Zwischen dir und dem Meer - Cornelia Engel - E-Book

Zwischen dir und dem Meer E-Book

Cornelia Engel

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Beschreibung

Einst hat Kayla ihren Mann geliebt. Doch immer öfter geraten die beiden in Streit. Ihre Ehe ist nur noch ein Trümmerhaufen. Da taucht ein Fremder auf der abgelegenen, schottischen Insel auf, über den bald allerhand Gerüchte in Umlauf sind. Auch Kayla ist nach der ersten Begegnung mit Brannan sofort fasziniert von diesem Mann, der ein Geheimnis zu hüten scheint. Ihre eigenen, immer stärker werdenden Gefühle für ihn, aber auch das Gerede der Inselbewohner treiben Kayla mehr und mehr in einen inneren Zwiespalt, aus dem es kaum einen Ausweg zu geben scheint... Der Roman erschien bereits unter dem Titel "Die Rückkehr der Wale" und wurde neu überarbeitet.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cornelia Engel, Isabel Morland

Zwischen dir und dem Meer

Schottland – Inseln des Schicksals 1

Impressum

Originalausgabe November 2017

„Die Rückkehr der Wale“ © 2017 Knaur Taschenbuch

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Redaktion: Dr. Clarissa Czöppan

Zweite bearbeitete Auflage © 2025 Cornelia Engel

Austrasse 4, 96047 Bamberg

Korrektorat: Anett Mitzschke

Cover-/Umschlaggestaltung: Buchgewand Coverdesign | www.buch-gewand.de

unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: nevodka.com

depositphotos.com: MikeMareen, PantherMediaSeller

ZWISCHEN DIR UND DEM MEER

SCHOTTLAND – INSELN DES SCHICKSALS

BAND 1

CORNELIA ENGEL

ISABEL MORLAND

Die Brandung trägt ein Lied heran,

in Tönen,

die einst stumm gewesen.

Melodien, vergessen vor langer Zeit,

tanzen

über meine Zunge,

als die See das Ufer küsst.

Und Lippen, die diese Laute

nicht gewöhnt,

formen Worte der Liebe,

die fallen,

wie Wasser

fällt,

in

die dunkle Tiefe.

Augen bringen,

der Wärme heimischen Feuers gleich,

meine Seele zum Glühen –

und in meinen Leib neues Leben

Katherine Macfarlane

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Danke …

Das Herz der Küste

Insel der Erinnerung

Für dich, liebe Leserin, lieber Leser,

denn unsere Seele braucht Sehnsuchtsorte.

KAPITEL1

Der Nordostwind trieb tiefhängende Wolken über einen zornigen Himmel. Vom Atlantik her rollten Brecher auf die Küste zu. Taransay und die blauen Berge von Harris lagen im Nebel. Die Luft war erfüllt vom Tosen des Windes. Kayla Gillan, die wegen eines Streits mit ihrem Mann Daniel ungeachtet des Wetters einen Strandspaziergang unternahm, spürte den Sprühregen wie Nadelstiche auf dem Gesicht. Der Wind fuhr mit Macht in ihr langes schwarzes Haar und zerrte an den üppigen Locken. Hochgewachsen war sie, und sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mit energischen Schritten und schwingenden Armen über die golden glitzernden Sandflächen zu schreiten. Einer der Vorteile ihres kräftigen Körperbaus, der sie zwar weniger elegant wirken ließ als ihre feingliedrige Schwester Ally, sich aber für die Arbeit auf der Croft, dem Inselgehöft, als nützlich erwies.

Ihr Blick wanderte über die menschenleere Bucht. Sand, wohin das Auge reichte. Die Weite von Tràigh Losgaintir, wie der Strand von Luskentyre von den Einheimischen genannt wurde, war Balsam für ihre Seele. Schwer atmend blieb sie stehen und spürte das Prickeln der Seeluft auf ihren Wangen. Noch immer war sie zu aufgebracht, um Daniel unter die Augen zu treten. Sie fühlte das Klopfen ihres Herzens wie Trommelschläge gegen ihre Rippen hämmern. Dass er seine Anschuldigungen inzwischen bereuen dürfte, dämpfte ihren Zorn nicht annähernd.

Sie hob den Kopf, kniff die ausdrucksvollen, keltisch blauen Augen zusammen und sah zum Horizont. Draußen, über dem Atlantik, riss der Himmel auf. Ein Streifen Licht fiel durch rauchgraue Wolken. Die Strahlen der untergehenden Sonne zauberten funkelnde Lichtreflexe auf die Wellenkämme. Das Wasser der Bucht leuchtete wie glattpolierter Türkis. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte das Salz auf ihrer Haut. Manchmal erschien es ihr als ein Privileg, hier, auf den Äußeren Hebriden zu leben, wo die Natur unberührt war wie vor hunderten von Jahren, die Traditionen lebendig und Gälisch die Muttersprache eines Großteils der Bevölkerung.

Havbredey, Inseln am Rand des Meeres … wie passend der alte nordische Name war. Es hätte ebenso Inseln am Rand der Welt heißen können, wenn man in Betracht zog, wie einsam und mühselig sich das Leben hier oft gestaltete. Dies war einer der Nachteile, den man in Kauf nehmen musste, wenn man auf Harris wohnte. Die Unwägbarkeit des Wetters ein weiterer.

Der kühle Nordostwind ließ sie frösteln. Zu dem monotonen Rollen der Brecher fügte sich das Kreischen der Seevögel. Die Konturen der Berge verblassten zu einem fahlen Grau. Trotz der Kälte beschloss sie, ihren Marsch fortzusetzen. Die Wellen schwappten gegen ihre Gummistiefel. Ein knapp daumenbreiter, bis ans andere Ende der Bucht reichender Wasserfilm bedeckte die endlosen Flächen. Ihre Füße drangen schwer in den nassen Sand ein. Der Nylonstoff ihrer Regenjacke blähte sich im Sturm. Ihre Gedanken kreisten um den Streit. Um Selbstbeherrschung ringend, ballte sie die Hände in den Taschen zu Fäusten.

