Zwillingssaga 2 - Salomé Joell - E-Book

Zwillingssaga 2 E-Book

Salomé Joell

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Beschreibung

Meileen hat es geschafft. Sie ist den Klauen des brutalen Prinzen Kargon entkommen und hat ihren Platz unter den Zwillingen gefunden. Der Anfang ihres Weges ist geebnet und sie lebt sich gut in Astora ein. Mit neuen Freunden und ihrer Schwester an ihrer Seite, stellt sie sich den Herausforderungen, die auf sie zukommen. Dabei ahnt sie nicht, welche dunklen Grausamkeiten auf sie warten... Das Verhalten des Träumers Leandro macht ihr zu schaffen. Kann sie ihm trauen? Wird sie sich unter den Zwillingen behaupten können? Kann sie ihr volles Potenzial zu nutzen, lernen ihren Gefühlen zu vertrauen und die Liebe finden, nach der sie sich so sehr sehnt? Mit „Sohn der Erde“ legt Salomé Joell den zweiten Teil der Zwillingssaga vor.

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Seitenzahl: 678

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Zwillingssaga
Impressum
Rückblick
Prolog
Teil 1
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Teil 2
11
12
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15
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Teil 3
17
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19
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22
23
24
Epilog

Salomé Joell

Zwillingssaga

Sohn der Erde

Eisermann Verlag

Für Miri

Weil das Ganze ohne dich nicht das wäre, was es ist.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96173-120-6

E-Book-ISBN: 978-3-96173-171-8

Copyright (2022) Eisermann Verlag

Lektorat: Bettina Dworatzek

Korrektorat: Daniela Höhne

Buchsatz: Grit Richter, Eisermann Verlag

Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns, www.jaqueline-kropmanns.de

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

Eisermann Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Rückblick

Andora war ein wohlhabendes und gesegnetes Reich. Der König regierte weise und war seinem Volk gegenüber gnädig. Er kümmerte sich um ihre Belange, sorgte dafür, dass seine Untertanen ein gutes Leben führen konnten und wurde von allen geliebt.

So kam es, dass er seine Tochter Méileen zu ihrem sechzehnten Geburtstag zu verheiraten gedachte. Er wollte seiner geliebten Frau, die im Kindbett gestorben war, den letzten Wunsch erfüllen und ihrer beider Tochter einen guten Mann an die Seite stellen. So hoffte er, dass sein Reich auch nach seinem Tod weiter in Wohlstand und Frieden leben würde. Was er nicht wusste, war, dass Prinz Kargon, den er dafür ausgesucht hatte, nicht der war, für den er sich ausgab. Nach außen hin war er charmant, ein Ehrenmann, fürsorglich um Méileen bemüht. Doch hinter der Fassade sah es anders aus. In Wirklichkeit war Prinz Kargon ein brutales, frauenverachtendes Monster, der Méileen seine Macht vor der Hochzeit demonstrierte, indem er in den Gemächern neben ihren seine Konkubinen misshandelte und Méileen alles mitanhören ließ. Durch Magie, von der nur die wenigsten Menschen wussten, verbarg er diese Grausamkeiten, sodass niemand Méileen glaubte. Nicht einmal ihr Vater, zu dem Méileen nie ein gutes Verhältnis gehabt hatte.

So bedrängt, in dem Wissen, diesen Mann heiraten zu müssen, wurde die Prinzessin von Albträumen gequält, die sie keine Nacht durchschlafen ließen. Bis ihr eines Tages ein Mann in ihren Träumen gegenüberstand, ihr die Hand reichte und sie aus ihrem Albtraum befreite. Leandro zeigte ihr wunderschöne Orte, das Meer, Wälder, Berge und die Tierwelt. Mit ihm verbrachte sie ihre Träume, ließ sich von ihm Geschichten erzählen und fragte sich Nacht für Nacht, ob er real war, oder nur ein Gespinst ihrer Einbildung, um ihrem Schicksal zu entfliehen. Außerdem erzählte Leandro ihr die Geschichte von Leana der Ersten. Eine Frau, die auszog, um einen Ehemann zu finden und die einen Drachen, ihren Zwilling, fand. Beide waren geboren, zur gleichen Stunde, Minute und Sekunde und sie beide waren unter dem gleichen Stern getauft. Leana war der Erdzwilling, ihre Schwester der Luftzwilling. So die Legende, wobei nicht jeder Drache einen Erdzwilling hatte, wie auch nicht jeder Mensch einen Luftzwilling.

Die Legende gefiel Méileen und sie malte sich aus, wie ihr Zwilling aussehen könnte, ohne wirklich an Drachen zu glauben. So vergingen die Wochen, bis ihr sechzehnter Geburtstag näher kam und damit auch der Tag, an dem sie verheiratet werden sollte. Bisher hatte sie Leandro nie von ihrem Schicksal erzählt, doch zwei Nächte vor ihrer Hochzeit vertraute sie ihm all ihre Sorgen an. Als Leandro hörte, wer ihr Mann werden sollte, flehte er sie an, zu fliehen. Sie solle alles dafür tun, um diese Hochzeit zu verhindern. Er würde zu ihr kommen und sie befreien, wenn sie nur wollte. Und sie wollte so sehr. Ihre Flucht hatte Méileen schon lange vorbereitet und so gelang es ihr in der Nacht vor der Hochzeit, zu entkommen. Allerdings musste sie zuvor mit ansehen, wie Prinz Kargon ihren Vater vergiftete. Auf Sternenglanz, ihrem Pferd, floh sie, ritt durch den Wald und folgte dem Mutterstern in Richtung Meer. Doch der Weg war beschwerlich und die Soldaten des nun selbsternannten Königs verfolgten sie. Méileen schickte ihr Pferd davon, um die Soldaten in die Irre zu führen und landete bei der alten Gertrin. Einer Frau, die einsam in einer Hütte mitten im Wald lebte und die einmal die Woche Besuch vom jungen Petro bekam, der ihre einzige Verbindung zur Zivilisation zu sein schien. Bei Gertrin erfuhr sie, dass Magie real war. Sie brachte ihr das Meditieren, oder der Welt guten Morgen sagen, bei, wie Gertrin es nannte. Und durch diese erkannte Méileen, dass auch sie Magie wirken konnte. Wie es aussah, war das Heilen ihr Element und Méileen fühlte sich wohl mit diesem Wissen. Einzig, dass Leandro sie in ihren Träumen nicht mehr besuchte, machte ihr zu schaffen. Er war einfach aus ihrem Leben verschwunden und sie vermisste ihn mehr, als sie es für möglich gehalten hatte.

Die Wochen vergingen, Wochen, in denen sie Gesprächen zwischen Gertrin und Petro lauschte und immer mehr von einer fremden Welt erfuhr, die doch keinen Sinn für sie ergab. Petro wollte Méileen mit sich nehmen, sie an einen sicheren Ort bringen, doch Gertrin bat um weitere Tage mit ihr. Und Petro willigte ein, noch zu warten.

Dann kam alles anders, als geplant. Wenige Tage, bevor Petro Méileen abholen wollte, erlitt Gertrin einen Herzinfarkt. Die Magie, die sie genutzt hatte, um sich und Méileen vor den Soldaten des Königs zu schützen, ging mit ihr und Méileen sah sich noch in der gleichen Nacht dem selbst ernannten König Kargon gegenüber. Ihre einzige Hoffnung war nun Leandro, der in den wenigen Stunden, die sie geschlafen hatte, zu ihr gekommen war. Denn der Schutz, den Gertrin gewirkt hatte, galt nicht nur den Soldaten, auch Leandro hatte keine Möglichkeit gehabt, Méileen zu finden.

In letzter Sekunde gelang es Leandro, Méileen vor Kargon zu retten, wobei der Prinzessin nun bewusst wurde, dass die Legende von Leana der Ersten keine Legende war. Denn Leandro war ein Zwilling und der Drache Donner sein Bruder. Auf dem Weg zu den anderen Zwillingen begegneten sie Petro, der sich ebenfalls als Zwilling entpuppte und gemeinsam flogen sie über das Land, bis sie am Meer, an Méileens Lieblingsklippe, von der sie so oft geträumt hatte, ankamen. Dort setzte sich die Prinzessin nieder. Genau wie Leana einst, wartete sie nun auf Wirbel, ihre Schwester.

Prolog

Die Sonne tauchte am Horizont aus dem Wasser auf, als Leandro den Fuß der Klippe erreichte. Keine Minute zu früh. Mit klopfendem Herzen beobachtete er, wie Méileens Drachenzwilling anmutig neben ihr landete. Aufregung und Glück durchströmten ihn und er spürte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Das helle Licht der Morgensonne ließ die beiden strahlen und Méileen noch schöner wirken, als sie es ohnehin war. Ihm war nur allzu bewusst, dass vor über sechzehn Jahren ein Erdzwilling nicht gefunden worden war. Bisher hatte man ihm gesagt, dass dieser wohl längst tot sei. Oder dass man keine Chance hätte, ihn je zu finden. Umso glücklicher war er, dass gerade Méileen dieser verschollene Zwilling war. Er fühlte sich ihr näher als jemals zuvor und freute sich schon jetzt darauf, über alles mit ihr zu sprechen, was ihm im Kopf herumging.

