Zwischen Ende und Anfang - Jojo Moyes - E-Book

Zwischen Ende und Anfang E-Book

Jojo Moyes

0,0
22,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der neue Roman der Bestsellerautorin von «Ein ganzes halbes Jahr» als Weltpremiere.  Es ist nie zu spät, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Eigentlich meinte Lila, ihr Happy End schon gefunden zu haben. Eine zufriedene Ehe, zwei reizende Kinder. Doch die Autorin von Beziehungsratgebern kann jetzt über ihre eigenen klugen Ratschläge nur noch lachen. Ihr Mann bekommt ein Kind mit einer anderen, ihre Teenagertochter spricht nicht mehr mit ihr, und seit dem Tod ihrer Mutter lebt ihr Stiefvater Bill bei ihr. Als dann auch noch ihr leiblicher Vater Gene überraschend vor der Tür steht, läuft alles vollends aus dem Ruder. Denn Gene mit seinen Nirvana-T-Shirts und seiner (lange zurückliegenden) Karriere als Fernsehstar ist alles andere als der typische Großvater. Und plötzlich steht Lila nicht nur zwischen zwei Vätern, sondern auch zwischen zwei neuen Männern. Denn: Nach jedem Ende kommt ein neuer Anfang!  Lebensklug, mit viel Humor und Warmherzigkeit erzählt Jojo Moyes in ihrem neuesten Roman vom Stolpern, Aufstehen und Neuanfangen. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 650

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jojo Moyes

Zwischen Ende und Anfang

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Karolina Fell

 

Über dieses Buch

Es ist nie zu spät, ein neues Kapitel aufzuschlagen.

 

Eigentlich meinte Lila, ihr Happy End schon gefunden zu haben. Eine zufriedene Ehe, zwei reizende Kinder. Doch die Autorin von Beziehungsratgebern kann jetzt über ihre eigenen klugen Ratschläge nur noch lachen. Ihr Mann bekommt ein Kind mit einer anderen, ihre Teenagertochter spricht nicht mehr mit ihr, und seit dem Tod ihrer Mutter lebt ihr Stiefvater Bill bei ihr. Als dann auch noch ihr leiblicher Vater Gene überraschend vor der Tür steht, läuft alles vollends aus dem Ruder. Denn Gene mit seinen Nirvana-T-Shirts und seiner (lange zurückliegenden) Karriere als Fernsehstar ist alles andere als der typische Großvater. Und plötzlich steht Lila nicht nur zwischen zwei Vätern, sondern auch zwischen zwei neuen Männern. Denn: Nach jedem Ende kommt ein neuer Anfang!

 

Lebensklug, mit viel Humor und Warmherzigkeit erzählt Jojo Moyes in ihrem neuesten Roman vom Stolpern, Aufstehen und Neuanfangen.

Vita

Jojo Moyes, geboren 1969, hat Journalistik studiert und für die «Sunday Morning Post» in Hongkong und den «Independent» in London gearbeitet. Ihr Roman «Ein ganzes halbes Jahr» war ein internationaler Bestseller und eroberte weltweit die Herzen von über 16 Millionen Leser:innen. Zahlreiche weitere Nr.-1-Romane folgten. Jojo Moyes hat drei erwachsene Kinder und lebt in London.

 

Karolina Fell hat schon viele große Autor:innen ins Deutsche übertragen, neben Jojo Moyes u.a. Bernard Cornwell und Kristin Hannah.

Impressum

Die englische Originalausgabe erscheint 2025 unter dem Titel «We All Live Here» bei Penguin Random House, UK.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«We All Live Here» Copyright © 2025 by Jojo Moyes

Redaktion Tobias Schumacher Hernández

Covergestaltung SO YEAH DESIGN, Gabi Braun

Coverabbildung Silke Schmidt

ISBN 978-3-644-01986-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses eBook entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 (neueste Version des Barrierefreiheitsstandards für EPUB) und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Navigationspunkte und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut.

 

 

www.rowohlt.de

Für Saskia, die schon jetzt mehr von der Natur des Menschen versteht, als ich es je tun werde

Erstes Kapitel

Lila

Auf Lilas Nachttisch steht eine gerahmte Fotografie, die wegzuräumen ihr bisher die Energie – oder der Wille – gefehlt hat. Vier aneinandergeschmiegte Gesichter vor einem riesigen Aquarium – wo genau es war, hat sie vergessen –, aus dem heraus ein Schwarm unglaublich leuchtender gestreifter Fische ausdruckslos ins Bild schaut. Violet, die mit einem Finger ihre Nase hochdrückt und zugleich ihre Unterlider herunterzieht, sodass sie aussieht wie eine groteske Wachsfigur, Celie, in einem Matrosenshirt, ebenfalls eine Grimasse schneidend, obwohl sie damals schon dreizehn gewesen sein muss, etwas selbstbewusster Lila, mit einem vagen Lächeln, als würde sie darauf hoffen, dass dies trotz allem ein schönes Familienbild werden würde, und Dan, dessen Lächeln nicht ganz seine Augen erreicht, mit rätselhaftem Gesichtsausdruck, seine Hand auf Violets Schulter liegend.

Dieses letzte Familienbild ist das Erste, was sie morgens, und das Letzte, was sie abends sieht, und auch wenn sie weiß, dass sie es irgendwohin räumen sollte, wo es nicht ihre Stimmung beeinflusst, schafft sie es aus einem unerfindlichen Grund nicht, es in eine Schublade zu stecken. Manchmal, in schlaflosen Stunden, beobachtet sie, wie das Mondlicht über die Schlafzimmerdecke wandert, wirft einen Blick auf das Foto und denkt sehnsüchtig an die Familie, die sie hätte haben können, an all die Urlaubsbilder, die es niemals geben wird; verregnete Wochenenden in Cornwall, exotische Strände, wo sie alle Weiß tragen; eine fröhliche Zeugnisübergabe vor einer Universität aus rotem Backstein, vielleicht Celies Hochzeit, mit ihren stolzen Eltern an der Seite; alles geisterhafte, flüchtige Bilder eines Lebens, das sich einfach vor ihren Augen aufgelöst hat.

Und manchmal denkt sie daran, einen dicken Edding zu nehmen und Dans Gesicht verschwinden zu lassen

 

Während Lila dabei ist, die hartnäckige Verstopfung in der Toilette im ersten Stock zu beseitigen, ruft Anoushka an. Als sie und Dan dieses Haus vor zweieinhalb Jahren gekauft hatten – ein großes und «unkonventionelles» (Maklersprech für «niemand anders wird es kaufen») Renovierungsobjekt in einem grünen Teil Nordlondons –, war sie von den jahrzehntealten Badezimmern in Minzgrün und Erdbeerrot bezaubert gewesen, hatte sie – ebenso wie die Blumentapeten – charmant und pittoresk gefunden. Sie und Dan waren durch alle Räume gegangen, hatten sich ausgemalt, wie das Haus aussehen würde, wenn alles gemacht wäre. Obwohl, wenn sie genauer zurückdachte, war nur sie es gewesen, die solche Bilder heraufbeschworen hatte, während Dan unverbindlich gebrummt und heimlich auf sein Handy geschielt hatte.

Am Tag nach der Schlüsselübergabe hatten die bezaubernden und pittoresken Leitungen beschlossen, in einer fiesen Serie von Verstopfungen und Überläufen ihr wahres Selbst zu offenbaren. In dem erdbeerfarbenen Badezimmer, das die Mädchen benutzten, lagen seitdem neben dem Spülkasten ein Pümpel und ein verbogener Drahtkleiderbügel für Lila bereit (weil es offenbar immer Lilas Aufgabe ist), um gegen das vorzugehen, was auch immer sich dieses Mal hartnäckig in den Tiefen der Toilettenschüssel festgesetzt hatte.

Lila beugt sich zur Seite und berührt mit der Nasenspitze die Lautsprecher-Taste. Sie unterdrückt einen Würgelaut, als ein Schwall Wasser über den Rand ihrer Gummihandschuhe schwappt.

«Lila! Schätzchen! Wie geht’s?»

Dann hört Lila Anoushkas Stimme nur noch gedämpft und kann gerade so verstehen: Nein, Gracie, ich möchte keine Nelken dabeihaben. Das sind dermaßen geschmacklose Blumen. Und nein, auf keinen Fall Gerbera. Die hasst sie.

«Großartig! Einfach super!», sagt Lila. «Und dir?»

«Ich kämpfe im Namen meiner Autorinnen und Autoren für das Gute, wie immer. Übrigens ist die nächste Honorarzahlung auf dem Weg. Ich hätte mich schon letzte Woche gemeldet, aber Gracie ist schwanger, und das Mädel kann buchstäblich nicht aufhören, sich zu übergeben. Ehrlich, ich musste schon drei Büropapierkörbe wegwerfen. Die waren ein echtes Gesundheitsrisiko.»

Unten bellt durchdringend Truant. Er bellt alles an – Eichhörnchen im Garten, Tauben, die Müllabfuhr, zufällige Besucher, die Luft.

«Oh, wie schön», sagt Lila und schließt die Augen, während sie den Kleiderbügel tiefer in die Schüssel drückt. «Die Schwangerschaft, meine ich. Nicht das Erbrechen.»

«Eigentlich nicht, Liebes. Es ist total nervig. Warum diese Mädels ständig Kinder kriegen, ist mir schleierhaft. Ich habe hier den reinsten Drehtürbetrieb mit den Assistentinnen. Langsam frage ich mich, ob da irgendwas in der Klimaanlage ist. Und, wie geht es deinen süßen Mädchen?»

«Großartig. Es geht ihnen großartig», sagt Lila.

