Zweite Geburt - Boris Pasternak - E-Book

Zweite Geburt E-Book

Boris Pasternak

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Beschreibung

Boris Pasternak versuchte die Widersprüche seiner Zeit in seinen Gedichten aufzunehmen. Und doch erschien er vielen selbst wie der lebende Widerspruch: Er stand als einer der Ersten neben dem toten Majakowski, erhielt nächtliche Anrufe von Stalin, den er wenig später im ›Doktor Shiwago‹ zur Rechenschaft zog. Der zweite Band der von Christine Fischer edierten Werkausgabe zeigt Pasternaks Jahre der Entscheidung 1923-1943: Nachdem er - wie er in dem autobiographischen ›Schutzbrief‹ schildert - weder in der Musik, noch in der Philosophie seine Berufung findet, setzt er alles auf die Dichtung und eine Prosa, die zur Schwester seiner Poesie wird. Zwei Rätsel und ein Leben.

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Boris Pasternak

Zweite Geburt

Werkausgabe Band 2 Gedichte, Erzählungen, Briefe

Herausgegeben von Christine Fischer

FISCHER E-Books

Inhalt

GedichteFünf ErzählungenEingebungBegegnungGretchenMephistoShakespeareThema mit VariationenThema1. Original2. Nachahmung3.4.5.6.Die Krankheit1.2.3.4. Die Strickjacke des Kranken5. Der Kreml im Schneesturm Ende 19186. Der Januar des Jahres 19197.Abbruch1.2.3.4.5.6.7.8.9.Ich konnte sie vergessen1. Denen, die denunzieren2.3.3.4.5.Der kurzweilige Garten1. Der kurzweilige2.3. Der Nussstrauch4. Im Wald5. Spasskoje6. Es wird sein7. Wintermorgen8. Frühling9. Traum in einer Sommernacht10. Poesie11. Zwei Briefe12. HerbstSpektorski Roman in VersenEinleitung123456789Zweite Geburt (1930–1931)WellenBalladeZweite BalladeSommerDer Tod des DichtersNach Jahren, wann ungewiss, [...]Gräm dich nicht, weine [...]Das Fenster, das Pult [...]Die andren lieben – ist [...]Schnee, Schnee – schicke dich [...]Das Totenkammer-Dunkel, [...]Borten, Tücher, brennender Blick [...]Liebste – süßliche Gerüchte steigen [...]Du Schöne, nicht nur [...]Mein Schönes, deine Gebärdung [...]Ringsum sämig-säumige Watte, [...]Niemand wird zu Hause [...]Du bist, wir sind [...]Chopin erneut sucht keinen [...]Abend wurde es. Ringsumher [...]Da wir den Kaukasus [...]Wenn ich hätte wissen [...]Wenn ich ermüdet bin [...]Ihr, meine Verse, laufet, [...]Der Vorwurf war noch [...]Vom ersten Licht den [...]Nicht gestern, ein Jahrhundert [...]In des Eises, in [...]Aus: In den Frühzügen (1936–1944)Der Künstler1234Dem zu früh VerstorbenenDem Gedenken an Marina ZwetajewaPeredelkinoEin SommertagKiefernTrügerische UnruheWinteranfangRaureifRaureifDie StadtWalzer mit TeufelsspukWalzer mit einer TräneIn den FrühzügenEs ist wieder FrühlingDrosselnDrosselnErzählungenLuftwege123Der SchutzbriefErster Teil12345678910Zweiter Teil12345678910111213141516171819Dritter Teil1234567891011121314151617Nachwort zum »Schutzbrief« Postumer Brief an Rainer Maria RilkeBriefeBoris Pasternak an Rainer Maria RilkeRainer Maria Rilke an Marina ZwetajewaRainer Maria Rilke an Boris PasternakBoris Pasternak an Marina ZwetajewaBoris Pasternak an Olga FreudenbergBoris Pasternak an Olga und Assja FreudenbergBoris Pasternak an Olga FreudenbergAnhangAnmerkungenZu den Gedichten:Zu den Erzählungen:Zu den Briefen:Verwendete russische Ausgaben der Werke Boris Pasternaks:Quellen und Nachweise der Übersetzungen:Leben und WerkNachwort

Gedichte

Themen und Variationen1916–1922

Fünf Erzählungen

übersetzt von Ilse Tschörtner

Eingebung

An den Zäunen entlang laufen Nischen,

Breschen auf und ab über die Wand,

Wenn der Frühling nachts mit seiner frischen

Fracht Erzählungen kommt über Land.

Sein Herannahen reißt wie ein Recke

Tor und Tür aus den Angeln allein

Mit dem Schall der durchfahrenen Strecke,

Die ein Staubband wirft hinter sich drein.

Sie vernehmen als Erste den Schall.

Morgen, morgen erzähl ich euch mehr –

Wie das Stadtpflaster ihm Knall und Fall

Auf noch heißer Spur springt hinterher;

Wie im Morgen in Terpentinstrahlen,

Dunst aus Frühtau und Nadelsplitt, sich

Die Gebäude von Dach bis Tür baden,

Sich der Wachsoldat spült das Gesicht.

Welchem Baum und Strauch wär es noch neu:

Diese Stadt liegt jetzt leer nach der Nacht,

Weil ein jeder rennt mit dem Konvoi –

Nicht bei Sinn mehr und daher bewacht.

Wie viel Federn, nicht trauend den Ohren,

Aus den Augen sich reibend den Sand,

Springen wiederbelebt diesen Morgen

An die Fenster aus Verskünstlers Hand.

1921

Begegnung

Das Wasser flattert aus Rohren, Baken,

Dachrinnen, Rinnsalen und Kloaken

Von zwei bis eins und von neun bis acht

Und acht bis sieben nach Mitternacht.

Die Stadt hat Glatteis. Der wilde Besen

Des Winds fegt Pfützen wie Müll umher;

Man könnte, ohne ein Menschenwesen

Zu treffen, streifen landab bis Twer.

Um sechs Uhr fällt von der nassen Treppe

Und rauscht ins Wasser, versinkend wie

Bei Hochwasser eine Landschaftsecke,

Ein müdes: »Also, bis morgen früh.«

Der ferne Kolben setzt fort sein Schaben

Zum Osten hin, wo im Vorgefühl

Des Wasserrückgangs der kalte Abend

Mechanisch treibt sein Schamanenspiel.

Die Ferne, die ihre Regentrübe

Mit Streifen glitzernden Reifs drapierte,

Neigt hüstelnd, schwankend im Rausch, sich über

Die Kwass-Suppe, die der März servierte.

Und der Poet und die Märznacht gehen,

Sich Wort zuwerfend und Widerwort,

Zusammen, lehnend im Arm der Böen,

Nach Haus und von der Versammlung fort.

Und manchmal, mitten im Disputieren,

Den Schritt beschleunigend, sehen sie

Ein Spukbild – wie es sich zeigt und wieder

Sich in den Dunkelheiten verliert.

Es tagt, und rings im Amphitheater,

Das auf den Botinnenruf erscheint,

Kehrt das vom Treppenpodest gesagte

»Bis morgen« wieder und holt sie ein.

Es geht vor ihnen mit einem Rahmen,

Darin die Bäume und Häuser fahl

Wie aus dem Jenseits geschnitten ragen,

Wie, diesem Rahmen gleich, irreal.

Mit einer Hexameter-Triade

Versetzt es den Ausschnitt um ein Quadrat.

Was rausfällt, wird tot davongetragen.

Und keiner, der den Verlust gewahrt.

1922

Gretchen

Wie ein Fangseil die Zweige am Leibe zerreißend,

Dunkelroter als Gretchens geschlossener Mund,

Als die Augäpfel Gretchens verschleierter, heißer

Lachte, schluchzte die Nachtigall und schlug sich wund.

Wie der Gräserduft war sie, die Quecksilberfäden

Des im Faulbeerstrauch hängenden Regentalars.

Sie betäubte die Hirnrinde, schlug in den Schläfen,

Sie verflocht sich mit dem sich entflechtenden Haar.

Gretchen bog sich erstaunt, nach dem Silber zu greifen,

Strich sich über die Augen und sank jäh hinab,

Und da war’s, als ob eine im Wehrhelm aus Zweigen

Amazone, zu Boden gestreckt, sich ergab.

