Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Warum leben, wenn der Tod so schön erscheint? Dieser Frage geht die vorliegende Arbeit nach. Als komplexes, faszinierendes und gesellschaftlich höchst brisantes Phänomen repräsentiert suizidales Verhalten ein zentrales Motiv in der Literatur und wird auch im amerikanischen Gegenwartsdrama immer wieder aufs Neue verhandelt. Gleichwohl ist der Suizid als literarisches Motiv bisher nur unzureichend auf seine innertextliche Funktion und auf seine außertextlichen Implikationen erforscht worden. Diese Arbeit will diese Forschungslücke für den Bereich des zeitgenössischen amerikanischen Dramas schließen. Sie zeigt, dass suizidales Verhalten im amerikanischen Gegenwartsdrama vor dem Hintergrund einer Selbstwertproblematik beschreib- und verstehbar ist. Zugleich ist mit dem narzisstisch motivierten Suizid eine Problemstruktur benannt, welche das amerikanische Gegenwartsdrama wesentlich inhaltlich-thematisch und formal bestimmt und imstande ist, bisher kontrovers diskutierte Fragestellungen neu aufzurollen und fundiert zu beantworten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 795
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für Jacob und Raphael
Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie.
Albert Camus in Der Mythos des Sisyphos
Die vorliegende Dissertation ist im Grunde ein Gemeinschaftsprojekt. Sie konnte nur entstehen, weil viele Menschen mir den Rücken frei gehalten, mich unterstützt und ermutigt haben. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Ganz besonders gilt mein Dank meiner Doktormutter Christa Grewe-Volpp, die mich ausgezeichnet betreut und beraten und zugleich nie belehrt hat. Außerdem danke ich meiner Mutter, die als Psychotherapeutin eine hervorragende Gesprächspartnerin und Impulsgeberin war und ohne deren Fachwissen ich das Thema nicht in dieser Tiefe hätte behandeln können. Ich danke meinem Ehemann und meinen Schwiegereltern, die mehr als einmal tatkräftig einsprangen und die jederzeit eine unverzichtbare und verlässliche Stütze waren. Ich danke meinem Vater, der teilweise sogar alle Werke im Original las, um mir eine kritische Rückmeldung geben zu können. Ich danke meinen „Uni-Mädels“, die sich nicht nur als wertvolle Korrekturleserinnen, sondern auch als tolle Babysitterinnen hervor getan haben und die jederzeit ein offenes Ohr für mich hatten. Zuletzt will ich auch jene Menschen nicht unerwähnt lassen, die ganz unwissentlich dazu beigetragen haben, dass dieses Projekt gelingen konnte. Eine Apothekerin etwa, die mir Traubenzucker schenkte. Eine Putzfrau, die mir vor dem täglichen Gang in die Bibliothek einen schönen Tag wünschte. Ein Straßenbahnfahrer, der nochmal die Türen aufmachte und mich nicht im Regen stehen ließ. All diese kleinen guten Taten prägten mich in den vergangenen drei Jahren, in denen mich die Dissertation forderte und an meine Grenzen brachte, und trugen dazu bei, dass ich in meinem Zettel- und Gedankenchaos nicht die Motivation verlor.
Danksagung
1 Einführung
1.1 Terminologie und Definition des Suizids
1.2 Baechlers suizidales Krisenmodell
1.3 Der Suizid zwischen Suizidologie und Philosophie
1.4 Der Stellenwert der literaturwissenschaftlichen Forschung innerhalb der Suizidologie
1.5 Stand der Forschung
1.6 Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit
1.7 Methodische Vorgehensweise
1.8 Aufbau der Arbeit
2 Der Suizid im zeitgeschichtlichen Kontext
2.1 Der Suizid als ethische Herausforderung – Die Sicht der abendländischen Philosophie und Theologie
2.2 Der Suizid als Forschungsgegenstand – Die Sicht der Humanwissenschaften
2.3 Der Suizid als Delikt – Die Sicht der Rechtswissenschaft
2.4 Besonderheiten des US-amerikanischen Suiziddiskurses
2.5 Fazit: Der Suizid in der Wende zum 21. Jahrhundert
3 Theorien zur Erklärung suizidalen Verhaltens
3.1 Durkheims Integrationstheorie und die soziologische Suizidforschung
3.2 Freuds Aggressionstheorie und die psychoanalytische Suizidforschung
3.3 Ringels präsuizidales Syndrom und die medizinisch-psychiatrische Suizidforschung
3.4 Stengels Motivstrukturanalyse suizidalen Verhaltens
3.5 Shneidmans Theorie des psychischen Schmerzes
3.6 Fazit: Die Suizidologie in der Wende zum 21. Jahrhundert
4 Suizidales Verhalten aus Sicht der psychoanalytischen Narzissmustheorie
4.1 Annäherungen an den Narzissmusbegriff
4.2 Das Narzissmuskonzept von Sigmund Freud
4.2.1 Frühe Narzissmuskonzepte
4.2.2 Integration zu einer umfassenden Narzissmustheorie
4.2.3 Die Verflechtung von Narzissmus, Ichideal und Selbstgefühl
4.2.4 Wertung
4.3 Weiterentwicklung des Narzissmuskonzepts durch Heinz Kohut
4.3.1 Die Entwicklungslinie des Narzissmus
4.3.2 Die erfolgreiche Verinnerlichung reifer narzisstischer Strukturen
4.3.3 Die narzisstische Störung als Folge eines Entwicklungsstillstands
4.3.4 Wertung
4.4 Weiterentwicklung des Narzissmuskonzepts durch Otto Kernberg
4.4.1 Kernbergs Unterscheidung von gesundem und krankhaftem Narzissmus
4.4.2 Ätiologie der narzisstischen Persönlichkeitsstörung
4.4.3 Kennzeichen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung
4.4.4 Wertung
4.5 Die Narzissmuskonzepte von Kohut und Kernberg – ein Vergleich
4.6 Die Psychodynamik des Suizids nach Heinz Henseler
4.6.1 Entstehung und Kompensationsmöglichkeiten des narzisstischen Systems
4.6.2 Die Funktionsweise des gesunden narzisstischen Systems
4.6.3 Die Funktionsweise des krankhaften narzisstischen Systems
4.6.4 Der narzisstische Suizid und die Typologie des narzisstischen Konflikts
4.6.5 Zweifel in Bezug auf das Akzeptiertsein schlechthin
4.6.6 Zweifel in Bezug auf die psychosexuelle Identität
4.6.7 Zweifel in Bezug auf Wert und Macht
4.6.8 Die idealtypische suizidale Persönlichkeit
4.6.9 Henselers Modifikation der suizidalen Psychodynamik
4.6.10 Wertung
4.7 Fazit: Henselers suizidale Psychodynamik zwischen Selbstwertstabilisierung und Objektrettung
5 Arthur Millers
Death of a Salesman
(1949): Suizid als Ausdruck einer narzisstischen Krise – Exposition der Problematik 102
5.1 Willys Scheitern
5.2 Willys Scheitern – Erklärungsversuche der Figuren
5.3 Willys Suizid als Folge einer zweifelhaften Erfolgsideologie
5.4 Willys Suizid als Folge einer Identitätskrise
5.5 Willys Suizid als Folge einer narzisstischen Krise
5.5.1 Belastungen in der frühen Kindheit
5.5.2 Labiles Selbstwerterleben
5.5.3 Mangelnder Realitätsbezug
5.5.4 Gestörte zwischenmenschliche Beziehungen
5.5.5 Ungenügende Aggressionskontrolle
5.5.6 Exkurs: Schande, Schuld und Willys Selbstwertkrise
5.5.7 Willys narzisstische Krise als Erklärung seines destruktiven Verhaltens
5.5.8 Exkurs: Der amerikanische Traum als narzisstischer Traum
5.6 Willy Loman als tragischer Held
5.7 Fazit: Willys Scheitern – sozialkritischer Opfertod oder narzisstische Selbstwertregulierung?
6 Edward Albees
The Zoo Story
(1958): Suizid als Streben nach Beachtung und Akzeptanz
6.1 Jerrys Scheitern
6.2 Jerrys Tat zwischen Geschlechtsakt und Märtyrertod – Abstecken der Positionen
6.2.1 Jerrys Suizid als Sinnbild homoerotischer Vereinigung
6.2.2 Jerrys Suizid als religiöses Selbstopfer
6.3 Jerrys Suizid als Flucht vor Vereinzelung und Isolation
6.4 Jerrys Suizid als Heraustreten aus der Nichtbeachtung
6.5 Exkurs:
The Zoo Story
als Metadrama
6.6 Jerrys Suizid als Folge einer narzisstischen Akzeptanzkrise
6.7
The Zoo Story
als absurdes Drama
6.8 Fazit: Jerrys Scheitern zwischen gesellschaftlicher Anklage und persönlicher Selbstunsicherheit
7 Sam Shepards
The Tooth of Crime
(1972): Suizid als Ausdruck einer narzisstischen Schaffens- und Maskulinitätskrise