Es geht ihnen nicht großartig. Celie war beim Frühstück in Tränen ausgebrochen, nachdem sie anscheinend irgendetwas auf Instagram gesehen hatte, und als Lila fragte, was passiert war, hatte ihr Celie erklärt, das würde sie verdammt noch mal nicht verstehen, und war in die Schule abgerauscht. Violet hatte sie mit kaltem Zorn angestarrt, als sie ihr bestätigt hatte, dass sie am Donnerstag zu Daddy gehen musste – es war sein Abend –, war schweigend aufgestanden und hatte auf dem ganzen Weg zur Schule kein Wort mit ihr gesprochen.

«Sehr gut», sagt Anoushka abgelenkt. Lila hätte ihr genauso gut erklären können, die beiden wären an diesem Morgen geköpft worden. «Also. Reden wir über dein Manuskript.»

Lila zieht den Kleiderbügel aus der Toilettenschüssel. Der Wasserspiegel befindet sich noch immer knapp unter Sitzhöhe. Sie zieht die Gummihandschuhe aus und lehnt sich an den Badezimmerschrank. Sie hört Truant weiterbellen und überlegt, ob sie den Nachbarn noch eine Flasche Wein vorbeibringen muss. Sie hat in den letzten drei Monaten sieben Flaschen verschenkt, um zu verhindern, dass richtig Hass aufkommt.

«Wann bist du so weit, dass du mir etwas schicken kannst? Hattest du das nicht eigentlich schon letzten Monat machen wollen?»

Lila bläst die Wangen auf. «Ich … ich arbeite dran.»

Darauf herrscht kurz Stille.

«Also, Schätzchen. Ich will keinen Druck machen», sagt Anoushka, klingt aber, als ob sie Druck machte. «‹Erneuerung› hast du ja erstaunlich gut hinbekommen. Und du hattest diese nette Steigerung der Verkaufszahlen aufgrund von Dans grässlichem Verhalten. Ich schätze, wenigstens dafür müssen wir ihm dankbar sein. Aber wir wollen trotzdem nicht die Sichtbarkeit verlieren, oder? Wir wollen die Abgabe nicht so spät haben, dass ich das neue Buch genauso gut als Debüt auf den Markt bringen könnte.»

«Ich … du hast es bald.»

«Wie bald?»

Lila lässt ihren Blick durchs Badezimmer wandern. «In sechs Wochen?»

«Sagen wir in drei. Es muss nicht perfekt sein, Schätzchen. Ich muss nur eine Vorstellung von dem haben, was du machst. Ist es immer noch ein Ratgeber für das glückliche Single-Leben?»

«Äh … ja.»

«Haufenweise Tipps, wie man unabhängig gut lebt? Lustige Dating-Geschichten? Ein paar heiße Sex-Episoden?»

«Oh ja. Kommt alles vor.»

«Ich kann es kaum erwarten. Bin schon furchtbar gespannt. Ich werde deine Abenteuer so richtig miterleben! Oh, also wirklich, Gracie, nicht schon wieder in den Papierkorb. Ich muss Schluss machen. Ich warte auf deine Mail. Grüß alle ganz lieb!»

Lila beendet das Telefonat und starrt die Toilettenschüssel an, als könnte sie durch reine Willenskraft das Wasser zum Abfließen bringen. Und während sie so dasitzt, hört sie Bill die Treppe heraufkommen. Auf dem Absatz bleibt er einen Moment stehen, dann hört sie, wie er sich abstützt, um die nächsten Stufen in Angriff zu nehmen. Er und Mum haben zehn Minuten Fußweg entfernt in einem Bungalow aus den Fünfzigerjahren gewohnt – spärlich eingerichtet, lichtdurchflutet, klare Linien –, und für ihn sind die vielen Etagen dieses verwinkelten und sanierungsreifen Hauses eine tägliche Herausforderung.

«Liebes?»

«Ja?» Lila setzt eine möglichst fröhliche Miene auf.

«Ich komme wirklich nicht gern mit schlechten Nachrichten, aber die Nachbarn waren da, um sich mal wieder über den Hund zu beschweren. Außerdem scheint etwas Ekelhaftes durch die Küchendecke zu tropfen.»

 

Der Klempner vom Notdienst hatte die Luft durch die Zähne gezogen, vier Dielen aufgestemmt und anscheinend ein Leck im Abflussrohr entdeckt. Er hatte den Spülkasten entleert und sie darüber informiert, dass sie das gesamte System austauschen musste. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie diese Badezimmereinrichtung noch behalten wollen. Da sind ja sogar meine Großeltern jünger», hatte er gesagt, anschließend zwei Tassen Tee mit Zucker getrunken und ihr dreihundertachtzig Pfund in Rechnung gestellt. Sie nannte so etwas inzwischen den Mercedes-Zuschlag. Jeder Handwerker sah den überteuerten Oldtimer-Sportwagen in der Auffahrt und erhöhte jegliche vorbereitete Rechnung um fünfundzwanzig Prozent.

«Und das hat also die Verstopfung verursacht?», hatte Lila gefragt, während sie die PIN ihrer Kreditkarte eingab und versuchte, nicht auszurechnen, was das für ihr monatliches Budget bedeutete.

«Nö. Das muss etwas anderes sein», hatte er gesagt. «Sie können es nicht benutzen, das ist klar. Und die gesamte Badezimmer-Verrohrung muss neu gemacht werden. Am besten tauschen Sie dann auch gleich noch ein paar Dielen aus, wenn Sie schon dabei sind. Die kann man ja mit dem Daumen durchdrücken.»

Bill hatte ihr seine schwielige Hand auf die Schulter gelegt, als sie die Tür hinter dem Klempner schloss. «Das wird schon», sagte er und drückte ihr leicht die Schulter. So etwas war bei Bill schon inniger emotionaler Support. «Ich kann dir helfen, weißt du.»

«Du musst nicht helfen, Bill», sagte sie und drehte sich lächelnd zu ihm um. «Ich komme klar. Alles in Ordnung.» Er hatte leicht geseufzt, bevor er sich umdrehte und steifbeinig in sein Zimmer ging.

Bill wohnte jetzt seit neun Monaten bei ihnen, war kurz nach dem Tod ihrer Mutter eingezogen. Typisch Bill hatte er nicht hemmungslos geschluchzt oder die Nahrungsaufnahme eingestellt oder das Haus verkommen lassen. Er hatte sich einfach schweigend in sich selbst zurückgezogen, war zu einer immer weiter schrumpfenden Version des aufrechten, ehemaligen Möbelschreiners geworden, den sie seit drei Jahrzehnten kannte, bis er schließlich nur noch ein Schatten seiner selbst zu sein schien. «Francesca fehlt mir einfach», sagte er, wenn Lila zum Tee kam, emsig umherlief und versuchte, etwas Schwung in die viel zu stillen Räume zu bringen.

«Ich weiß, Bill», sagte sie dann. «Sie fehlt mir auch.»

Tatsache war, dass auch Lila nicht gut zurechtgekommen war. Sie hatte unter Schock gestanden, als Dan verkündete, dass er sie verlassen würde. Als sie schließlich das mit Marja herausfand, war ihr bewusst geworden, dass Dans Auszug nur ein schwacher, kaum spürbarer Windhauch im Vergleich zu diesem Schlag gewesen war. Die ersten sechs Monate hatte sie kaum geschlafen, ein toxisches Gedankenkarussell im Kopf, in dem sich Einzelheiten zusammenfügten, Schuldzuweisungen, Ängste, Wut und eine Million unausgesprochener Argumente durcheinanderwirbelten – Argumente, denen Dan irgendwie immer ausweichen konnte («Nicht vor den Kindern, Lila, okay?»). Doch dann, nur ein paar Monate später, war all das durch den plötzlichen Tod Francescas in den Hintergrund gerückt. Und als Lila Bill vorschlug, für eine Weile einzuziehen, legten beide großen Wert darauf, sich gegenseitig zu versichern, dass er es nur tat, um Lila mit den Mädchen zu unterstützen, ihr ein bisschen zur Hand zu gehen, während sie sich in das Leben als Alleinerziehende einfand.

Bill behielt den Bungalow und ging an den meisten Tagen rüber, um in seinem Gartenschuppen zu arbeiten, wo er Stühle für Nachbarn reparierte und neue Pfosten für das Treppengeländer in Lilas Haus anfertigte, damit die Kinder nicht durch die Lücken fielen. Sie sprachen nicht darüber, wann er wieder in sein Haus zurückziehen würde. Es war ja nicht so, dass ihn dazuhaben bedeutete, dass er Lilas Leben beeinträchtigte (welches Leben?), und Bills sanftmütige Art gab ihrer kleinen Familie das dringend benötigte Gefühl von Stabilität und Kontinuität. Einen Anker für ihr schlingerndes kleines Ruderboot, das an den meisten Tagen leicht zu lecken und so instabil schien, als wären sie abrupt und ohne Vorwarnung aufs offene Meer geraten.

 

Lila geht zu Fuß zur Schule. Es ist die erste Woche nach den Sommerferien, und Bill hatte angeboten, es zu übernehmen, aber sie muss ihren Schrittzähler hochtreiben (das Bild von Marjas endlosen Beinen und ihrer schlanken Taille verfolgt sie), und davon abgesehen kann sie sich einreden, dass sie Violet abholen muss, und damit ihre Schuldgefühle abwehren, die daher kommen, dass sie noch immer kein einziges Wort geschrieben hat.