Und sie schlang unterm Nacken die Hand um die seine,

Rang nach hinten den Arm, wo, freigebend das Weib,

Sich der Helm, ihr entglitten, entfernte im Haine,

Und zerriss wie ein Fangseil die Zweige am Leib.

1919

Mephisto

Unterm Staub hervor rieselten sie aus den Toren

Am Sonntag, indessen im leeren Zuhaus

Durch die Fenster der Schlafzimmer in hellen Wogen

Der Wolkenbruch einbrach und tobte sich aus.

Üblich war’s überall, dass zum Mittagsmahl Regen

Serviert wurde, meistens beim vorletzten Gang,

Wobei Wind wie ein rasselndes Fahrrad verwegen

Fuhr über Kommode, Tisch, Diwan und Schrank.

Während dort also, knatternd die Stube ausschüttelnd,

Die Seidenstores flatterten, wurden im Freien

Die begriffsstutzig Schläfrigen muntergerüttelt

Von Teich, Graben, Mulde und Steg, Stock und Stein.

Später fanden sich sternstrahlig Wagen an Wagen

Die Kremsergespanne zusammen am Wall,

Wo ein Schatten erstand und sich wand, dass erschraken

Die Pferde, den Hals reißend in Richtung Stall.

Aus der goldüberflossenen Ferne gekommen,

In blutroten Strümpfen mit Knieschleifen, schwer

Das Land trommelnd, wie mit zwei Schlegeln die Trommel,

Schrumm, schritten des Teufels Zweibeine einher.

Und es schien, als ob, schießend durch Laub und Gestänge

Als Feuerstrahl sich überhebenden Muts,

Der Hochmut des Diskus die Erde verschlänge

Und duldete nur diese Federn am Hut.

Schließlich stand er, die Heimfahrer zählend wie Pfähle,

Den Finger zum Hut schwenkend, leutselig, scheint’s,

Und ging weiter, sich biegend im Lachen, erzählend,

Die Pfote gelegt auf die Schulter des Freunds.

1919

Shakespeare

Der Kutscherhof und der dem Wasser in Stufen

Entstiegene mordende düstere Tower.

Und Hufschlag und -hall und das heisere Rufen

Des Westminsters, läutend der Welt große Trauer.

Verwinkelte Gassen. Die Wände, wie Schwamm

In quellendem Balkenwerk Feuchtigkeit speichernd,

Das braun ist wie Ale, dumpf wie Ruß, kalt und klamm

Wie London und bucklig wie nächtliches Schleichen.

Und Stille. Und Schnee in Spiralen. Grad hatte

Man zugemacht, als er, durchweicht, lappig, glatt

Wie aus einem Bauchverband rutschende Watte,

Zu fallen begann auf die Schwärze der Stadt.

Das Fenster, in Blei gefasst, sprühend vor Glimmer.

»Ach was, je nach Wetter … Ach, ausschlafen hier,

Das kann man in Freiheit dann, nachher noch immer …

Ach was, rauf aufs Fass! He, das Wasser, Barbier!«

Er lacht, sich rasierend, sich schiefbiegend, über

Den Witzbold, den es so mordssonderlich zieht,

Am Mundstück der türkischen Pfeife vorüber

Solch Unsinn zu blasen. Doch Shakespeare, längst müd

Der Späße, hört plötzlich sein eignes Sonett …

Nachts feurig geschrieben, entrückt der Misere,

Am Tisch, wo der Hummer auf dem Tablett,

In Soße gebadet, umschlang mit der Schere

Den goldroten Apfel, erklärt das Sonett:

»Ich seh Eure Meisterschaft, Meister, mich lesend,

Doch meint Ihr nicht, Ihr hier und der da, mein Lieber,

Der eingeseift sitzt auf dem Fass, dass mein Wesen

Ganz Feuer ist, also der Kaste nach über

Den Menschen, kurz, ich Euch mit Feuer zum Dank

Umgebe, wie Ihr mich mit Knastergestank?

Verzeiht mein juniorisches Aufmüpfen, Vater.

Doch sitzen wir nicht in der Schenke, Mylord?

Was soll ich hier? Geht Eure Brut dies Theater

Des Pöbels was an? Das hier ist nicht mein Ort.

Lest dem vor, Mylord, immer zu! Sir – im Namen

Der Gilden und Bills von ganz London! Fünf Yard

Von hier, und Ihr könnt mit dem Queue vor den Damen

Euch spreizen – dieselbe Fortune: bei Billard!«

»Ihm? Bist du des Teufels?« Er ruft nach dem Wirt,

Den Mispelzweig schwenkend, bezahlt die Portion

Ragout, das Halbpint, schnellt herum, dass es klirrt,

Und schleudert das Mundtuch nach seiner Vision.

1919

Thema mit Variationen

übersetzt von Christine Fischer

… Ihr habt sie nicht gesehn,

Ägyptens Statuen, uralt, und doch voll Leben,

Wie sie mit stillem Blick erstarrt und schweigend stehn,

Mit Stirnen, die von Glanz und Krönung Kunde geben.

......................................................................

Ihr habt sie nie erblickt, ihr könnt es nicht erkennen –

Mit jenen Sphingen eint uns ein geheimes Band.

 

Apollon Grigorjew

Thema

Gestein und Sturm. Gestein und Hut und Mantel.

Gestein und – Puschkin. Er, der heute noch

Geschlossnen Auges in der Sphinx betrachtet

Nicht unser Wild; nicht die Vermutungen,

Ergebnislos, des Griechen, nicht das Rätsel –

Nein, seinen Urahn: ein Hamit, flachlippig,

Der Blattern und auch Sand ertragen hat,

Vernarbt ist von den Blattern und der Wüste;

Mehr nicht, nur dies allein: Gestein und Sturm.

Und wie verteufelt strömt herab das Bier

Vom Bart der Schlucht, der Klippe, des Gesteins,

Der Sandbank und der Meilen. Lärm und Flamme

Des Strudels, ganz bespritzt aus voller Wanne

Mit Mondlicht. Rauschen, Qualm und Stern allein.

Hell wie am Tag: Der Schaum lässt alles glänzen,

So dass auf diesem Punkt das Auge ruht.

Und reichlich Kerzen schenkt der Sphinx die Flut,

Die abgebrannten immerzu ergänzend.

Gestein und Sturm. Gestein und Hut und Mantel.

Der Mund der Sphinx ist angehaucht nur leicht

Vom Salz des Dunstes. Und den Sand verwandeln

Die Küsse der Medusen, allzu feucht.

Die Schuppen der Sirenen sind verschwunden;

Wer glaubt an ihren Fischschwanz noch entfernt,

Sobald er selbst aus ihren Knien getrunken

Den wie auf Eis geschlagnen Widerschein des Sterns?

Gestein und Sturm – vor Angebern versteckt

Ein Kinderlächeln, das so zart, so eigen

(Noch aus Psammetichs längst vergangnen Zeiten)

Im Spiel die Mundwinkel der Wüste neckt …

1. Original

Am Sabbat der Steine, zu denen

Die Stürme, mit Schaum vor dem Mund

Und qualmend, von Trabzon her strömen,

Wenn Ankern und Häfen ringsum,

Wenn strandendem Abfall der Wellen,

Wenn quellenden Leichen, wenn auch

Den Brücken ins Ohr dringt so gellend

Die Wolke aus Pilsen voll Rauch.

Wo hoch aus dem Fels die Fontäne

Emporwächst zum flehenden Ruf

Der Wellen mit berstenden Kämmen

In übler, phosphatreicher Luft,

Wo weißgraues Rasen und Brausen

Mit Donner und Blitz unentwegt,

Wie Bier oder Betel zum Kauen,

Der saugende Sand trockenlegt –

Wer weiß, was das Erbe der Kaffern,

Was Puschkins Lyzeum verspricht?

Zwei Götter – bis morgen noch schlafend,

Zwei Meere – vertauscht im Gesicht.

Naturgewalt freier Gewalten

Und freie Gewalt des Gedichts.

Zwei Tage in zweierlei Welten,

Zwei Dramen, zwei Bühnen, uralt.

2. Nachahmung

Am Ufer über wüstem Meer

Stand er allein, gedankenschwer.

Im Wind lag Wut. Von Sand verdichtet

War blutig, purpurrot die Flut.

Der gleiche Zorn lag ihm im Blut,

Und es entlud sich unbeschwichtigt

In ihm die aufgestaute Wut.