7.1 Hoss’ Scheitern
7.2 Interpretationsansätze für Hoss’ Scheitern
7.2.1 Hoss’ Suizid als Folge einer Systemkrise
7.2.2 Hoss’ Suizid als Folge einer Identitätskrise
7.2.3 Exkurs:
The Tooth of Crime
und die zentrale Bedeutung der Sprache
7.2.4 Hoss’ Suizid als Folge einer Sinnkrise
7.2.5 Exkurs:
The Tooth of Crime
als Kritik der Postmoderne
7.3 Zwischenfazit
7.4 Hoss’ Suizid als Folge einer narzisstischen Krise – Teil I
7.4.1 Hoss’ narzisstische Persönlichkeit
7.4.2 Exkurs: Der kreative Schaffensprozess als narzisstisches Phänomen
7.4.3 Hoss’ narzisstische Krise als Erklärung seines destruktiven Verhaltens
7.5 Hoss’ Suizid als Folge einer narzisstischen Krise – Teil II
7.5.1 Plausibilisierung der Hauptfigur
7.5.2 Hoss’ Männlichkeitsideal
7.5.3 Hoss’ Suizid als Folge einer narzisstischen Maskulinitätskrise
7.6 Fazit: Hoss’ Scheitern zwischen Tragik und Narzissmus
8 David Henry Hwangs
M. Butterfly
(1988): Suizid als Schutz der Fantasiewelt
8.1 Das Scheitern des Rene Gallimard
8.2 Gallimards Scheitern – Zwei Interpretationsansätze
8.2.1 Gallimards Suizid als Flucht vor der eigenen Homosexualität
8.2.2 Gallimards Suizid als Folge eines verzerrten Orientalismus
8.3 Galimards Suizid als Folge einer narzisstischen Wertigkeitskrise
8.3.1 Rene Gallimards narzisstische Persönlichkeit
8.3.2 Gallimards Suizid als Folge einer problematischen psychosexuellen Identität
8.3.3 Exkurs: Die Frau als Feind
8.3.4 Gallimards Suizid als Folge eines Konflikts in Bezug auf Macht und Können
8.4 Fazit: Gallimards Scheitern – eine Absage an das westliche Maskulinitätsideal?
9 Marsha Normans
‘night, Mother
(1982): Suizid als Folge einer narzisstisch motivierten symbiotischen Bindung
9.1 Jessies Scheitern
9.2 Textzentrierte Annäherungen an Jessies Suizid
9.2.1 Jessies Suizid als Folge gescheiterter Kommunikation
9.2.2 Jessies Suizid als Folge ihrer Fremdbestimmung
9.2.3 Jessies Suizid als Folge ihrer mangelnden Selbstkenntnis
9.3 Literaturwissenschaftliche Annäherungen an Jessies Suizid
9.3.1 Jessies Suizid als Absage an ihre Rolle als Tochter
9.3.2 Jessies Suizid als Folge eines missglückten Separations- und Individuationsprozesses
9.4 Vorüberlegung: Jessies Suizid zwischen Affekt und Bilanz
9.5 Jessies Suizid als Folge einer narzisstisch motivierten Bindungsfixierung
9.5.1 Jessie als Partnerersatz der Eltern
9.5.2 Jessies beeinträchtigte Selbstentfaltung
9.5.3 Jessies Suizid als narzisstischer Akt der Rache
9.6 Jessie Cates als feministische Heldin
9.7 Jessie Cates als tragische Heldin
9.8 Fazit: Jessies Scheitern im Zwiespalt von Autonomie und Abhängigkeit
10 David Mamets
The Cryptogram
(1994): Suizid als Folge narzisstisch motivierter vermeidender Bindung
10.1 Johns Scheitern
10.2 Annäherungen an das finale Tableau
10.2.1 Johns Schicksal als Befreiungsschlag gegen das Patriarchat
10.2.2 Johns Schicksal als Folge eines indoktrinierten Männlichkeitsmythos
10.2.3 Johns Schicksal als Flucht vor einem Kollaps der Zeichen
10.2.4 Johns Schicksal als Initiation ins Erwachsensein
10.2.5 Zwischenfazit:
The Cryptogram
als gesellschaftspolitisches Drama
10.2.6 Johns Schicksal als Folge mangelnder Empathie und Fürsorge
10.3 Johns Scheitern als Folge einer narzisstisch motivierten Bindungsvernachlässigung
10.3.1 John als Zielscheibe narzisstischer Bedürftigkeiten
10.3.2 Johns beeinträchtigte Selbstentfaltung
10.3.3 Johns Suizid als Akt der Selbsthilfe
10.3.4 Exkurs: Weiblicher Narzissmus als soziales Produkt
10.4 Fazit: Johns Scheitern als Ausdruck parentaler Vernachlässigung und Überforderung
11 Schlussbetrachtung
11.1 Suizidales Verhalten als narzisstisches Verhalten
11.2 Weiblicher versus männlicher Narzissmus
11.3 Suizidales Verhalten als Gesellschaftskritik
11.4 Einordnung der Ergebnisse in den Kontext amerikanischer Gegenwartsliteratur
11.5 Der literarische Beitrag zur Suizidologie
Literaturverzeichnis
CG — The Cryptogram
CH — Children’s Hour
DOS — Death of a Salesman
FN — Funnyhouse of a Negro
IC — The Iceman Cometh
MB — M. Butterfly
NM — ‘night, Mother
QM — A Question of Mercy
SB — Sticks and Bones
TOC — The Tooth of Crime
TOC2 — Tooth of Crime - Second Dance
WLA — Whose Life is it, Anyway?
ZS — The Zoo Story
3.1 Bausteine des präsuizidalen Syndroms
3.2 Motivstruktur der suizidalen Handlung
3.3 Beispielhaftes Krisenmodell
3.4 Krisenmodell der Suizidalität
4.1 Entwicklung der reifen narzisstischen Konfigurationen
4.2 Gestörte Entwicklung der narzisstischen Konfgurationen
4.3 Vergleich der Narzissmuskonzepte von Freud, Kohut und Kernberg
4.4 Prozess der suizidalen Handlung nach Henseler
4.5 Henselers suizidale Psychodynamik als modifiziertes Krisenmodell
Suicide appears to be at once the most private of acts and the most public. The most egocentric and the most altruistic of acts. The most compassionate and the most vengeful of acts. The most meaningful and the most meaningless of acts. Suicide marks the boldest renunciation of life and life’s boldest reaffirmation. Suicide appears to spring from the simplest, most primitive of emotions and takes place within a field of overwhelming complexity.
Herbert A. Krauss in Suicide – A Psychosocial Phenomenon
„Die Einstellung des Menschen zu Leben und Tod wäre eine ganz andere, wenn es die Möglichkeit nicht mehr gäbe, [...] Selbstmord (zu) begehen [...]. Es ist schwer, sich den Menschen ganz ohne diese Möglichkeit vorzustellen.“1 Mit diesen Worten umschreibt der Suizidforscher Erwin Stengel die Tatsache, dass es zu den spezifisch menschlichen Fähigkeiten gehört, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Kein anderes Tier ist bekannt, das diese Entscheidung bewusst treffen würde – setzt die Selbsttötung neben dem Bewusstsein für die eigene Person schließlich auch die Antizipation des Sterbens und damit eine Reflexionsfähigkeit voraus, die bislang nur beim Menschen nachgewiesen ist.2
Als zutiefst menschlicher Akt ist der Suizid eine besonders interessante und bedeutsame Verhaltensweise, und zwar aus zweierlei Gründen. Erstens unterscheidet er sich von einem natürlichen Tod durch eine außerordentliche Konzentration von Macht: „Der Mensch ist hier Ankläger, Richter und Urteilsvollstrecker in einer Person. Er ist vollkommen souverän in seiner Verfügungsgewalt.”3 Zweitens stellt der Suizid aufgrund seiner Endgültigkeit und Unwiderruflichkeit eine extreme Form der Verneinung dar. Wer sich das Leben nimmt, „rührt an Grundfragen menschlicher Existenz“4 und entzieht sich der Gemeinschaft auf radikale Weise. „Keine andere Form des Todes ist von solch zwischenmenschlicher Tragweite und Konsequenz”, urteilt Zwingmann und betont die gesellschaftlichen und psychischen „Tiefenwirkungen“5 der Tat. Denn individuelles Handeln, so persönlich es sein mag, bedeutet immer auch soziales Handeln6, und gerade die Selbsttötung „impliziert ein Höchstmaß an Freiheit, das sie im Augenblick [...] ihrer Aktualisierung für immer zerstört.“7
In den letzten Jahren ist die Suizidproblematik verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen gerückt. Dies ist einerseits auf einen weltweiten Anstieg der Suizidraten zurückzuführen: Laut Weltgesundheitsorganisation nehmen sich jährlich rund eine Million Menschen das Leben; das entspricht einem Suizid alle dreißig Sekunden. Macht der Suizid statistisch gesehen nur einen geringen Prozentsatz aller Todesursachen aus, ist er doch fester Bestandteil unserer Lebenswirklichkeit.8 Andererseits hat der selbst herbeigeführte Tod angesichts einer steigenden Lebenserwartung und der damit einhergehenden wachsenden Angst vor einem langen, qualvollen Leiden im hohen Alter einen neuen Stellenwert in der öffentlichen Meinung eingenommen. Nicht zuletzt durch den Bedeutungsverlust der Religion und die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft ist der Einzelne nicht länger bereit, sein Schicksal ergeben hinzunehmen. Vielmehr suggerieren medizinischer und naturwissenschaftlicher Fortschritt die Vorstellung einer grenzenlosen Gestalt- und Verfügbarkeit menschlichen Lebens. Vor diesem Hintergrund scheint es nur eine logische Schlussfolgerung, das Recht des Menschen auf Freiheit und Selbstbestimmung auch auf die Wahl des eigenen Todeszeitpunkts auszuweiten.
Die Brisanz der Selbsttötung wird durch die gesellschaftliche Spaltung hinsichtlich ihrer ethischen Bewertung verschärft. Noch bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts hinein galt der Suizid, der in vollem geistigen Bewusstsein begangen wird, in der westlichen Welt als moralisch verwerflich. In den USA wurde der Suizid in zwei Bundesstaaten sogar bis 1990 als krimineller Akt gewertet. Selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Selbsttötung nicht vollständig enttabuisiert. Insbesondere die Auffassung, dass „im Prinzip jeder Mensch, der Suizid begeht, an einer abnormen Entwicklung bzw. an einer seelischen Krankheit leidet“9, hat sich hartnäckig gehalten. So wird der Suizid auch heute noch häufig pathologisiert, da die Vorstellung einer psychisch gesunden, aber dennoch lebensmüden Person für viele Menschen nicht akzeptabel ist. Zeitgleich werden immer mehr Stimmen laut, die versuchen, den Suizid als ein „Privileg des Humanen“10 und als „Signatur von Freiheit“11 zu rehabilitieren. Die kontroverse Debatte um Sterbehilfe ist dabei nur ein Beispiel, welches die Bedeutung des Themas in der Gegenwart demonstriert.