Sie kennen beide den Grund für Bills Angebot. Lila hasst es, nachmittags zur Schule zu gehen. Morgens ist es in Ordnung, alle sind in Eile, sie kann Violet hinbringen und ist gleich wieder weg. Aber nachmittags ist es schrecklich, sie krümmt sich beinahe, wenn sie mit den anderen Müttern am Schultor steht. Nachdem es passiert war, hatten sie beinahe einen Monat lang mitleidig geguckt und gesagt Das kann nicht dein Ernst sein – Gott, wie furchtbar, das tut mir so leid – oder vielleicht hinter ihrem Rücken Man kann es ihm eigentlich nicht übel nehmen, oder?. Und natürlich war da noch dieser grausame Witz gewesen, den sich das Universum mit dem Timing geleistet hatte, nur zwei Wochen nachdem «Erneuerung» veröffentlicht worden war, begleitet von einer Menge verkaufsfördernder Interviews, in denen sie darüber gesprochen hatte, wie eine zwischen Arbeitsanforderungen und Kindern schal gewordene Ehe wieder auf Vordermann gebracht werden konnte.

Zwei Tage nachdem er sie verlassen hatte, war sie auf den Spielplatz des Schulhofs gegangen, und drei Mütter hatten ihre Köpfe über dem Artikel in der Elle zusammengesteckt, der den hilfreichen Titel trug: Wie ich meine Ehe wasserdicht gemacht habe. Philippa Graham – diese aufgespritzte Botoxhexe – hatte die Zeitschrift eilig hinter ihrem Rücken versteckt und Lila mit gespielter Unschuld angeblinzelt. Ihre beiden Hofdamen, deren Namen sich Lila nie merken konnte, waren beinahe gestorben vor unterdrücktem Kichern. Ich hoffe, eure Ehemänner stecken sich genau in diesem Moment mit einer antibiotikaresistenten Geschlechtskrankheit bei minderjährigen Strichern an, hatte sie gedacht und ein Lächeln aufgesetzt, während sie darauf wartete, dass Violet aus dem Schulhaus bummelte.

Wochenlang hatte sie das Gemurmel schaurig-schöner Faszination wahrgenommen, das ihr über den Schulhof gefolgt war, das leichte Köpfedrehen und den geflüsterten Tratsch. Sie hatte das Kinn hochgehalten, während ihre Haut prickelte und ihr Kiefer von dem starren Lächeln schmerzte, das sich wie eine Art Permafrost auf ihr Gesicht gelegt hatte. Ihre Mutter hatte die Abholung von Spielenachmittagen übernommen, den Mädchen und den Müttern ihrer Freundinnen erklärt, dass Lila arbeiten musste und sie nächstes Mal kommen würde. Aber ihre Mutter war nicht mehr da.

Während sie den vertrauten Magenkrampf spürt, zieht Lila ihren Kragen hoch und stellt sich an den Rand der Gruppen von Müttern, Nannys und den paar Vätern, starrt intensiv auf ihr Handy und tut so, als wäre sie in eine wirklich wichtige E-Mail vertieft. Das ist dieser Tage ihr Standardverhalten. Das, oder den Hund mitzubringen, der jeden hysterisch anbellt, der sich auf weniger als zwanzig Meter nähert.

Morgen, denkt sie. Morgen wird es keine Unterbrechungen geben. Ich werde mich um Viertel nach neun an den Schreibtisch setzen, nachdem ich Violet zur Schule gebracht habe, und ich werde mich nicht wegrühren, bis ich zweitausend Wörter geschrieben habe. Sie beschließt, nicht über die Tatsache nachzudenken, dass sie sich genau das in den letzten sechs Monaten ungefähr dreimal wöchentlich versprochen hat.

«Ich wusste es!»

Von einer Gruppe Mütter, drüben bei der in Regenbogenfarben angestrichenen Bank neben den Schaukeln, kommen entzückte Rufe. Sie sieht Marja bei ihnen, die sich vorbeugt, Philippa, die ihr strahlend den Arm drückt. Marja trägt einen langen, karamellfarbenen Kaschmirmantel und Turnschuhe, ihr blondes Haar ist locker und kunstvoll mit einer riesigen Schildpattspange zusammengenommen. «Tja, du hast im Nina’s keinen Alkohol getrunken, stimmt’s? Ich habe eine Nase für so was!» Philippa lacht. Während sie die Hand auf Marjas Bauch legt, sieht sie Lila und wendet sich theatralisch ab. Ihre Lippen formen: «Oh Gott. Sorry.»

Marja dreht sich um, folgt Philippas Blick. Sie wird rot.

Lilas Körper reagiert auf die Erkenntnis, noch bevor ihr Gehirn die Information verarbeiten kann. Sie starrt blicklos auf ihr Handy, ihr Herz rast. Nein. Nein. Das kann nicht sein. Nicht nach allem, was Dan gesagt hat. Das kann er ihnen nicht antun. Doch jeder Zweifel wird von der Farbe beseitigt, die in Marjas Wangen gestiegen ist.

Lila wird schlecht. Ihr ist schwindelig. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Sie möchte sich an einen Baum lehnen, aber sie will nicht, dass die anderen Mütter sie so sehen. Sie spürt ihre intensiven Blicke auf sich, also drückt sie das Handy ans Ohr und tut so, als würde sie telefonieren. «Ja! Ja, genau! Wie schön, von dir zu hören! Das ist toll. Wie geht es dir?» Sie redet weiter, weiß nicht, was aus ihrem Mund kommt, dreht sich weg, damit sie die anderen nicht mehr sieht.

Sie zuckt zusammen, als Violet an ihrer Hand zieht.

«Liebling!» Sie nimmt das Handy vom Ohr, sieht Mrs. Tugendhat neben ihrer Tochter. «Alles in Ordnung?», fragt sie fröhlich, mit zu hoher, zu lauter Stimme.

«Warum redest du, wenn niemand am Telefon ist?», fragt Violet, die stirnrunzelnd auf das Handydisplay schaut.

«Sie hat aufgelegt», sagt Lila schnell. Sie hat das Gefühl, explodieren zu müssen. In ihr baut sich ein Druck auf, den kein Körper aushalten kann.

Mrs. Tugendhat trägt eine äußerst zottelige Wolljacke mit Fledermausärmeln samt einem handgemachten Anstecker aus gelbem Karton am Revers, auf dem mit grünem Filzstift «Happy Birthday» steht. «Ich habe gerade mit Violet über die Aufführung zum Jahresende gesprochen. Hat sie Ihnen gesagt, dass sie die Erzählerin ist?»

«Das ist … toll!», sagt Lila und lächelt angestrengt.

«Wir möchten kein Krippenspiel machen, wir sind ja heute multireligiös. Und ich weiß, dass es noch lange hin ist, nun ja, so lange auch wieder nicht – vier Monate –, aber Sie wissen ja, wie ewig es dauert, bis so etwas auf die Beine gestellt ist.»

«Ich weiß!», sagt Lila.

«Du bist komisch», sagt Violet.

«Und Sie sind derzeit Elternvertreterin für die Bühnenprogramme. Also dachte Violet, dass Sie es machen könnten.»

«Was machen?»

«Sich um die Kostüme für die Hauptrollen kümmern.»

«Kostüme», wiederholt Lila verständnislos.

«Es ist eine Bearbeitung von Peter Pan.»

Marja geht von den anderen Müttern weg. Sie zieht ihren karamellfarbenen Mantel um die Taille zusammen und wirft einen kurzen, unbehaglichen Blick in Lilas Richtung. Ihr kleiner Sohn Hugo zieht an ihrer Hand, als sie durch das Tor geht.

«Natürlich!», sagt Lila. Irgendwo in ihrem Hinterkopf hat ein lautes Brummen eingesetzt. Sie kann darüber hinweg kaum etwas hören. Vielleicht sind ihr Tränen in die Augen gestiegen, denn alles wirkt seltsam verschwommen.

«Sie machen es? Das ist wunderbar. Violet war nicht sicher, ob Sie zusagen.»

«Sie kommt nicht gern zur Schule», sagt Violet.

Lila reißt sich zusammen und richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Tochter. «Was? Sei nicht albern, Violet! Ich komme sehr gern hierher! Das ist das Beste an meinem Tag!»

«Du hast Celie letzte Woche vier Pfund gegeben, damit sie mich abholt.»

«Nein. So war es nicht. Ich habe Celie vier Pfund gegeben, weil sie vier Pfund gebraucht hat. Das hatte nichts mit dem Abholen zu tun.»

«Das stimmt nicht. Du hast gesagt, du würdest dir lieber die Beine brechen, und Celie hat gesagt, sie würde es machen, wenn du ihr genug Geld für einen Marshmallow-Kaffee von Costa gibst, und da hast du gesagt, okay, und …»

Mrs. Tugendhats Lächeln ist etwas unsicher geworden.

«Es reicht jetzt, Violet. Unbedingt, Mrs. Tugendhat. Also, das mit dieser Sache. Von der Sie gesprochen haben. Natürlich mache ich das!» Irgendetwas ist mit ihrer rechten Hand. Sie wedelt ständig zur Bekräftigung hin und her. Sie fühlt sich an, als würde sie nicht zu ihrem Körper gehören.

Mrs. Tugendhat strahlt. «Also, wir fangen wahrscheinlich nach den Herbstferien an, aber so haben Sie genügend Zeit, um die Kostüme zu machen, ja?»

«Ja!», sagt Lila. «Ja! Wir müssen los. Bin ein bisschen in Eile. Aber wir … wir besprechen das noch näher. Auf jeden Fall. Herzlichen … Glückwunsch!» Sie deutet auf Mrs. Tugendhats Brust, dann dreht sie um und geht die Straße hinunter.

«Warum gehen wir hier lang?», fragt Violet, die in Dauerlauf verfallen ist, um Schritt zu halten. «Wir gehen doch immer durch die Frobisher Street.»