Ihr offenes rotes Haar wehte im Wind, und selbst in ihren zerrissenen Kleidern und seinem Hemd sah sie atemberaubend aus. Sie streckte die Hand nach dem Drachen aus und berührte ihn sanft. Ausgehend von dieser Berührung entfaltete sich ein Licht, das er mehr erahnte, als dass er es sah. Ihm war bewusst, dass er gerade ihre Vereinigung beobachtete. Nun waren sie verbunden, waren eine Einheit, und nichts außer dem Tod konnte sie je wieder trennen. Eine Verbindung, die auch für ihn wichtig war. Méileen war eine von ihnen. Sie war ein Zwilling. Als solcher lebte sie, genau wie er, viele hundert Jahre.

Er fragte sich, wie es sich anfühlte, seinen Zwilling erst so spät in seinem Leben kennenzulernen. Die Erinnerung an seine erste Begegnung und die Vereinigung mit Donner war nicht existent. Er war damals noch ein Säugling gewesen, wie alle anderen Zwillinge auch. Méileen dagegen würde diese Begegnung niemals vergessen. Ihr Gesicht wirkte so verzaubert und wunderschön und gelöst.

Da sich Donner zu ihm gesellte, stieg er auf dessen Rücken. Er bemerkte, dass Méileen ebenfalls auf den Rücken ihrer Schwester stieg, bevor sie über das offene Meer in Richtung Dracheninsel flogen.

Ob der Drache sie dorthin bringen würde? Nachdem man Wirbels Erdzwilling nicht gefunden hatte, hatte man sie zur Insel zurückgebracht, und so war sie unter ihresgleichen aufgewachsen. Bei ihren Eltern und Geschwistern.

Er unterdrückte den Drang, ihr nachzufliegen, denn er würde nur stören. Dann kraulte er Donner hinter den Ohren. Ein leises Brummen entrang sich der Kehle des Drachen.

»Ja, ich weiß. Wir werden auch bald auf die Insel fliegen. Meine Ausbildung ist so gut wie beendet. Dann steht es uns frei, deine Familie zu besuchen, wann immer uns danach ist.«

Donners Sehnsucht nach seinen Verwandten auf der Insel war etwas, das Leandro schon lange beschäftigte. Doch da es ihm nicht erlaubt war, als Schüler allein hinzufliegen, und die beiden sich nicht so lange trennen wollten, hatte der Drache bisher darauf verzichtet. Zu selten waren sie gemeinsam bei den anderen gewesen. Und jedes Mal war er überwältigt gewesen von der Unberührtheit der Natur, der Andersartigkeit der Dracheninsel.

Ein anderer Fleck am Himmel, der von hinten in sein Sichtfeld kam, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Sofort wusste er, dass es Emelina auf ihrem Drachen Wasserlauf war.

Freude stieg in Leandro auf. Nach so langer Zeit würde er endlich wieder gemeinsam mit seinem Bruder und seinen Freunden den Himmel erobern. Donner drückte sich fest vom Boden ab und schlug mit seinen gewaltigen Schwingen. Leandro warf einen letzten sehnsuchtsvollen Blick zu Méileen, die bald am Horizont verschwinden würde.

Es war faszinierend, dass sie ihm ihre Schwester schon beschrieben hatte, noch bevor sie auch nur ahnte, ein Zwilling zu sein. Die Erinnerung an ihre Träume, die er mit ihr geteilt hatte, erfüllte ihn mit Wehmut, aber auch mit Glück. Er hatte es genossen, sie in der Nacht zu besuchen, sie in fremde Welten zu entführen und ihr nahe zu sein. Er konnte nur hoffen, sie bald wiederzusehen. Dennoch wünschte er ihr, dass Wirbel sie weit weg brachte und sie erst in vielen Tagen zurückkamen. Natürlich würde er Méileen vermissen. Doch die Realität war zu grausam. Sie war eine Prinzessin, verfolgt von einem selbst ernannten, brutalen König, der sie nur heiraten wollte, um den Thron rechtmäßig zu besteigen. In der Luft würde sie alles vergessen, dort war sie sicher. Und das war es, was er ihr wünschte. Glück und Sicherheit.

Er lenkte seine Konzentration gerade noch rechtzeitig auf Donner und Wasserlauf, denn die beiden begegneten sich in der Luft, bevor eine wilde Jagd begann. Emelina, die auf Wasserlauf saß, schrie vor Freude, als ihr Zwilling vor Donner flüchtete und sich in einen Sturzflug fallen ließ.

Ja, hier oben konnte man alles vergessen. Und obwohl sein Bruder vollends damit beschäftigt war, Wasserlauf zu jagen, berührte sein Geist Leandro und er konnte seine Zustimmung spüren. Auch er hoffte, dass Méileen und ihr Zwilling eine Weile unterwegs waren, um Zeit für sich zu haben und die Schrecken der letzten Wochen zu verarbeiten.

Teil 1

Neue Freunde

1

Die Welt um sie herum faszinierte sie, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Überall war Wasser, Wellen überschlugen sich, manchmal so hoch wie Bäume, und das Meer strahlte im Sonnenlicht in den unterschiedlichsten Farben. Immer wieder sah sie Fische, die in Schwärmen unter der Wasseroberfläche schwammen oder die Oberfläche durchbrachen und ihr entgegensprangen. Es war überwältigend und unbeschreiblich schön.

Schon fast zwei Tage flog Méileen auf Wirbel und sie liebte es. Es war besser als reiten, besser als sich in ihrer Konzentration zu vergessen, besser als alles, was sie kannte. All ihre Gedanken hatte sie hinter sich gelassen und alles, was noch zählte, war ihre Schwester. Und für Wirbel war alles, was noch zählte, Méileen.

In dem Moment, als sie ihre Schwester zum ersten Mal berührt hatte, kannte der Drache ihre Vergangenheit, und Wirbels Vergangenheit hatte sie mit Glück durchströmt. Der Drache hatte Eltern, die sie großgezogen hatten, hatte Freunde, mit denen sie am Himmel spielte, und ein wundervolles Zuhause auf einer Insel, die so weit entfernt lag, dass sie drei Tage unterwegs wären, um dort hinzufliegen. Doch sie flogen nur über das Meer und das Land. Einfach um des Fliegens willen. Nur in der Nacht hatten sie sich auf den Boden begeben. Méileen hatte sich an ihre Schwester gekuschelt und so tief und entspannt geschlafen, wie noch nie in ihrem Leben. Doch jetzt waren sie beide hungrig, sie würden nicht mehr allzu lange in der Luft bleiben.

Wirbel drehte derweil eine Schleife, ließ sich in einen Sturzflug fallen. Erst kurz vor der Wasseroberfläche breitete sie die Flügel aus und bremste den Sturz ab. Sie drehte sich um die eigene Achse, wobei Méileen ihre Beine eng an den massigen Leib des Drachen drückte. Bei diesem Vorgehen streiften die Flügel des Drachen – ihrer Luftschwester – abwechselnd die ruhige Wasseroberfläche, sodass sie hohe Wellen im Meer hinterließen. Méileen jauchzte vor Glück und Wirbel schrie ihrerseits. Ihr Brüllen war so laut, dass sich Méileen am liebsten die Ohren zugehalten hätte, und doch war dies das Schönste, was sie je gehört hatte. Es war ein Geräusch der Freude, der Glückseligkeit.

Während sie über das Meer flogen, betrachtete sie eingehend dessen Farben und seine Schönheit. Leandro hatte ihr in ihren Träumen davon erzählt, doch jetzt und hier war es noch atemberaubender als in ihrer Vorstellung. Nie hätte sie gedacht, dass sie all das jemals sehen würde. All die Wunder, die sie sich so sehr ersehnt hatte. Dass sie ein Erdzwilling war und nur Wirbel hatte finden müssen, um glücklich zu sein, konnte sie bis jetzt nicht fassen.

Irgendwann erkannte sie das Ufer, die Klippe, auf der sie einander begegnet waren. Leandro, der auf Donner saß, blickte ihr entgegen. Ihr Herz machte einen Satz, als sich der andere Drache erhob, und sie konnte Wirbels Aufregung spüren. Sie freute sich mit ihrem Zwilling, der sich bereitmachte, Donner in der Luft zu begegnen, ganz gleich wie müde sie war. Da Donner und Leandro näher kamen, ließ sie sich in einen steilen Sturzflug fallen, noch bevor die beiden sie erreicht hatten.

Méileens Herz raste vor Aufregung. Donner preschte ihnen hinterher, doch bevor er sie eingeholt hatte, breitete Wirbel ihre Flügel aus, schwang sie ein paarmal kräftig und war schon wieder hoch am Himmel. Der andere Drache tat es ihr gleich, doch er flog langsamer, er jagte sie nicht.

Méileen spürte Wirbels Enttäuschung darüber. Donner kam zu ihnen geflogen, und als sie nah beieinander waren, änderten beide ihren Kurs, sodass sie nebeneinander herflogen, und sie Leandro anblicken konnte. Sie erkannte, dass er sich Sorgen machte. »Was ist los?«, wollte sie wissen.