Die Frage, ob es dem Individuum gestattet ist, sich selbst zu richten, beschäftigt seit jeher die Gemüter. Wie kaum eine andere Frage wehrt sie sich gegen „jede apodiktische Antwort”12, da sie abhängig ist von dem Verhältnis des Menschen zu Gott, zu seinen Mitmenschen und zu sich selbst. Aus diesem Grund ist sie zu unterschiedlichen Epochen je unterschiedlich beantwortet worden, wobei sich im Wesentlichen zwei Positionen unversöhnlich gegenüberstehen: Die Verfechter des Suizids treten ebenso vehement für das Recht des Menschen auf einen selbstbestimmten Tod ein wie die Kontrahenten dagegen. Dass die Suizidproblematik polarisiert, spiegelt sich bereits auf Ebene der Terminologie wider: Während Befürworter mit Vorliebe von ‚Freitod’ sprechen und den Suizid als Ausdruck persönlicher Autonomie idealisieren, betonen Gegner durch Verwendung des Begriffs ‚Selbstmord’ das Gewalttätige und stilisieren den Akt als Verbrechen.13
Dabei sind beide Begriffe nicht unproblematisch. Dem euphemistischen Begriff Freitod liegt die trügerische Annahme zugrunde, dass es sich bei der Tat um eine völlig freie Entscheidung handelt. Doch der Tod geschieht laut Ahrens niemals freiwillig, denn er ist etwas Gegebenes – „Teil einer conditio humana, über die das Subjekt gar nicht zu verfügen hat.”14 Lediglich der Zeitpunkt des Todes kann vom Subjekt bestimmt werden. Damit aber reduziert sich die menschliche Freiheit auf eine Wahl zwischen zwei Alternativen – jetzt oder später sterben – und verkommt zu einer Scheinfreiheit, der nichts Grandioses oder Ehrenvolles mehr anhaftet.15 Umgekehrt suggeriert der Begriff des Selbstmords eine Nähe zum Mord, die – zumindest nach deutschem Recht – jeglicher strafrechtlichen Grundlage entbehrt. Denn als Mörder gilt nur, wer „aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.”16 Nun kann sich eine Person aber weder wider ihren Willen noch aus niederen Beweggründen das Leben nehmen; und auch um eine andere Straftat zu verdecken, ist die Selbsttötung ungeeignet, tauscht der Suizident doch –indem er sich selbst richtet – eine im schlimmsten Fall lebenslange Haftstrafe gegen den sicheren Tod. Der Begriff des Selbstmords verweist also nicht auf einen juristischen Tatbestand, sondern auf seine Unvereinbarkeit mit der Moraltheologie des Christentums. Baumann merkt an:
Der Schöpfer des Wortes Selbstmord wollte zum Bewusstsein bringen, dass das Selbst, der Leib und mit ihm der darin wohnende Geist und die Seele verbrecherisch vernichtet werden, wollte den ungeheuren Frevel brandmarken, den der begeht, der sich an Gottes Eigentum vergreift, wollte [...] an alle Schrecken der Hölle und des Gerichts erinnern.17
Für die vorliegende Arbeit soll daher der aus dem Lateinischen abgeleitete, wertneutrale Begriff Suizid bzw. die nächstliegende Übersetzung Selbsttötung verwendet werden. Denn indem die beiden anderen Begriffe das Geschehen verherrlichen bzw. kriminalisieren, schaffen sie „eine Wahrheit [...] (ihres) Gegenstandes, die der sozialen Vermittlung vorauseilt.”18 So ist der heroische Freitod „ein gradezu zeichenhafter Ausdruck für die völlige Säkularisierung der religiös-sittlichen Kultur”19, während der Selbstmord dieser Kultur zutiefst verhaftet bleibt und den Lebensmüden noch vor der eigentlichen Tat als Verbrecher diffamiert.20
Die terminologischen Schwierigkeiten lassen bereits erahnen, dass das Phänomen des Suizids keinesfalls so selbsterklärend ist, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat.21 Einer der ersten, der die Herausforderung annahm, den Begriff zu definieren, war der puritanische Theologe John Sym. In seiner 1637 erschienenen Monografie Lifes preservative against self-killing definiert er den Suizid als „the voluntary destroying of a man’s own life, by himselfe, or by his owne meanes or procurement.”22 Über 250 Jahre später hat sich an dieser Definition wenig geändert. So heißt es bei Émile Durkheim: „Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im voraus kannte.”23
Damit eine Selbsttötung vorliegen kann, müssen in Anlehnung an Sym und Durkheim zwei Kriterien erfüllt sein: Erstens muss der Tod als Folge einer direkten oder indirekten Handlung eintreten, die der Betroffene selbst an sich ausgeführt oder unterlassen hat; und zweitens muss sich der Betroffene über die Konsequenzen seines Tuns im Klaren sein. Insofern ist das Moment der gezielten Selbstherbeiführung des Todes entscheidend.24
Eine solche Definition grenzt Suizid zunächst einmal von einem Tod durch Fremdeinwirkungen ab. Da sich das Opfer über die Folgen seiner Handlung bewusst sein muss, werden zudem auch jene Fälle ausgeschlossen, die im Zustand der Bewusstlosigkeit verübt oder aus Unvorsichtigkeit herbeigeführt werden. Gleichzeitig schließt die Definition aber andere selbstschädigende Verhaltensweisen wie einen exzessiven Drogen- oder Medikamentenmissbrauch und einen übertriebenen Nikotin- oder Alkoholkonsum mit ein. Hier eine Grenze zu ziehen ist deutlich schwieriger.
Um diese Herausforderung elegant zu umgehen, entscheiden sich manche Autoren in ihren Arbeiten ganz bewusst für eine weite Auslegung des Begriffs. So legt beispielsweise Holderegger in seiner Abhandlung eine Definition zugrunde, welche auch den Märtyrertod oder jenen Suizid miteinschließt, der „aus einem raptusartigen, unkontrollierbaren Impuls, in einem akuten Wahnzustand begangen wird”25. Baumann merkt diesbezüglich an, dass der Vorteil dieser Sichtweise darin liegt, den „Blick für die Bandbreite selbstdestruktiver Tendenzen und Verhaltensweisen”26 zu schärfen. Gleichzeitig kritisiert sie jedoch zu Recht, dass der Terminus durch diese Ausweitung sein spezifisches Charakteristikum der beabsichtigten und auf einen kurzen Zeitraum begrenzten Selbstschädigung verliert. Aus diesem Grund ist es durchaus sinnvoll, Suizid auch von solchen Handlungen zu differenzieren, die entweder chronisch selbstdestruktiv sind (wie beispielsweise der Konsum von Drogen oder Medikamenten) oder denen ein tödliches Verletzungsrisiko anhaftet (wie beispielsweise dem Extremsport). In der Literatur wurde daher der ‚subtile’ oder ‚chronische Selbstmord’ eingeführt, der im Gegensatz zur zielgerichteten Selbsttötung alle unvorsichtigen Beschädigungen des Lebens subsumiert.27 Diese ‚Selbsttötung auf Raten’ unterscheidet sich vom eigentlichen Suizid zum einen durch die Struktur der Wiederholung und zum anderen durch die Intention des handelnden Subjekts. Denn wie Baumann insistiert, darf das bewusste, doch passive Inkaufnehmen von gesundheitlichen Risiken nicht mit dem aktiven Todeswunsch eines Suizidanten gleichgesetzt werden – zumal der Tod beim chronischen Suizid nicht in jedem Falle eintreten muss.28 Sie schlägt daher vor, Suizid als eine Handlung zu begreifen, „welche die ausführende Person mit der Absicht der tödlichen Selbstverletzung unternimmt und diese als Folge ihrer Handlung in einem absehbaren Zeitraum unmittelbar nach Beginn der Handlungsausführung für wahrscheinlich hält”29.
Baumanns Definition ist zwar aufgrund der zugefügten zeitlichen Dimension präziser als jene von Sym oder Durkheim, doch wirft sie damit zugleich eine weitere Frage auf: Muss der Suizid zwangsläufig mit dem Tod enden? Sym und Durkheim bejahen dies, und auch Baumann zufolge ist der Wunsch, zu sterben, konstitutives Element des Suizids. Doch wie verfährt man mit einem Menschen, der seine in fester Todesabsicht begangene suizidale Handlung überlebt? Die Wissenschaft spricht hier von einem Suizidversuch. Damit ist das Problem aber nicht gelöst, denn es bleibt die Frage, wie der Suizid vom Suizidversuch zu unterscheiden ist.