Marja ist die Frobisher Street hinuntergegangen. Lila glaubt, dass sie womöglich tot umfällt, wenn sie diesen schimmernden, zerzausten Blondschopf noch einmal sehen muss. «Nur … mal zur Abwechslung.»

«Du bist echt komisch», sagt Violet. Sie bleibt stehen und zieht eine Tüte Gemüsechips aus ihrem Rucksack, die ihr Bill anstelle von Monster Munch eingepackt haben muss. Er versucht, ihre Ernährung zu verbessern. Violet geht beim Essen langsamer, sodass auch Lila langsamer werden muss.

«Mum?»

«Ja?»

«Wusstest du, dass Felix Würmer im Hintern hat? Er hat sich in der Pause einen Finger reingesteckt, um einen rauszuholen. Man konnte richtig sehen, wie er sich um seinen Fingernagel gewickelt hat.»

Lila erstarrt und verdaut, was sie gerade gehört hat. Normalerweise würde sie bei solch einer Information anfangen zu schreien. Aber jetzt kommt es ihr sogar wie das am wenigsten Schreckliche vor, was sie heute gehört hat. Sie schaut zu ihrer Tochter herunter.

«Hast du ihn berührt?»

«Iiih! Nein.» Violet steckt sich den nächsten Gemüsechip in den Mund. «Ich habe ihm gesagt, dass ich ab jetzt für immer zehn Meilen Abstand von ihm halte. Und von den anderen Jungs. Die sind alle total widerlich.»

Lila streicht sich langsam übers Gesicht und stößt einen langen, bebenden Atemzug aus. «Bleib, wie du bist, Violet», sagt sie, als sie wieder sprechen kann. «Du bist jetzt schon viel klüger, als ich es je war.»

Zweites Kapitel

Seit Dan sie verlassen hat und ihre Mutter gestorben ist, hat Lila eine Reihe von Strategien entwickelt, um einen Tag nach dem anderen zu überstehen. Wenn sie aufwacht, meistens zwischen fünf und sechs, spült sie ein Antidepressivum hinunter, zieht sich an, bevor sie weiter grübeln kann, und geht eine Stunde mit Truant los, bis hinauf zum Hampstead Heath, wo sich frühmorgendliche Hundeausführer, einsame Kaffeetrinker und grimmig blickende Jogger mit Ohrhörern über den schlammigen Weg laufen. Beim Gehen lässt sie sich von Hörbüchern berieseln oder von dem Geplapper nichtssagender Podcasts, alles, um dafür zu sorgen, dass sie nicht mit ihren Gedanken allein ist.

Wenn sie zurück ist, weckt sie die Mädchen, bringt sie mit Schmeicheleien und Bestechung zum Aufstehen und dazu, sich für die Schule fertig zu machen, und versucht, das Gemecker oder die genervten Aufschreie wegen verschwundener Socken und Haarspangen nicht persönlich zu nehmen. Seit Bill eingezogen ist, hat er das Frühstück übernommen, darauf bestanden, dass die Mädchen Porridge mit Beeren und Körnern essen statt Lilas Pop-Tarts und drei Tage alte Bagels mit Marmelade. Bill hat strenge Ansichten, wenn es um Ernährung geht, redet endlos über Fischöl und die reinigenden Eigenschaften von Linsen und ignoriert dabei, dass die Mädchen die Augen verdrehen und sehnsüchtig zu der Schachtel mit Coco Pops schauen. Abends kocht er nahrhafte Gerichte mit fremdartigem Gemüse und bemüht sich, seine Enttäuschung zu verbergen, wenn die Mädchen maulen, dass sie lieber einen Schinken-Käse-Toast hätten.

Wenn Lila die Mädchen zur Schule gebracht hat, setzt sie sich in das, was lachhafterweise als ihr Arbeitszimmer bezeichnet wird, einen Raum, in dem sich immer noch die ramponierten Bücherkartons stapeln, die sie nie ausgepackt haben, und nimmt den dringendsten Papierkram in Angriff. Das – und das dazugehörende Herumgerechne – macht sie so fertig, dass sie oft ein kleines Nickerchen auf dem Sofa hält oder sich manchmal auf den Teppich legt, um sich einen beruhigenden Meditations-Podcast anzuhören, während sie versucht, das Hundegebell von unten zu ignorieren. Sie bemüht sich, regelmäßig zu essen, damit ihr Blutzuckerspiegel nicht in den Keller geht und zusammen damit ihre Laune. Und dann, wenn sie wieder aufgewacht ist, einen Tee getrunken hat, damit sie sich nicht mehr so erschlagen fühlt, und ein paar Einkäufe gemacht hat, ist es normalerweise Zeit, Violet abzuholen, sodass sie wieder eine Mama wird, die zu beschäftigt für zudringliche Gedanken ist, sondern stattdessen mit dem endlosen häuslichen Kampf gegen Unordnung, schmutzige Wäsche und den jeweiligen Schulaufgaben ihrer Töchter zu tun hat, bis es Schlafenszeit ist. Dann nimmt sie zwei Antihistamintabletten (die Ärztin will ihr keine Schlaftabletten mehr geben, obwohl ihr die lieber sind; anscheinend gelten sie jetzt als «Dirty Drug» mit zu vielen Nebenwirkungen) oder raucht, wenn sich eine Phase mit Schlaflosigkeit zu lange hinzieht, einen halben Joint zum Fenster hinaus, und schließlich, falls sie einigermaßen sicher ist, dass sie schlafen kann, schaltet sie einen Einschlaf-Podcast an – wo Schauspieler mit sanften monotonen Stimmen langweilige Geschichten vorlesen – und betet darum, nicht schon wieder nach wenigen Stunden aufzuwachen.

Sie will nicht an ihren Ex-Mann und seine auf so spielend leichte Art hinreißende neue Partnerin denken. Sie will nicht an sein und Marjas makelloses Haus denken, mit seiner sparsamen Auswahl stilvoller Gegenstände und seinem Noguchi-Couchtisch. Sie will nicht an ihre fehlende Mutter denken, mit der dieses ganze Chaos irgendwie viel beherrschbarer war.

An manchen Tagen kommt es Lila so vor, als würde sie gegen alles kämpfen. Gegen ihre rasenden, blindwütigen Gedanken, ihre unkontrollierbaren Hormonschwankungen, ihr Gewicht, ihren Ex-Mann, ihr Haus, das anscheinend Stück für Stück auseinanderfällt, die ganze Welt.

Als die Mädchen an diesem Abend vom Esstisch aufstehen, während Bill vorwurfsvoll auf die halb vollen Suppenteller mit Hirsch-Graupeneintopf blickt («Das ist ein sehr gutes Essen – mit viel Protein und wenig Fett»), trifft Lila mit einem Schlag die Erkenntnis, dass sich gerade noch ein ganz neues Schlachtfeld aufgetan hat: Dans neues Baby. Dieses Kind wird ein Halbgeschwister ihrer Töchter sein, wird ständig in ihrer aller Leben präsent sein, wird dasselbe Recht auf alles haben, was ihr Vater besitzt – Geld, Zeit, Liebe. Dieses Kind, mehr als alles andere, macht es zur Wirklichkeit – Dan wird nie zurückkommen, auch wenn sie schon gewusst hatte, wie unwahrscheinlich das war. Dieses Kind wird ein weiteres Thema sein, mit dem sich Lila die nächsten achtzehn Jahre auseinandersetzen muss. Und bei diesem Gedanken könnte sie einfach losschreien.

 

Er ruft um Viertel nach acht an. Zweifellos nachdem Hugo, Marjas wohlerzogener Sechsjähriger, gebadet, im sauberen Schlafanzug und mit ordentlich geputzten Zähnen seit mindestens einer Stunde im Bett liegt. Violet dagegen hängt an den Beinen vom Treppengeländer herunter und singt einen Rap-Song, der wenigstens elf unterschiedliche Anspielungen auf Genitalien enthält.

«Lila.»

Bei dem Klang seiner Stimme verkrampft sich reflexartig ihr Magen. Sie atmet tief ein, bevor sie etwas sagt. «Ich habe mich schon gefragt, wann du anrufen wirst.»

«Marja ist total fertig.» Er seufzt. «Hör mal, keiner von uns wollte, dass du es auf diese Art erfährst.»

«Marja ist also total fertig, ja? Oh.» Die Worte rutschen ihr einfach heraus. «Wie schlimm für sie.»

Es herrscht kurz Stille, bevor er weiterredet. «Hör zu, sie ist erst in der achtzehnten Woche. Wir dachten, es wäre am besten, die Sommerferien hinter uns zu bringen, und dann …»

«Aber dass es die anderen Mütter an der Schule wissen, ist in Ordnung.»

«Sie hat es ihnen nicht gesagt. Diese verdammte Frau … wie heißt die noch mal … hat es erraten. Und Marja konnte nicht lügen, also …»

«Nein. Gott verhüte, dass hier irgendwo Lügen im Spiel sind. Also, wann hast du vor, es den Mädchen zu sagen?»

Dan zögert. Sie stellt sich vor, wie er sich über den Kopf streicht, seine übliche Geste, wenn er mit etwas Schwierigem konfrontiert ist. «Mh … also. Wir dachten – ich dachte –, es wäre vielleicht besser, wenn es von dir kommt.»

«Oh nein.» Lila steht vom Tisch auf und geht zur Spüle. «Oh nein, Dan. Das ist allein deine Sache. Wenn du den Mädchen mitteilen willst, dass sie ersetzt werden, dann kannst du das selbst machen.»

«Was meinst du mit ‹ersetzt werden›?»

«Tja, du bist ja schon ausgezogen, um für das Kind einer anderen den Daddy zu spielen. Wie sollen sie es sonst sehen?»