All die Jahre, in denen sie auf Daniel eingeredet hatte. All die Auseinandersetzungen. All die Nächte, in denen sie ihm beim Schein der Küchenlampe am Esstisch gegenübergesessen und ihn beschworen hatte, Iain, Daniels Sohn aus erster Ehe, ihren Stiefsohn, nicht mit dem Maßstab zu messen, den die Gillans seit Generationen auf ihre Söhne anlegten. Iain war ein guter Junge, aber anders, als es von einem Gillan erwartet wurde. Weicher und sensibler. Ehrgeiz und Empfindsamkeit waren bei ihm stark ausgeprägt und verliehen seinem Charakter etwas seltsam Widersprüchliches. Dazu war er über das gewöhnliche Maß hinaus intelligent und überraschend weltoffen für jemanden, der die Insel kaum verlassen hatte. Zu Recht erhoffte er sich mehr von der Zukunft, als was der Fischfang und die wenig ertragreiche Croft mit ihren zweihundert Schafen und den paar Hühnern zu bieten hatten.

Daniel sah die Dinge anders. Iain war sein einziger Sohn und somit sein Nachfolger. Iain würde die Croft übernehmen, ob es dem Jungen passte oder nicht. Obwohl Kayla Daniels Standpunkt nachvollziehen konnte, hatte sie nie aufgehört, Iain zu ermutigen, eigene Wege zu gehen. Sie fand es verkehrt, dem Jungen Einschränkungen aufzuerlegen. Iain hatte das Zeug, um zu studieren. Warum sollte er aus seiner Intelligenz nicht etwas machen?

Doch all die hitzigen Diskussionen hatten nichts genutzt. Daniel war stur geblieben. Von Iains Träumen hatte er nichts hören wollen. Nun war es zu spät. Iain war weg. Wie es aussah für immer, wenn Daniel nicht zur Vernunft kam. Erbittert wischte sich Kayla mit der Handkante eine Träne von der Wange. Sie hätte aus der Haut fahren mögen vor Ärger über Daniels Halsstarrigkeit. Zornig stapfte sie durch den Sand. Das hochspritzende Wasser durchnässte den Stoff ihrer Jeans. Sie wollte nicht weinen, aber die Tränen ließen sich nicht zurückhalten.

Wie eine Welle brachen die unterschiedlichsten Emotionen über ihr zusammen. Sie blieb stehen und schlug die Hände vor das Gesicht. Dabei wurden die Zweifel in ihr immer lauter. War der Bruch zwischen Iain und Daniel ihre Schuld? Zumindest zum Teil? Hätte sie Daniels Meinung respektieren und Iains Erziehung ausschließlich in Daniels Hände legen sollen? Hatte sie den Jungen zu sehr ermuntert, groß zu denken, obwohl sie wusste, dass sie sich in ihrer angespannten finanziellen Situation das teure Studium nicht leisten konnten? Ihre Brust wurde eng.

Iains Wohl war nicht ihre einzige Sorge. Noch schwerer wog die Frage, wie es weitergehen sollte. Ohne Iains gutmütiges, fröhliches Wesen war die Stimmung zu Hause düsterer denn je. Noch hielt sie an ihrer Ehe fest, ob aus Liebe oder aus Pflichtgefühl, vermochte sie nicht zu sagen. Sie seufzte. Die Zweifel nagten an ihr wie die Mäuse an den Karotten in ihrem Gemüsegarten. Ihr war bewusst, dass sie die Vergangenheit nicht ändern konnte, doch sollte sie deshalb akzeptieren, dass sich die Aussicht auf die nächsten Jahre ähnlich trostlos gestaltete wie das Wetter? Zum ersten Mal in all den Jahren war sie sich nicht sicher. War es an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen?

Sie blickte über das Meer. Die Hügel von Taransay erhoben sich schemenhaft vor einem wolkenverhangenen Himmel. Die herannahende Flut brandete mit Macht gegen den Strand. Sie hob die Hand vor die Augen. Ein Fleck in den Wellen erregte ihre Aufmerksamkeit. Angestrengt blickte sie in die grauen Wellentäler. Ein kugelrunder Kopf tauchte aus dem Wasser und verschwand. Gleich darauf erschien einige Meter entfernt ein weiteres Paar schwarzer Knopfaugen über der Wasseroberfläche und schien sie neugierig zu betrachten. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Es waren Kegelrobben, fünf oder sechs an der Zahl. Der Wind trug ihr rollendes Bellen an ihr Ohr. Dass die Tiere bis nach Luskentyre heraufkamen, war ungewöhnlich. Normalerweise ließen sie sich hier nicht blicken. Ihre Kolonie lebte im Süden, auf Shillay, einer der Inseln im Sund vor Harris. Shillay war der alte nordische Name für Seehund. Und von den Nordmännern stammten die Sagen über die Selkies, das Seehundvolk. Gedankenverloren sah Kayla den Tieren zu, wie sie in den Wellen spielten, das feuchtglänzende Fell schimmernd wie Silber.

Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zurück zu den Geschichten, die ihre Mutter ihr an langen Winterabenden erzählt hatte, während das Rattern des Webstuhls das Haus erfüllt hatte. Erzählungen von übernatürlichen Geschöpfen. Von Brownies, winzigen, meist gutmütigen Feen, die in den grünen Tälern jenseits der Hügel lebten. Von den Blauen Männern des Minchs, Wassergeistern, die in den zerklüfteten unterirdischen Höhlen und Tunnels vor den Inseln wohnten und Schiffe zum Kentern brachten. Von Kelpies, Gestaltwandlern, die in Menschengestalt Spaziergänger überfielen, sich dann zurück in Wasserpferde verwandelten und ihre Opfer ertränkten. Und von Selkies, jenen sagenumwobenen Kreaturen, halb Mensch und halb Seehund.

Kayla blickte nachdenklich zu den Robben hinüber. Es gab Familien, hatte ihre Mutter behauptet, hier auf den Hebriden, sowie auf Shetland und Orkney, in deren Adern noch heute Selkieblut floss. Achselzuckend wandte sie den Blick ab. Sie rieb sich die Hände, ihre Finger waren klamm von der eisigen Luft. Entschlossen, Wind und Wetter die Stirn zu bieten, stapfte sie weiter. Ihre Lungen brannten von der Kälte. Sie presste die Hände in ihre stechenden Seiten, verringerte aber nicht das Tempo. Wenn nötig würde sie meilenweit laufen. Bis der Impuls, Daniel mit bloßen Händen zu erwürgen, nachließ.