Vordergründig liegt es nahe, hier nach der Schwere der zugefügten Selbstschädigung zu differenzieren – endet die Suizidhandlung tödlich, spricht man von Suizid; endet sie nicht-tödlich, spricht man von einem Suizidversuch.30 Diese rein äußerliche Abgrenzung nach dem Letalitätskriterium wird der Komplexität des Akts jedoch nicht gerecht. Vielmehr macht es einen wichtigen Unterschied, ob ein Laie eine Medikamentendosis schluckt, von der glaubt, sie wirke tödlich, oder ob ein Arzt die gleiche Dosis in dem Wissen einnimmt, dass sie harmlos ist. Während man in erstem Fall von einem ernsthaften Suizidversuch ausgehen kann, handelt es sich im zweiten Fall wohl eher um das Bemühen, die Aufmerksamkeit der Angehörigen im Sinne einer demonstrativen Geste zu wecken. In der neueren Suizidforschung kommt daher der Todesabsicht eine wachsende Bedeutung zu.31 Demnach liegt ein Suizid dann vor, wenn das Individuum fest entschlossen ist, zu sterben; überwiegen hingegen Motive wie ein Wunsch nach Zäsur oder ein Schrei nach Hilfe, handelt es sich eher um einen Suizidversuch mit einer eigenen Psychodynamik.32 Fairbairn fasst zusammen: „(W)hether a given act is a suicide depends not on whether the individual ends up alive or dead, but on whether in acting, death was what he wished for and intended.”33
Gleichwohl ist auch das Kriterium der Todesabsicht aus zwei Gründen problematisch. Erstens ist die Intention des Suizidenten für Außenstehende nicht zugänglich, sodass im Nachhinein Hypothesen aufgestellt werden, die nicht beweisbar sind: „Since a person’s intentions are private to him, we can never be sure of what they are; the best we can do is to guess at what he intended.”34 Zweitens können selbst Überlebende einer suizidalen Handlung ihre Beweggründe nicht zwangsläufig klar artikulieren. Hin und hergerissen zwischen ihren Gefühlen der Wut und Verzweiflung „benehmen (sie) sich so, als ob sie nicht entweder sterben oder leben wollten, sondern beides gleichzeitig, aber meistens das eine mehr als das andere.”35 Vieles bleibt im Verborgenen und in den Tiefen des Un(ter)bewussten, sodass die Wissenschaftler mittlerweile darin übereinstimmen, „dass das bewusste Motiv bzw. der aktuelle Anlass wenig über die Ätiologie der Suizidhandlung aussagt“36.
In der Praxis sind daher zahlreiche Modelle entwickelt worden, um die ‚Ernsthaftigkeit’ der suizidalen Absicht messbar zu machen. Diese zu erläutern ist an dieser Stelle weder zielführend noch notwendig, da für die folgende Untersuchung eine präzise Unterscheidung verschiedener selbstschädigender Verhaltensweisen keine Relevanz besitzt. Wichtig ist jedoch sowohl die Erkenntnis, dass für den Suizid das Motiv der Autoaggression und ein ausgeprägter Todeswunsch charakteristisch sind, wohingegen im Falle des Suizidversuchs eine demonstrative Geste im Vordergrund steht; als auch die Tatsache, dass die meisten suizidalen Menschen nicht in erster Linie sterben, sondern nicht länger unter den gegenwärtigen Bedingungen leben wollen. Diese Besonderheit ist gerade im Hinblick auf die ausgewählten Dramen zentral, denn sie identifiziert den primären Zweck suizidaler Handlungen darin, einen als unerträglich empfundenen Leidensdruck zu minimieren.
Für die vorliegende Dissertation bietet sich im Zuge obiger Überlegungen die Definition von Jean Baechler aus dem Jahre 1975 an, wonach Suizid „jedes Verhalten (bezeichnet), das die Lösung eines existenziellen Problems in einem Anschlag auf das Leben des Subjekts sucht und findet.”37 Indem Baechler den Suizid als Ergebnis einer lebensbedrohlichen Krise begreift, trifft er den Kern des Sachverhalts, wie er in der Literatur zum Ausdruck kommt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich bei dem Problem – objektiv betrachtet – um ein tatsächliches oder ein imaginäres handelt, denn aus Sicht des Subjekts ist das Problem immer real. Entscheidend ist vielmehr, dass das Subjekt mit der „Gesamtheit einer Situation” konfrontiert wird, die es dazu zwingt, „Stellung zu beziehen und einen Ausweg zu finden.”38 Ebenso wenig von Bedeutung ist die Frage, inwieweit alternative Verhaltensweisen zu einem besseren Ergebnis geführt hätten. Auch hier gilt: „In gewisser Hinsicht ist die Lösung, die der Selbstmord einem Problem verschafft, immer adäquat. Das Subjekt sieht für das Problem, in das es verstrickt ist, keine andere Lösung, sonst würde es nicht Selbstmord begehen.”39
Zugleich ergeben sich aus dieser Definition drei wichtige Konsequenzen: Erstens ist der Suizid „nicht absonderlich”, sondern eine „logische und universelle”40 Art und Weise, ein Problem zu beheben. Denn wie Beachler nach meinem Dafürhalten zu Recht betont, tötet sich niemand für eine abstrakte Idee, es sei denn, sie verkörpert alle Hoffnungen des Menschen. Zweitens ergibt sich aus der Tatsache, dass einer unendlichen Anzahl an Problemen eine sehr begrenzte Anzahl an möglichen Lösungen gegenübersteht, dass der Suizid eine Antwort auf die unterschiedlichsten Probleme darstellt: „Auch wenn der Selbstmord als Mittel einzig ist, kann er vielfältigen und heterogenen Zielen dienen.”41 Zuletzt folgt aus diesen beiden Schlussfolgerungen drittens, dass der Suizid als Gegenmaßnahme immer angemessen ist und in seiner Rechtmäßigkeit von der Außenwelt nicht angezweifelt werden darf. Denn die moralische Frage nach der Zulässigkeit der Selbsttötung unterstellt, dass es prinzipiell möglich ist, objektiv über das Verhalten anderer Menschen zu urteilen. Suizidales Verhalten ist laut Baechler jedoch zutiefst subjektiv, die Warte eines neutralen Beobachters eine Chimäre. Die einzig sinnvolle Haltung liegt demnach darin „herauszufinden, warum und wie das Subjekt in diese Ausweglosigkeit geraten ist” und „ob das Subjekt für das Problem, wie es sich darstellte, eine ‚gute’ Lösung gefunden hat”42.
Der Suizid als legitime Antwort auf einen schwerwiegenden intra- oder interpersonellen Konflikt – dieser Aspekt wird im Folgenden an die ausgewählten Dramen heranzutragen sein.43
Das komplexe Phänomen der suizidalen Handlung zu verstehen, haben Menschen zu allen Zeiten versucht. Überblickt man die bisherige Geschichte der Suizidforschung, lassen sich drei grundlegend verschiedene Ansätze unterscheiden: eine medizinischpsychiatrische Forschungsrichtung, die den Suizid in der Tradition Jean Esquirols als Krankheit bzw. als Krankheitssymptom deutet; eine psychoanalytisch orientierte Forschungsrichtung, die auf Sigmund Freud zurückgeht und den Suizid als autoaggressiven Akt im Rahmen der Triebtheorie versteht; und eine soziologisch orientierte Forschungsrichtung, die von Émile Durkheim begründet wurde und die Ursache für Suizidalität in gesellschaftlichen Fehlentwicklungen erkennt. Vervollständigt werden diese ‚klassischen’ Schulen in jüngerer Zeit durch Erklärungsansätze aus der Genetik, der Neurochemie oder der Verhaltenstheorie, welche weniger einen holistischen Anspruch verfolgen und daher eher als sinnvolle Ergänzung zu den bisherigen Theorien verstanden werden sollten.
So unterschiedlich die Prämissen und methodischen Herangehensweisen der verschiedenen Schulen sind, teilen sie im Kern das Ziel der Suizidprävention. Mit den je eigenen wissenschaftlichen Methoden versuchen sie, suizidales Verhalten kausal zu erklären und einzelne Risikogruppen sowie dazugehörende Risikofaktoren zu identifizieren, die für eine Früherkennung von Nutzen sind. Dieses Ziel basiert auf der Überzeugung, suizidale Menschen von ihrer psychischen Störung bzw. dem krankmachenden Einfluss der Gesellschaft befreien zu müssen. Nur indem die Fachdisziplinen den Suizid als Ausdruck eines psychopathologischen oder soziopathologischen Leidens verstehen und dem Menschen das Recht aberkennen, selbst über sich zu verfügen, ist ihre Einmischung zu rechtfertigen. Damit aber lässt sich die Tat nicht länger moralisch verurteilen, denn ethisches Handeln setzt grundsätzlich die Freiheit des Menschen voraus. Das wissenschaftliche Interesse der Prävention geschieht also um den Preis der Bevormundung des Individuums.44
Auf der anderen Seite der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Suizid steht die Philosophie. Ihr Erkenntnisinteresse gilt ausschließlich der Ethik der suizidalen Handlung, nicht den Motiven hinter der Tat.45 Wittwer erläutert:
Im Mittelpunkt des philosophischen Interesses steht die Begründung und kritische Prüfung normativer Werturteile über die rationale und die moralische Berechtigung der Selbsttötung. Es geht der Philosophie nicht darum, warum sich einige Menschen töten und andere nicht, sondern um die vernünftigen und moralischen Gründe, die für oder gegen die Selbsttötung sprechen.46
Allerdings sind der philosophischen Betrachtung des Suizids auch Grenzen gesetzt. So entwickelt die Philosophie keine empirisch überprüfbaren Theorien oder Verfahren zur Messung von Suizidalität und untersucht ebenfalls keine individuellen Beweggründe. Sie eignet sich daher kaum für die Entwicklung von Präventions- oder Interventionsmaßnahmen und muss sich den Vorwurf gefallen lassen, fernab von jeglichem Alltagsbezug Fragen zu erörtern, deren Beantwortung keine praktischen Folgen hat. Dennoch stellt die Philosophie, indem sie auf die Autonomie und das Selbstbestimmungsrecht des Menschen pocht, ein wichtiges Gegengewicht zu jenem „als Fürsorge getarnten Paternalismus”47 der Suizidologie dar, der darauf abzielt, den Lebensmüden vor sich selbst zu beschützen.