»Der kleine Rat ist deinetwegen zusammengekommen«, erklärte Leandro knapp. »Sie glauben, dass du noch lange unterwegs sein wirst, und wollen alles besprochen haben, bevor du zurückkommst. Vielleicht solltest du dich gleich zu ihnen gesellen. Ich denke, du hast ein Recht darauf, mit über deine Zukunft zu entscheiden.«

Méileen wurde schlecht bei dem Gedanken, dass andere über sie bestimmen wollten. Zu lange hatte sie sich ihrem Schicksal ergeben. Zu lange andere über sich entscheiden lassen. Sie kannte die Menschen nicht, die über sie sprachen, doch das würde sich bald ändern.

Ohne dass sie Wirbel hatte darum bitten müssen, steuerten sie auf den Strand zu. Dort sah sie zwei weitere Drachen, neben denen ein Mann und eine Frau etwa im gleichen Alter wie sie und Leandro standen. Sie landeten neben den beiden. Als sie widerwillig von Wirbels Rücken abstieg, spürte sie ihre tauben Beine. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie ihren Beinen durch den langen Flug so zugesetzt hatte, und sie musste sich bemühen, nicht hinzufallen. Leandro kam an ihre Seite und hakte sich bei ihr unter, um sie zu stützen. Obwohl Méileen diese Unterstützung guttat, war es ihr auch peinlich.

»Warte bitte kurz, dann kann ich gleich alleine laufen.«

Leandro nickte ihr zu, ließ sie aber nicht los. Währenddessen schloss sie die Augen und versank in ihrer Konzentration. Es war einfach, die Ursache ihrer Schmerzen zu finden. Ihre Muskeln waren verspannt und konnten nicht richtig arbeiten. Ohne lange darüber nachzudenken, sandte sie Magie an die richtigen Stellen und ließ ihre Muskeln heilen. Obwohl sie erst seit Kurzem Magie wirken konnte, fiel ihr das nicht schwer. Es war so, als wäre Magie schon immer ein Teil von ihr gewesen. Als hätte sie einfach nur die Augen öffnen müssen, um zu sehen, was zu tun war. Und so dauerte es nur einen Augenblick, bis sie wieder aufrecht und ohne Schmerzen laufen konnte.

»Du bist wirklich ein Phänomen, Méileen«, gab Leandro kopfschüttelnd von sich. »Andere brauchen Jahre, um so etwas zu lernen, und du verschaffst dir mühelos Linderung. Aber jetzt stell ich dir erst einmal ein paar Freunde vor.«

Er führte sie zu den anderen. Die Frau war kleiner als sie, hatte aber deutlich weiblichere Kurven, und ihre Haare waren so blond wie Leandros. Sie trat einen Schritt hinter den Mann und blickte Méileen schüchtern an.

Der Mann war ungefähr genauso groß wie Leandro und hatte braune Haare, die ihm in wilden Locken vom Kopf standen. Er grinste breit und sie konnte den Schalk in seinen Augen erkennen. Sein Gesicht war gezeichnet von guter Laune und vom vielen Lachen, auch wenn er keine Falten hatte. Doch man konnte erkennen, dass dieser junge Mann stets ein Grinsen auf den Lippen trug. Er war Méileen auf Anhieb sympathisch.

»Prinzessin Méileen, das sind Emelina mit ihrem Zwilling Wasserlauf und Deril mit seinem Zwilling Feuer«, stellte Leandro seine Freunde vor. »Sie sind beide noch Schüler, daher werdet Ihr in nächster Zeit wahrscheinlich viel Zeit mit ihnen verbringen. Genau wie ich leben sie hier in Astora.«

»Hallo, ich bin Méileen, es ist schön, euch kennenzulernen.« Sie schenkte ihnen ein ehrliches Lächeln, war wirklich erfreut, hier Leuten in ihrem Alter zu begegnen. »Vor allem, da ich bis vor ein paar Tagen nicht einmal von eurer Existenz wusste. Ich meine davon, dass es Zwillinge wirklich gibt und ihr real seid.« Sie streckte den beiden ihre Hand entgegen und schüttelte sie nacheinander.

Deril umschloss mit seinen Händen herzlich die ihre. »Ja, das finde ich auch. Schön, dass wir noch Unterstützung bekommen haben und willkommen zu Hause.«

Willkommen zu Hause? Das fühlte sich komisch und gleichzeitig richtig an. Méileens Blick schweifte noch einmal zum Meer und zum Strand und sie fühlte sich gut bei dem Gedanken, dass all das jetzt ihr Zuhause sein sollte. Zumindest für eine gewisse Zeit.

»Emelina ist etwas schüchtern«, erklärte Deril belustigt. »Doch wenn sie dich erst einmal kennt, wird sie dir ein Ohr abkauen.« Er räusperte sich. »Wir sollten uns beeilen, wenn wir nicht alles verpassen wollen.«

Er zog sie an der Hand mit sich. Méileen blickte verlegen zu Leandro, der nur entschuldigend mit den Schultern zuckte und gemeinsam mit Emelina hinter ihnen herlief. Sie war es nicht gewohnt, dass man so vertraut mit ihr umging, und gleichzeitig genoss sie diese Unbeschwertheit.

Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sie vor wenigen Tagen hier an diesem Ort angekommen war. Alles, was sie wahrgenommen hatte, war die Klippe und das Gefühl, dort hinzumüssen. Das unbeschreiblich schöne Gefühl, endlich angekommen zu sein. Doch das wollte sie jetzt ändern, ihr neues Zuhause machte sie neugierig.

Sie liefen an mehreren kleinen Hütten vorbei, die wie kleine Würfel aussahen. Wie viele es waren, konnte Méileen nicht sagen, es waren zu viel, um sie auf einen Blick zu erfassen. Die Dächer waren mit Stroh gedeckt und vorn etwas tiefer gelegen, damit das Wasser abfließen konnte. Um die Hütten herum waren kleine Gärten zwischen den Wegen angelegt worden, und zu dem salzigen Geruch des Meeres mischte sich der Duft von frischem Grün und bunten Blüten. Die Gärten zeigten die unterschiedlichsten Blumen in den schönsten Farben. Blumen, die Méileen noch nie in ihrem Leben gesehen hatte.

Als sie die Hütten hinter sich ließen, erblickte sie einen riesigen Kreis, in dessen Mitte ein großer, runder, steinerner Tisch stand, um den acht Menschen standen, wobei sich hinter vier von ihnen Drachen niedergelassen hatten. Ihre langen Umhänge flatterten im Wind, der vom Meer aufkam. Méileen, die der Überzeugung war, dass die, hinter denen Drachen lagen, Zwillinge waren, bemerkte, dass deren Umhänge in einem Orangegelb gehalten waren, während die der anderen ein dunkles Lila aufwiesen. Das Ganze wurde an der Hüfte von einer Schärpe gehalten, die ein wenig heller war, als die Farbe des Umhangs. Sie standen abwechselnd, einer mit Drache, einer ohne, um den Tisch herum und diskutierten intensiv miteinander. Méileen wurde schlecht, als ihr bewusst wurde, dass es dabei um sie ging.

Die Prinzessin erkannte Petro unter ihnen, der laut argumentierte, doch sie konnte seine Worte nicht verstehen. Deril blieb stehen und ließ ihre Hand los, hielt seinen Blick jedoch auf die versammelten Menschen gerichtet. »Das ist der kleine Rat«, begann er zu erklären. »Das heißt, alle ausgebildeten Erdzwillinge, die dauerhaft hier leben, und ebenso viele Magier, die aus der Mitte der Magier ernannt wurden.«

Noch standen sie abseits, sodass sie die Mitglieder des kleinen Rates nicht bemerkt hatten. Méileen wollte etwas mehr über sie erfahren, bevor sie sich ihnen näherte.

»Was macht der kleine Rat? Und gibt es auch einen großen Rat?«

»Ja, den gibt es.« Deril nickte bestätigend. »Der kleine Rat debattiert meist über alltägliche Entscheidungen, die Zwillinge betreffend. Du wirst noch nicht viel von unserer Geschichte kennen, daher ist für dich gerade nur eines interessant. Hier wird alles besprochen, was wichtig sein könnte, und niemand kann ohne die Erlaubnis der anderen eine wichtige Entscheidung treffen.« Er verdrehte die Augen, als würde ihn dieses Prozedere nerven. »Dann gibt es noch den großen Rat, aber der wird nur sehr selten zusammengerufen. An diesem Rat können alle ausgebildeten Erdzwillinge teilnehmen, auch wenn sie nicht hier leben. Von der Dracheninsel werden Vertreter geschickt, die für die anderen mit abstimmen. Und einige Magier, die von ihresgleichen ernannt werden. Beim großen Rat darf jeder zuhören, aber nur jene, die am Rat teilnehmen, können mit abstimmen. Da geht es dann immer um große Ereignisse, etwa wenn ein Krieg bevorsteht. Aber das kann ich dir ein andermal genauer erklären.