Im Moment bezweifelte sie, dass das so schnell der Fall sein würde. Diesmal war er zu weit gegangen. Mochte er seinen Frust über den Streit ruhig in Whisky ertränken, es war ihr egal. Notfalls würde sie die Nacht im Wohnzimmer verbringen, während er das Schlafzimmer mit seinem Whiskyatem verpestete. Im Grunde genommen war es ihr recht, wenn er bei ihrer Rückkehr schon schlief. Wozu reden? Auf eine Entschuldigung seinerseits brauchte sie nicht zu hoffen, so viel stand fest. Wenn Daniel nicht bald das Ruder herumriss und einlenkte, würde es zu spät sein. Er würde Iain verlieren.

Erneut drang das Heulen der Robben an ihr Ohr. Dàn nan ròn, Lied der Seehunde, so lautete der gälische Ausdruck für den fast menschlich klingenden Gesang, der den Zuhörer sowohl anrührte, als auch zu Tode erschreckte. Dem Volksglauben nach war der Dàn nan ròn ein Omen. Wer ihn hörte, würde ertrinken, sei es auf hoher See oder im Meer der eigenen Gefühle, so gewaltig rüttelte das Lied der Seehunde an der Seele. Angst vor dem nahen Tode verspürte Kayla keineswegs, stattdessen wurde sie von Wehmut erfüllt. Gedankenverloren blickte sie über das Meer. Dass die Tiere so ausdauernd heulten, war ungewöhnlich.

Mitten in ihren Überlegungen fuhr ihr eine Sturmbö von hinten in die Kniekehlen, sodass sie Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. Der Stoff der Jeans klebte unangenehm nass und kühl an ihren Oberschenkeln. Also beschloss sie, es gut sein zu lassen und umzukehren. Jede Faser ihres Körpers schmerzte von dem Gewaltmarsch, aber immerhin war ihre Wut über Daniel halbwegs versiegt. Stattdessen machte sich eine Mischung aus Resignation und Trauer in ihr breit. Ein schlechter Tausch. Bei dem Gedanken daran, wie einsam und leer das Haus ihr nach Iains Abreise erschien, traten ihr erneut Tränen in die Augen. Achtlos wischte sie sie beiseite und zwang sich, den Blick nach vorne zu richten. Jede Medaille hat zwei Seiten, hieß es. Vielleicht würde es sogar etwas Gutes haben, dass sie und Daniel gezwungen waren, zu zweit, ohne Iain, weiterzumachen. Irgendwie würden sie sich zusammenraufen. Wenn er es ihr auch oft verdammt schwermachte, ihm nahe zu sein, stand eines außer Frage: Daniel brauchte sie. Mehr, als ihm bewusst war.

Vom Bellen der Robben begleitet stapfte sie den Strand entlang zurück. An dem Dünenpfad angekommen, der von der Bucht hinauf zu ihrem Haus führte, blieb sie stehen. Keuchend stemmte sie die Hände in die Hüften und musterte die Tiere mit einer Mischung aus Verwunderung und Faszination. Graue Köpfe mit sanften, ausdrucksvollen Augen blickten sie vom Wasser aus an. Der Sage nach waren männliche Selkies bildschöne, charismatische Geschöpfe mit olivenfarbenem Teint, kantigen, klar geschnittenen Gesichtszügen, dunklen Augen, schulterlangem pechschwarzen Haar, großem Charisma und Verführungskraft. Sie waren außergewöhnliche Liebhaber und nahmen sich der unglücklichen Fischersfrauen an, um nach wenigen Monden ins Meer zurückzukehren, während die Frau an Land blieb und vor Kummer verging. Sieben Tränen bei Flut ins Meer vergossen. Mehr brauchte es nicht, um einen Selkiemann anzulocken. Kayla lächelte zynisch. Wenn sie einen Wunsch äußern und einen Gefährten herbeisehnen würde, der sie in ihrer Einsamkeit tröstete, würde es in Erfüllung gehen?

Grimmig presste sie die Lippen aufeinander. Sie benahm sich wie ein abergläubisches Weib, statt wie eine erwachsene, verheiratete Croftersfrau. Eine Närrin war sie! Dennoch konnte sie ihre schottischen Gene nicht verleugnen, und die Legenden waren darin fest verwurzelt. Wer weiß, vielleicht war es gar nicht so verrückt, an Wunder zu glauben? Vielleicht hätte sie nie aufhören sollen damit.

Sie warf einen letzten Blick auf die Robben. Dann kehrte sie dem Meer den Rücken zu. Frierend stellte sie fest, dass es spät geworden war. Die Sonne versank langsam im Meer. Die Umrisse der Dünen verschwammen in der Dunkelheit. Aus den Fenstern ihres Hauses leuchtete das Licht. Bei dem Gedanken, in welchem Zustand sich ihr Ehemann inzwischen vermutlich befand, wurde ihr Herz schwer. Es würde Mut kosten, herauszufinden, ob ihre Ehe Bestand haben konnte. Sie warf den Kopf in den Nacken und blickte in den sturmgepeitschten Himmel. Ein dumpfer Schrei löste sich aus ihrer Kehle und verhallte zwischen den Klippen. Ohne dass sie es verhindern konnte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Eine zornige, ungehaltene, über die Dünen auf das Meer zu jagende Böe riss sie ihr von den Wangen. Das Salz ihrer Tränen vermischte sich mit dem Salz des Meeres.

KAPITEL2

Am nächsten Morgen saß Kayla in der Küche, den Kopf in die Hände gestützt, und starrte aus dem Fenster. Nach der Nacht auf dem Sofa fühlte sie sich wie gerädert. Der Streit mit Daniel hatte sie bis in ihre Träume verfolgt. Dennoch war sie heute Morgen mit den Hühnern aufgestanden, in der Hoffnung, ein vernünftiges Wort mit Daniel wechseln zu können. Doch die Mühe hätte sie sich sparen können. Daniel war wie üblich stur geblieben. Beim Frühstück hatte er sich hinter seiner Zeitung verschanzt. Den Kaffee hatte er heiß und schwarz hinuntergekippt, das Essen kaum angerührt. Kayla verzog das Gesicht, zu müde, um sich Gedanken darüber zu machen, was in ihrem Mann vorgehen mochte. Am liebsten hätte sie sich in ihr Bett verkochen und die Decke über den Kopf gezogen. Aber das kam nicht in Frage. Sie hatte ihrer Freundin Sandra Reid versprochen, sie im Laden abzulösen.