Trotz der Vielzahl medizinischer, psychologischer, soziologischer und philosophischer Abhandlungen bleiben die Gründe, die einen Menschen dazu treiben, sich das Leben zu nehmen, vielfach im Dunkeln. Dies ist insbesondere der Tatsache geschuldet, dass der Suizident die Antwort auf die dringlichste Frage, nämlich die des Motivs, mit ins Grab nimmt.48 Wode konstatiert: „Festzuhalten bleibt, dass das Auffinden eines Motivs zum Suizid nicht die Ursache für denselben sein muss, was eine Untersuchung für jede sich mit dem Suizid beschäftigende wissenschaftliche Disziplin schwierig gestaltet.”49 So wirft das beängstigende und zugleich faszinierende Phänomen auch heute noch mehr Fragen als Antworten auf. Es scheint, als sei der Suizid in seiner Vielschichtigkeit zu undurchdringlich, als dass er abschließend erklärt werden könne.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit sich die Literatur dem Themenkomplex des Suizids anders nähern und dadurch Facetten aufzeigen kann, die den verschiedenen human- und gesellschaftswissenschaftlichen sowie philosophischen Diskursen bisher nicht zugänglich waren. Ist es der Literatur tatsächlich möglich, das Phänomen des Suizids in einem neuen Blickwinkel zu betrachten; oder muss der Suizid in letzter Konsequenz auch der Literatur zu rätselhaft bleiben?
Der vorliegenden Arbeit liegt die implizite Annahme zugrunde, dass gerade die Literatur wichtige Hinweise darüber zu liefern vermag, wie die Suizidproblematik in einer bestimmten Epoche bewertet, wodurch sie ausgelöst und wie sie verarbeitet wird. Zwar kann eine rein literarische Betrachtung eine so komplexe psychische Dynamik wie die Suizidhandlung sicherlich nicht vollständig beschreiben. Doch ist die Literatur als Spiegel der Gesellschaft besonders sensibel für soziokulturelle, wirtschaftliche und politische Missstände oder ethische Konflikte. Sie verdichtet, indem sie diese Probleme aufgreift, zuspitzt und einer kritischen Würdigung unterzieht. Zugleich reflektiert Literatur nicht nur vorherrschende Meinungen, Normen und Werte, sondern wirkt auch in die Gesellschaft zurück. So beeinflusst Literatur aktiv unsere Wahrnehmung der Realität und spielt daher auch in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Suizid eine wichtige Rolle.
Darüber hinaus schafft es die Literatur, den Leser auf eine ganz andere Weise betroffen zu machen, als dies eine sachlich-nüchterne Analyse zu leisten vermag. Indem sie den Leser mit einem fiktionalen Schicksal konfrontiert, macht sie das Fremde nachvollziehbar, lässt den Leser innehalten und regt ihn an, über sich selbst und das eigene Leben zu reflektieren.50 Anders als die Suizidologie kann die Literatur dem Suizid ohne Vorbehalte begegnen und steht nicht von vornherein im Dienste der Suizidvermeidung. Vielmehr entfaltet sie Daseinsentwürfe, die den Suizid als möglichen Ausweg aus einer Sinn- oder Identitätskrise mit einschließen. Die Selbsttötung wird hier zu einer gleichberechtigten Form der Schicksalsbewältigung unter vielen anderen. Dischner folgert: „Das kann die Wirkung einer Gegenbeschwörung haben, aber diese Wirkung ist niemals eindeutig, weil Literatur offen ist, will sie nicht zur Bekenntnisliteratur schrumpfen oder zum missionarischen Gestus instrumentalisiert werden.”51
Angesichts der spezifischen Möglichkeiten einer literarischen Annäherung an den Suizid mutet es umso erstaunlicher an, dass die Literaturwissenschaft diesem Thema bisher nur wenig Beachtung geschenkt hat. Soweit sie sich damit befasst, lassen sich drei Herangehensweisen unterscheiden. Ein erster Ansatz versucht, den Suizid eines Schriftstellers anhand seiner Werke zu verstehen, indem diese auf mögliche Anzeichen einer suizidalen Neigung im Sinne einer Todessehnsucht untersucht werden. So setzen sich in der amerikanischen Literaturwissenschaft gleich mehrere Werke mit dem Suizid Ernest Hemingways auseinander. Ebenfalls häufiger diskutiert werden die amerikanischen Schriftsteller Edgar Allan Poe, Jack London oder F. Scott Fitzgerald.52 Unter den englischen Autoren, die sich das Leben genommen haben, sind insbesondere Thomas Chatterton, Virginia Woolf oder Sarah Kane von Interesse. Lawrence oder Laird beispielsweise suchen nach einem Zusammenhang zwischen der Biografie Virginia Woolfs und ihren Romanen.53 Baumeister hingegen geht in ihrer empirischen Arbeit Wir schreiben Freitod dem Suizid von über 423 Dichtern, Schriftstellern, Journalisten und Philosophen auf den Grund, wobei sie vor allem Gemeinsamkeiten wie die bevorzugte Todesart oder eine mögliche Korrelation zwischen Suizidhäufigkeit und Faktoren wie Nationalität, Sprache oder Geschlecht des Autors überprüft.54
Ein zweiter Ansatz betrachtet die ethisch-moralische Bewertung des Suizids und seine leitmotivische Verwendung zu einer bestimmten Epoche oder bei einem bestimmten Schriftsteller. Graf etwa nimmt das Suizidmotiv in der russischen Prosa des 20. Jahrhunderts unter die Lupe und konzentriert sich dabei insbesondere auf literaturhistorische und kompositorische, nicht aber auf psychologische oder soziologische Aspekte. Sein Ziel ist es einerseits, Konstanten in der poetologischen und erzähltechnischen Motivgestaltung nachzuweisen und andererseits, einen möglichen Wandel im Umgang mit dem Suizidenten der russischen Prosaliteratur aufzuzeigen. Analog hierzu analysiert Niermann die Suizidthematik im französischen Roman zwischen 1925 und 1945 an Beispielen von René Crevel, Drieu la Rochelle, Julien Gracq und Louis Guilloux. Langenberg-Pelzer setzt sich mit dem Suizidmotiv in der deutschen Literatur im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auseinander, wobei ihr Hauptaugenmerk auf den Werken Theodor Fontanes, Gerhard Hauptmanns und Eduard von Keyserlings liegt. Neumeyer zeichnet eine Wissensgeschichte des Suizids in Wissenschaft und Literatur im 18. Jahrhundert und berücksichtigt sowohl historische Quellen aus den Bereichen der Theologie, Medizin, Pädagogik und der Rechtswissenschaften als auch fiktionale Werke wie Goethes Die Leiden des jungen Werther oder Schillers Räuber. Einen ähnlichen Ansatz wählt Schreiner, die das Suizidmotiv in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts analysiert und ebenfalls theologische, medizinische und juristische Perspektiven miteinbezieht.55 Demgegenüber behandelt Katzschmann in seiner Dissertation die Ausgestaltung des Suizidmotivs im Werk Thomas Bernhards.56
Ein dritter Ansatz nutzt die literarische Darstellung eines Suizids als Fallbeispiel, um wissenschaftliche Erkenntnisse der suizidologischen Forschung zu stützen. Ein gutes Beispiel für die Dienstbarmachung der Literatur als Anschauungsmaterial liefert Ringel, der ganz bewusst versucht, „eine Brücke zwischen Literatur und Psychiatrie” zu schlagen.57 Auch Alfred Alvarez’ bekanntes Werk The Savage God aus dem Jahre 1972 lässt sich diesem Ansatz zurechnen. In seiner Studie geht Alvarez nicht nur auf verschiedene historische, religiöse, soziologische, philosophische und psychologische Aspekte der suizidalen Handlung ein, sondern untersucht auch, inwieweit die Todessehnsucht ein kreatives und schöpferisches Potenzial freisetzt. Dabei verfolgt er die These, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der überdurchschnittlich hohen Suizidrate von Künstlern und Schriftstellern und deren kreativem Schaffen gibt. Er selbst erklärt: „My subject is suicide and literature, not suicide in literature. I am not [...] concerned with [...] specific literary suicides but with the power the act has exerted over the creative imagination.”58
Obigen drei Ansätzen gemein ist die Tatsache, dass sie den Suizid als literarisches Motiv bisher nur unzureichend auf seine innertextliche Funktion und seine außertextlichen Implikationen erforscht haben. Denn die Tat selbst fungiert niemals als primäre Aussage des Textes, sondern dient lediglich als Mittel, um einen bestimmten innerpsychischen oder gesellschaftlichen Konflikt darzustellen. Deshalb muss der Suizid in seiner Eigenschaft als Motiv auf seine Bedeutung innerhalb der Dramaturgie hin befragt werden. Wird dieser Weg gewählt, ist es notwendig, die soziopolitischen Strukturen, das soziokulturelle Klima und den seelischen Zustand der Figuren zu durchleuchten, um alle möglichen Motive zu erfassen, die einen Bestandteil der Tat ausmachen können. Untersuchungen, die sich vorwiegend auf die Frage konzentrieren, wie sich das Suizidmotiv hinsichtlich seines Gebrauchs oder seiner ethisch-moralischen Bewertung in der zugrunde gelegten Epoche verändert hat, werden dieser Thematik ebenso wenig gerecht wie autorzentrierte und wissenschaftszentrierte Betrachtungen.
Zwei positive Ausnahmen stellen die Arbeiten von Wode und Lange dar. Wode überträgt die Suizidtypologie Jean Baechlers auf die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts und entwickelt eine Typologie des literarischen Suizidenten.59 Auf Grundlage zahlreicher fiktionaler wie philosophischer Schriften versucht er, eine Verbindung zwischen Lebenskunst und Suizid herzustellen und die Frage zu beantworten, inwieweit die Fähigkeit zur Selbsttötung eine Aussage über Selbstverantwortung und Autonomie des Menschen zulässt. Seine ausführliche Diskussion eines umfangreichen Textkorpus kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Wode diesen bewusst so gewählt hat, um Baechlers suizidale Biografien bestätigt zu finden. Seine Analyse geht aus diesem Grund nicht über eine literarische Konkretisierung und Untermauerung der von Baechler beschriebenen, theoretischen Suizidtypen hinaus.