«Du weißt, dass es so nicht ist.»

«Tue ich das? Du warst ihr Dad. Aber jetzt bringst du morgens das Kind einer anderen zur Schule. Isst jeden Tag mit ihm zu Abend.»

«Ich bin immer noch ihr Vater, verdammt. Und ich würde jeden Tag mit ihnen zu Abend essen, wenn ich könnte.»

«Aber nicht, wenn das bedeutet, mit uns zusammenzuleben, stimmt’s?»

«Lila, warum machst du das?»

«Ich? Ich? Ich mache gar nichts. Du bist derjenige, der abgehauen ist. Du bist derjenige, der angefangen hat, mit einer unserer Nachbarinnen zu schlafen. Du bist derjenige, der jetzt das Kind einer anderen weckt, während dich deine eigenen Kinder an zwei Tagen die Woche sehen.» Sie hasst sich für den Klang ihrer Stimme, für die Worte, die aus ihrem Mund sprudeln, aber sie kann sich nicht zurückhalten. «Und du bist derjenige, der beschlossen hat, eine Frau, die zwölf Jahre jünger ist als du selbst, zu schwängern, verdammt. Ein weiteres Baby, das du niemals haben wolltest, wenn ich mich richtig an das erinnere, was du mir gegenüber behauptet hast, egal wie sehr ich es wollte, weil du kaum mit den beiden zurechtgekommen bist, die wir schon hatten!»

An diesem Punkt bringt sie irgendetwas dazu, sich umzudrehen. Celie steht beim Kühlschrank. Mit einem Karton Orangensaft in der Hand starrt sie ihre Mutter an.

«Celie?»

Celie ist aschfahl. Sie stellt den Saftkarton weg und stürmt hinaus.

«Was ist?», fragt Dan. «Was ist los?»

«Celie?!», ruft sie. Und dann, ins Telefon: «Ich melde mich wieder.»

Die Tür von Celies Zimmer ist verriegelt, und drinnen läuft laute Musik. Lila rüttelt an der Klinke, dann hämmert sie an die Tür, bekommt aber nur ein ersticktes Geh weg zu hören. Einen Moment bleibt sie einfach so stehen, weiß nicht, was sie tun soll, dann lässt sie sich mit dem Rücken an der Tür zu Boden rutschen und bleibt an das Holz gelehnt sitzen, den unablässig dröhnenden Takt im Ohr.

Während sie so dasitzt, wird auf ihrem Handy eine ganze Serie SMS von Dan angezeigt. Sie ist jetzt nicht in der Verfassung, sie zu lesen, nimmt aber einzelne Zeilen wahr.

Du musst immer alles komplizierter machen, als es ist.

 

Wie gesagt, keiner von uns will, dass die Mädchen …

 

Und sie werden lernen, das neue Baby zu l…

Sie aktiviert den Nicht-stören-Modus auf ihrem Handy. Sitzt weiter da, versucht, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen.

Schließlich wird die Musik ausgestellt. «Ich bleibe hier sitzen, bis du mit mir sprichst, Liebling», sagt sie laut genug, damit Celie sie hören kann. Ihre Stimme hallt durch die Stille. «Ich gehe nirgendwohin. Und du weißt, wie ich nerven kann.»

Wieder folgt eine lange Stille.

«Ich habe eine Thermoskanne, einen Schlafsack und Schokoladenkuchen. Ich könnte bis Donnerstag hierbleiben, wenn es sein muss.»

Schließlich hört sie Schritte. Dann hört sie Celie den Riegel zurückziehen und wieder von der Tür weggehen. Lila steht schwerfällig auf und öffnet die Tür. Ihre Teenagertochter liegt auf dem Bett, das lange dunkle Haar dramatisch um den Kopf ausgebreitet, die Füße in Socken an die Wand gestemmt.

«Ich hasse ihn.»

«Du hasst ihn nicht. Er ist dein Dad», sagt sie und denkt: Ich aber schon.

«Er ist so jämmerlich. Weißt du, dass sie ihren Schwangerschaftstest auf Instagram gepostet hat?»

«Was?»

Celie hält ihr Handy in die Höhe. Und da ist es, ein Foto von dem weißen Plastikstäbchen mit einer schmalen blauen Linie, darunter «OMG» in Dauerschleife.

«So viel dazu, es niemandem zu sagen.» Lila gibt das Telefon zurück, setzt sich auf das Bett und legt Celie die Hand aufs Bein. «Es tut mir leid, Liebling. Es tut mir so leid, dass ihr alldem ausgesetzt seid.» Sie schluckt. «Und es tut mir leid … dass ich nicht immer sonderlich gut damit umgehe.»

Celie wischt sich wütend eine Träne unter dem Auge weg, und dann wischt sie noch einmal, als sie den Wimperntuschestreifen auf ihrem Finger sieht.

«Ist nicht deine Schuld.»

«Tja, und ganz bestimmt nicht deine.»

Celie wirft ihr einen Seitenblick zu. «Wann hast du es erfahren?»

Lila schüttelt den Kopf. «Ich habe heute in der Schule eine von den Müttern mit Marja darüber reden hören. Deshalb hat dein Dad angerufen. Tut mir leid, dass du es auf diese Art mitbekommen hast.»

Celie schüttelt den Kopf. «Ich wusste es schon.»

«Wie meinst du das?»

«Sie hat Schwangerschaftsvitamine im Bad. Schon seit Monaten. Warum sollte sie die haben, außer wenn sie schwanger ist?»

Wieder zieht sich Lilas Magen schmerzhaft zusammen. Also war die Sache geplant. Sie schließt einen Moment die Augen, beißt die Zähne zusammen, entspannt ihr Kinn, und dann sagt sie: «Na ja, vielleicht liebst du es ja, wenn es erst mal da ist. Vielleicht wird es eine wunderbare Ergänzung, und du stellst fest, dass es toll ist, eine erweiterte Familie zu haben. Es wird alles gut, Celie. Ehrlich gesagt, bin ich sicher, dass es dir gefallen wird, noch einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester zu haben. Noch jemanden, der total in dich vernarrt ist. So wie wir alle.»

Darauf folgt ein kurzes Schweigen.

«Meine Güte, Mum, du bist so eine miese Schauspielerin.»

Lila sieht sie an. «Wirklich?»

«Du hast überhaupt kein Pokerface.»

Einen Moment lang sitzen sie nur so nebeneinander. Schließlich seufzt Lila. «Also, na gut, zuerst wird es vielleicht ein bisschen seltsam. Für uns alle. Aber ich weiß, dass euer Dad euch wirklich liebt. Und so etwas spielt sich gewöhnlich am Ende trotz allem gut ein.»

Celie schiebt sich zu ihr und drückt ihr die Hand. Dann zieht sie ihre Hand wieder weg, doch ihre Geste hat genug gesagt. «Alles okay mit dir, Mum?», fragt sie nach einer Weile.

«Mir geht es bestens», sagt Lila entschieden. «Ich habe doch euch zwei, oder? Die einzige Familie, die ich mir je gewünscht habe.»

«Und Bill.»

«Und Bill. Was würden wir nur ohne Bill anfangen?»

«Selbst wenn er uns zwingt, richtig eklige Sachen zu essen. Mum, kannst du nicht mal mit ihm über all diese Linsengerichte reden? Ich musste heute Vormittag in Geografie richtig laut pupsen deswegen, und garantiert haben alle mitgekriegt, dass ich es war.»

«Ich rede mit ihm.» Lila verdrückt sich in ihr Schlafzimmer und nimmt eine zweite Citalopram gegen Depressionen, bevor sie wieder nach unten geht. Die Ärztin hat darauf bestanden, dass sie sich an die empfohlene Dosis hält. Die hatte gut reden, bestimmt war ihr Ex nicht damit beschäftigt, das halbe Viertel zu schwängern.

 

«Alles in Ordnung?» Bill erledigt den Abwasch. Sanfte klassische Musik von Radio 3 erfüllt die Küche. Auch wenn sie zu ihm sagt, dass sie es später selbst macht, wird er unruhig, während sie fernsieht, verschwindet leise aus dem Wohnzimmer und taucht eine halbe Stunde später mit einem feuchten Geschirrhandtuch und zufriedener Miene wieder auf. Bill liebt Ordnung. Und während der vergangenen beiden Monate ist Lila zu der Erkenntnis gelangt, dass Bill das Gefühl braucht, nützlich zu sein, selbst wenn es ihr Sorgen macht, dass er sich mit seinen achtundsiebzig Jahren so wenig ausruht.

Er dreht sich mit dem Geschirrhandtuch über der Schulter zu ihr um.

«Ja, alles gut», sagt sie. Und dann fügt sie mit munterer Stimme hinzu: «Dan bekommt ein Baby. Mit der Kurvenreichen Jungen Geliebten.»

Bill braucht einen Moment, um das zu verdauen.

«Das tut mir sehr leid», sagt er auf seine knappe, würdevolle Art.

Und nach einem kurzen Moment der Stille: «Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Deine Mutter hätte es gewusst.»

Er geht auf sie zu, und einen Moment lang denkt sie, er wird sie umarmen. Doch dann zögert er und drückt ihr nur den Oberarm. «Er ist ein Idiot, Lila», sagt er sanft.

«Ich weiß.» Sie schluckt.

«Und es wird ihm noch leidtun, wenn er sich mit all den schlaflosen Nächten und den Windeln herumschlagen muss», fügt Bill hinzu, «mit dem Zahnen. Den Kleinkind-Wutanfällen. All der grässlichen Unordnung und dem Chaos.»