Im Moment besprechen sie gerade, wer dein Lehrmeister wird. Normalerweise machen das die Älteren unter sich aus. Dafür brauchen sie keinen Rat einzuberufen. Nur selten wird darüber eingehender debattiert. Das letzte Mal, dass sie sich so einigen mussten, war, als Leandro ein Lehrer zugeteilt wurde.«

Méileen konnte spüren, dass Leandro, der an ihrer anderen Seite stand, sich verkrampfte.

»Was war das Besondere dabei?«, wollte sie wissen und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Mann, der ihr so nah gekommen war. Sie erhielt jedoch keine Antwort, da in dem Moment der Rat verstummte und zu ihnen herüberblickte.

Ein großer Mann mit kurzem, schwarzem Haar erhob als Erster die Stimme. »Ihr habt hier nichts zu suchen, ihr gehört diesem Rat nicht an. Geht und beschäftigt euch anderswo«, gab er herablassend von sich, als stünden ihm hier kleine Kinder gegenüber, die die Erwachsenen nervten. Er war muskulös, hatte braune Haut und wirkte sehr gepflegt. Auch wenn Méileen kein Interesse an ihm hatte, konnte sie nicht bestreiten, dass er sehr anziehend wirkte. Obwohl er in ruhigem Ton gesprochen hatte, konnte Méileen seine unangetastete Autorität heraushören. Dennoch dachte sie nicht daran, sich wie ein kleines Kind fortschicken zu lassen. Immerhin ging es hier um ihre Zukunft. Auch ihre Begleiter rührten sich nicht.

»Das sehe ich anders, Angarus«, mischte sich Petro ein. »Immerhin sprechen wir über Prinzessin Méileens Ausbildung. Und nicht nur, dass sie schon volljährig ist, sie ist dazu noch eine Prinzessin und steht in der Hierarchie über uns. Sie sollte ein Mitspracherecht haben.« Ob seiner Fürsprache wurde Méileen sofort leichter ums Herz und sie trat ein paar Schritte auf den Rat zu.

»Wie soll sie mitreden, wenn sie nicht einmal weiß, worum es geht? Macht ihr nicht mehr Sorgen, als sie ohnehin schon hat«, entgegnete der schwarzhaarige Mann, den Petro Angarus genannt hatte. »Wie soll sie denn mitentscheiden, wer ihr Lehrer wird, wenn sie keinen von uns kennt?« Angarus’ Stimme war charmant, sein Argument sollte Wohlwollen widerspiegeln. Dennoch hatte Méileen das seltsame Gefühl, diesem Mann nicht trauen zu können. Als würde ihr eine leise Stimme zuflüstern, sich vor ihm in Acht nehmen zu müssen.

»Ich sehe es wie Petro«, mischte sich nun eine Frau ein. Sie hatte lange schwarze Haare und sah wunderschön aus. »Sie ist alt genug, um mitentscheiden zu können. Wenn sie keine Ahnung hat, worum es hier geht, sollten wir uns die Zeit nehmen und es ihr erklären. Das müssen wir sowieso, also warum nicht gleich?«

Angarus funkelte die Frau böse an. Er schien es nicht leiden zu können, wenn man ihm widersprach. »So müssen wir alle unsere Zeit damit verplempern. Andernfalls könnte es ihr Lehrer in Ruhe tun.«

»Also ich denke auch, dass wir uns die Zeit nehmen sollten. Außerdem bin ich gespannt darauf, die Prinzessin kennenzulernen«, sprach eine andere Frau, hinter der ein blauer Drache saß. Sie blickte Méileen freundlich an und streckte ihre Hand aus, um ihr zu bedeuten, näherzutreten. »Prinzessin Méileen, würdet Ihr uns die Ehre erweisen und Euch zu uns gesellen?«

Méileen, der übel wurde, schluckte ihre Angst hinunter und trat erhobenen Hauptes an die Seite der Frau.

»Mein Name ist Belana«, stellte sich die Frau vor. »Willkommen in unserer Mitte.« Belana deutete in die Runde, während sie zu erklären begann, was Méileen schon teilweise wusste. Dennoch war die Prinzessin dankbar für ihr offensichtliches Wohlwollen. »Wir verkörpern den kleinen Rat, das heißt, alle hier lebenden Erdzwillinge mit ihren Luftzwillingen und genauso viele Vertreter der Magier. Petro kennst du ja bereits, doch ich will dir auch die anderen vorstellen. Neben mir stehen Angarus und sein Zwilling Tornado und gegenüber Jesselin und ihr Zwilling Sturmwind.«

Jeder von ihnen beugte kurz den Kopf, als Méileen sie anblickte, wie es sich einer Prinzessin gegenüber gehörte. Wobei Angarus bei dieser Geste nicht sehr glücklich aussah.

»Das sind Nelenia, Oman, Ulenio und Jemeris«, stellte Belana nun auch die Magier vor, die zwischen den Zwillingen standen. »Wir haben uns heute zusammengefunden, um über Eure Ausbildung zu sprechen. Da Ihr uns gefunden habt, und vor allem, da Wirbel und Ihr Euch gefunden habt, müssen wir klären, wer Euer Lehrmeister wird und wo Ihr wohnen könnt.«

Belana wandte sich an die Anwesenden. »Ich möchte, dass wir darüber abstimmen, ob Prinzessin Méileen ein Mitspracherecht eingeräumt bekommt. Ich bitte euch, die Hand zu heben, wenn ihr dafür seid.«

Belana, Petro, Nelenia und Oman hielten die Hand hoch.

»Und jetzt bitte die, die dagegen sind.«

Nun streckten Angarus, Jesselin und Ulenio die Hand nach oben; Jemeris schien sich zu enthalten. Méileen wurde flau im Magen. Sie fühlte sich unwohl, dass sie so übergangen wurde. Sie wusste nicht, wie viel Macht diese Menschen hatten, und ob sie es wagen konnte, sich selbst ein Mitspracherecht einzuräumen.

Belana blickte derweil Jemeris an. »Du weißt, dass du dich nicht enthalten kannst, warum hast du nicht abgestimmt?«, fragte sie in freundlichem Tonfall.

Der Magier straffte die Schultern. »Mich würde zuerst noch interessieren, ob Prinzessin Méileen überhaupt ein Mitspracherecht wünscht, bevor ich abstimme.«

Ulenio und Oman murmelten zustimmende Worte und Belana blickte zu Méileen. »Das ist ein guter Einwand, den ich nicht bedacht hatte. Prinzessin Méileen, wünscht Ihr ein Mitspracherecht?«

Méileen reckte den Kopf ein wenig höher. Obwohl sie sich unsicher fühlte, wollte sie es sich nicht anmerken lassen. Sowieso fühlte sie sich in letzter Zeit immer öfter wie ein kleines Kind, über das gewacht wurde. Das man beschützen und ihm daher Informationen vorenthalten musste. Jetzt hatte sie die Gelegenheit, das zu ändern, immerhin war sie die Prinzessin, und es ging um ihr Leben.

»Ich möchte ein Mitspracherecht«, gab sie mit fester Stimme von sich und versuchte den Anwesenden abwechselnd in die Augen zu blicken. »Ich habe in den vergangenen Monaten viel durchgestanden. Es geht hierbei nicht nur um meine Ausbildung, sondern auch um die Zeit danach. Ich weiß, dass sich Prinz Kargon zum König ernannt hat und mich sucht. Er will mich heiraten, damit sein Thron unantastbar wird, und ich bin mir sicher, dass euch all das etwas angeht. Also ja, ich verlange ein Mitspracherecht.« Es tat so gut, diese Worte laut auszusprechen. Autorität auszustrahlen, ohne Angst, dass man ihr deswegen drohen würde, wie es Kargon immer getan hatte. Alles in allem war sie zufrieden mit sich, und dennoch zuckte sie zusammen, als sie ein Funkeln in Angarus’ Augen bemerkte. Der Mann hatte etwas an sich, das ihr Angst einjagte und sofort musste sie an Kargon denken. Hatte sie eben nicht noch gedacht, wie schön es war, frei sprechen zu können?

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie den Namen Angarus schon einmal gehört hatte. Es war Gertrin gewesen, die meinte, dass sie ihm nicht traute. Jetzt konnte sie die Frau verstehen, auch ohne ihn zu kennen.

Währenddessen übernahm Angarus das Wort. »Jemeris, wie stimmst du ab?«

»Ich stimme dafür, dass sie ein Mitspracherecht haben soll.«

Angarus’ Augen verengten sich kaum merklich, doch seine Stimme klang gewohnt ruhig. Ob die anderen es auch bemerkt hatten? »Gut, dann ist es entschieden. Doch wir sollten die Sitzung vertagen. Es ist spät, Prinzessin Méileen hat seit Tagen nichts gegessen und man sollte ihr neue Kleider bringen.«

Méileen, der auffiel, dass sie immer noch in Leandros Hemd und dem Rest ihres zerfetzten Kleides herumlief, wurde rot und ärgerte sich über ihr Erscheinungsbild. Angarus dagegen huschte ein kurzes Lächeln über die Lippen, als er ihr Unbehagen bemerkte. Oder hatte sie sich das nur eingebildet?