Aus seinem Munde klang ein »Morgen«

Wie »Gestern« klingt aus fremdem Mund.

Im Geist des Kaffern war die Glut

Noch nicht gelebter Zeit verborgen,

Und der noch nicht gewobne Dunst

Sank küssend auf die Wimpern nieder,

Und tränkte all die Seiten wieder

Des Traumromans: Die Kunst

Erstand aus Dunkel, das zu geben

Kein Erdenklima je vermag,

Das keine Schwüle je verjagt.

Selbst Winde können es nicht heben,

Und niemals wird es je zerstreut

Vom Maitag und der Erntezeit.

Am Abhang stand dem Auge offen

Ein weiter Ausblick, wild und karg:

Das Schwimmbad, krumm, mit weißem Schopfe,

Der Windhauch, der in Freiheit starb,

Im letzten Augenblick sich wiegend;

Er blies, dem Widerhall erliegend,

Er kämpfte, bis er sich verbarg

Im Schwinden. Wild und karg

Erschien am Abhang dieser Sektor

Des Erdenrunds, die wilde Hand,

Die niemand je bezwingen kann;

Doch sie vergoss das Salz des Nektars

In Takelagen, die schlecht sehn,

An Tagen, endlos ausgedehnt,

Im nassen Dämmerlicht des Scheiterns,

An Abenden, so schwärzlich grau …

So wild und karg, doch so begeisternd

War dieser Ausblick – frei und rau!

Er stieg herab. In wilden Binsen

Ertönten Dolden, und zuhauf

Erwuchs der Schaum. Bis an den Knauf

Umschlangen Wolfsmilch, Wermut, Ginster

Stets seinen Stock und hemmten ihn;

Im Ohr erklang der Steppenwind.

Er kam zum Strand, den Blasen zierten,

Sanft wiegte Schilfrohr sich und Iris,

Die Flut, gekräuselt, lief herbei,

Und lilafarben, wie aus Blei,

Sah er das Dunkel in der Mitte.

Welch krause Flut! Sie war geglitten

Wie eines Köders leichte Last

Aus Blei hinab in den Morast

Mit unnachahmlicher Grimasse.

Dem Finger sagt die Angelschnur

Auf diese Weise: Keine Spur –

Gefangen hast du nichts als Wasser.

Er sank auf einen Stein, und kund

Tat nicht ein Zug in seinem Wesen,

Dass er zutiefst bewegt gelesen

Des Meeres Evangelium.

Die letzte Muschel kann erahnen

Des Herzens Laut, vom Traum benetzt,

Der alles Leid mit Salz durchsetzt,

Das er geschmiedet. Seinen Kammern

Entreißt kein noch so scharfer Stahl

Das Wesen ewig frischer Qual,

Den Seufzer in beglückter Liebe …

Er strömte aus, erschuf ein Riff

Aus Purpurlippen – und er schlief

Erstarrt am Munde des Polypen.

3.

Sterne eilten. Flut wusch die Gesteine.

Blind erschien das Salz, die Träne trocken,

Dunkel das Gemach. Gedanken eilten –

Nur die Sphinx vernahm Saharas Worte.

Kerzen tropften stetig. Stocken müsste

Auch das Blut des Riesen! Blau durchdrungen

Hatte seinen Mund die heitre Wüste:

Mit der Ebbe war die Nacht bezwungen.

Aus Marokko kam zum Meer die Brise

Des Samum. – Verschneit schlief ganz Archangelsk.

Kerzen tropften. Der Prophet, noch Skizze,

Trocknete. Es wurde Tag am Ganges.

4.

Wolke und Sterne. Dort führt ein

Weg zu Aleko. – Dort liegt

Mondlicht im Auge Semfiras,

Abgründig, glutweiß und tief.

Deichseln, gen Himmel sich wendend,

Stirnen, olivgrün, nein – blau:

Misstrauisch reichten die Fremden

Schmuck zu den Sternen hinauf.

Dies mag an euch noch erinnern,

Dächer Chaldäas! Es schmort

Mondlicht, das Blut will gerinnen.

Eifersucht? Nichtiges Wort.

Halt! Denn du ähnelst dem Syrer,

Sterndeuter, keusch und verdorrt!

Mord blitzt, die Sinne verwirrend –

Rache? Ein nichtiges Wort.

Lästige Schatten, Eunuchen …

Schultern verdeckten den Ort.

Gift? Eifernd schrieb man im Buche,

Selbstmord sei nichtig, ein Wort!

Feurig entflammten die Nüstern.

Bist du noch immer nicht fort?

Leise, mein Rennpferd – sie flüstern …

Flucht? Welch ein nichtiges Wort!

5.

Er war so farbenfroh, so bunt,

Litt an Skorbut und sagte offen,

Das Schilf sei schwarz, von Löchern wund,

Im Land der Winzer und Ganoven.

Der Pferdedieb schlich nah am Zaun,

Der Wein war von der Sonne braun,

An Reben pickte gern der Spatz,

Und armlos nickten Vogelscheuchen;

Die Trauben hielten ihren Schwatz –

Da starb das Tosen, scharf und schneidend.

Da schwand das Meer. Der weite Strand

Erklang, in den sich Schotter wühlte.

Speiübel war dem Wellenkamm,

Die grauen Wolkenschäfchen spielten.

Der Wind blies hinter Schabo rau,

Riss an den Leinen ungezügelt.

Im Salzbad wurde stark das Tau,

Dem Sturm war unbeschreiblich übel.

Ein Lärm erklang in Sumpf und Pfuhl,

Als klirre fern im Bad ein Eimer,

Als spräche leise mit Kagul

Otschakows Möwe, nachts, alleine …

6.

Vom Steppengras gekühltes Licht:

Dem Zaumzeug lauschte in der Stille,

Dem Schellenklang, dem Wort, das spricht,

Die wie die Nacht verträumte Grille.

Die Steppe wehte hin und her

Wie seltsam fremde Kettenglieder

Und wie ein Mundstück ohne Pferd;

Der Wind war zahm, unendlich müde.

Matt schien das bunte Stoffgewirr,

Kühl, wie die Kupferwaage glänzend,

Hob seinen Blick vor dem Gezirp

Der weite Süden, frei von Grenzen –

Er glich dem Lied, unendlich blau;

Vor seinem Liede nahm er auf

Den Atem irgendeiner Nacht,

Den Atem irgendeiner Rast.

Und dieser Augenblick der Zeit

Verdunkelt selbst die Ewigkeit.

1918

Die Krankheit

übersetzt von Richard Pietraß

1.

Der Kranke spitzt. Den sechsten Tag

Stürmt es, ohne aufzuhören.

Es kollert polternd übers Dach,

Tost und stürzt, um zu verröhren.

Die Weihnacht ist von Schnee umstiebt.

Er träumt: Sie kommen, ihn zu holen.

Er fährt empor: »Etwa mich?«

(Ein Ruf. Ein Klang. Die Neujahrsglocken?)

Fernhin im Kreml dröhnt Iwan.

Er schwimmt, er taucht ins Tiefe.

Und schläft. Groß wie ein Ozean,

Heißt der Schneesturm auch die Stille.

2.

Vom übersternten Dielenboden

Zum Mond, den Zaun entlang

Zieht sich, Strähnen und Locken,

Bäumend das Bruchweidenhaar.

Schaurig ist es, zu vermummen

Mit Rauch die Kassiopeia!

Morgens, wie eine Maulbeerpuppe

Ist die Kirche nicht mehr da.

Was ist das? Der Kiewer Lawra

Kuppelschlaf? Oder die Edda,

Nordengehegt, als offenbare

Perle eines Vorzeitwahnes?

So etwa war das. Damals

Wild und unstet wachsend,

Ging ich im gehörnten Garten

Als Gespenst des Hirtenschattens.

Er war wie ein Elch. Bis an die Knie

Stand er im Schnee. Durch die Büsche

Sah des Elens Blick

Das mitternächtliche Viertel.

Rätselstarr, wie angewurzelt

Schaut er die geschliffne Fläche:

Im Sternenfrost, wie eine Garbe,

Schlug es an die weiße Hocke.

Schneegebeugt, hob er vom Boden

Gequält die Sterne und die Nacht.

Dem Gehörnten war das Chaos

Der Epochen nicht gekappt.

3.