Sandra, die ursprünglich aus München stammte, war vor fünf Jahren auf einer Wandertour mit dem Rucksack über die Insel gezogen. Dabei hatte sie sich in Tormod Reid, einen Urschotten, verliebt und war auf der Insel hängengeblieben. Vor drei Jahren hatte Sandra die Leitung vom The Cauldron übernommen. Unter ihrer Regie hatte sich das Post Office mit dem klangvollen Namen in einen florierenden Laden verwandelt. Nach hymnischen Kritiken auf den einschlägigen Reiseportalen kamen die deutschen Touristen in Scharen, um sich Insider-Tipps von der freundlichen Posthalterin mit dem Münchner Dialekt am äußersten Rand der Welt zu holen.

Kayla ließ Wasser in die Spüle laufen und machte einen Lappen nass. Nachdenklich wrang sie ihn aus. War es übertrieben, sich Sorgen um ihre Ehe zu machen? Es war nur eine schwierige Phase, oder? Irgendwie würden sie es durchstehen. Da hatten sie schon anderes hinter sich gebracht. Die Schafseuche vor vier Jahren, den Wasserrohrbruch, den Sturmschaden am Dach … Mit energischen Bewegungen wischte sie die Toastkrümel vom Tisch. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Zeit, sich fertig zu machen.

Im Schlafzimmer war es dämmrig. Daniels markant männlicher Geruch lag noch in der Luft. Kayla stand auf der Schwelle und hielt den Atem an. Daniels unsichtbare Präsenz war erdrückend. Jeder Winkel schien gefüllt mit mürrischem Schweigen, sodass sie sich wie ein Eindringling in ihren eigenen vier Wänden vorkam. Mit festen Schritten ging sie auf das Fenster zu. Sie schob die schweren Tweedvorhänge zurück und ließ frische Seeluft herein, durchmischt mit dem Duft von Wildblumen. Einige Atemzüge lang blieb sie am offenen Fenster stehen, das Gesicht der Sonne zugewandt, und genoss die Stille des Morgens. Schließlich drehte sie sich um. Ihr Blick fiel auf das Ehebett. Nachdenklich strich sie mit den Fingern über das zerknitterte Laken. Das Kopfkissen sah aus, als hätte ein Boxkampf stattgefunden. Sie seufzte.

Das zerwühlte Bett war ein Zeichen für die Schlacht, welche Daniel Nacht für Nacht mit seinem inneren Dämon schlug. Es bereitete ihr Kummer, dass er sich so quälte, aber er weigerte sich, mit ihr darüber zu sprechen, was der Grund für seine Albträume war. Wenn sie ihn mit Fragen bedrängte, zog er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, auf das Sofa um. Kayla litt unter seiner Reaktion, sagte aber nichts, weil es erfahrungsgemäß wenig Sinn ergab. Sie seufzte. Selbst wenn sie die Nacht nebeneinander verbrachten, blieb Daniel auf Abstand. Dabei vermisste sie die vertraute Nähe seines Körpers. Die Wärme, die von seiner Haut ausging, die Biegung seines kräftigen Rückens, in die ihr Körper sich so perfekt schmiegte, den vertrauten Rhythmus seines Atems. Würde es je wieder so zwischen ihnen werden, wie es einmal gewesen war?

Schweren Herzens zog sie das Laken glatt und stopfte die Decke sorgfältig an allen vier Seiten fest. Dann ging sie in das angrenzende Bad, um zu duschen. Die Arbeit im The Cauldron und das belanglose Geplauder mit den Kunden würden ihr helfen, die trüben Gedanken zu verscheuchen.

Zehn Minuten später stand sie nach Lavendel duftend und mit rosig durchwärmter Haut vor dem Kiefernschrank und überlegte, was sie anziehen sollte. Klimpernd schob sie ein paar Bügel beiseite. Da, der neue Blazer … strenggenommen hatte sie ihn für besondere Anlässe geschneidert. Doch wann bot sich schon Gelegenheit, die schicke Jacke auszuführen? Kurzentschlossen nahm sie das gute Stück aus dem Schrank. Ihre Finger glitten über die raue, leicht fettige Wolle. Wie all ihre Stoffe, welche die begehrte Auszeichnung Harris Tweed trugen, hatte sie auch diesen selbst gefertigt.

Als Kind der Hebriden ging ihr das Weben leicht von der Hand. Sie konnte mit dem mechanischen Hattersley-Webstuhl umgehen, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Wie die meisten seiner Artgenossen hatte er seinen eigenen Rhythmus und seine Schrullen. Doch wenn man ihn zu nehmen wusste und sich beim Aufziehen der Kettfäden nach seinen Bedürfnissen richtete, ratterte er zufrieden wie eine Spielzeuglok vor sich hin.

Probehalber schlüpfte sie in den Blazer. Erstaunt betrachtete sie ihre Verwandlung im Spiegel. Eine frische, lebensfrohe Version ihrer selbst strahlte ihr entgegen. Bei dem Gedanken daran, wie Sandra, die eher praktische Wanderkleidung bevorzugte, auf ihr Styling reagieren würde, kräuselten sich ihre Mundwinkel.

Sicher fände Sandra, dass Hose und Blazer an einem regulären Arbeitstag im Post Office übertrieben wirkten. Kayla zuckte die Schultern. Im Grunde genommen stimmte es. Der Kundenkreis des Cauldron bestand hauptsächlich aus Fischern in ausgeleierten Wollpullovern, Arbeitern in ölverschmierten Latzhosen und Croftersfrauen in Strickjacke, Jeans und Gummistiefeln. Sandra behauptete, es sei gerade diese Ursprünglichkeit, welche die Touristen anzog.

Kayla reckte das Kinn und schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Heute würde sie den Erwartungen der anderen nicht entsprechen. Versöhnt mit sich und dem vor ihr liegenden Tag, machte sie sich auf den Weg.

* * *

Zehn Minuten später zog Kayla den Blazer wieder aus und legte ihn auf die Bank neben der Wellblechgarage. Nichts Gutes ahnend, ging sie um ihren klapprigen Volvo herum, löste die Entriegelung der Motorhaube und warf einen frustrierten Blick darunter. Versuchsweise streckte sie eine Hand aus und tippte mit den Fingern gegen den Kühlwasserbehälter. Der beißende Geruch von verbranntem Gummi drang in ihre Nase. Sie runzelte die Stirn. Was tat Iain, wenn der Motor Mätzchen machte?

In ihre Gedanken hinein hörte sie ein Hupen. Sie richtete sich auf. Die Hände in den Rücken gestemmt, beobachtete sie, wie ein dunkelblauer Pick-up in der Einfahrt hielt. Ihr Nachbar, Seamus Macdonald, lehnte den Oberkörper aus dem Fenster.