Lange verfolgt die Absicht, das literarische Motiv des Suizids im Spannungsfeld zwischen historischem und wissenschaftlichem Diskurs hermeneutisch nachzuvollziehen. Dazu setzt er sich mit psychologischen, psychiatrischen und soziologischen Theorien auseinander und verortet die ausgewählten Romane (darunter Mary Shelleys Frankenstein, Oscar Wildes The Picture of Dorian Grey und Robert Louis Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde) in der außerliterarischen Wirklichkeit. Während sein Versuch, die Texte zu kontextualisieren und die spezifische Historizität des Suizids herauszuarbeiten, zu würdigen ist, kann seine Vorgehensweise, anhand scheinbar willkürlich gewählter wissenschaftlicher Modelle zum Suizid ein hermeneutisches Vorverständnis auszubilden, nicht überzeugen. Vielmehr scheint er damit ähnlich wie Wode jener von ihm aufgezeigten Gefahr anheimzufallen, die Offenheit für das literarische Material zugunsten einer Betrachtung zu verlieren, bei der das Endergebnis bereits feststeht und lediglich anhand passender Bausteine von wissenschaftlichen Theorien belegt wird.60
In diesem Kontext will die vorliegende Dissertation einen Beitrag dazu leisten, die Forschungslücke im Hinblick auf das Suizidmotiv für den Bereich des zeitgenössischen amerikanischen Dramas zu schließen. Ziel ist es, die Selbsttötung in einer Auswahl amerikanischer Dramen zu analysieren, die als repräsentativ für das vielfältige Spektrum von Autoren und Stilrichtungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen werden können. Folgende drei Fragestellungen sollen im Vordergrund stehen:
Aus welchen Gründen begehen die Protagonisten in den einzelnen Dramen Suizid? Stehen dabei rein persönliche Beweggründe des Einzelnen im Vordergrund oder gibt es außerpersonale Erklärungen? Wird der Suizid also als eine aktive Handlung im Sinne eines selbstbestimmten Aus-der-Welt-Scheidens verstanden oder scheint er eine verzweifelte, reaktive Antwort auf eine Verkettung unglücklicher oder unerträglicher Lebensumstände zu sein?
Können und müssen die Protagonisten als prototypisch für den modernen Menschen und ihre psychische Konstitution damit symptomatisch für eine bestimmte Denkart oder mentale Verfassung verstanden werden? Wenn ja, gibt es Hinweise auf einen besonderen Bezug zur amerikanischen Gesellschaft zu dieser Zeit? Verwenden die Autoren das Motiv des Suizids also eher psychologisch motiviert – als Endpunkt einer individuellen Lebensgeschichte? Oder klagen sie soziokulturelle, politische, wirtschaftliche oder ethische Missstände an, sodass der Tod der Figuren auf eine außerliterarische Realität verweist, die es anzuprangern gilt, da sie es dem Einzelnen nicht erlaubt, sich frei zu entfalten?
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der Verwendung des Motivs ziehen? Können die ausgewählten Dramen als zutiefst amerikanische Werke gelten, die als solche geeignet sind, Aufschluss über die Grundannahmen der amerikanischen Leistungsgesellschaft zu geben? Oder wählen die Autoren tendenziell einen universellen Standpunkt, sodass die Einzelschicksale der Figuren auf allgemeine Grundbedingungen der menschlichen Existenz im Sinne einer
conditio humana
verweisen? Legitimieren sie den Akt des Sich-Tötens als Ausdruck individueller Freiheit oder strafen sie ihn mit Verachtung? Und ist es möglich, Unterschiede zwischen den Autoren oder den verschiedenen Entstehungszeitpunkten zu identifizieren?
Für die vorliegende Dissertation wurden sechs Dramen ausgewählt, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind und sich allesamt thematisch mit Suizidalität aus-einandersetzen. Konkret handelt es sich hierbei um:
Arthur Millers
Death of a Salesman
(1949)
Edward Albees
The Zoo Story
(1958)
Sam Shepards
The Tooth of Crime
(1972)
Marsha Normans
’night, Mother
(1982)
David Henry Hwangs
M. Butterfly
(1988) und
David Mamets
The Cryptogram
(1994).
Was die ausgewählten Werke miteinander verbindet, kann zunächst nur angedeutet werden. So beschließt in allen Dramen eine der Hauptfiguren, sich das Leben zu nehmen. Im Unterschied zum unfreiwilligen Suizid geisteskranker oder geistig unzurechnungsfähiger Menschen wählt der Protagonist den Tod aus freien Stücken und in voller Antizipation der Konsequenzen. Dem Akt der Selbstzerstörung geht in der Regel ein – mehr oder weniger bewusster und mehr oder weniger dramatisierter –innerer Kampf voraus, der in der Erkenntnis mündet, dass ein Weiterleben unter den gegebenen Bedingungen nicht erstrebenswert ist. Ausgelöst wird dieser Prozess der Bewusstwerdung durch einen Konflikt im zwischenmenschlichen Bereich. Der Protagonist sieht sich nicht imstande, gesellschaftliche oder familiäre Forderungen mit seinen individuellen Wünschen zu verbinden. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, äußeren Konventionen zu entsprechen und gleichzeitig dem inneren Verlangen nach autonomer Selbstbestimmung gerecht zu werden, erscheint der Suizid als einzig möglicher Ausweg. In allen Dramen drängt sich dabei der Verdacht auf, dass sich die Figur in den Suizid flüchtet, um das eigene Ich vor einer Kränkung zu schützen, die das Selbstbild massiv ins Wanken bringen würde. Der Schlüssel zum Verständnis des Suizids scheint folglich in einem gestörten Selbstwertgefühl der Figuren zu liegen.
Gleichzeitig ist mit dieser Vermutung noch keine Aussage darüber getroffen, weshalb die Protagonisten unter einem niedrigen Selbstwertgefühl leiden. So ähnlich die Grobstruktur der Dramen, so unterschiedlich sind doch der soziokulturelle Bezugsrahmen, die Lebensentwürfe und die Charaktere der Figuren. Auch der Akt der Selbstvernichtung scheint bei allen Figuren unterschiedlich motiviert zu sein.
Die literarische Analyse des Suizidmotivs erfolgt analog der Fragestellung daher in drei Schritten. In einem ersten Schritt werden die Einzelwerke auf die Funktion und Modifikation des Suizidmotivs hin untersucht. In diesem Zusammenhang wird sowohl auf die psychische Disposition der Figuren als auch auf deren soziales Umfeld eingegangen. Auch bisherige Forschungsergebnisse sowie der Entstehungshintergrund des Stücks werden berücksichtigt.
Zweitens werden anhand des Suizidmotivs Rückschlüsse auf die amerikanische Gesellschaft gezogen. Dieser Schritt fußt auf der Annahme, dass jeder Selbsttötung neben individuellen auch soziale Motive anhaften, welche die Lebenswirklichkeit kommentieren. Die Frage wird also sein, ob die ausgewählten Dramen neben universellen menschlichen Schicksalen auch eine spezifisch amerikanische Variante des Suizids offenbaren. Zwar ist suizidales Verhalten kein besonders typisches Charakteristikum der US-amerikanischen Gesellschaft, doch durchzieht das Suizidmotiv die gesamte amerikanische Gegenwartsliteratur und nahezu jeder bedeutende Autor hat sich mit dem Thema befasst.61 61 Ein Grund dafür mag im Leitbild des amerikanischen Traums zu finden sein, der Eigenschaften wie Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer, Konkurrenzverhalten und Eigenverantwortlichkeit propagiert und persönliche Defizite oder Niederlagen nicht duldet. Hebach erläutert:
Die Erfahrung des Scheiterns ist in den USA einseitig negativ besetzt und nicht als Teil der Lebenserfahrung akzeptiert – es sei denn nachträglich im Moment des späteren Triumphes, in dem gelassen auf die Hürden zurückgeblickt wird, die einst genommen wurden, was letztlich wieder nur der Demonstration von Stärke und nicht von Schwäche dient.62
Inwieweit die Prominenz des Suizids im zeitgenössischen amerikanischen Drama auf eben jenes leistungsorientierte Umfeld zurückzuführen ist, welches auch die Autoren maßgeblich geprägt haben dürfte, oder aber, wie Niermann behauptet, lediglich der Tatsache geschuldet ist, dass der Suizid ein einfaches, aber bühnentechnisch äußerst wirksames Mittel darstellt, um ein Drama zu einem gelungenen Ende zu führen63, werden die folgenden Kapitel herausarbeiten.
In einem dritten Schritt soll ein Vergleich zwischen den Dramen Aussagen darüber ermöglichen, ob sich das Motiv hinsichtlich seines Gebrauchs oder der damit verbundenen schriftstellerischen Intention verändert hat. Dieser Vorgehensweise liegt die These zugrunde, dass sich ein Vergleich der Werke als fruchtbar erweisen wird, da er – ausgehend vom verbindenden Glied des Suizids – die Legitimität des Verhaltens als Konfliktlösung überprüft und weil er außerdem – ausgehend von der Differenz der Werke – verschiedene Ursachen für das Scheitern der Figuren und verschiedene Bedeutungen des Suizids für Individuum und Gesellschaft zeigt. Zudem ist bisher noch keines der Dramen vorrangig auf das Motiv des Suizids untersucht worden und keines wurde je im Zusammenhang mit einem der anderen Stücke auf diesen Aspekt hin beleuchtet. Das Herauslösen der einzelnen Werke aus dem gewohnten Interpretationskontext und ihre Kombination bei der Textanalyse können so zur Entdeckung von in der Sekundärliteratur bislang vernachlässigten Facetten führen.