»Stattdessen sollten wir darüber sprechen, wo sie wohnen soll. Da sie noch überhaupt keine Ausbildung genossen hat, schlage ich vor, dass sie bei einem von uns einzieht, egal ob es ihr Lehrmeister sein wird, oder nicht. Sie könnte sofort anfangen, etwas zu lernen, und wenn es nur das Meditieren ist.«

Diesmal mischte Méileen sich sofort ein. Keiner würde mehr so über sie bestimmen. Nicht, wenn sie es verhindern konnte. »Ich kann bereits meditieren, wie einigen von euch vielleicht aufgefallen ist. Seit ich es gelernt habe, meditiere ich jeden Morgen mehrere Stunden. Außerdem habe ich gelernt, wie man Magie wirkt. Es ist mir gelungen, einen Hasen zu mir zu locken, als ich ihn fangen wollte.«

Dass sie den Hasen dann zurückgelassen hatte und der Fuchs ihn dadurch holen konnte, erwähnte sie lieber nicht. Es war eine Lektion, die sie hatte lernen müssen, das wusste sie. Dennoch verursachte es ihr noch heute Übelkeit.

Bei ihren Worten ging ein Raunen durch die Runde, nur Petro blieb ruhig. Angarus’ Augen verengten sich erneut. »Einen Hasen dazu zu bringen, zu einem zu kommen, ist nicht allzu schwer. Wir sprechen hier über richtige Magie. Vor allem sollten wir bald herausfinden, in welche Richtung deine Anlagen gerichtet sind. Du bist ein Zwilling, natürlich wirst du großes Potenzial haben. Doch um dieses entfalten zu können, brauchst du den für dich geeigneten Lehrer.«

Méileen, die ihre Fähigkeit, Magie zu wirken, nicht einfach so heruntersetzen lassen wollte, öffnete den Mund, um zu widersprechen. Doch aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie Petro leicht den Kopf schüttelte, und so biss sie sich gerade noch rechtzeitig auf die Lippen.

»Gut«, meinte Petro. Wirkte Petro wirklich erleichtert, dass sie den Mund gehalten hatte? Sie sollte dringend in Ruhe mit ihm reden. »Dann sollten wir erst entscheiden, wo Prinzessin Méileen wohnen wird. Prinzessin, wärt Ihr damit einverstanden, vorübergehend bei einem von uns unterzukommen?«

Sie nickte, und Petro schenkte ihr ein Lächeln.

»Ihr habt die Möglichkeit, bei Angarus, bei Jesselin oder bei mir zu wohnen. Da Belana gerade Feleno und seine Mutter beherbergt, bis sie eine eigene Hütte bekommen, ist bei ihr leider kein Platz.«

Jesselin machte auf sich aufmerksam. »Ich bin ja normalerweise dafür, dass eine Frau ab einem gewissen Alter nicht im Haus eines Mannes lebt, doch ich erwarte morgen Besuch. Ich kann meine Hütte leider nicht anbieten, so leid mir das tut.«

Angarus’ Miene wurde selbstgefällig, als er das Wort ergriff. »Dann bleibe wohl nur noch ich übrig. Petro ist viel unterwegs und verbringt zumeist nur ein bis zwei Nächte die Woche unter uns. Ich denke, Prinzessin Méileen braucht einen Ansprechpartner, der immer zugegen ist.«

Méileen wurde kalt, sie hätte kein Problem damit gehabt, bei einem der anderen unterzukommen. Doch mit Angarus wollte sie unter keinen Umständen auch nur eine Nacht unter einem Dach verbringen. Woher diese heftige Abneigung kam, konnte sie sich selbst nicht erklären. Zum Glück mischte sich Petro gleich wieder ein.

»Ich habe die nächsten Wochen nichts vor. Der große Rat wird bald zusammenkommen und ich habe schon mit Belana darüber gesprochen, dass ich bis dahin mehr Zeit hier verbringen werde, um meinen Aufgaben gerecht zu werden. Daher kann sie auch gerne bei mir wohnen. Ich schlage vor, dass Prinzessin Méileen selbst entscheidet, zu wem von uns sie ziehen möchte und derjenige kann schon einmal abtasten, wo ihre Begabungen liegen.«

Die anderen stimmten ihm zu, wobei Angarus sich zurückhielt. Er wusste, dass seine Chancen nur noch sehr gering waren, schon allein, weil Petro sie hierhergebracht hatte.

»Prinzessin«, richtete Petro sich direkt an sie. »Wo möchtet Ihr gern die erste Zeit leben?«

Sie tat so, als würde sie sich das Ganze gründlich durch den Kopf gehen lassen. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie Petro besser kannte, als es sein konnte.

»Am liebsten würde ich bei einer Frau leben. Ich weiß, dass es hier Sitte ist, dass ein Schüler bei seinem Lehrer wohnt. Doch normalerweise sind die Schüler noch Kinder. Ich bin eine junge Frau. Hätte ich denn ein eigenes Zimmer, wenn ich mit einem Mann unter einem Dach lebe?«

Petro blickte sie zufrieden an und nickte. »Ja, die Hütten bestehen aus zwei Schlafzimmern und einem Wohnbereich.«

»Gut, dann würde ich gerne bei Euch wohnen. Doch sobald es möglich ist, möchte ich zu einer Frau ziehen. Es könnte unschönes Gerede geben, wenn ich es nicht tue und durch meine Position sollte ich so etwas unbedingt vermeiden.«

Belana, die sich die ganze Zeit zurückgehalten hatte, erhob das Wort. »Dann ist diese Angelegenheit entschieden, wenn niemand einen berechtigten Einwand hat. Und wenn erst einmal ihre Ausbildung begonnen hat und sie die Grundlagen beherrscht, können wir immer noch überlegen, wo sie auf Dauer leben soll. Ich erkläre hiermit die Debatte über ihre Unterkunft für beendet. Wir werden uns in zwei Tagen wieder zusammenfinden, um darüber zu sprechen, wer sie unterweisen wird. Mögen die Drachen uns Weisheit und Frieden bringen, mögen die Herren der Träume uns leiten und mögen die Energien im Fluss bleiben.«

Ein Raunen ging durch die Runde und Petro kam zu Méileen herüber. »Wie ich sehe, begreifst du schnell. Komm, ich zeige dir, wo du dich einrichten kannst und sorge dafür, dass du etwas Vernünftiges zum Anziehen bekommst.«

Dankbarkeit überkam Méileen, als sie ihrem Freund folgte.

***

Leandro hatte zusammen mit den anderen alles mit angehört. Natürlich wollte er nicht, dass sie bei Angarus leben musste, doch mit diesem Ausgang war er nicht zufrieden. Méileen und Petro waren sich zu vertraut und jetzt wohnten sie auch noch unter einem Dach. Höchstwahrscheinlich würde er sogar ihr Lehrmeister werden. Leandro hatte seine Ausbildung fast beendet, eigentlich war es nur noch eine Formalität, damit er als vollwertiger Erdzwilling angesehen wurde. Dann hätte sogar er sie unterrichten können.

Er sah zu, wie die beiden zu Petros Hütte gingen, und ein Stich der Eifersucht durchfuhr ihn. Donners Geist berührte ihn und er musste seinem Zwilling zustimmen. Sie hatte ihn geküsst. Dennoch, es war nur im Traum gewesen und er wusste nicht, ob es ihr etwas bedeutete.

Es war Emelina, die ihn aus diesen bedeutungsvollen Gedanken riss. »Komm, Leandro, lass uns vorgehen. Wenn wir uns die ersten Plätze suchen, sitzen wir in ihrer Nähe.«

Emelina hatte recht, es würde bald Essen geben, und da er wusste, wo Petro stets saß, konnte er sich einen Platz in seiner Nähe, und damit in Méileens Nähe, sichern.

2

Petro führte Méileen den Weg zurück, bis sie in seiner Hütte ankamen. Er verbrachte nicht viel Zeit hier, meistens reiste er umher, um Informationen einzuholen oder sie weiterzugeben. Doch durch Gertrins Tod würde er sich für eine Weile niederlassen. Die Erinnerung an seine Freundin erfüllte ihn mit Trauer. So viele Jahre hatte er sie einmal die Woche besucht, Informationen mit ihr ausgetauscht und Rat bei ihr gesucht. Schnell verbannte er seine Gefühle, er hatte Wichtigeres zu tun. Außerdem hatte Méileen gerade Wirbel gefunden. Sie war glücklich, und er wollte sie nicht an ihren Verlust erinnern. Er wusste nur zu gut, wie nah sich die beiden gestanden hatten, auch wenn sie einander nur kurz gekannt hatten. Außer ihm war Méileen der einzige Mensch, den die Alte in ihre Nähe gelassen hatte. Petro vermutete, dass Méileen sie an ihre Tochter erinnert hatte.