»Hallo, Kayla, macht dein Auto Ärger?« Er zwinkerte ihr freundlich aus meerblauen Augen zu.

»Das kannst du laut sagen.« Ohne zu bemerken, wie ölig ihre Finger waren, kratzte sie sich die Wange. »Irgendetwas riecht verschmort.«

»Vielleicht ein Kabelbrand.« Seamus zog die rot-blau gestreifte Pudelmütze zurecht, unter der sein blondes Haar hervorquoll.

»Bitte nicht! Manchmal denke ich, die Kiste macht das mit Absicht. Wenn Iain da ist, läuft sie wie geschmiert, aber sobald er weg ist …« Sie ließ den Satz in der Luft hängen und schüttelte unglücklich den Kopf.

»Warte.« Seamus zog ein Stofftuch aus seiner Jacke. »Du hast da etwas an der Wange.«

Vorsichtig rieb sie damit über ihr Gesicht. »Danke dir. Besser so?«

Er nickte anerkennend. »Aye. Du siehst toll aus. Na los, spring rein, ich fahr dich.«

»Im Ernst?«

»Klar. Kein Problem. Ich muss sowieso zum Hafen. Wenn du willst, nehme ich dich heute Abend wieder mit zurück.«

»Wenn es dir keine Umstände macht? Ich hole rasch meine Jacke.«

»Mach das. Wozu sind Freunde da?« Während sie zur Bank lief und in den Blazer schlüpfte, zog Seamus die Beifahrertür für sie auf. Kayla kletterte auf den Sitz und ließ den Sicherheitsgurt einrasten. Seamus umrundete den Pick-up und zwängte seine lange, schlaksige Figur hinter das Steuer. Er drehte den Schlüssel im Zündschloss und deutet er auf den Himmel, der sich über den Dünen zusehends bewölkte. »Fängt gleich an zu regnen.«

Kayla zuckte die Schultern. »Es ist Ende April. Der Sommer kommt noch.«

Krachend legte Seamus den Rückwärtsgang ein und ließ den Wagen aus der Einfahrt rollen. »Hebridenwetter eben.«

»Sagt der Experte?« Sie warf einem amüsierten Blick auf Seamus, der erst vor zwei Monaten auf die Inseln gezogen war.

Aber Seamus ließ sich nicht beirren und grinste breit. »Im Grunde gibt es auf Harris zwei Möglichkeiten: Entweder es hat gerade geregnet oder es fängt gleich an.«

Kayla lachte schallend. »Ziemlich treffend bemerkt für jemanden, der sein ganzes Leben auf dem Festland verbracht hat.« Sie warf einen prüfenden Blick in den Spiegel über der Sonnenblende. »In Edinburgh dürfte das Wetter um die Jahreszeit wohl angenehmer sein. Ich frage mich sowieso, wie du Jungspund es unter uns langweiligen, gesetzten Inselbewohnern aushältst.«

»Als würden die sieben, acht Jahre zwischen uns einen Unterschied machen. Obwohl, wenn man dein biblisches Alter erreicht hat und Mitte Dreißig ist, fragt man sich so etwas«, spöttelte er. »Aber wenn du wissen willst, was die Gegend für mich so faszinierend macht … Schwer zu sagen. Irgendwie mehr Luft zum Atmen, vermute ich. Das Leben in der Stadt ist hektisch. Die meiste Zeit ist man damit beschäftigt, dem Geld hinterherzurennen, um all die nutzlosen Dinge zu kaufen, die man besitzen muss, um dem Standard zu entsprechen. Auf Dauer macht das nicht glücklich.«

Kayla nickte, als könnte sie nachvollziehen, was Seamus meinte, doch in Wirklichkeit gingen ihr andere Gedanken durch den Kopf. Schweigend starrte sie aus dem Fenster, während draußen die Dünen von Luskentyre vorbeiglitten.

Seamus schien zu ahnen, dass etwas nicht stimmte. »Alles okay?«

»Ich habe mich bloß gefragt …« Sie ließ den Satz unvollendet.

Seamus wandte mitten in der Haarnadelkurve den Blick von der Straße. »Du machst dir Gedanken um Iain, stimmt’s?«

»Ganz schön übertrieben, nicht wahr? Iain ist volljährig. Zeit, um auf eigenen Füßen zu stehen. Wenn er dazu nicht in der Lage ist, habe ich wohl etwas falsch gemacht.«

»Unsinn«, erwiderte Seamus mit Nachdruck. »Eine bessere Stiefmutter als dich könnte Iain sich nicht wünschen.«

»Das sagst du.« Kayla seufzte. »Daniel sieht es anders. Er meint, Ally und ich hätten Iain Flausen in den Kopf gesetzt. Wenn’s nach Daniel gegangen wäre, hätte er Iain glatt verboten, von hier wegzugehen.«

»Aber es geht nicht immer nach Daniel, nicht wahr?«, warf Seamus ein, den Blick erneut auf Kayla gerichtet. Der Wagen schlingerte in der Kurve.

»Nein. Das tut es nicht. Aber du kennst Daniel. Er regt sich fürchterlich auf, wenn etwas nicht nach seinem Kopf geht. Im Prinzip meint er es nicht so.« Kayla unterdrückte einen Aufschrei, als der Pick-Up auf eine Hügelkuppe zuraste. »Pass auf, da vorne sind häufig Schafe auf der Straße.«

Seamus nickte. Als Zugeständnis schaltete er einen Gang runter, raste dann aber mit unverminderter Geschwindigkeit und heulendem Motor auf den Hügel zu. Unauffällig tastete Kayla mit der Hand nach dem Haltegriff über der Beifahrertür, während ihr Fuß eine imaginäre Bremse drückte.