Mag sein, so geht’s, mag’s anders.

Doch an manchem glücklosen Tag,

Drückender als geistlich, schwärzer

Als mönchisch, ereilt uns der Wahn.

Frost. Die Nacht im Fenster: Etikette,

Und sie bleibt wie Eis, so starr.

Im Pelz, im Sessel, summt der Geist – und

Alles eins, eins immerdar.

Und die Aststange und die Mannswange,

Das Parkett und des Feuerhakens Schatten

Schimmern mit dem Traum und der Reue

Des sündigen Schneesturms, nimmersatten.

Still die Nacht. Helle Frostnacht

Und die Milch – ein blinder Welpe.

Mit der Tannen Dunkelheit

Trinkt der Zaun das Licht der Sterne.

Scheinbar tropfen die Tannen. Glimmen.

Scheinbar ist die Nacht gewachst.

Der Fichtzweig lässt den Schnee erblinden,

Die Höhlung – Höhlen nachgemacht.

Scheinbar still, ist es so schrill

Wie Elegien von Radiowellen.

Erwartung, die dem Ruf folgt: »Meld dich!«

Oder Echo andrer Stille.

Scheinbar stumm: die Nadeln, Zweige

Und die Höhen – beinah taub.

Des Weges Blinken: die geneigte

Antwort auf »Hallo«-Radau.

Frost. Die Nacht im Fenster: Etikette,

Und sie bleibt wie Eis, so starr.

Im Pelz, im Sessel, summt der Geist – und

Alles eins, eins immerdar.

Lippen, Lippen! Er biss sie aufs Blut,

Bebt, in das Gesicht vertieft.

Im Biographen schwillt ein Sturm

Aus diesem kreidebleichen Motiv.

4. Die Strickjacke des Kranken

Ein körperentfremdetes Leben und länger

Führt, wie ein brutunlustiger Pinguin,

Die flügellahme Jacke des Kranken:

Den Flanell zu wärmen, die Lampe rück hin!

Sie denkt an die Skier. Von Krummholz und Leibern,

Im Dunkel verloren, von Herr und Gescherr

Strömt es heran. Als schwitze die Weihnacht!

Es knirschten die Kufen, es keuchte der Gang.

Der Hof und der Horror, letztlich verlassen.

Die Schränke: Kristall, und Teppiche, Truhen.

Den Zaun lockte an, das Haus steh in Flammen,

Die Lüster erschienen entzündet und hustend.

Vom Himmel verzehrt, die Augen voll Winter

Glich das geblähte Gebüsch dem Schrecken.

Zum Fenster hinaus, in den Schnee der Schlitten

Warf lodernd der Herd der Köchinnen Hände.

5. Der Kreml im Schneesturm Ende 1918

Wie hingeworfen in den Schnee

Als wüstgefallene Endstation,

In Pfiffen, Lärm, im Mittnachtsweh,

Schleppt er seine Schnörkelkrone,

Wie einer vor dem Ende, erschöpft,

Das Schneegestöber trauernd anruft

Auf dass es nicht die Seele lösch

Zur Unzeit, eh sich alles einmummt,

Wie einer, handgelenkgepackt

Vom Schneesturm, fest an den Manschetten,

Der lachend die Kapuze fasst

Und grüßt, als wäre was zu retten,

Doch manches Mal! Doch manches Mal!

Dem Schiffe gleich, das kurze Zeit

Sich, heulend, aber wunderbar,

Samt Seil von seinem Anker reißt,

In letzter Nacht und ohn Vergleich

Mit irgendwem, im Schaum, im Brass,

Beflaggt: der Kreml, winterreich,

Dem Letzten lässt er seinen Hass.

Und grandios, zurückgewandt

Wie des Visionärs Geschehn,

Entschwebt er drohend, kurzerhand

Durch den Rest ins Neujahr neunzehn.

Ins Fenster dir, im Dämmerlicht

Lässt schlagen er sein Glockenkupfer.

Er ängstigt sich, das Jahr verzischt,

Verfehlt bleibt’s ihm ein fremdes Wunder.

Der Tage Rest, der Stürme Rest:

Der Türme Los im Jahre achtzehn.

Es tost und springt – ein spätes Fest

Zu kurzen Spiels mit langem Nachsehn.

Und hinter Meer und Wetterwand

Verspüre ich, der fast Gestorbne,

Wie dies noch ungeschlüpfte Jahr

Drangehen wird, mich neu zu formen.

6. Der Januar des Jahres 1919

Jenes Jahr! Wie oft hat’s zugeraunt

Am Fenster mir: »Stürz dich ins Leere!«

Doch dies, das neue, trieb’s mir aus

Allein mit Dickens’ Weihnachtsmärchen.

Es flüstert mir: »Vergiss, nur Mut!« –

Mit Sonnschein ringt’s im Thermometer,

Strichfein, wie jenes mir Strychnin antrug,

Und fiel ins Zyankaliröhrchen.

Sein Morgenrot und seine Hand,

Wie träge wehen seine Locken!

Verpusten auf der Fensterbank

Bei Vögeln, Dächern, Philosophen.

Ach, käme es und legt’ sich mild

Als Strahl von Steig und Räumpflicht.

Es ist verwegen und erhitzt,

Erbittet lärmend Tee, ist hektisch.

Von Sinnen ist es, frisch verprellt

Vom Lärm des Hofes – welche Bürde.

Es gibt kein Leid auf dieser Welt,

Das der Schnee nicht heilen würde.

7.

Für mich bist du im Dämmer nur Elevin,

Pensionsbewohnerin. Den Förstern graut

Der Waldesuntergang. Ich lieg und sehn mich

Ins Dunkel. Und sieh, wir rufen uns, und laut.

Die Nacht, die Nacht! Ein Höllenhaus des Schreckens!

Erfahre es, leid du nun meine Qual!

Mit ihr – dein Schritt, dein Schnitt, das Ehversprechen,

Sie wiegen schwerer als ein Tribunal.

Gedenkst des Lebens du? Ein Schwarm von Tauben

Flog flockenleicht, brustoffen in das Kreischen,

Vom Wind gewirbelt, prassend, gierig tauchend

Vom Bauchgewerbe in den Schnee der Steige.

Du kamst hindurch! Er aber unterschob uns

Den Teppich, Rodelschlitten und Kristalle!

Das Leben strömte wie das Blut, zur Wolke

Im Brand des Schneesturms sich erhellend.

Gedenkst des Taumels? Der Zeit? Der Krämerin?

Des Zelts? Des Andrangs? Und schließlich beim Bezahlen

Des kühlen Klangs der Münzen. Denkst des jährlichen

Geläuts der Glocken vor den Feiertagen?

O weh, die Liebe! Ja, man muss es sagen!

Womit ersetzen dich? Durch Fett? Verbromten Sud?

Wie Pferdeaugen aus dem Kissenhafer,

So schau ich, scheuend vor dem Schlafentzug.

Für mich bist du im Dämmer nur der Prüfling.

Nur die, die geht. Migräne, Zeisig, Richtschnur.

Doch nachts! Wie flammend bitten sie zu trinken,

Der Kapseln Augen und der Tropfenkur!

1918–1919

Abbruch

übersetzt von Elisabeth Kottmeier

1.

O Engel im Lügen, je eher – je besser.

Mit reinem Gramtrunk brächt ich dir Erliegen!

Doch so – darf ich nicht, doch so – auf dem Messer!

O Schmerz, schon im Anfang verseucht durch die Lüge,

O wehe, o weh, das verpestet!

O Engel im Lügen du, nicht führt das Leiden

Zum Tod, dass am Herzen Ekzeme sich ballen!

Warum aber gabst du der Seele zum Kleide

Beim Abschied das Nesselhemd? Zwecklos entgleiten

Dir Küsse; wie Regen und Zeit, die da fallen,

So tötest du lachend für alle, vor allen!

1918

2.

O Schmach, du Last für mich! Gewissen, es verstummen

Die vielen Träume, oh, im frühen Abbruch nicht!

Wär ich ein Mensch, – vielleicht nur eine leere Summe

Von Wangen, Schultern, Hand, von Schläfen, Mund, Gesicht!

Dann hätt – dem Pfeifen nach, dem Zeichen, Schrei der Strophe,

Der Sehnsucht Festigkeit und ihrer Jugend nach –

Ich allen mich gefügt, sie zur Attacke offen

Geführt, ich hätte dich erstürmt, du meine Schmach!