»Also, hier wirst du fürs Erste wohnen und das hier«, er zeigte auf eine Tür, »ist dein Zimmer. Es ist nicht groß, doch du kannst dich darin so einrichten, wie du willst.«

Méileen öffnete die Tür und blickte hinein. »Danke, Petro, das ist mehr, als ich erwartet hätte.«

»Geh schon mal rein, du kannst dich auch ausziehen. Ich sorge dafür, dass dir jemand warmes Wasser, ein Tuch und frische Kleider bringt.«

Fragend drehte sie sich zu ihm um. »Wirst du nicht hierbleiben?«

Petro, der bereits an der Tür stand, blickte sie an und schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe noch etwas zu erledigen. Ich komme später wieder, dann haben wir Zeit für alles Wichtige.«

Damit verschwand er aus der Hütte und ließ sie allein zurück. Hier konnte ihr nichts geschehen. Wirbel lag draußen und lehnte an der Wand, neben der sich Méileens Zimmer befand. Er nickte dem Drachen zu und ging an ihm vorbei in die nächste Hütte hinein.

Vor ihm stand Lanea. Petro kannte sie schon ihr ganzes Leben. Zu gern erinnerte er sich daran, wie sie hier als kleines Kind herumgetobt und immer wieder darum gebettelt hatte, auch einen Drachen fliegen zu dürfen.

»Lanea, würdest du mir einen Gefallen tun und Méileen Wasser, ein Tuch und etwas zum Anziehen bringen? Ich habe noch etwas zu besorgen und ich muss gestehen, dass es mir unangenehm wäre, es ihr bringen zu müssen.«

Lanea lächelte ihm verständnisvoll zu. Natürlich wusste sie das. »Gerne, das mache ich schon. Du wirst wohl erst noch Belana aufsuchen?«

»Ja, es gibt viel zu besprechen. Angarus wird sie unter seine Fittiche nehmen wollen, und ich weiß nicht, ob ich das gutheißen kann.«

Lanea nickte. »Dann solltet ihr einen Weg finden, das zu verhindern.«

Ohne noch etwas dazu zu sagen, verließ er die Hütte und machte sich auf den Weg zu Belana. Wie erwartet fand er die Frau auf der Klippe, von der aus sie das Meer beobachtete. Ihr Luftzwilling Fluss lag neben ihr, und als sie ihn kommen hörte, sprach sie, ohne sich umzudrehen.

»Ich dachte mir, dass du kommen würdest.«

Während er sich neben sie setzte, schmiegte sich Lava, der ihm gefolgt war, an Fluss. Die beiden Drachen waren seit Langem vereint. Nur Petro traute sich immer noch nicht, offen um Belana zu werben. »Was hältst du von ihr?«, fragte er also, um seine Gedanken gleich in die richtige Richtung zu lenken.

Die Frau blickte auf. »Sie scheint ein guter Mensch zu sein, das freut mich. Doch ich weiß nicht, ob ihr bewusst ist, was auf sie zukommt. Wird sie es schaffen?«

»Sie ist stark. Stärker, als man vermuten könnte. Sie hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und sie hat jetzt schon ein Gefühl dafür, wie sie sich am besten einfügt. Ich denke, sie wird es schaffen.«

»Das ist gut. Erzähl mir die Wahrheit. Ich habe dich nie dazu gedrängt, doch heute bitte ich dich darum.«

Petro schrak zusammen. Belana wusste, dass er Geheimnisse hatte, doch sie hatte ihn nie danach gefragt. Sie hatte ihm immer vertraut und er wusste nicht, wie er auf ihre Bitte reagieren sollte. Er schloss die Augen und atmete tief aus. »Was verstehst du unter der ganzen Wahrheit? Es gibt Dinge, die ich weiß, und Dinge, die ich vermute. Und dann gibt es noch Dinge, die ich glaube zu wissen, doch nicht beweisen kann. Letzteres würde ich gern für mich behalten, wenn es dir recht ist.«

Er öffnete die Augen und ein wohliges Gefühl lief ihm den Rücken hinunter, als er in die blauen Augen von Belana blickte, die ihn freundlich musterten. »Dann gebe ich mich mit dem zufrieden, was du mir sagen kannst.«

»Wirst du mir böse sein, wenn ich dir die Wahrheit erzähle?«

»Das kommt darauf an, was die Wahrheit ist.«

Petro atmete ein weiteres Mal tief aus. Es würde ihm schwerfallen, ihr alles zu gestehen. Er hatte einfach keine Ahnung, wie Belana zu Gertrin stand.

»Es beginnt mit der Sache, die ich nicht beweisen kann und deshalb für mich behalte. Sie hat mit Gertrin zu tun. Unsere Freundin hat sich damals zurückgezogen, nachdem man ihr auf die Schliche gekommen ist. Doch ich konnte nicht glauben, was über sie geredet wurde. Es dauerte ein paar Jahre und letztendlich gelang es mir, sie zu finden. Sie hatte sich in eine kleine Hütte im Wald zurückgezogen und lebte dort einsam und verlassen, geprägt von Trauer. Sie erzählte mir ihre Version der Ereignisse, und ich glaubte ihr. Doch wie gesagt, ich kann es nicht beweisen und sie konnte es auch nicht. Was sie getan hat, kann man nicht abstreiten, doch ihre Beweggründe waren sehr gut verständlich. In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um ihre Tochter, sondern auch um die gestohlenen Eier. Doch mehr will ich dazu nicht sagen. Wenn ich falsch liege, könnte meine Vermutung hier viel Unruhe stiften. Und die können wir gerade jetzt nicht gebrauchen.«

Petro machte eine kurze Pause. Doch er wollte Belana nichts verschweigen, deshalb fuhr er fort. »Seither besuchte ich sie regelmäßig, um mit ihr zu reden. Sie hat mir immer guten Rat gegeben und es ist stets etwas Gutes dabei entstanden, wenn ich darauf gehört habe. Als ich sie vor einigen Wochen wieder einmal besuchte, stellte ich überrascht fest, dass sie nicht allein war. Es war Prinzessin Méileen, die sich in ihrer Obhut befand.«

Bei der Erinnerung, wie überrascht er über diese unerwartete Wendung der Dinge war, schlich sich ein kurzes Lächeln auf seine Lippen. »Sie versteckte sich vor Prinz Kargon und seinen Soldaten. Prinzessin Méileen hatte schon mit dem Meditieren begonnen und ich nahm mir die Zeit, sie kennenzulernen. Gertrin ahnte zu diesem Zeitpunkt bereits, dass sie der verlorene Zwilling sein könnte. Doch es war nur eine Vermutung. Als ich die Woche darauf wiederkam, entdeckte ich, dass sie immenses Potenzial in sich trägt. Ich wollte sie gleich mitnehmen, doch Gertrin bat mich, ihr noch zwei Wochen zu geben. Sie fürchtete, dass sich Angarus auf sie stürzen und für seine Zwecke benutzen würde. Sie wollte ihr einfach noch etwas Zeit verschaffen, um mehr Selbstvertrauen in ihre Fähigkeiten zu gewinnen. Außerdem konnte man ihr die Qualen, die sie im Schloss hatte erleben müssen, noch ansehen. Sie ist auch jetzt immer noch viel zu dünn.« Er warf einen Blick zu Belana, doch die Frau sagte kein Wort, also sprach er weiter.

»Gertrin wollte nicht, dass sie hierherkommt und sofort als Marionette benutzt wird. Außerdem fühlte sie sich für sie verantwortlich. Die beiden hatten sofort eine enge Verbindung zueinander. Ich denke, Gertrin wurde durch Méileen an ihren eigenen Verlust erinnert und daran, was ihr Tun für Auswirkungen hatte.« Er nahm ein paar kleine Steine auf und ließ sie durch seine Finger gleiten.

»Als ich sie das nächste Mal besuchen wollte, war ihre Hütte niedergebrannt. Alles war zerstört. Doch ich fand Spuren von einem Drachen und da ich von Leandros Verbindung zu Méileen wusste, konnte ich hoffen.

Ich fand die beiden auf einer Lichtung im Wald, sie waren auf dem Weg hierher. Méileen berichtete mir von Gertrins Tod.« Allein die Worte auszusprechen, schmerzte unheimlich und er ließ die Steine zurück auf den Boden fallen. »Sie erklärte mir, dass ihr Herz einfach aufgehört hatte zu schlagen und ihre schützenden Zauber waren mit ihr gegangen. Wäre Leandro nicht gewesen, wären wir zu spät gekommen. Ob sie das, was sie erwartet hätte, überlebt hätte, weiß ich nicht. Doch so war sie mit einigen Peitschenhieben und anderen oberflächlichen Wunden davongekommen. Ich will nicht sagen, dass es harmlos ist, doch es hätte weitaus schlimmer kommen können.« Er schluckte bei all den Berichten darüber, wie Kargon mit Frauen umging und zwang sich, weiterzusprechen.

»Der Junge hat ihr so gut er konnte geholfen. Doch als sie am Tag darauf wieder zu Bewusstsein kam, hat sie sich selbst das Heilen gelehrt. Und das alles nur mit dem Wissen aus Büchern und den Erkenntnissen, die aus dem Meditieren herrühren. Es ist fast unheimlich, wie schnell sie lernt. Wie schnell sie versteht und wie schnell sie die Dinge, die sie begriffen hat, umsetzen kann.