Doch entweder hatten die Schafe das Brummen des Motors gehört oder sie schienen einen siebten Sinn zu besitzen. Als der Pick-Up die Hügelkuppe, erreichte, setzten sie sich in Bewegung. Kayla sah, wie runde Hintern mit wackelnden Schwänzen zwischen den Klippen verschwanden. Seamus nickte zufrieden und lenkte den Rover hügelabwärts. Vor ihnen, über den schwarzen Granitfelsen, spritzte die weißschäumende Gischt auf. Kayla löste ihre schwitzende Hand von dem Griff und atmete ein paarmal tief durch. Dann wandte sie sich an Seamus. »Ich habe dir noch gar nicht erzählt, dass der Mann von der Bootsreparatur in Stornoway angerufen hat. Sie haben herausgefunden, was passiert ist.«

Seamus’ Augenbrauen schossen in die Höhe. »Wow, so schnell? Das hätte ich nicht gedacht. War es Iains Schuld, dass Daniels Boot den Geist aufgegeben hat?«

Kayla schüttelte den Kopf. »Nein. Sie sagen, sie hätten einen solchen Fall noch nie erlebt. Anscheinend sind die beiden Gummidichtungen, die das Einströmen von Meerwasser in den Motor verhindern, im gleichen Moment kaputtgegangen. Was ungefähr so wahrscheinlich ist wie ein Sechser im Lotto. Dass es passiert ist, als Iain mit dem Boot draußen war, ist Zufall. Es hätte genauso Daniel treffen können.«

»Pech für Iain also. Ich nehme an, die Sache wird nicht besser durch den Umstand, dass Iain mit Logan unterwegs zu den Shiants war, als der Motor verreckt ist?«

Kayla nickte. »Wenn sie wenigstens zum Fischen draußen gewesen wären. Aber so? Nur zum Spaß in der Gegend herumtuckern und Vögel beobachten?«

Seamus nahm eine Hand vom Lenkrad und kratzte sich unter der Pudelmütze. Er warf Kayla einen nachdenklichen Blick zu. Der Pick-Up ruckelte bedenklich, als er mit einem Rad von der Fahrbahn abkam. »Was sagt die Versicherung? Kommt sie für den Schaden auf?«

»Vergiss die Versicherung.« Kayla seufzte. »Daniel war mit den Raten so weit im Rückstand, dass sie ihm die Police vor einem Monat gekündigt haben.«

»Mist«, entfuhr es Seamus.

»So in etwa hat Daniel auch reagiert«, meinte Kayla. »Die Reparatur wird teuer. Ich darf gar nicht daran denken, was die Küstenwache zusätzlich für die Bergung des Bootes verlangen wird.«

»Im Grunde ist es also Daniels Schuld.«

»Wie meinst du das?« Kayla hob eine Augenbraue.

»Na, das mit der Versicherung.«

Kayla zögerte. »So gesehen stimmt das wohl. Wenn er mit mir geredet hätte, hätten wir einen Weg gefunden, das Geld aufzutreiben. Aber du weißt ja, wie er ist.«

Seamus nickte. »Dein Mann hat seinen Stolz. Da kann man nichts machen. Ich hoffe, dass er sich bei Iain entschuldigt hat?«

Kayla wandte den Kopf und kämpfte die aufwallenden Gefühle nieder. Daniel hatte sich selbstverständlich nicht entschuldigt. Das war der Anlass für den schrecklichen Streit gestern gewesen, aber das ging nur sie und Daniel etwas an. Ihre Finger malten Kringel auf die Seitenscheibe, sie räusperte sich. »Was weiß ich? Zumindest haben sich die beiden erst einmal darauf geeinigt, dass Iain in Edinburgh bleibt und versucht, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.«

»Klingt vernünftig.«

Die weitere Fahrt verlief schweigend. Kayla war heilfroh, als sie Leverburgh erreichten, ohne dass Seamus erneut auf Daniel zu sprechen kam. Sie passierten das Ortsschild. Hinter der Kirche und dem Gemeindezentrum machte die Straße eine Kurve. Die Räder quietschten. Mit elegantem Schwung setzte Seamus den Pick-up in eine Parklücke vor dem Post Office.

»Danke fürs Mitnehmen, Nachbar.« Sie löste den Gurt.

»Gern geschehen. Bis später.«

Gedankenverloren blickte sie dem Pick-up hinterher, der Richtung Hafen davonsauste. Obwohl die Sonne durch die aufreißenden Wolkenfelder brach, fröstelte sie von innen heraus. Eine unerklärliche Spannung lag in der Luft. Wie aus dem Nichts befielt sie eine vage Vorahnung, dass der Tag nicht so reibungslos verlaufen würde, wie sie es sich erhoffte. Sie beschloss, das verstörende Gefühl nicht weiter ernst zu nehmen und sich in die Arbeit zu stürzen.

KAPITEL3

Vom Atlantik her fegte ein wütender Nordwestwind herein. Auf seinem Weg vom Fjord über die Insel drückte er die Gräser auf dem vorgelagerten, saftigen Marschland nieder, traf dann auf die Wellblechhütten im Hafen und brachte den zu einem Imbissstand umfunktionierten Reisebus zum Schwanken.

Ohne sich an dem ohrenbetäubenden Trommeln des Regens zu stören, saß Seamus auf einem der vier Hocker tief über seinen Teller gebeugt und schaufelte eine gewaltige Portion Fish and Chips in sich hinein. Mochte draußen die Welt untergehen. Solange er hier im Trockenen saß, war ihm alles recht. Bevor der Regen nicht nachließ, hatte es ohnehin keinen Sinn, mit dem Reparieren der Reusen weiterzumachen.

Tormod, der Besitzer des Butty Bus, stand hinter der Theke und wienerte mit Inbrunst das glänzende Metall. Vor einigen Jahren hatte er, unter heftigem Protest von Sandra, einen ausgedienten Fernbus gekauft. Im Nachhinein hatte er zu seiner Verteidigung vorgebracht, dass ihm beim Anblick der scheußlichen grünen Rostlaube eine Art Offenbarung ereilt hatte, der er unweigerlich hatte Folge leisten müssen. Leider hatte sich sein genialer Einfall, die Verantwortung für den Kauf auf eine höhere Instanz abzuwälzen, nicht so funktioniert, wie gehofft. Sandra hatte keine Sekunde gezögert, ihm die Koffer vor die Tür zu setzen, mit der Begründung, dass es sich bei ihrem Tun ebenfalls um göttliche Eingebung handle. Glück für Tormod, dass er in solchen Fällen Unterschlupf bei Daniel fand, bis Sandra sich beruhigte.