Ich habe dieses Chaos geliebt, denkt sie traurig. Ich habe es geliebt, mittendrin zu sein, mit meinen kleinen Schmutzfinken, meinem Haus voller Plastikspielzeug und den überquellenden Wäschekörben. Ich wollte fünf von ihrer Sorte. Ein richtiges kleines Völkchen. Und ein Haus auf dem Land mit Hunden und dreckigen Stiefeln und Körben mit Brennholz, das wir im Wald gesammelt hätten. «Ja», sagt sie lahm.

Als sie den Blick hebt, sieht sie, dass Bill sie beobachtet. Er schaut zu seinen auf Hochglanz geputzten Schuhen hinunter. Sie weiß nicht, ob sie ihn schon jemals ohne ein sorgfältig gebügeltes Hemd und geputzte Schuhe gesehen hat. «Um ehrlich zu sein, hätte sie ihn wahrscheinlich einen Wichser genannt», sagt er unvermittelt.

Lila reißt die Augen auf. Sie denkt einen Moment nach, dann sagt sie: «Ja, wahrscheinlich hätte sie das.»

«Einen verdammten, blöden Wichser. Wahrscheinlich.»

Bill flucht nie, und diese Worte aus seinem Mund zu hören, ist so unwahrscheinlich, dass sie sich anstarren und ein kurzes, schockiertes Lachen ausstoßen.

Unwillkürlich legt Lila die Hände vors Gesicht und beginnt zu schluchzen. «Es hört nicht auf, Bill», sagt sie weinend. «Verdammt, es hört einfach nicht auf.»

Bill drückt ihr die Schulter. «Doch, das wird es. So ist es nur jetzt. Klopf auf Holz.»

Sie schnieft, schüttelt den Kopf. «Seit wann bist du abergläubisch?»

«Seit mir eine schwarze Katze von links über den Weg gelaufen ist und deine Mutter am nächsten Tag von einem Bus überfahren wurde.»

«Im Ernst?»

«Irgendetwas muss ich ja dafür verantwortlich machen.»

Er wartet, bis sie aufgehört hat zu weinen.

«Das wird schon wieder für dich, mein Mädchen», sagt er sanft.

«Es wird wieder für uns», erwidert sie und streicht sich die Haare aus den Augen. Sie schnieft, wischt ihre Tränen weg. «Sehe ich … einigermaßen aus?»

Er schüttelt den Kopf. «Du siehst gut aus.»

Sie mustert seine Miene und verzieht das Gesicht. «Echt, Bill, du hast ein noch schlechteres Pokerface als ich.»

Drittes Kapitel

Folgendes habe ich in meinen fünfzehn Ehejahren gelernt: Es ist okay, wenn du nicht jeden Tag von grenzenloser Liebe erfüllt bist. Wir alle regen uns über herumliegende Socken, den vergessenen TÜV oder die Tatsache auf, dass wir seit sechs Wochen keinen Sex gehabt haben. Wie die Psychotherapeutin Esther Perel sagt: Liebe ist ein Prozess. In allen Ehen gibt es Hochs und Tiefs, und mit den Jahren gewinnst du größeren Überblick und stellst fest, dass sie einfach zu der Ebbe und Flut deines eigenen speziellen Liebeslebens gehören. In der Ehe kann man an einem einzigen Tag die unterschiedlichsten Gefühle empfinden. Du kannst neben dem Mann aufwachen, der lautstark schnarcht, und ihm am liebsten ein Kissen ins Gesicht drücken wollen und dir doch um elf Uhr vormittags wünschen, die Putzfrau würde früher gehen, damit du ihn dir schnappen und eine himmlische Stunde mit ihm im Bett vertun kannst. Du kannst Zuneigung, Gereiztheit, Lust und Dankbarkeit in derselben halben Stunde empfinden. Der Trick besteht darin, diesen Prozess zu verstehen, dieses Auf und Ab, und dich nicht von deinen eigenen Gefühlen in Panik versetzen zu lassen. Denn solange ihr es zusammen angeht, ihr ein Team seid, weißt du im Innersten, dass all dies zu der wunderbaren Sache des Menschseins gehört. Dan ist mein Teampartner, und wir gehen es zusammen an, und es gibt keinen Tag, an dem ich nicht dankbar dafür bin.

Manchmal fällt Lila dieser Textauszug ein, der hilfreicherweise, ganze vierzehn Tage bevor Dan sie verlassen hat, in einer überregionalen Zeitung veröffentlicht worden war, und dann will sie sich ganz klein machen und zusammenrollen wie eine Kellerassel, die sich im Abflusssieb gefangen hat.

Sie war so sicher gewesen, als sie das geschrieben hat. Sie weiß noch, wie sie zu Hause an der Konstruktion dieses letzten Satzes saß und dabei von der Liebe zu ihrem Mann, ihrem Leben, mit einem Mal geradezu überwältigt worden war. (Sie hat sich beim Schreiben über den erfundenen Dan oft überwältigt gefühlt; er war einfach so viel unkomplizierter als der echte Dan.) Dan hatte liebevoll den Kopf geschüttelt, wenn sie über ihren Vater redete, und ihr verboten, ihr abgedroschenes Mantra Irgendwann wird man immer verlassen zu verwenden.

Als sie den Satz zum ersten Mal gesagt hat, beinahe panisch angesichts seiner alarmierend beharrlichen Annäherungsversuche, da sie in den ersten Monaten ihrer Beziehung nicht zu einer festen Bindung bereit war, hatte er ihre Hand in seine genommen und gesagt: «Diese Geschichte musst du neu schreiben. Nur weil sich dein Vater wie ein Arsch benommen hat, heißt das nicht, dass alle Männer so sind.» Das war ihr wie eine Offenbarung vorgekommen, und dann wie ein Prüfstein.

Inzwischen denkt sie, dass sie in den ersten zehn Jahren wahrscheinlich meistens glücklich waren, plus/minus das Herumjonglieren bei der Kinderbetreuung und die ständige Erschöpfung, als ihre Töchter noch klein waren. Sie erinnert sich deutlich an einen Familienurlaub, während sie ihr Buch schrieb. Sie hatte am Strand ihren Kindern zugesehen, die mit ihrer Mutter spielten (Francesca liebte das Meer), ihre sandigen Knie mit den Armen umschlungen und gedacht, wie unglaublich glücklich sie war. Sie hatte sich gefühlt, als wäre sie im Mittelpunkt von etwas Gutem und Starkem und Dauerhaftem aufgehoben; ihre Mutter, die im Wasser planschte, Bill mit seinem Sonnenhut, der ihr etwas Aufmunterndes zurief, ihre wunderschönen, fröhlichen Töchter, ihr Mann. Endlich in einer stabilen Situation angekommen, ein neues Haus, die Sonne und die glitzernden Wellen. Sie hatte sich gefühlt, als hätte sie alles, was man sich nur wünschen konnte.

Und dann – überraschende Wendung! – war Dan gegangen. Und kaum ein Jahr später hatte sie auch noch ihre Mutter verloren.

Darüber brütet sie seit zwanzig Minuten nach, Kopfhörer auf den Ohren, den Blick abwesend aus dem Fenster gerichtet, als sie den Mann bemerkt, der am Ende des Vorgartens steht und am Haus emporsieht. Sie beobachtet ihn eine Weile stirnrunzelnd, wartet darauf, dass er abzieht. Doch das tut er nicht. Er geht nur zwei Schritte nach rechts, stützt sich mit einer Hand an dem Baumstamm ab, steht einfach da und scheint über etwas nachzudenken. Er trägt einen Blouson, leicht schmuddelige Jeans und eine Mütze. Sein Gesicht kann sie nicht sehen. Vage Angst macht sich in ihr breit. Zwei Wochen zuvor ist das Auto ihrer Nachbarn aus der Einfahrt gestohlen worden. Sie starrt den Mann an, wünscht sich, dass er einen Anruf bekommt, dass er weitergeht, irgendetwas tut, das zeigt, dass er kein Dieb ist, der etwas Böses im Sinn hat. Aber er steht einfach weiter da und betrachtet grübelnd das Haus. Sie bleibt noch einen Moment an ihrem Schreibtisch sitzen, dann zieht sie den Kopfhörer ab, rast die Treppe hinunter, nimmt den Hund an die Leine, damit sie nicht allein ist, und öffnet die Haustür. Er dreht sich zu ihr um.

«Das ist eine private Einfahrt», sagt sie.

Er erwidert nichts, sieht sie nur unverwandt an, während Truant in drängendes, ohrenbetäubendes Bellen ausbricht. Plötzlich wird ihr bewusst, dass sie um elf Uhr am Vormittag noch in Pyjama und Hausmantel herumläuft. Um sich zu zwingen, am Schreibtisch zu bleiben, hatte sie sich gesagt, dass sie sich erst anziehen durfte, wenn sie tausend Worte geschrieben hatte. Doch irgendwie erscheint ihr das auf einmal wie ein grundlegender Fehler.

«Wie bitte?», ruft er.

«Das ist eine private Einfahrt! Verziehen Sie sich!»

Er runzelt die Stirn. «Ich schaue nur Ihren Baum an.»

Das ist ein lächerlicher Vorwand.

«Tja, dann lassen Sie das.»

«Ich soll Ihren Baum nicht anschauen?»

«Ja.» Truant zerrt knurrend und schnappend an der Leine. Sie liebt ihn richtig für diesen aggressiven Auftritt.

Der Mann wirkt nicht beunruhigt. Er zieht nur die Augenbrauen hoch.

«Darf ich Ihren Baum vom Bürgersteig aus anschauen?»

Er geht zwei Schritte zurück, wirkt leicht belustigt. Bei seiner lockeren Selbstsicherheit, seinem offenkundigen Wissen, dass sie die Situation nicht im Griff hat, fühlt sie sich zugleich wütend und machtlos.