Dennoch ist sie schutzbedürftig, und wir müssen sie vor allem vor Prinz Kargon schützen.« Er warf einen fast verzweifelten Blick zu seiner Freundin, denn er hatte keine Ahnung, wie ihm das gelingen sollte, wenn Angarus wirklich gegen sie arbeitete. »Ihre Angst vor dem Prinzen war stärker, als der Wunsch hierherzukommen. Ich habe sie einmal darauf angesprochen und sie meinte, dass sie einen Drang verspüren würde, weiterzuziehen. Sie wollte so weit es ging von Prinz Kargon fortkommen, erkannte dabei aber nicht, dass dies nichts mit der Furcht vor dem Prinzen zu tun hatte. Sie hat manchmal eine etwas eigenartige Art, sich die Welt zu erklären. Dass ich die beiden dann begleitet habe und sie wirklich der verloren geglaubte Zwilling ist, weißt du ja.«

Petro verstummte. Er hatte alles offenbart und er wusste nicht, wie Belana auf die Information über Gertrin reagieren würde. Es dauerte lang, bis sich die Frau regte, und Petro befürchtete das Schlimmste.

»Ich denke, du hast recht«, begann Belana dann und Petro hatte das Gefühl, ihm würde eine schwere Last von den Schultern genommen. »Gertrin war eine gute Frau und sie war unsere Freundin. Sie hat ihre Sache mit Prinzessin Méileen gut gemacht, das kann man sehen. Jetzt müssen wir nur darauf achten, dass Méileen ihren Weg weitergeht, ohne sich beeinflussen zu lassen. Wirst du sie führen?«

Sie blickte ihn an und er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er wollte ihr gern den Weg ebnen, doch er wusste, dass es nicht richtig war.

»Ich kann nicht. Doch ich werde versuchen, ihr zu helfen, ihren eigenen Weg zu finden, sonst wird sie niemals stark genug sein, sich gegen die Menschen zu stellen, die eine Bedrohung für sie darstellen. Noch kann ich ihr etwas Schutz bieten, doch bald wird sie sich selbst behaupten müssen. Sonst wird sie untergehen. Doch ich finde, sie hat heute einen guten Anfang gemacht. Sie hat sich von Angarus nicht einschüchtern und sich nicht wie ein kleines Kind behandeln lassen. Wirst du sie führen?«

Wieder schwiegen sie eine Weile, bevor Belana sprach. Und obwohl ihre Stimme weich klang, konnte er die Entschlossenheit darin hören. »Nein, ich werde sie so wenig führen, wie ich es bei Leandro getan habe. Auch sein Weg war schwierig, doch er ist ihn gegangen und wird ihn weitergehen.«

***

Nachdem Petro die Hütte verlassen hatte, blickte Méileen sich noch einmal genau um. Im Wohnraum befand sich ein Holztisch mit zwei Stühlen, an dem man essen konnte. Neben einem steinernen Kamin stand ein Sessel, auf dem ein Buch lag. Und am hinteren Ende des Raums lagen Bücher, Pergamente und Schreibutensilien ordentlich sortiert auf einem Schreibtisch. Doch das Faszinierendste war die Wand, von der die zwei Schlafzimmer abführten. Über die ganze Breite und um die beiden Türen herum, war ein Regal angebracht, das bis oben hin mit Büchern gefüllt war. Keine Lücke war mehr frei. Selten hatte Méileen so viele auf einmal gesehen und sie blickte die aufgereihten Werke ehrfürchtig an. Hier würde ihr niemals langweilig werden. Hier würde sie alles lesen können, was sie interessierte. Der Raum wurde von nur einem Fenster erhellt, das dennoch groß genug war, um ihn in warmes Licht zu tauchen.

Ihr Zimmer war recht klein, dennoch passten ein Bett, eine Kommode, ein Schreibtisch mit einem Stuhl, sowie ein Regal hinein. Auch dieses Regal war gefüllt mit Büchern. Méileen überbrückte die kurze Entfernung, um sie sich besser ansehen zu können. Sie strich mit ihrem Zeigefinger die Buchrücken entlang und las deren Titel. Sie entdeckte einige, die sie auch bei Gertrin gesehen hatte, aber auch andere interessante Werke. Neben einem Buch, das von magischen Energien handelte, stand eins über die Geschichte der Erd- und Luftzwillinge. Das würde sie unbedingt lesen. Sie wollte es gerade herausnehmen, als es an ihrer Tür klopfte. Als hätte sie etwas Verbotenes getan, zuckte sie zusammen und fuhr herum.

»Herein«, sagte sie zaghaft.

Die Tür öffnete sich und eine Frau mittleren Alters betrat den Raum. Sie lächelte Méileen freundlich an, wodurch kleine Lachfältchen um ihre blauen Augen erschienen. Als sie auf sie zuging, wippten ihre blonden Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, im Takt ihrer Schritte. »Guten Tag, Prinzessin Méileen«, grüßte sie und blieb vor ihr stehen. »Mein Name ist Lanea. Petro hat mich gebeten, mich um Euch zu kümmern.«

Sie stellte eine Schüssel mit dampfendem Wasser auf der Kommode ab und legte ein frisches Tuch daneben. Danach nahm sie ein grünes Kleid von ihren Schultern, um es dazu zu legen, bevor sie sich im Zimmer umsah und die Nase rümpfte. »Man sieht, dass hier ein Mann lebt, ich werde wohl auch noch das Bett frisch beziehen. Ich habe keine Ahnung, wann das das letzte Mal gemacht wurde.«

Méileen mochte die Frau auf Anhieb. Sie hatte etwas an sich, das man nur als liebenswürdig bezeichnen konnte. »Ich danke Euch sehr, doch wenn Ihr mir die Sachen gebt, kann ich mein Bett auch selbst überziehen.« Sie ging ein paar Schritte auf die andere zu.

»Kommt gar nicht infrage, das mache ich schon«, entgegnete sie beharrlich. »Am besten Ihr zieht Euch schon mal aus, und ich helfe Euch mit dem Waschen und ankleiden.«

Früher war Méileen immer bei solchen Dingen geholfen worden, doch mittlerweile fühlte sie sich unwohl dabei. Sie war aus dem Schloss geflohen, hatte ihr altes Leben hinter sich gelassen und es als sehr zufriedenstellend empfunden, sich selbst um sich zu kümmern. Dennoch schien es der Frau wichtig zu sein, und so ließ sie sie gewähren.

Nachdem sie gewaschen und umgezogen war, holte Lanea eine Bürste aus ihrer Rocktasche und bedeutete Méileen, sich auf den Stuhl zu setzen.

»Wie möchtet Ihr denn Eure Haare tragen?«

»Am liebsten offen«, gestand Méileen ehrlich. »Ich fühle mich unwohl, wenn sie mir fest am Kopf entlang geflochten werden. Seit ich sie einfach offen lasse, plagen mich am Abend nicht mehr solche Kopfschmerzen.«

»Ganz offen schickt sich nicht«, gab Lanea kopfschüttelnd von sich und musterte die Prinzessin einen Moment. »Doch lasst mich nur machen, ich habe da schon eine Idee.«

Bevor Méileen etwas darauf erwidern konnte, war Lanea bereits bei der Arbeit. Es war fast angenehm, wie sie ihre Haare kämmte und als Méileen nur wenig später einen Blick in den Spiegel warf, machte ihr Herz einen kleinen Satz. Ihr Haar war nur wenig an den Seiten geflochten, während es ihr hinten offen über den Rücken fiel.

»Oh!«, gab sie glücklich von sich. »Das fühlt sich wirklich gut an! Vielen Dank.«

»Gerne, das Frisieren ist eines meiner liebsten Taten. Wenn Ihr erlaubt, werde ich täglich kommen, um Euch zu helfen.«

Der Gedanke, dass die Frau sich ihretwegen so viel Arbeit machte, war ihr unangenehm. Doch dann wurde ihr klar, dass das ein notwendiges Übel war. Sie war immer noch die Prinzessin, auch wenn sie ihr Reich verlassen hatte, und musste sich auch als solche verhalten.

»Danke, das wäre sehr schön.«

Lanea klatschte glücklich in die Hände und griff nach dem nassen Handtuch. »Gut, dann ist meine Arbeit getan. Wenn Ihr noch etwas braucht, ich wohne in der Hütte neben Eurer, kommt ruhig rüber, wenn Euch danach ist.«

Ohne weitere Worte ließ sie Méileen zurück, wobei sie glücklich vor sich hin summte. Méileen nahm noch einmal den Spiegel zur Hand, den die Frau zurückgelassen hatte, um sich zu betrachten. Im Schloss hatte sie ausgemergelt und krank ausgesehen, sodass Mell ihr die Ringe unter den Augen hatte überdecken müssen. Nun hatte sie eine gesunde Hautfarbe. Ihr Haar glänzte und sie fühlte sich wohl. Die Zeit bei Gertrin hatte ihr gutgetan, auch wenn sie immer noch etwas dürr wirkte. Mit dem Gedanken an ihre Mentorin kam auch die Erinnerung zurück, und damit die Trauer. Sie vermisste Gertrin.