Ausgangspunkt für die Untersuchung der Werke ist der Forschungsansatz von Heinz Henseler, der versucht, die soziologische und psychoanalytische Sichtweise miteinander zu verbinden. Das von ihm in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte psychodynamische Modell postuliert ein gestörtes Selbstwertgefühl als Ursache der suizidalen Handlung und beschreibt Suizid als Ausdruck einer narzisstischen Krise, die neben einer bestimmten psychischen Disposition auch durch externe Faktoren begünstigt wird. Seine Theorie gründet (indirekt) auf der Einschätzung Stengels, der bereits 1969 aus der Tatsache, „dass die große Mehrzahl der Menschen jede Art von persönlicher und kollektiver Krise überlebt“, eine „Prädisposition zur Selbstmordhandlung“ abgeleitet hat, die „in der Geschichte des Individuums zu suchen“ sei.64
Henseler kommt dieser Forderung nach. Der suizidale Mensch leidet demnach daran, sein niedriges Selbstwertgefühl nur unzureichend regulieren zu können. Da der Rückgriff auf Kompensationsstrategien wie Idealisierung der eigenen Person oder Realitätsverleugnung bei zum Suizid neigenden Personen eingeschränkt ist, bleibt dem Betroffenen als einzige Möglichkeit der Suizid, um sein Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Da Henselers Theorie die Suizidologie seither massiv geprägt hat, soll sie als Grundlage der folgenden Auseinandersetzung mit dem Suizidmotiv in der amerikanischen Gegenwartsliteratur herangezogen werden. Ziel ist es, die Theorie – soweit möglich – auf die ausgewählten Primärwerke anzuwenden, um neue Einsichten in die psychische Disposition und Motivstruktur der Protagonisten zu erhalten.
Von hier aus lässt sich die These der Dissertation formulieren: Die Arbeit will zeigen, dass wichtige Werke des amerikanischen Gegenwartsdramas vor dem Hintergrund der Selbstwertproblematik beschreibbar und verstehbar sind und dass damit eine übergeordnete Problemstruktur benannt ist, welche die Stücke wesentlich inhaltlich-thematisch und formal bestimmt. Zudem sollen bisher kontrovers diskutierte Forschungsfragen mit Hilfe von Henselers Ansatz neu aufgerollt und bewertet werden.
An dieser Stelle sei noch eine Bemerkung zur Wahl der Gattung Drama erlaubt. Bisherige literaturwissenschaftliche Arbeiten über die Suizidthematik haben sich nahezu ausschließlich auf den Roman konzentriert, obgleich sich literarische Ausgestaltungen des Suizidmotivs grundsätzlich in allen drei Gattungen finden. Die Lyrik ist dabei von geringerer Bedeutung, da hier im Gegensatz zu Drama und Erzählliteratur in der Regel keine fiktive Welt ausgestaltet wird, in der das Schicksal eines lebensmüden Helden dargestellt werden könnte. Auch das Drama scheint nicht in gleicher Weise geeignet zu sein wie der Roman, um den Werdegang suizidaler Personen in aller Ausführlichkeit nachzuzeichnen. Jost merkt an: „(The) preparation for the final deed is usually finer and subtler in the novel than in the drama, where characters necessarily develop in a rather rapid series of events.”65 So ist der Dramatiker einigen Beschränkungen wie dem Fehlen eines Erzählers unterworfen. Diese Unmittelbarkeit der Darstellung bedingt, dass die Handlung im Drama immer performativer Natur ist und die Beweggründe des Suizidenten für seine Tat vor allem über die gesprochene Sprache transportiert werden müssen. Niermann führt aus:
Der Bühnenautor nämlich ist gezwungen, in einem zeitlich begrenzten Rahmen und nur mit den Mitteln des Dialogs und – gegebenenfalls – dem des Monologs ausgestattet, jene Kette von Ereignissen und jenes Netz von Bedingungen zu konstruieren, die den Selbstmord als denouément motivieren und damit für den Zuschauer plausibel erscheinen lassen.66
Während Niermann mit dieser Feststellung Recht zu geben ist, erscheint seine Schlussfolgerung, „dass der Suizid nunmehr als dramatische Hilfskonstruktion fungiert”67, voreilig. Möglicherweise ist in dieser These der Grund zu sehen, weshalb das Suizidmotiv im Drama bisher nicht untersucht wurde. Die vorliegende Arbeit will versuchen, diese Vorbehalte auszuräumen.
Die Dissertation gliedert sich thematisch in zwei Teile: Teil I liefert den theoretischen Rahmen der literarischen Analyse. Er führt in die wissenschaftliche Suizidforschung ein und umfasst drei Schwerpunkte:
Kapitel 2 skizziert, wie sich die gesellschaftliche Wahrnehmung des Suizids seit der Antike verändert hat. Dabei zielt das Kapitel nicht darauf ab, die komplexe Thematik erschöpfend zu behandeln, sondern dient der Einführung und Orientierung des Lesers. Anhand des philosophisch-theologischen, medizinisch-naturwissenschaftlichen und juristischen Diskurses geht es der Frage nach, wie der Suizid aus moralischer und wissenschaftlicher Sicht bewertet wurde bzw. heute noch wird. Ein Exkurs zur US-amerikanischen Suiziddebatte beendet das Kapitel.
Kapitel 3 stellt theoretische Konzepte verschiedener Forschungsdisziplinen vor, die in der Vergangenheit zur Erklärung des Suizids herangezogen worden sind. Dabei bilden der soziologische Ansatz von Émile Durkheim, der psychoanalytische Ansatz von Sigmund Freud und der psychiatrische Ansatz von Erwin Ringel einen Schwerpunkt. Gleichzeitig geht der Abschnitt auch auf neuere Forschungsansätze aus den Bereichen der Neurowissenschaften, der Biochemie und der Verhaltensforschung ein.
Henselers psychodynamisches Modell wird im Weiteren herausgegriffen und in Kapitel 4 ausführlich dargelegt. In diesem Zusammenhang werden auch grundlegende Theorien zum Narzissmus, wie diese beispielsweise von Heinz Kohut oder Otto Kernberg entwickelt worden sind, diskutiert.
Teil II schließlich befasst sich mit dem Suizidmotiv innerhalb der einzelnen Bühnenstücke. Hierbei geht es darum, die Werke auf die These der narzisstischen Krise zu überprüfen. Kapitel 5 bis 10 widmen sich dabei je einem Drama. Wie in der methodischen Vorgehensweise skizziert, erfolgt die Werkuntersuchung in drei Schritten:
1. Analyse der Funktion des Suizidmotivs innerhalb des Einzelwerks
2. Rückschluss auf eine spezifisch amerikanische Verwendung des Suizidmotivs
3. Vergleich zwischen den Dramen hinsichtlich Verwendung und Modifikation des Motivs
Es wird zu zeigen sein, dass die Selbstwertproblematik einerseits die Handlungen der Protagonisten psychologisch fundiert, und dass sie andererseits – anhand des Scheiterns der Protagonisten – Kritik am geistigen Klima der amerikanischen Gesellschaft übt. Der Gefahr der Verallgemeinerung und Schematisierung durch Reduktion des Gegenstands auf das Thema Narzissmus will ich durch eine individuelle Interpretation der Einzelwerke entgegengewirken.
Die Dissertation schließt damit ab, die Anwendbarkeit von Henselers Theorie als Erklärungsmodell für den Suizid im amerikanischen Gegenwartsdrama im Fazit kritisch zu hinterfragen (Kapitel 11). Dabei sollen auch weitere Werke wie beispielsweise Beth Henleys Crimes of the Heart oder Tracy Letts August: Osage Country Berücksichtigung finden.
1Stengel (1969b): S. 2.
2Vgl. Bronisch (2007): S. 8 sowie Zwingmann (1965): S. ix.
3Zwingmann (1965): S. xii. Die Souveränität des Suizidenten wird von einigen Wissenschaftlern jedoch in Zweifel gezogen. Insbesondere die neurobiologische Forschung geht davon aus, dass ein genetisch bedingter ‚Vulnerabilitätsfaktor’ bei suizidwilligen Personen im Sinne eines Tunnelblicks dazu führt, dass diese neben dem Suizid keine Alternative erkennen. So gilt es inzwischen als erwiesen, dass ein niedriger Wert des biochemischen Botenstoffs Serotonin die Frustrationstoleranz senkt, die Impulskontrolle stört und Menschen für suizidale Handlungen anfälliger macht (sogenannte Serotonin-Hypothese). Vgl. Bronisch (2007): S. 64.
4Fenner (2008): S. 8.
5Zwingmann (1965): S. xii.
6Vgl. Stengel (1969b): S. 1.
7Hammer (1975): S. 88.
8So nehmen sich jedes Jahr über 38.000 US-Amerikaner das Leben. Das entspricht 105 Suiziden pro Tag, einem Suizid alle 15 Minuten oder 12 Suizidanten pro 100.000 Einwohnern. Suizid ist damit die zehnthäufigste Todesursache – vor Mord oder AIDS. Vgl. Centers for Disease Control and Prevention (2012): S.1.
9Holderegger (1979): S. 129.
10Améry (1979): S. 52.
11Fletcher (1976): S. 244.
12Hammer (1975): S. 76.
13Für Informationen zur Etymologie der Begriffe Selbstmord und Freitod siehe Karl Baumann: Selbstmord und Freitod in sprachlicher und geistesgeschichtlicher Beleuchtung. 1934. Mit der Terminologie befassen sich ebenfalls Jörn Ahrens: Selbstmord. Die Geste des illegitimen Todes. München, 2001: 51-60; sowie Adrian Holderegger: Suizid und Suizidgefährdung. Freiburg, Schweiz: 1979: 33-37.
14Ahrens (2001): S. 56.
15Vgl. ebd.: S. 55f.
16Deutsches Strafgesetzbuch §211, Abs. 2.
17Baumann (1934): S. 7. Ahrens macht darauf aufmerksam, dass der Begriff ‚Selbst-Mord’ einen doppelten Frevel anklagt: Der ‚Mord’ kennzeichnet die Tat als kriminell; die Tatsache, dass der Täter Hand an die eigene Person legt, potenziere das Verbrechen, denn das Selbst ist „die Inkarnation bürgerlicher Identität; seine Zerstörung verweist auf die Aufkündigung des Gesellschaftsvertrages, der die soziale Ordnung beieinander hält.” Ahrens (2001): S. 52. Allerdings weist Holderegger auch darauf hin, dass der Begriff des Selbstmords historisch gesehen nicht immer mit der Intention der moralischen Verurteilung verwendet wurde. So finden sich insbesondere in der Literatur des 18. Jahrhunderts auch wertneutrale Verwendungen – beispielsweise bei Goethe oder Schiller. Vgl. Holderegger (1979): S. 35.