«Sehen Sie einfach … meinen Baum nicht an! Und auch nicht das Haus! Verziehen Sie sich einfach!»

«Da ist ja … sehr freundlich.»

«Ich bin Ihnen keine Freundlichkeit schuldig. Nur weil ich eine Frau bin, heißt das nicht, dass ich freundlich sein muss. Sie stehen in meinem Vorgarten, und dazu habe ich Sie nicht eingeladen. Und deshalb, nein, ich muss nicht freundlich sein.»

Ein schriller Ton hat sich in ihre Stimme eingeschlichen, und bei Truants Gebell kann man wirklich taub werden. Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie sich nebenan der Vorhang im Erkerfenster bewegt. Das hier kommt garantiert auch auf die Liste ihrer nachbarschaftlichen Verfehlungen. Sie hebt entschuldigend die Hand, und der Vorhang wird zugezogen.

«Schönes Auto», sagt er mit einem Blick auf den Mercedes.

Lila hat den Sportwagen gekauft, weil es etwas war, was ihre Mutter hätte tun können – impulsiv und optimistisch. Sie hat den Wagen bei einem Oldtimerhändler gekauft, weil sich das erste Autohaus nach ihren Anrufen nicht zurückgemeldet hat. Und sie hat das am besten ausgestattete, teuerste Modell gekauft, das sie sich mit dem Erbe ihrer Mutter erlauben konnte – einen Mercedes 380 SL Baujahr 1985 –, weil der stilvoll gekleidete Verkäufer in dem Autohaus, in dem sie schließlich gelandet war, eindeutig nicht glaubte, dass sie sich diesen Wagen leisten konnte. («Super», hatte Eleanor, ihre älteste Freundin, dazu gesagt, «dem hast du’s aber so richtig gezeigt.»)

«Er hat einen Tracker», ruft sie.

«Wie bitte?» Er kann sie bei dem Lärm nicht verstehen.

«Er hat einen eingebauten Tracker! Und eine Alarmanlage.»

«Sie glauben, ich würde Ihr Auto klauen?»

«Nein. Ich glaube nicht, dass Sie mein Auto klauen. Weil es die Polizei dann orten und Sie im Gefängnis landen würden. Ich lasse Sie nur wissen, dass das keine Option ist. Und übrigens, im Haus ist auch kein Geld. Nur, falls Sie sich das gefragt haben.»

Er senkt den Blick für einen langen Moment auf seine Sneaker, dann hebt er ihn wieder. «Sie sind also aus dem Haus gekommen, um mir mitzuteilen, dass ich Ihren Baum nicht anschauen und Ihren Mercedes nicht stehlen darf, weil ich sonst im Gefängnis lande, und dass Sie kein Geld haben.»

So wie er es sagt, klingt es dermaßen lachhaft, dass sie sich noch mehr ärgert. «So ungefähr. Wenn Sie nicht einfach bei Leuten in die Vorgärten gehen würden, dann würde sich niemand genötigt sehen, überhaupt etwas zu sagen.»

«Eigentlich bin ich in Ihren Vorgarten gekommen, weil ich einen Termin mit Bill habe.»

«Was?»

«Ich habe einen Termin mit Bill. Wegen des Gartens. Ich habe geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht. Er ist also nicht da?»

Das versetzt ihr einen Dämpfer. «Oh», sagt sie, und in genau diesem Moment fängt Truant, inzwischen eindeutig irre geworden bei dieser andauernden Grenzüberschreitung, damit an, sich gegen die Leine zu wehren, unsicher, ob er sich auf diesen Mann stürzen oder weglaufen will. Sie kämpft einen Moment mit ihm, versucht, ihn zu beruhigen, aber ihr Ton hat ihm Angst eingejagt, und er kläfft weiter.

«Bill ist bei sich zu Hause.» Sie muss es zwei Mal rufen, weil es das erste Mal im Lärm untergeht. «Bei sich zu Hause. Die Straße runter. Hören Sie, es tut mir leid. Kommen Sie rein, und ich rufe ihn an. Offensichtlich hat er den Termin vergessen.»

Aber der Mann tritt zwei Schritte zurück, sodass er auf dem Bürgersteig steht. «Schon gut. Ich rufe ihn selbst an.» Dann dreht er sich um, und während er die Straße entlanggeht, zieht er sein Handy aus der Tasche.

 

«Mich überrascht es nicht, dass er abgehauen ist. Du wirkst ziemlich … stechend, seit Dan weg ist.»

«Stechend?»

«Na ja, du läufst die meiste Zeit mit einem Gesicht herum, als könntest du ohne Weiteres jemanden umbringen.»

Lila betrachtet die Gabel, mit der sie herumgefuchtelt hat, während sie Eleanor die Geschichte von dem Eindringling erzählt hat, der keiner war, und senkt sie behutsam. «Das stimmt überhaupt nicht. Jedenfalls nicht mit einem Messer.»

Eleanor hat gerade Pause zwischen zwei Aufträgen. Was bedeutet, dass sie sorgfältig geschminkt ist. Wenn sie einen Auftrag hat – sie ist Visagistin beim Fernsehen –, hat sie keine Lust, sich auch noch um ihr eigenes Make-up kümmern zu müssen. Plötzlich mustert Lila sie genauer und fragt sich, ob Eleanor viel besser altert als sie selbst. Sie wirkt … strahlend.

«Also …»

«Du sagst, ich sehe aus wie eine Irre.»

«Nein.» Eleanor spießt mit einem Essstäbchen ein Sushi auf und steckt es sich in den Mund. «Ich sage – als deine älteste Freundin –, dass du zurzeit manchmal ein bisschen schnell in die Luft gehst.» Als sie Lilas betroffene Miene sieht, fügt sie hinzu: «Ich meine, das ist total verständlich, nach allem, was du durchgemacht hast und so weiter. Aber ich würde mir das für Dan aufsparen. Du solltest vielleicht einfach vorsichtiger mit den Schwingungen sein, die du verbreitest.»

«Schwingungen?»

«Na ja, vielleicht ein bisschen weniger das machen.» Sie verengt unvermittelt die Augen und starrt Lila mit ausdrucksloser Miene an.

Lila schiebt ihren Teller weg. «Soll das ich sein?»

«Nicht ganz. Du machst nämlich auch noch das mit dem vorgeschobenen Kinn. Ich glaube, das kann ich gar nicht.»

«Wow. Danke.»

«Ich sage das als deine Freundin, Lils. Und es gibt ja auch einen Haufen Leute, bei denen du genau diese Schwingungen verbreiten solltest. Dabei steht Dan ganz oben auf der Liste. Aber ein einfacher Gärtner, der nur einen Baum anschaut, während er auf deinen alten Stiefvater wartet? Bei dem vielleicht eher nicht. Versuch das mal.» Langsam verzieht sie ihr Gesicht zu einem übertriebenen Lächeln.

«Witzig.»

«Das ist kein Witz. Versuch es.»

«Ich weiß, wie man lächelt, El.»

«Kann sein. Aber du tust es nicht mehr besonders oft. Verstehst du, ich will einfach nicht, dass du zu einer von diesen verbissenen Geschiedenen wirst. Es ist richtig schwer, den Lippenstift gut aufzutragen, wenn du erst mal Mundfältchen hast.» Sie spitzt die Lippen und deutet auf die feinen Linien, die dabei entstehen. «Wie geht es Bill eigentlich?»

Lila seufzt und trinkt einen Schluck von ihrem Wasser. «Schwer zu sagen. Er könnte sich auch das Bein ausrenken und würde noch behaupten, dass es ihm gut geht.» Plötzlich sieht sie ihn vor sich, wie er durchs Haus streift, die Hörer im Ohr, damit er Radio 3 hören kann. Er scheint ständig klassische Musik hören zu müssen, als wäre das seine Abschottung gegen den Rest der Welt. «Es geht ihm ganz gut, denke ich. Er bringt die Mädchen dazu, eine Menge Hülsenfrüchte zu essen.»

«Was sie super finden.»

«Du kannst es dir ja vorstellen. Ich weiß auch nicht. Mum und er hatten ein ziemlich strenges System. Zeitpläne und gesundes Essen und Sauberkeit und … Ordnung. Also ist das Zusammenleben manchmal ein bisschen kompliziert. Aber versteh mich nicht falsch, ich bin froh, dass er da ist. Ich glaube, es ist gut für uns, diese … Beständigkeit zu haben. Aber ich wünschte, er könnte ein bisschen lockerer werden.» Sie sieht Eleanor einen Blick auf ihre Uhr werfen. «Hast du irgendwas vor? Du siehst übrigens richtig hübsch aus.»

«Wirklich?», sagt Eleanor mit der Sorglosigkeit derjenigen, die wissen, dass es stimmt. Sie hat einen Riesenschopf gewelltes mittelbraunes Haar mit einer grauen Strähne vorn, die sowohl natürlich ist als auch wahnsinnig cool rüberkommt, und sie trägt eine hellrote Seidenbluse und ein halbes Dutzend silberner Armreifen. «Ich treffe mich heute Abend mit Jamie und Nicoletta.»

«Wem?»

«Das Paar, von dem ich dir erzählt habe. Wir gehen in ein Hotel in Notting Hill. Ich bin richtig aufgeregt.»

«Oh. Der Dreier.» Lila zieht ein Gesicht.

«Wir sagen lieber Ménage-à-trois.Dreier klingt sehr nach Klatschblättern.»