Sie legte den Spiegel beiseite, ging zum Regal und schnappte sich wahllos eines der Bücher. Es war der Band über die Magie der Energien. Da der Sessel vor dem Kamin bequem wirkte, machte sie es sich dort gemütlich. Das Buch, das sie dazu aus dem Sessel nehmen musste, legte sie neben sich auf den Boden. Hier war der perfekte Platz, um zu warten, bis Petro wiederkommen würde. Sie könnte zwar nach draußen gehen und sich umsehen, doch sie wollte nicht von den Bewohnern angestarrt werden. Also öffnete sie das Buch und versank darin.

***

Ein Klopfen an der Tür ließ Jodena zusammenfahren. Sie wollte nicht aus ihren Träumen auftauchen, doch sie hatte keine andere Wahl. Das wusste sie. Als Daren eintrat, erhob sie sich langsam, um sich auf die Bettkante zu setzen. Wie immer stellte er ein Tablett auf den Tisch.

»Tag, Jodena, ich habe dir etwas zu essen gebracht.«

Jodena wollte nichts, sie hatte schon lange keinen Hunger mehr. Dennoch wusste sie, dass Daren erst wieder verschwinden würde, wenn sie wenigstens ein paar Bissen zu sich genommen hatte. Also stand sie widerstrebend auf, um sich am Tisch niederzulassen. Auf dem Tablett befand sich ein Teller gefüllt mit Gemüse, Kartoffeln und etwas Fleisch. Daneben standen eine Schüssel mit Suppe und ein Becher Tee. Den Tee bekam sie jeden Tag, seit sie schwanger war, und König Kargon hatte deutlich gemacht, dass sie ihn trinken musste. Somit widmete sie sich zuerst dem Getränk, bevor sie einige Bissen Gemüse hinunterwürgte. Das Fleisch wollte sie nicht anrühren, schon bei dem Gedanken daran wurde ihr schlecht. So war das seit einigen Tagen.

»Das reicht nicht, du musst bei Kräften bleiben«, mahnte Daren sie, als sie Anstalten machte, wieder ins Bett zurück zu gehen. »Iss noch ein wenig mehr. Das Fleisch kannst du liegen lassen, aber den Rest solltest du aufessen.«

Jodena hatte nicht die Kraft, ihm zu widersprechen. Ihr Herz blutete auch so schon genug, sie musste nicht noch gegen Daren ankämpfen. Also aß sie artig auf, bevor sie endgültig aufstand. »Nein«, widersprach Daren, bevor sie sich auf dem Bett niederlassen konnte. »Wir werden einen Spaziergang machen.«

Frustriert blickte Jodena ihn an. Sie wollte schreien, wollte sich ihm widersetzen. Alles was sie sich wünschte, war allein zu sein und zu träumen. Doch sie tat nichts von dem, was sie wollte. »Muss das sein? Ich fühle mich nicht wohl und möchte lieber schlafen«, gab sie leise von sich.

»Ja, das muss sein. Du wirst dich danach besser fühlen.«

Sie sah, dass er kurz die Hand ausstreckte, sie dann aber gleich wieder zurückzog. Er wusste, dass er sie nicht berühren durfte. Nur wenn König Kargon anwesend war, ließ Jodena Darens Berührungen zu. Und auch nur, weil er nach ihrem Kind sehen musste. Er wartete geduldig, dann setzte sie sich langsam in Bewegung und lief aus ihrem Zimmer hinaus. Die Wache, die davorstand, folgte ihnen in einigen Metern Abstand durch das Schloss, und Daren wies dem Mann den Weg. Sie war schon so oft draußen gewesen, dass man denken könnte, dass sie ihn kannte. Doch sie sah sich nie um und verließ sich immer auf ihren Begleiter.

Sie liefen durch den Nebenausgang hinaus und die strahlende Sonne empfing sie. Jodena blickte sich irritiert um; erst jetzt bemerkte sie, dass es mitten am Tag war. Bisher hatte man sie immer nur nachts nach draußen geführt. Es war seltsam, die Sonne auf der Haut zu spüren. Sie schloss für einen Moment die Augen und reckte ihr Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen.

»Komm mit, Jodena, wir werden etwas laufen.«

Jodena, die immer noch nicht glauben konnte, dass sie das Tageslicht sah, fühlte sich tatsächlich etwas besser, folgte Daren jedoch ohne ein Wort. Er war es gewohnt, dass sie nur das Nötigste sprach und hatte es akzeptiert. Gemeinsam liefen sie über die gepflegten Wege an den Gärten entlang. Ab und an sah sie einen Mann die Hecken stutzen oder die Blumen gießen, doch keiner sprach sie an, und sie war dankbar dafür. Als sie ein vertrautes Geräusch in ihrer Nähe hörte, hob sie den Blick und ihr Herz machte tatsächlich einen kleinen Satz. Sie steuerten geradewegs auf die Stallungen zu.

Jodena konnte ein aufkommendes Glücksgefühl nicht unterdrücken, sie würde heute Pferde sehen. Schon als Kind war sie gern geritten. Ein Nachbar hatte eines besessen und ihr das Reiten beigebracht und seither wünschte sie sich so sehr ein eigenes Pferd. Sie blickte kurz zu Daren auf, der einen zufriedenen Gesichtsausdruck aufsetzte. Selbst sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie an den Stallungen ankamen. Davor war ein schwarzer Hengst angebunden und sie strich ihm vorsichtig über die Nüstern.

»Wie heißt er?«, wollte sie wissen und genoss die weiche Haut des Tieres unter ihren Händen.

Der Heiler trat neben sie. »Sein Name ist Schattenfell.«

Schattenfell. Das war ein schöner Name. Sie begann, das Pferd am Hals zu streicheln und genoss seine Nähe. Dann wurde ihr bewusst, dass sie die Nähe des Pferdes ertrug. Es war anders als bei Menschen. Und sie sog diese körperliche Nähe in sich auf. Aalte sich in ihr und legte beide Hände auf das Fell des Pferdes, um ihm noch näherzukommen.

»Möchtest du reiten?«, fragte Daren und schenkte ihr ein weiteres Lächeln.

Jodena blickte den Mann überrascht und erwartungsvoll an. »Darf ich denn?«

»Ja, aber nur hier im Schlosshof. Und nur, wenn du es erträgst, dass ich hinter dir sitze. Das waren die Bedingungen des Königs.«

Augenblicklich zuckte sie zusammen und zog ihre Hände zurück. Allein der Gedanke, Daren könnte ihr so nahe sein, erschreckte sie so sehr, dass sie am liebsten davonlaufen würde. Dennoch lag ihr Blick sehnsuchtsvoll auf Schattenfell. »Warum darf ich nicht alleine reiten?«, wollte sie nun wissen und hoffte, dass es eine andere Möglichkeit gab.

»Der König hat Angst, dass du herunterfällst und sein Kind verlierst.«

Kopfschüttelnd schloss sie die Augen. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Doch sie wollte auch noch nicht zurückgehen. Nicht jetzt, da sie endlich ein Wesen gefunden hatte, das ihr irgendwie Trost spendete. »Darf ich ihn etwas herumführen?«

»Wenn du das möchtest.« Daren band Schattenfell los und gab Jodena die Zügel, die sie dankbar entgegennahm.

Sie führte den Hengst durch den Hof. Das Traben seiner Hufe war beruhigend und sie fühlte sich das erste Mal seit … sie wusste nicht, seit wann, wieder besser. Hier konnte sie sich vorstellen, frei zu sein. Zu Hause in ihrem Dorf. Bei ihren Eltern. Aber es dauerte nicht lang, bis der Heiler zu ihr kam.

»Es tut mir leid, doch die Anweisung des Königs war eindeutig. Du darfst nur eine Stunde raus, dann musst du wieder in dein Zimmer.«

Von tiefer Trauer erfüllt, schloss sie die Augen und schüttelte den Kopf. Die Zeit hier draußen war nicht lange genug gewesen. Nicht einmal im Ansatz. Zu gerne würde sie einfach auf den Hengst springen und davonreiten. Aronus suchen und irgendwo, an einem weit entfernten Ort mit ihm glücklich werden. Dennoch führte sie den Hengst zu seinem Stall zurück und befestigte ihn. Sie strich ihm ein letztes Mal über die Flanke, saugte seine Wärme in sich ein und vergrub ihre Nase an seinem Fell. »Danke«, flüsterte sie so leise, dass niemand sie hören konnte, bevor sie sich von ihm abwandte. Ohne auf Daren zu achten, lief sie zum Schloss zurück. Ihr wurde schwer ums Herz. Sie konnte nur hoffen, dass sie in Zukunft öfter zu Schattenfell durfte. Fragen würde sie aber nicht. Sie wollte Kargon keine Gelegenheit geben, sich mehr von ihr zu nehmen, als er es bereits getan hatte. Wollte ihm keinen Grund geben, ihm dankbar sein zu müssen, weil er einen ihrer Wünsche erfüllte.

***

Es war schon Zeit fürs Abendessen, als Petro mit zwei beladenen Tellern in die Hütte kam. Er blickte sich um, schenkte Méileen ein Lächeln und stellte die Teller auf den kleinen Tisch. Dann holte er noch zwei Becher und Besteck hervor, während Méileen sich auf einen der beiden Stühle setzte.