3.

Alles Denken zieh ich ab von dir,

Wenn nicht auf Visite, so im Himmel dann.

Wird beim Klingeln doch der Nachbarn Tür

Aufgemacht für irgendeinen irgendwann.

Ja, zu ihnen, wo Dezember klirrt.

Nur die Tür – da bin ich! – Nur ein Korridor.

»Ach woher? Erzählen Sie, was wird?

Wovon klatscht man? Eine Moritat?«

Geht die Sehnsucht wirklich immer fehl?

Flüstert dann: »Wie – ihr aus dem Gesicht geschnitten«,

Schon bereit zum Absprung, ungezählt

Vierzig Fuß tief, mit dem Ruf: »Sind Sie es bitte?«

Haben Plätze keinen Marterpfahl?

Ach, ihr kennt nicht diese Quälerei,

Wenn die Straße einen hundertmal

Schnappt am Tag durch eine Ähnlichkeit!

4.

Also stör mich, probier’s, komm, vollführe ein Löschattentat

Auf den Anfall von Gram, der wie Quecksilberhall Torricelli’scher Leere sich äußert.

O Verstörtheit, verbiete es mir, – und fass zu, komm herein!

Also stör meinen Lärm um dich! Schäm dich nicht, wir sind allein.

O so lösche doch, lösche! – Noch heißer!

5.

Diesen Regen der Ellbogen winde und Wellen darein

Der durch Ohnmacht wie Atlas der Kalla gebietenden Hände!

Und so schlage denn, Jubel! Ins Freie! So fang sie, dies tollende Beispiel vereint

Sich dem Waldhall, der Widerhall schluckt kalydonischer Jagd, der enthemmten,

Als Aktaion, berückt, Atalante verfolgt wie die Hindin vorm Hain,

Da man liebte als letzter Azur, der sich pfiff in das Pferdeohr ein,

Da man küsste, wie Hatzlaut verschwimmt im Gelände,

Wenn Liebkosung als Hörnerschall, Krachen von Bäumen und Krallen und Hufen erscheint.

– Oh, ins Freie, ins Freie – von einst!

6.

Enttäuscht bist du? Dachtest, ein Schwanensang-Requiem

Vertusche die Tatsache, dass wir uns trennen?

Auf Harm die Pupillen geweitet, berechnetest du

Die Unüberwindlichkeit je nach den Tränen.

Es mag bei der Messe das Fresko herabrieseln,

Erschüttert vom Spiel auf Sebastians Lippen.

Doch seit heute Nacht sieht in allem mein Hass dieses –

Die Peitsche fehlt leider für dieses Verschleppen.

Er fasste sich ohne die zaudernde Nachdenklichkeit,

Beschloss, dass er alles gleich umpflügen werde.

Und dass – es jetzt Zeit. Dass der Selbstmord nicht dienlicher sei,

Nur eine von Schnecken gezogene Beschwerde.

7.

So, Freundin, zärtliche, wie nachts Seetauchern, über Bergen polwärts auf den Schwingen

Getragnen, heißen Flaum der Schneefall von den Füßen stieß,

So schwör ich, Zärtliche, und ohne mich zu zwingen,

Wenn ich dir sage – Freundin, du sollst schlafen nun, vergiss!

Wenn ich, so tot wie ein bis an den Schlot vereister Frachter

In Winters Traumgesicht, das keinen Mast voll Reif bewegt,

Durchschweife deiner Augen Nordlicht als gescherztes »Sachte,

So schlaf doch, bis zur Hochzeit heilt es, reib die Tränen weg!«

Wenn ich, wie der dem arktischen und argwöhnischen Eise

Verborgene Norden, der weit von des letzten Siedlers Schuss

Als Mitternachtsgewölbe blinde Robbenaugen auswäscht – leise

Also sage: »Wisch nicht, schlaf, vergiss: es ist doch alles Stuss.«

8.

Mein Tisch ist nicht so breit, dass man umschließe,

Die Brust an Bord gelehnt, den ganzen Schmerz

Mit einer Ellenbeuge, diesen Isthmus

Des »Lebewohl«, durchgraben so viel Werst.

(Dort ist nun Nacht.) Den Nacken, deinen heißen.

(Man ging zur Ruh.) Um deiner Schultern Reich.

(Und löscht das Licht.) Früh müsste ich sie lassen

Der Vorlaube, verschlafner Zweige Kreis.

Nicht Flocken! Mit den Händen zu! – Dann reicht es.

Zehn Finger der Passion, es furcht der Pflug

Der Raunachtsterne, des Verspätungszeichens

Für einen nordwärts schneegejagten Zug.

9.

Den Lefzenschaum leckt sich der Flügel zitternd.

Für dich kann dieser Wahn nur Sense sein.

Da sprichst du: – Lieber! – Nein, ich rufe – nein.

Beim Musizieren?! – Lässt sich Nähe wittern

Mehr als im Dunkel, wenn man dem Kamin

Wirft Tagebücherstapel zu: Akkorde?

O winke doch, Gedenken, winke hin,

Du wirst bestürzt sein! – Du bist frei geworden.

Ich binde nicht. Geh hin und tue was.

Zu andren geh. Den Werther schrieb schon einer.

Dass Luft nach Tod riecht, weiß man ja gemeinhin:

Sei’s Fensteröffnen oder Aderlass.

1918

Ich konnte sie vergessen

übersetzt von Ilse Tschörtner

1. Denen, die denunzieren

O Kindheit, du Schöpfmaß der Seelentiefe,

Du aller Wälder Urgewächs,

In Eigensinn wurzelnd und Eigenliebe –

Mein Inspirator, Priester, Rex!

Wie oft ist verflogen vom Blatt der Scheibe

Und Teerose der Tränen Samt,

Das welkende Chaos, plötzlich treibend,

Als roter Farn neu aufgeflammt;

Wie oft sind die Tasten umhergeirrt,

Kaum angerührt, im Phantasieren

Der trauernden Klaviatur! – Man wird

Mir heimzahlen ihr Denunzieren!

Denn alles und jegliches denunziert.

Die Nachbarschaft mit reichen Leuten,

Das Hauswesen hinter geschlossener Tür,

Vergnügtes leises Schlüsselläuten.

Der Heuchelei Händedruck denunziert,

Die Frische des Manschettenhemds,

Das Auge des Handdeuters denunziert,

Der Feingeschmack eines Geschenks.

Des Lebensjahrs Nichtigkeit denunziert.

»Ihr Grünschnäbel! Und wir? – Ihr Linken!

Und wir, doch viel linker als ihr, die wir

Im Rot-Erblühen uns verjüngen?«

O Sonne, Erbarmen! »Geh was verscherbeln!«

O Kiefer, träumt’s uns? »Halt dich ran!«

O Leben, du heißt uns entarten, sterben,

Zum Hohn dir selbst und deinem Plan.

O Hellseher Duncan, hilf aus der Schlinge!

Die Wut der mitreisenden Leute!

O Himmel, für wie viele Silberlinge

Verkauftest du uns dieser Meute?

1917

2.

Konnte ich sie vergessen? Für das Meer, die Familie?

Um der Platzkarte willen, des Pfunds Viktualien?

In die Fallgrube tappen im Exzess der Gefühle,

Ins verborgene Netz der Parteiordinalien?

Am Coupéfenster sitzen, am Proviantkanten nagen?

Landen da und da, da und da nehmen Quartier?

Ich bin froh über dieses mein Martyrium! Ja, schlage!

Deine Reißkrallen, Löwin, verrieten dich mir!

Für das Meer, die Familie, die verzweifelte Lage,

Wie bestehn, überstehn?, ihre Absurdität?

Keinem Sträfling verpasst man solche Strafe! Ja, schlage!

O nicht ihr, nicht ihr – unsereins ist der Prolet!

Ich erlag, ich bekenne, unterlag meilenweit

In der sorglosen Selbstüberschätzung des Tiers.

Mich erniedrigte ich bis in die Ungläubigkeit,

Dich erniedrigte ich bis zur Melancholie.

1921

3.

Zwei Jahre bist du alt, beginnst

Entwöhnt in dunklen Klang zu tauchen.

Du zwitscherst, pfeifst – du wirst, mein Kind,

Ein drittes Jahr zum Sprechen brauchen.

So fängst du zu verstehen an.