Tormods Plan war gewesen, den Bus in einen Schnellimbiss mit dem Namen Butty Bus, Stullenbus, umzufunktionieren und bei der Gemeinde eine Lizenz für einen Dauerstellplatz am Hafen zu beantragen. Niemand hätte gedacht, dass sich der Butty Bus zu einer Institution entwickeln würde. Für die Touristen war er eine willkommene Anlaufstelle, um nach der Überfahrt mit der Fähre etwas Essbares in den Magen zu bekommen. Für die Inselbewohner war er zu einem beliebten Treffpunkt nach der Arbeit geworden. Auf den Bänken vor dem Bus ließ es sich bei schönem Wetter herrlich sitzen und den Sonnenuntergang über dem Sund von Harris genießen. Das Bier brachte man selbst mit, da Tormod keine Schankkonzession besaß. Aber daran störte sich niemand. Wenn man nicht gerade von den Mücken aufgefressen wurde, waren es gemütliche Abende mit langen Gesprächen. Es waren echte Freundschaften, wie sie nur in winzigen Gemeinden am Rande der Welt existieren. Nur leider blieb am Ende des Monats nicht viel in der Kasse übrig.

Tormod löste sich aus seinen Gedanken. Mit routiniertem Schwung warf er sich das Tuch über die Schulter und rückte den Aufsteller mit den Speisekarten gerade. Kummerfalten durchzogen sein hageres Gesicht. Besorgt wandte er sich an seinen einzigen Gast. »Sag mal, Seamus, ist alles in Ordnung mit dem Essen?«

»Sicher«, erwiderte Seamus zwischen zwei Bissen.

»Warum fragst du?«

»Och, nur so.« Tormod fuhr sich mit der Hand über die Glatze. »Ein paar Touristen haben gestern nach vegetarischen Sandwiches gefragt.« Er verzog das Gesicht, als hätte er auf Saures gebissen. »Komische Sonderwünsche.«

Seamus grinste. »Nicht gerade dein Ding, vegetarisches Essen, was?«

»Nae … kann nicht verstehen, was es an einer ordentlichen Bacon Roll auszusetzen gibt?«

Wie auf ein Stichwort hin erschien Donald MacArtairs hagere, regennasse Gestalt in der Tür. »Meine Güte, was für ein Mistwetter.« Er hob ein tropfendes, streng riechendes Fellbündel vom Boden auf und hievte es in den Bus.

»Habe ich was verpasst?« Erstaunlich behände für sein Alter kraxelte er hinter seinem Hund die Stufen hinauf. Er schlug die Kapuze seines leuchtendgelben Ölzeugs zurück und blickte mit funkelnden Augen in die Runde. Das füllige silberne Haar stand wie Igelstacheln von seinem Kopf ab. »Ihr habt nicht gerade von Bacon Rolls gesprochen?«, fragte er in rollendem Singsang. Die Gläser seiner Brille beschlugen in der Wärme des Busses. Er zog das verbogene Nickelgestell von der Nase und bedachte Tormod mit zusammengekniffenen Augen. »Falls du gerade eins von den Dingern fertig hast, sag ich nicht nein. Man soll ja nichts verkommen lassen.«

»Muss der nasse Köter zwischen den Stühlen liegen und alles volltropfen?« Tormod deutete auf den Hund.

»Och, der arme Moses. Er hasst Regen. Sagtest du gerade, du würdest mir ein Specksandwich spendieren?«

Tormod verdrehte genervt die Augen, zog eine Pfanne unter der Theke hervor und warf Speckstreifen hinein. Sekunden später erfüllte der Duft von Gebratenem den Butty Bus. Schweigend schauten Seamus und Donald dem um die Taille leicht fülligen Tormod dabei zu, wie er in der winzigen Küche geschickt mit Toaster und Grill hantierte.

»Es pisst wie aus Eimern.« Donald warf einen missmutigen Blick aus dem Fenster. »Ich hoffe, Sandra bringt mir später meine Wäsche vorbei.«

Tormod blickte von der Pfanne auf und bedachte Donald mit einem finsteren Blick. »Hör zu, Kumpel. Sie hat gestern Abend einen Berg T-Shirts für dich zu gebügelt und deine löchrigen Socken gestopft. Und jetzt soll sie dir das Zeug noch hinterhertragen? Allen Ernstes, Donald, ich finde, du überstrapazierst den Begriff ›Hilfsbereitschaft‹ in letzter Zeit gewaltig.« Schwungvoll ließ er das fertige Specksandwich auf einen Teller gleiten und schob es über die Theke.

»Was meinst du damit?« Donald schüttelte verständnislos den Kopf. Mit beiden Händen griff er nach dem Brötchen und biss beherzt hinein.

»Das weißt du genau.« Tormod richtete sich zu seiner vollen Größe von einssiebzig auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Auf seiner von einem dünnen brauen Haarkranz umgebenen Glatze spiegelte sich das matte Licht der Neonröhre. »Unsere Frauen haben genug zu tun, ohne dich zu bekochen und deine Bude in Schuss zu halten.«

»Du sprichst von meinem Damen-Club?« Donald legte die Bacon Roll beiseite und blinzelte unschuldig. »Mach mal halblang. Die Mädels tun das gerne. Es gibt ihnen ein gutes Gefühl, sich um einen armen, alten Witwer zu kümmern.«

Seamus blickte grinsend von seinem Teller auf. »So gesehen bist du wohl das gemeinnützige Projekt von Leverburgh, Donald, was?«

»Aye, könnte man so sehen.«

Von hinter der Theke war ein unwilliges Schnauben zu hören, doch bevor Tormod etwas sagen konnte, deutete Donald aus dem Fenster, Richtung Pier. »Die Fähre von Berneray kommt herein. Möchte wetten, du kriegst gleich alle Hände voll zu tun, Tormod.«

Tormod schüttelte den Kopf. »Bezweifle ich. Bei dem Wetter steigen die Leute nicht aus, sondern fahren direkt zu ihrer Ferienunterkunft.« Unaufgefordert nahm Tormod zwei Becher aus dem Regal, goss Kaffee und einen ordentlichen Schuss Whisky hinein und reichte sie Donald und Seamus. »Bitte sehr. Geht aufs Haus.« Dann schenkte er sich ebenfalls ein, klappte das blankgewienerte Thekenbrett zur Seite und quetschte sich durch den schmalen Spalt. Seufzend ließ er sich auf dem letzten freien Hocker nieder.

In einvernehmliches Schweigen versunken, beobachteten die drei, wie die Caledonian Mac Brayne an der Kaimauer festmachte. Der Bug klappte herunter. Wie Perlen an einer Schnur rollten die Autos hintereinander von Bord, den Pier hinauf und am Butty Bus vorbei. Die roten Rücklichter verschwammen im Regen.