In den inzwischen drei Jahren ihres Single-Daseins hat Eleanor eine Art sexuelle Odyssee angetreten und verdrückt sich gern wöchentlich für ihre «Abenteuer», wie sie es nennt. Es macht eine Menge Spaß, erklärt sie Lila. Ohne dass man sich um Beziehungen scheren muss oder darum, ob man einen perfekten Körper hat oder eine gemeinsame Zukunft und so weiter. Es geht nur darum, sich zu amüsieren und großartigen Sex zu haben. Sie wünschte, sie hätte das schon vor Jahren getan, statt weiter an Eddie festzuhalten.

Jedes Mal, wenn Lila sie jetzt sieht, kommt es ihr vor, als würde sich ihre Freundin in einen ganz anderen Menschen verwandeln. «Ist das nicht komisch? Ich meine, müsst ihr das alles vorher besprechen? Wer welchen Körperteil wohin platziert? Oder sich abwechselt?» Lila wird übel bei dem Gedanken. Sie kann sich momentan kaum vorstellen, jemand ihr nacktes Schienbein zu zeigen, geschweige denn, mit zwei Fremden ins Bett zu hüpfen.

«Eigentlich nicht. Ich mag sie, und sie mögen mich. Wir hängen einfach zusammen ab, trinken ein Glas Wein, amüsieren uns … haben eine gute Zeit.»

«Bei dir klingt das, als wäre es ein Lesezirkel. Nur mit Genitalien.»

«Das trifft es ganz gut.» Eleanor schiebt sich ein bisschen Ingwer in den Mund. «Aber mit weniger Hausaufgaben. Du solltest es mal ausprobieren.»

«Da würde ich lieber sterben», erwidert Lila. «Außerdem kann ich mir wirklich nicht vorstellen, mit jemand anderem als Dan zusammen zu sein. Ich war glücklich mit ihm.»

«Mir hast du immer erzählt, ihr hättet nur alle halbe Jahre mal Sex.»

«Ich hasse dein Gedächtnis. Egal. Das war erst am Schluss so.»

Eleanor zieht die Augenbrauen hoch und beschließt offenkundig, ihr das durchgehen zu lassen. «Ich denke, du brauchst ein bisschen Freude im Leben, Lils. Du musst auch mal lachen, dich flachlegen lassen, wieder entspannt werden. Du siehst immer noch gut aus. Du musst wieder in Fahrt kommen.»

«Ich werde nicht mit dir zu einer Sexparty gehen, Eleanor.»

«Dann such dir jemanden online. Triff dich einfach mit jemandem. Versuch es mal.»

Lila schüttelt den Kopf. «Eher nicht. Aber ich werde versuchen, weniger stechend zu wirken. Oh verdammt, wie oft haben wir den Kellner schon um die Rechnung gebeten? Muss ich hingehen und sie ihm aus der Hand reißen?»

 

Bill hat zum Abendessen Fisch gedünstet. Der miefige Geruch schlägt ihr schon im Flur entgegen. Sie schließt einen Moment lang die Augen, erinnert sich daran, dass er etwas Nettes tut, indem er für sie kocht, und die Tatsache, dass das Haus die nächsten achtundvierzig Stunden nach Fischtheke riecht, nur ein bedauerlicher Nebeneffekt ist.

Aber bitte nicht mit Linsen, denkt sie und beugt sich herunter, um Truant Hallo zu sagen, der sie begrüßt, als wäre sie die einzig verlässliche Bezugsperson im Universum.

«Hallo, Liebes. Ich habe Fisch mit Linsen zum Abendessen gemacht», ruft Bill und taucht in der Schürze ihrer Mutter auf. «Ich habe auch ein bisschen Ingwer und Knoblauch drangemacht. Ich weiß, dass die Mädchen das nicht mögen, aber es ist sehr gut für ihr Immunsystem.»

«Okay!», sagt sie und überlegt, ob es möglich wäre, Essen kommen zu lassen, ohne dass Bill es mitkriegt.

«Wie war dein Tag, Lila?» Er mixt ein Dressing für einen grünen Salat, und im Hintergrund läuft Radio 3. Seine Schuhe glänzen wie Kastanien, und er trägt ein Hemd mit Krawatte, obwohl er schon seit dreizehn Jahren im Ruhestand ist.

«Oh, gut. Ich habe mich zum Mittagessen mit Eleanor getroffen. Danach hatte ich einen Termin mit dem Steuerberater.» Sie will nicht über das Treffen mit dem Steuerberater sprechen. In ihrem Kopf hatte ein leises Rauschen eingesetzt, während er die Spalten mit dem zu erwartenden Einkommen und den anstehenden Steuerzahlungen durchgegangen war. «Und wie war dein Tag? Meine Güte – was ist das?» Sie muss zwei Mal hinschauen. Das Bild, das an der Arbeitsplatte lehnt, zeigt leicht abstrahiert eine nackte Frau. Eine Frau, die dieselben grauen Locken und dieselbe Schildpattbrille hat wie ihre Mutter. «Bitte sag mir, dass das nicht …»

«Deine Mutter. Mir fehlt ihre Anwesenheit. Ich habe gedacht, es wäre schön, sie im Wohnzimmer zu haben.»

«Aber Bill. Sie ist nackt.»

«Oh, das hat deine Mutter nie gestört. Du weißt, dass sie sehr entspannt war, was ihren Körper anging.»

«Aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass die Mädchen nicht sehr entspannt damit umgehen werden, wenn ihre nackte Großmutter über dem Fernseher hängt.»

Bill hält inne und hebt kurz die Brille auf seiner Nase an, als wäre ihm das vorher nie in den Sinn gekommen. «Ich weiß nicht, warum du den Aspekt der Nacktheit betonen musst. Es geht bei diesem Bild doch wirklich mehr um den Charakter, der sich darin zeigt.»

«Bill, in diesem Bild zeigt sich so ungefähr alles. Hör zu, ich weiß, dass du Mum vermisst. Warum hängst du es nicht in dein Zimmer? So ist es das Erste, was du morgens beim Aufwachen und das Letzte, was du vor dem Einschlafen siehst.»

Er betrachtet das Bild. «Ich dachte einfach, es wäre schön, wenn sie ein Teil des Familienlebens wäre. Über uns wacht.»

«Aber vielleicht lieber mit Hosen an? Ein Mitglied der Familie, das die Hosen anhat?»

Er seufzt, und sein Blick schweift ab. «Wenn du meinst.»

Plötzlich bekommt sie ein schlechtes Gewissen, und sie umarmt ihn, wie zur Entschuldigung. Er versteift sich leicht, als wäre jeder körperliche Kontakt so etwas wie ein Angriff. Sie denkt, dass ihre Mutter vielleicht der einzige Mensch war, mit dem sich Bill wirklich entspannt gefühlt hat.

«Wie wäre es mit einem schönen Foto? Ein paar mehr Fotos von Mum wären hier bestimmt gut.»

«Es ist, als hätte sie nie existiert», sagt er leise. «Manchmal sehe ich mich um und frage mich, ob sie überhaupt existiert hat.»

Sie schaut ihn an, sieht den Kummer, der sich in seine Gesichtszüge eingegraben hat, den Verlust, und es erscheint ihr, als wäre ihr eigener Kummer dagegen bedeutungslos. Sie hat ihre Mutter verloren, ja, aber er hat seine Seelenverwandte verloren.

«Ich habe eine Schachtel mit Bildern im anderen Haus», sagt er und atmet durch. «Fotos und so. Wenn du das Gemälde wirklich nicht hier haben willst.»

Mit einem schmerzhaften Gefühl, das sie nicht richtig einordnen kann, fällt ihr auf, dass er nicht «Zuhause» sagt. «Pass auf», sagt sie. «Lass es erst mal hier. So viel wie die Mädchen auf irgendwelche Bildschirme starren, bemerken sie es wahrscheinlich nicht mal.»

Viertes Kapitel

Der Anruf kommt um Viertel nach zehn, genau elf Minuten nachdem es ihr seit Monaten das erste Mal gelungen ist, einen Absatz zu tippen, und neun Minuten nachdem sie den Gedanken zugelassen hat, dass sie es vielleicht doch wieder schafft zu schreiben. Sie nimmt das Gespräch an, den Blick weiter auf den Bildschirm gerichtet, sodass sie nicht sieht, wer anruft.

«Spreche ich mit Mrs. Brewer?»

«Hier ist Kennedy. Ich heiße jetzt wieder Kennedy.» Sie hasst es, darauf hinweisen zu müssen.

«Oh … oh ja. Entschuldigen Sie, das hatten wir eigentlich eingetragen. Hier ist das Schulsekretariat. Wir wollten nur nachfragen, ob Celie heute Vormittag einen Termin hat, der uns nicht mitgeteilt wurde.»

«Wie bitte?»

«Celie. Sie fehlt heute. Wir haben uns gefragt, ob sie vielleicht einen Zahnarzttermin hat.»

Einen Moment herrscht Leere in Lilas Kopf. Hat sie den Termin vergessen? Sie sieht im Kalender nach. Nichts. «Was meinen Sie mit … fehlt?»

«Sie ist nicht in der Schule.»

«Aber ich habe sie heute Morgen abgesetzt. Also, nicht abgesetzt, aber ich habe gesehen, wie sie in den Bus gestiegen ist.»

Darauf herrscht kurzes Schweigen. Die Art vielsagendes Schweigen am Telefon, das einer Mutter sagt, dass sie echt null Ahnung hat.

«Nun, ihren Mitschülerinnen zufolge ist sie nicht angekommen. Sie hatte in letzter Zeit so viele Zahnarzttermine, dass wir uns gefragt haben, ob sie eine weitere Behandlung hat, von der uns nichts mitgeteilt wurde.»

«Zahnarzttermine?»

Erneutes Schweigen.