Und wenn Turbinen lauthals lärmen,

Scheint dir die Mutter unbekannt,

Du bist nicht du, dein Heim ist Fremde.

Was soll das schrecklich schöne Bild

Des Flieders auf den Gartenbänken,

Wenn er nicht kleine Kinder stiehlt?

So wächst Verdacht, entstehn Bedenken.

So siehst du Furcht. Mit welcher Kraft

Lässt jener seinen Stern gewinnen,

Der einmal Faust ist, dann Phantast?

Nomaden mögen so beginnen.

So öffnen sich, wohin du schaust,

Statt Häusern über Zäunen schwebend,

Die Meere wie ein Klagelaut –

So fangen Jamben an zu leben.

So ist manch Sommernacht; sie spricht

Im Hafer liegend: Ach, erfüll dich!

Sie droht mit deinem Aug dem Licht

Und streitet mit der Sonne willig.

So lebst du künftig im Gedicht.

1921

 

übersetzt von Christine Fischer

3.

So der Anfang. Mit kaum zwei lauschst du auf und strebst fort

Von der Amme ins Chaos der Melodien.

Du trillerst und zwitscherst. Das gesprochene Wort

Wird im dritten Jahr dich bei der Zunge ziehen.

Du beginnst zu begreifen. Ein Turbinengebrause

Aber macht plötzlich, dass in dir Zweifel frisst,

Ob die Mutter die Mutter ist, Zuhaus das Zuhause

Und du selbst, wie du hier bist, du selber bist.

Was kann die beängstigende Schönheit des Flieders,

Der sich neben dich setzt auf die Bank, dafür,

Dass Kindsraub verboten ist, den Sitten zuwider?

So kommt Argwohn und Widerspruch auf in dir.

Und so Furcht. Warum kannst du einen Stern, der dir winkt,

Mit den Händen nicht greifen, die nach ihm greifen,

Wenn du Faust bist, ein Zauberer, Phantast? So beginnt

Der Zigeuner in dir dich umherzutreiben.

So erhebt sich, sich wölbend über Zäune und Mauern,

Wo Häuser sein sollten, ein Ozean,

Unversehens wie Seufzen, Atemschöpfen, Erschauern.

So heben Daktylen und Jamben an.

So lehnt die Augustnacht, die ins Haferfeld sank,

Flehend: geh in Erfüllung!, mit deinen weiten

Pupillen sich auf gegen den Sonnenaufgang.

So beginnst du dich mit der Sonne zu streiten.

So beginnst du zu leben im Vers.

1921

4.

Wir sind wenige. Drei nur vielleicht,

Donezkische, Stürmische, Höllische –

In der fliegenden Hülle der Wolken,

Regenschauer, Soldatenräte

Und Gedichte und Diskussionen

Über Kohletransport und Kunst.

Nicht Menschen mehr, sondern Epochen.

Uns verschlug es; uns peitscht es im Tross

Der Tundra, im Tendergepolter

Und Stampfen der Kolben voran.

Wir spannen uns, stieben im Wirbel

Drauflos, stören auf – und sind weg.

Uns deuten werdet ihr später.

So besteht die Spur eines Sturmwinds,

Der nachts in ein Strohfuder schlug,

Fort in den stürmischen Reden

Einer Wipfelversammlung über

Den Dachschindeln anderentags.

1921

5.

Mir schiefe Bilder, die bei Regen

Hereinschwirrn, dass die Kerze sprüht,

Zu holen von den luftigen Nägeln

Ins Versmaß, werde ich nicht müd.

Das Universum liebt die Maske –

Was gilt’s!; kein Spalt, der nicht mit Filz

Sich zupflastern zu lassen hastet,

Wenn Winter droht – was hilft’s, was gilt’s!

Die Dinge stoßen ab die Larve

Und lassen Macht und Ehre fahren

Beim ersten Ruf der Regenharfe,

Sich im Gesang zu offenbaren.

1922

Der kurzweilige Garten

übersetzt von Ilse Tschörtner

1. Der kurzweilige

Schön wie ein Fakt im Fragebogen

Sind alle Daten, die erzählen

Vom trunkenen Nachaußenwogen

Des Kurzweiligen einer Seele.

Auch es – ein Garten, voll von Arten,

Die müde abwarfen den Flor,

Und bunten Spielen, wie der Garten

Vom Weg am Ufer bis ans Tor.

Auch es wird, birgt es den bizarren

Park hinterm Pavillon im Teich,

Dem Schattenriss einer Gitarre,

An der die Saiten sprangen, gleich.

1917

2.

Von Wohlstand, gar üppigen Mählern

Und Jakob-Möbeln umstellt,

Verdorrt das wie Zweige von Käfern

Singsummende Naturell.

Es springt durch die Zinken wie Funken,

Berührst und traktierst du, sie stramm

Zu raffen, die Teufelshalunken

Der Selbstliebe mit dem Kamm.

Die Haltung: »Wie kommt ihr dazu?«

Ist Liebe, doch hüllt geschwinde

Dein Mund dich in Spott: »He ihr, Ruhe!

Verrückter als kleine Kinder!«

O Frische, smaragdene Dolden,

Vom Regen berauscht, Gefrans

Süß schläfernden Unfugs, o golden-,

O göttlicher Firlefanz!

1917

3. Der Nussstrauch

Der Nussstrauch enthebt dich des Tages im Wald,

Und Sonnmünzen fallen bald mit dem Kopf

Aufs schwelende Schwarz eines Baumstumpfes, bald

Mit trübgrünem Adler auf einen Frosch.

Gebüsch überholt dich, der Wald wird, dein Heim,

Je tiefer du heimkehrst, ein Ozean.

Sich lichtende Wipfel und Rundholz in Reihen,

Ein Fink wie ein Schiffchen, wie Schaum Gesang.

Und – querdurch, mit Tauchen, im Zickzack herum,

Azurbläue sammelnd, und mit der Fracht

Vorbei und davon … Und der Wald reckt sich stumm

Und staunt aus den Wolken dem Schiffchen nach.

Wo Himbeere und Gewitter sich finden,

Sich Wolke und Flechtendorn berühren,

Dort glimmt violett, dass die Sinne uns schwinden,

Der Moorgrund verglommener Heidentümer.

1917

4. Im Wald

Ein lila Schleier Hitze trübt die Wiese,

Und Kathedralendämmer füllt den Wald.

Wie hier nicht küssen? Hat sie nicht den Riesen

Wie heiße Wärme Wachs ganz in Gewalt?

So träumt’s sich auch – du schläfst nicht, liegst versonnen

Und spinnst dir einen Traum, du dämmerst müd,

Und auf den Wimpern brennen schwarze Sonnen,

Hervorgelassen unter hellem Lid.

Rings rinnen Lichter, Schillerkäfer, schimmernd

Steht über deiner Stirn Libellenglas.

Den Wald erfasst ein angespanntes Flimmern

Wie eines Uhrmachers Pinzette, die nicht fasst.

Als wär er eingenickt von diesem Ticken.

Doch über allem schlägt, im Bernsteinbrand

Des Äthers, die erprobte Uhr, dort rücken

Die Zeiger weiter nach dem Hitzestand.

Es schiebt und schüttelt sie, die Nadeln beben,

Sät Schatten, attackiert, durchlöchert, plagt

Die Rahen Finsternis, die höher streben

Ins blaue Uhrblatt, in die Glut des Tags.

Als kreiste hier des Glückes Urzeit, gleißte

Im Abendrot von Träumen die Natur.

Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, heißt es.

Doch diese beiden, scheint es, schlafen nur.

1917

5. Spasskoje

Ein September wie selten entblättert sich wieder,

Wieder heißt es aus Spasskoje fort in die Stadt.

Hinterm Zaun tauschen Echo und Hirt ihre Lieder,

Überm Wald schallt und hallt eine einsame Axt.

Diese Nacht ging ein Frösteln durchs Moor hinterm Park.

Dann kam Sonne – erschien und verwischte zum Schemen.

Selbst die Gräser friert’s unter dem Tau bis ins Mark,

Und die Birkenhaut blaut wie von Kälteödemen.

Und der Wald murrt, auch er möchte ausruhn vom Tanz,

Seine Schneehöhle baun, seinen Bärenschlaf halten.

Überhaupt, gleicht er mit seinen Schneisen nicht ganz

Einem Nachruf mit trauergeränderten Spalten?