»Och, das war’s dann wohl.« Tormod seufzte resigniert. »Hab ich’s nicht gesagt? Kein einziger Kunde.«

»Hm.« Donald runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. »Vielleicht solltest du mehr Werbung machen? Deine Speisekarte ein bisschen aufpeppen? Hast du mal dran gedacht, etwas Vegetarisches anzubieten? Soll in sein, wie ich höre.«

Tormod setzte gerade zu einer Antwort an, als sich draußen eine Gestalt aus dem Regengrau löste und auf den Bus zusteuerte.

»Na bitte«, erklärte Tormod triumphierend und erhob sich, um Stellung hinter der Theke zu beziehen. »Kundschaft.«

Unter den erstaunten Blicken der Anwesenden betrat ein fremder Mann den Bus. Er war groß, breit gebaut und überragte selbst Seamus, der hochgewachsen war, um ein gutes Stück. Ohne sich an den neugierigen Blicken zu stören, stellte er seinen Seesack und einen Geigenkasten neben der Tür ab. Schweigen machte sich breit. Eine geheimnisvolle Aura schien von dem Fremden auszugehen, die sogar den nie um einen Spruch verlegenen Donald verstummen ließ.

Allerdings nicht lange. Donald schob den Teller beiseite, rückte die Brille zurecht und schenkte dem Fremden ein breites Grinsen.

»Fàilte dhan-t-Òb, cò às a tha sibh?«, fragte er listig. »Herzlich willkommen in Leverburgh, woher kommst du?« Wie die anderen wussten, war dies eines seiner Lieblingsspiele, um die Touristen zu verwirren, die kein Wort Gälisch verstanden.

»Ciamar a tha sibh? Wie geht’s? Mein Name ist Brannan Tait«, antwortete der Fremde zur allgemeinen Verblüffung in lupenreinem Gälisch. Tormod schnalzte anerkennend mit der Zunge.

Der Fremde zog die graue Wollmütze vom Kopf. Zum Vorschein kamen schwarzglänzende Haare, die ihm in langen, glatten Strähnen in die Stirn fielen. Darunter ein charaktervolles Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem entschlossenen Kinn. Den Fältchen um die Augen nach zu urteilen, war er Ende Dreißig.

»Du hast dir ein ziemlich scheußliches Wetter für einen Ausflug ausgesucht«, setzte Donald das Gespräch fort. »Was für ein Glück, dass unser Freund Tormod hier genau das Richtige hat, damit ein Mann wieder anständig zu Kräften kommt.« Er warf Seamus und Tormod verschwörerische Blicke über den Rand seines Kaffeebechers hinweg zu.

Brannan schien davon nichts zu bemerken. In aller Ruhe beugte er sich über die Speisekarte. Schließlich wandte er sich an Tormod. »Eine Portion Pommes, bitte.« Sein schottischer Akzent war eine Spur breiter und singender als der der Inseln. Der melodiöse Tonfall erinnerte an das Rollen der Brecher in den Klippen. Er deutete auf den Becher in Donalds Hand. »Und einen Kaffee. Ohne Whisky, wenn möglich.«

Tormod zuckte hinter der Theke zusammen, sagte aber keinen Ton. Donald, der gerade zum Trinken angesetzt hatte, verschluckte sich und musste husten. Er klopfte sich mit der Faust gegen die Brust und kniff die Augen zusammen. Ein schelmisches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wie wäre es mit einer Bacon Roll? Tormod hat gerade welche fertig. Bestes Schweinefleisch. Kann ich wärmstens empfehlen.«

Brannan zuckte die Schultern. »Nicht mein Ding. Ich bleib bei den Pommes.«

Donalds Augen funkelten. »Du bist wohl Vegetarier, was?« Er warf einen vielsagenden Blick in Tormods Richtung.

»Wieso fragst du? Ist das so eine Art Eignungstest? Muss man Vegetarier sein, um bei euch mitmischen zu dürfen?«

»Lass dich von Donald nicht ärgern«, sagte Tormod. »Er fragt nur aus Interesse, weil wir gerade bei dem Thema waren. Übrigens, ich bin Tormod, der Inhaber, wie du wohl schon erraten hast, und das hier ist Seamus.«

Donald hob den Arm und tippte Brannan auf die Schulter.

»Was heißt das, du willst ›mitmischen‹? Klingt, als hättest du vor zu bleiben.«

Brannan verzog keine Miene. »Kommt ganz drauf an.«

»Worauf denn?«

»Ob ich hier Arbeit finde.«

»Sicher …«

»… und ob es mir hier gefällt«, schob Brannan hinterher.

»Schon kapiert«, mischte sich Seamus in das Gespräch. »Wir sind diejenigen, die den Eignungstest bestehen müssen, nicht du.«

Gelächter machte sich breit.

»Wo kommst du her?«, nahm Donald das Kreuzverhör wieder auf. »Macht mir nicht den Eindruck, als würdest du von hier stammen. Dein Akzent klingt skandinavisch.«

»Gut erkannt.« Brannan nickte. »Ich komme aus dem Norden.«

»Seadh … Sicher« Unbeeindrucktes gälisches Grummeln von Donald. »Und von wo da?«

»Ziemlich weit draußen.«

»Dann tippe ich auf Shetland.« Tormod schob einen Teller mit Pommes über die Theke. »Bitte schön. Essig und Ketchup findest du da drüben, bei den Servietten.«

»Shetland also«, brummte Donald vor sich hin. »Stimmt es, dass ihr im Januar in Wikingerklamotten durch die Straßen zieht, Holzschiffe anzündet und euch bis zum Umfallen besauft? Wie nennt ihr das noch mal? Up Helly Aa?«

»Eine alte Tradition.« Brannan gab einen Schuss Essig auf seine Pommes.

»Was für eine Art Arbeit suchst du?« Seamus hob den Finger und deutete auf den Geigenkasten in der Ecke. »Bist du Musiker?«

»Nein, Fischer.« Brannan nahm neben Seamus an dem schmalen Tresen Platz. »Die Musik läuft nebenbei. Liegt bei uns in der Familie, das Fiddeln.«

»Na großartig!«, rief Seamus begeistert. »Du kommst wie gerufen. Ich bin gerade dabei, eine Band auf die Beine zu stellen. Tormod hier spielt Mundharmonika und Akkordeon. Niall, der Pfarrer, spielt Mandoline und ich Gitarre. Geige wäre eine prima Ergänzung.«

»Fiddle«, präzisierte Brannan, ohne aufzusehen.

»Auch gut. Was ist, bist du dabei?«

Brannan spießte Pommes auf seine Gabel und tunkte sie in die Essigsoße.

---ENDE DER LESEPROBE---