seuche, verkündete ein Moratorium
Zu irgendwann kommendem Schreckensgericht.
1922
Ich schwöre, Poesie, und lasse
Mich schwörn, so hoch die Stimme kann –
Bei dir, du bist nicht Sang und Klang,
Du bist ein März mit Dritter-Klasse-
Platz, Vorstadt bist du, nicht Gesang.
Du bist Schewárdinos Chaussee
Und Schanze, wo im Abendglühen
Die Wolken stöhnen und, vom Heer
Beurlaubt, still von dannen ziehen.
Und sich im Gleisgezweig verteilen
(Nicht Singsang, sondern Vorstadt), um
Heim über Bahnhöfe und Meilen
Zu eilen – nicht singend, sondern stumm.
Der Regen lässt die Ruten tanzen
(Auch das bist du) auf Blumenmatten
Und von den Dächern seine Stanzen
Mit Bläschen in den Reimen pladdern.
Und steht auch unter deinem Hahn
Wie Eimerblech die Plattitüde –
Wie kann sie stören deinen Strahl:
Das Heft legt sich dazwischen – fließe!
1922
Gib Antwort, Liebste, sag, bevor der Morgen
Sich hingelehnt hat irgendwo am Weg,
Jetzt gleich, da er erst aufbricht im Verborgnen –
Wohin seit jener Zeit dein Sehnen geht.
Und lass den Morgen bitte nicht mehr säumen,
Wenn er noch zögert, nimm zum Postillon
Den dir entgegeneilenden geheimen
Kurier meiner Gedankenexplosion.
Das wird der Regen sein; erst wird er fragen
Nach Weg und Unwegsamkeit da und hier,