Gab er auf, sich zu regen, zu häuten und flecken,

Tiefer senkend den wässrigen Stirnbalg, zu haaren?

Doch er spricht noch, und wieder sind Sie, und erschrecken,

Wieder fünfzehn!, o Kind, ach, wohin mit den Jahren?

Sind es nicht schon zu viele für Übermutsspiele?

Viel wie Vögel in Sträuchern und Mäuse im Feld!

Manchen Horizont hat man sich selber mit ihnen

Oder anderen bis zum Erblinden verstellt.

Ein an Typhus erlöschender Komiker hörte

Die homerischen Lachsalven der Galerie –

Ähnlich hat es ein Holzhaus, voll schmerzlicher Zärte,

Heut am Wege aus Spasskoje halluziniert.

1918

6. Es wird sein

Morgendämmer wiegt die Kerze,

Zündet die Schwalbe an, lässt sie frei.

Und wieder sage und sag ich euch:

So frisch wird auch das Leben sein.

Ein Schuss ins Dunkel – die Morgenröte,

Babach! Im Fluge erlischt der Brand,

Gelegt von dem fernen Ladestock.

So frisch wird auch das Leben sein.

Nach außen ist es nur ein leichter Wind,

Was zitternd sich an uns schmiegte nachts.

Der Regen blieb fröstelnd im Morgen stehen.

So frisch wird auch das Leben sein.

Ein unwahrscheinlicher Narr, zum Lachen.

Was spielte er sich zum Wächter auf?

Er sah doch: Eintritt ist nicht erlaubt.

So frisch wird auch das Leben sein.

Gebiete, solange du Herrin bist,

Gebiete nur mit dem Wink des Tuchs,

Solange wir im Dunkeln sind,

Solange der Brand nicht erloschen ist.

1919

7. Wintermorgen

Die Luft sinkt in grauen Falten herab,

Und leise erinnert der Schnee an: »So müde …«

Und: »schlummern, ’s ist Zeit« und dann – wie der Tag

Mit Singsang und Sirup fiel hinter die Wiege.

Herauskommend rangst du erst mal nach Atem,

So stach die Haut. Kinder mit Ranzen, der Weg

Ins Weite, wie er sich lautlos in Falten

Wie die eines riesigen Fischernetz’ legt.

Wie leicht legten sich zusammen: das Märchen

Vom Fisch, der vom Wagen schwirrt, oder vom Fuchs

Und Baum, Schuppen, Fenster, Wollfaden, Scherchen,

Der Fäustling, die kalte verwunderte Luft.

Und dann, von den Blümchen, unter dem Zeisig,

Begann es durch Mutwillen oder Addieren,

Durch sie wohl, die Arithmetik, so eisig,

Die Schultafel rüttelnd, zu stürmen und stieben.

Ein Zahn blutete, man pinselte ihn.

Im Auge des Doktors indes spielte schummernd

Gekästelter Irrwitz: Schneebälle hin

Und her, dazu Ranzen und schläfrige Krakel als Summe.

Dies Märchen heut wieder: summend und gähnend,

Die Zeitung mit Schnee fegend, über die Weiten

Der Schaumkronen aus Trottoiren und Mähnen

Sich hin wie ein riesiges Fischernetz breitend.

Der nämliche Schreck der nestlosen Wipfel

Heut, wattig, gefroren, mit Klappfensterwucht,

Zerräufelt beim Tee die wollenen Zipfel

Der Schneenacht zu kalter verwunderter Luft.

1918

Wie Kinder für sich, die lachend

Besinnungslos Unsinn machen,

Haben wir Nacht, Tag und Nacht

Durchredet, durchlesen, durchlacht.

Und mancher, den eine Note

Im Vers nicht mehr losließ, drohte

Dem Morgen, sich zu betrinken,

Bevor die Trambahnen gingen.

Und morgens rief, scharrend im Schnee

Und schaukelnd, ein Vogel: He,

Welch Schnapskorken hat dir Schalk

Nachts solch eine Fratze gewalkt?

Und auf stand der Tag aus heißem

Müllgrubenschimmel, den Kreisen

Der Feuerleitern, vom Ragen

Der Holzstapel angeschlagen.

1919

Ich weiß nicht, was scheußlicher ist:

Ein fauliges Blatt aus dem Viehstall

Oder das, was alles im Schal,

Unterm Schnee ist und im Vergangnen.

Ein Tunichtgut, Tölpel und Tor,

Zwischen Bäumen hier, da zwischen Häusern,

Lässt der graue Oktober die Krähen

Über Karakuljacken flattern.

Das Knacken der Zweige hört sich an

Wie das Knacken hartbackener Kringel.

Dass der Wind sie, statt zu schütteln, doch raffte!

So fallen sie ab Stück für Stück.

Sie fallen auf den frostigen Staub.

Ach, frühzeitig wohl, noch im Dunkeln

Fing der Wirbelwind heute an,

Die Kümmelkringel zu schütteln.

1919

Na, das musste nun sein – sich recken,

Krächzen und in dies Chaos aufschießen,

Um den ganzen Oktoberschrecken

Auf dem Kiosk wie Flügel zu schließen.

Von den Türmen ein Sodom schicken

Auf das rastlose Köpfegewoge,

Wo auch du, mit dem Hütchen nickend,

Das Gesicht in den Schleier gezogen,

Wo auch du, mein Gedankenbitter,

In Glacézeug und Robbe gepuppt,

In Galoschen mit Trippelschritten

Schwimmst im Muffmeer und winkst mit dem Muff.

1919

Alle seid ihr, Leserinnen,

Heuchler, nebenbei erwähnt.

Euer Meister ist das Fenster,

Das, aus dem ihr so gern lehnt.

Schillernd wie eine Ballade

Vor Geheimnis, wie gerührt

Tränen weinend, Blicke werfend,

Ist es doch nur Eis wie ihr.

Und wie ihr bläht es mit gieriger

Iris ins Monströse auf

Sperlingkleine ferne Kirchlein,

Ferner Fohlen heitern Lauf.

Ein Plakat-Tschaikowski kann es

So, gleich euch, ergreifen, dass es

Übers Dach fliegt flügelklappernd

In den Wind der Opernkassen.

1919

8. Frühling

Ich komme von da, wo die Ferne unter Alarm,

Die Pappel im Schock ist, das Haus bangt, sich nicht mehr zu halten,

Die Luft fleckig blaut wie das Wäschebündel im Arm

Des wieder genesen die Klinik verlassenden Alten,

Wo leer ist der Abend wie ein Erzählungsbeginn,

Den mitten im Wortgang der Stern seines Fortgangs verließ

Vor Tausenden Augen, die, ihrem Ausdruck und Sinn

Entzogen, erlöschen und dumpf werden und abgrundtief.

1918

Ein Paar Lüftfenster-Angeln, ihr Knarren.

Der Nachhall des Spätfebruar.

Lasst uns trinken, bevor sie’s gewahren,

Trinkt, Schläfen, Stirn, Scheitel und Haar!

Wie ein Ladestock schlägt das Getön

Herein. Immerzu, Wilder, schlage!

Deine Rede, mein Freund – über wen?

Die Lüfte der Freiheit und Klage?

Diese Schwemme, welch Sinn ist ihr inne?

Mein Gott, und was macht uns auf Dauer

So gewöhnlich (die Sprache? die Sinne?)

Dies göttliche Plätschern und Schauern?

März, wer bist du? Das Eis schwitzt und schwimmt,

Die Droschke, hervor aus den Toren

In die Straßen geschleudert, beginnt

In deinem Geloder zu schmoren.

Lehre mich, so zu fassen das Wort,

Dass glücklich sind bis zur Ekstase

Über dich, diesen Abend und Ort

Die Droschken und Dandys der Straße.

1919

Feiner Regen fädelt vom Himmel.

Grau und löchrig kümmert der Schnee.

Nicht mehr viel, und auf reißt der Himmel,

Und das Tosen kommt, und los geht’s.

Wie von jeher kommt es mit flatterndem

Schal, den Mantel offen, und kehrt

Ganze Schwärme schriller, verdatterter

Morgenvögel wild vor sich her.

Kommt zu dir auch, pustend vom Sprinten,

Polkt am Licht, sitzt, seufzt, gähnt dich an

Und erwähnt, dass die Hyazinthe

Heute freigedeckt werden kann.

Lacht und hebt die wirbligen Brauen

Und verwirrt dich, Wort für Wort sich

Widersprechend, mit einer schlauen

Dummen Ammenmär über mich.

1918

Du schließt die Augen, und in diesem tauben

Organ stehn sie in selbstvergessnem Raum

Zu Paaren, streuend Rascheln, Scharren, Schnauben,

Trance, Taumel, Lallen, Lachen und Geraun.

Sie können sich nicht in den Frühling finden,

Wie sehr sie sich auch mühen – wie ich auch.

Ein Nahzug schickt mir im Vorübersingen

Und diesen armen Muckern ein Pud Rauch.

Wann war es, dass im Schutz der Mönchskapitel,

Die im Ornat aus Tanne hielten Liturgie,

Der Laie März mit seinen windigen Mitteln

Den dunklen Park mit Bläue unterlief?

Im Alter werd ich büßen für die Sünden

Des März; er korkt den Weiden-Branntwein auf,

Zieht sich zurück ins Setzlingsbeet, verschwindet

Im Tümpel des in Rausch sinkenden Strauchs.

Im Abend stehen still die Aquarelle

Der Rinnsale und Pfützen, an den Türen

Erscheinen Abkömmlinge der Gesellen

Aus unsern ersten Fibeln, ersten Spielen.

1921

Hell singen die Vögel, ganz Seele und Singen.

Im Lack der Gefährte schäumt Sonnengischt.

Kein Fünkchen mehr will aus der Schleifscheibe springen,

Und springt eins – zerspringt es im Licht, erlischt.

Ins Schulfenster schweben drei Wölkchen und lassen

Sich nieder auf Reihen von Näharbeit.

Der Saum läuft kaum merklich ein, sehn sie, vom Wasser,

Doch Rücken und Taille zwei Finger breit.

Hell singen die Vögel, und hell aus der Schule

Fällt wie eine Welle auf Weg und Steig

Das Klappern und Surren von Schiffchen und Spule,

Nicht endender Singsang und Lachgeläut.

Kein Fünkchen springt; springt eins – zerspringt’s augenblicklich.

Ein üppiger Tag heute, voller Schwaden

Von Wölkchen wie Gas. Und der Schleifer ist glücklich,

Dass so viele Fraunzimmer Messer haben.

9. Traum in einer Sommernacht

Zwei grobe Stimmen. Noch war nicht geschlossen,

Als: »Raus hier! Scher dich ins Loch deiner Gosse!«

Zerbalgtes Haar, eine Wolke Gezänks,

Im Strom darüber Etüden Chopins.

Genie, nein – Fisch gabst du sicher nicht aus

Im weißen Haus beim Genossenschaftshaus,

Da bis zum Weltrand die Mondschweife schwangen

Wie Gärten nachts in nicht endender Schlange.

1918

Von früh an strömt aus den Rabatten

Ein Duft von Rosen, Koriander,

Torf, Rosmarin, Ozon und Nattern

Und steht erschlafft der Oleander.

Blau flimmern Dach und Mezzanin,

Das ganze Landgut liegt im Schlummer.

Blassgrau der Schlehdorn, hinter ihm

Seiner Präludien lila Schummer.

Wem wispert was ein Schlänglein zu

Und winkt im Abschied die Arkade?

Zurück zwingt ein Depeschenruf

Chopin zur leidenden Ballade.

Sie heilen eilen, denn sonst leidet

Der Sommer weiter Diphtherie,

Und schnell den heißen Quell befreien,

Die Adern aufschließen für sie!

Als Universum sich und Hand

Berührten, war ein Kreis geschlagen,

Wo auch schwül duftend Tabak stand

In bläueflimmernder Plantage.

1918

Der Pianist kann die Lumpensammler verstehen;

Sie ziehn, auf den Schultern das schiefe Gestell

Der Halden, umher – ihre Strohkiepen fristen

Ein Los wie der offene Deckel des Flügels.

Er strolcht über Bauplätze mit ihrer Horde,

Findet irgendwo unter den Trümmern den Schatz

Einer Ziegelstein-Wolke und hängt ihn am Bügel

Zur Sommergarderobe wie eine Robe.

Und reckt sich, wie nach der Feldflasche, gierig,

Auf der Kriegskarte des Gewitters den Blick,

Zum Flügel, der überströmt von der Feuchte

Des schwülen gewaltigen städtischen Sommers,

Da, lautlos herangepirscht auf allen vieren,

Vergehend vor Durst, das Gewitter sich stürzt

Auf Tonnen mit Mörtel und anfängt zu dröhnen

Mit den fliegenden, springenden Tatzen des Regens.

1921

Ich hänge an der Feder des Schöpfers,

Ein Tropfen violettlila Lichts.

Unterm Fenster der Rinnsteine Rätsel,

Und die Luft, an den Bahnhöfen flackernd,

Atmet Wodka- und Kokskohledunst.

Doch indem sie den Dämmer bewältigt,

Wird die Nacht selber rosig wie er.

Getroffen von diesem Absurdum,

Murrt der Zaun: Schiebe auf bis zum Morgen

Dein ratloses Spiel mit der Farbe.

Madig, tot ist der Grund und das Echo

Wie die Kugel der Kegelbahn schrill.

Frühlingswind, Schmutz und Müll und Cheviot

Und das Hallen sich öffnender Tore,

Während über die Raspel des Pflasters

Der Morgen wie ein Meerrettichstrunk

Kleine weißliche Tränen verteilt.

Ich hafte an der Feder des Schöpfers,

Ein Tropfen geronnenen Bleis.

1922

Trink, Dichter, und schreibe – vom Streifenkommando

Der Straßenlaternen aus Straßen bewacht,

Die untergehakt, mit dem Bierkrug wandern,

Aus welchem du trankst, durch die Mittsommernacht.

O heißer grünäugiger Durst der Giganten!

Von Dächern auf Tische herab prasseln blechern

Mixed Pickles von Pappeln. »He, Ruhe, Trabanten,

Pst!« wispern die Buchstaben-Schwünge des Zechers.

O stürmischer Rembrandt-Krug mit den Gebirgen,

Wie bliebst du in dieser Gewitterluft frisch!

Ein Sturm kommt. Gesichte, zurück in die Hürden!

Hirn, blase den Rückzug zu Bier und Tisch!

O Zeitalter, wie deinem Rad in die Speichen,

Ins bodenlos Einstige rasenden, greifen!

Nie werden Masuriens Sümpfe den bleichen

Hornisten Samsonows die Stiefel abstreifen.

Dann knatterte an der Moskwa ein Motorrad,

Als warnte es in einem zweiten Gesicht

Vor Seuche, verkündete ein Moratorium

Zu irgendwann kommendem Schreckensgericht.

1922

10. Poesie

Ich schwöre, Poesie, und lasse

Mich schwörn, so hoch die Stimme kann –

Bei dir, du bist nicht Sang und Klang,

Du bist ein März mit Dritter-Klasse-

Platz, Vorstadt bist du, nicht Gesang.

Du bist Schewárdinos Chaussee

Und Schanze, wo im Abendglühen

Die Wolken stöhnen und, vom Heer

Beurlaubt, still von dannen ziehen.

Und sich im Gleisgezweig verteilen

(Nicht Singsang, sondern Vorstadt), um

Heim über Bahnhöfe und Meilen

Zu eilen – nicht singend, sondern stumm.

Der Regen lässt die Ruten tanzen

(Auch das bist du) auf Blumenmatten

Und von den Dächern seine Stanzen

Mit Bläschen in den Reimen pladdern.

Und steht auch unter deinem Hahn

Wie Eimerblech die Plattitüde –

Wie kann sie stören deinen Strahl:

Das Heft legt sich dazwischen – fließe!

1922

11. Zwei Briefe

Gib Antwort, Liebste, sag, bevor der Morgen

Sich hingelehnt hat irgendwo am Weg,

Jetzt gleich, da er erst aufbricht im Verborgnen –

Wohin seit jener Zeit dein Sehnen geht.

Und lass den Morgen bitte nicht mehr säumen,

Wenn er noch zögert, nimm zum Postillon

Den dir entgegeneilenden geheimen

Kurier meiner Gedankenexplosion.

Das wird der Regen sein; erst wird er fragen

Nach Weg und Unwegsamkeit da und hier,