18Ahrens (2001): S. 52.
19Baumann (1934): S. 32.
20Vgl. Ahrens (2001): S. 52.
21Die folgenden Ausführungen beziehen sich maßgeblich auf folgende Beiträge: Adrian Holderegger: Suizid und Suizidgefährdung. Freiburg, Schweiz, 1979: 38-53; Christa Lindner-Braun: Soziologie des Selbstmords. Opladen: 1990: 28-37; Héctor Wittwer: Selbsttötung als philosophisches Problem. Paderborn, 2003. 27-39; Thomas Bronisch: Der Suizid. München, 2007: 12-18; und Gavin J. Fairbairn: Contemplating suicide. London [u.a.], 1995.
22Sym (1637/1988): S. 2.
23Durkheim (1897/1995): S. 27. Die Frage, ob die Selbsttötung aktiv oder passiv (durch Unterlassen bestimmter lebenserhaltender Maßnahmen) bzw. direkt oder indirekt (durch andere Menschen oder äußere Umstände) herbeigeführt wird, ist insbesondere bei der rechtlichen Bewertung der Beihilfe zum Suizid interessant, für die vorliegende Dissertation jedoch nicht relevant.
24Frey betont in diesem Zusammenhang, dass ein Suizid, um als solcher gelten zu können, zwar stets vom Betroffenen beabsichtigt, nicht aber notwendigerweise von diesem herbeigeführt werden muss. Denkbar wäre auch ein Fall, in dem der Lebensmüde einen Kampf provoziert und sich dann bereitwillig von seinem Gegenüber töten lässt. Vgl. R. G. Frey: „Suicide and Self-Inflicted Death.” In: Suicide. Hrsg. John Donnelly. Amherst, 1998: 127-135. Mit einer solchen Situation haben wir es in Albees The Zoo Story zu tun (siehe Kapitel 6).
25Holderegger (1979): S. 39.
26Baumann (2001): S. 2.
27So spricht beispielsweise Menninger von einer „chronische(n) Selbstzerstörung“ im Gegensatz zu den „plötzlichen, akuten Manifestationen von Selbstzerstörung” und unterstellt einen unbewussten Todeswunsch. Menninger (1938/1974): S. 103 sowie Kapitel 3.
28Vgl. Baumann (2001): S. 2. Noch problematischer ist es, den Suizid vom Opfertod zu unterscheiden. Hier ist die Motivation des handelnden Subjekts relevant. So stirbt der Märtyrer für ein höherwertiges Gut; der Tod ist hier nicht Zweck an sich, sondern Mittel zu einem höheren Zweck. Für weiterführende Informationen siehe Suzanne Stern-Gillet: „The Rhetoric of Suicide.” In: Suicide. Hrsg. John Donnelly. Amherst, 1998: 118-126.
29Baumann (2001): S. 3. Sehr ähnliche Definitionen finden sich bei Lindner-Braun (1990): S. 30 und Fenner (2008): S. 11.
30Stengel merkt an: „Dieser Sprachgebrauch ist verständlich, da der Ausgang einer Selbstmordhandlung oft nur vom Zufall abhängt. [...] Es ist also berechtigt, Selbstmord und Selbstmordversuch als identische Handlung mit unterschiedlichem Ausgang zu betrachten.” Stengel (1969b): S. 21f. So vergleicht Stengel die Suizidhandlung mit einem ‚Lotteriespiel’, da in beiden Fällen der Ausgang ungewiss ist. Vgl. Stengel (1969b): S. 28.
31Vgl. beispielsweise Tolhurst: „I propose to defend the view that a person has committed suicide if and only if that person has brought about his death intentionally.” Tolhurst (1998): S. 111. Ähnlich schlussfolgern Graber (1998): S. 156; Lindner-Braun (1990): S. 31; Frey (1980): S. 36 oder Wreen (1988): S. 1-19.
32Stengel ist einer der ersten, der nachweislich Unterschiede zwischen Suizid und Suizidversuch bestätigt hat. So sind die Gruppen erstens unterschiedlich groß (wobei die Anzahl der Suizidversuche die Anzahl der Suizide um ein Vielfaches übersteigt), zweitens sind sie hinsichtlich Alter und Geschlecht unterschiedlich zusammengesetzt (wobei in der Gruppe der Suizidenten mehr Männer und mehr ältere Personen zu finden sind), drittens hängt die Wahrscheinlichkeit, zur einen oder anderen Gruppe zu gehören, insbesondere von der Intervention Dritter ab, und viertens bedeutet der Suizidversuch im Gegensatz zum Suizid nicht die Beendigung des Lebens, sondern ein bedeutender Einschnitt, der häufig mit entscheidenden Veränderungen der Lebenssituation einhergeht. Vgl. Stengel (1965): S. 126ff. Schlieffen nennt als weitere wichtige Unterschiede, dass Menschen, die einen Suizidversuch unternehmen, eher ‚weiche’ Methoden wie Tabletteneinnahme wählen und hier interpersonale Gründe überwiegen – im Gegensatz zu ‚harten’ Methoden und intrapersonalen Gründe beim Suizid. Vgl. Schlieffen (1969): S. 19f. Aufgrund dieser markanten Unterschiede spricht Holderegger von „Verhaltensweisen mit einer je eigenen psychischen Konstellation”. Holderegger (1979): S. 47. Ähnlich urteilen Schmidtke und Schaller, wenn sie festhalten: „Entsprechend kann angenommen werden, dass sich das Arrangement von Suizidversuchen mit der Intention, Personen zu beeinflussen, von dem der Suizidversuche unterscheidet, die als letal intendiert beurteilt werden.” Schmidtke/Schaller (2002): S. 89. Stengel hingegen betont die Notwendigkeit, beide Gruppen nicht nur getrennt, sondern auch gemeinsam zu erforschen. Vgl. Stengel (1965): S. 126 sowie ders. (1969b): S. 109.
33Fairbairn (1995): S. 60.
34Ebd.: S. 72.
35Stengel (1969a): S. 28.
36Henseler (1974): S. 32.
37Baechler (1975/1981): S. 22. Baechlers Ausführungen werden an dieser Stelle stark verkürzt wiedergegeben. Eigentlicher Schwerpunkt seiner Arbeit stellt eine Suizidtypologie dar, die für die Zwecke dieser Dissertation jedoch von geringem Interesse ist. Für nähere Informationen vgl. Jean Beachler: Tod durch eigene Hand. Frankfurt (u.a.), 1975/1981: 57-162.
38Baechler (1975/1981): S. 22.
39Ebd.: S. 24.
40Ebd.: S. 24.
41Ebd.: S. 25.
42Ebd.: S. 24.
43Drei weitere interessante Arbeiten zur Definition des Suizids seien zumindest erwähnt: Für Kupfer liegt ein Suizid dann nicht vor, wenn der Betroffene erwartet, ohnehin bald zu sterben (da er dem Tod hier lediglich vorauseilt) oder wenn der Betroffene eine Handlung ausführt, von er zwar annehmen muss, dass sie ihm den Tod bringt, diesen aber nicht beabsichtigt. Vgl. Joseph Kupfer: „Suicide: Its Nature and Moral Evaluation.” In: Suicide. Hrsg. John Donnelly. Amherst, 1998: 162-174. Windt versucht dem Konzept des Suizids näher zu kommen, indem er anstelle einer festen und engstirnigen Definition ein Set an notwendigen und hinreichenden Bedingungen vorschlägt, anhand derer jeder Einzelfall separat zu prüfen ist. Allerdings gesteht Windt selbst ein, dass die von ihm erarbeiteten Kriterien lediglich als Anhaltspunkte fungieren, aber noch kein Beweis dafür sind, dass es sich bei der zu untersuchenden Handlung um einen Suizid handelt. Peter Y. Windt: „The Concept of Suicide.” In: Suicide. Hrsg. M. Pabst Battin und David J. Mayo. New York, 1980: 39-47. Martin kritisiert den Versuch, zwischen moralisch verwerflichen und moralisch nichtverwerflichen Suizidhandlungen zu differenzieren. Diese Herangehensweise führt seiner Auffassung nach zu widersprüchlichen und inkonsistenten Ergebnissen, die daher rühren, dass die Autoren den Suizid einerseits kategorisch verurteilen wollen, andererseits jedoch davon überzeugt sind, dass manche Suizide Respekt verdienen. Dieser Widerspruch ist laut Martin nicht aufzulösen: „(I)t seems to me that one must either (implausibly) forbid all self-killing or allow self-killing when the extrinsic aims are good enough to override [...] the intrinsic badness of the act” Martin (1980): S. 63. Jedes andere Vorgehen ist willkürlich und daher abzulehnen. Vgl. Robert M. Martin: „Suicide and Self-Sacrifice.” In: Suicide. Hrsg. M. Pabst Battin und David J. Mayo. New York, 1980: 48-68.
44Vgl. Wittwer (2003): S. 116 und Fenner (2008): S. 15.
45Vgl. Wittwer (2004): S. 69 und ders.: (2003): 21f.
46Fenner (2008): S. 15.
47Fenner (2008): S. 15.
48Vgl. Zwingmann (1965): S. x.
49Wode (2007): S. 17.
50Vgl. ebd.: S. 278.
51Dischner zitiert in Wode (2007): S. 9.
52Vgl. beispielhaft Hans Jürgen Baden: Literatur und Selbstmord. Stuttgart, 1965; oder Gerd Raeithel: Selbstmorde und Selbstmordversuche amerikanischer Schriftsteller. 1966.
53Vgl. Arthur Lawrence: Suicide in mind. Sussex, 2009; und Holly Laird: „Reading ‚Virginia’s death’ – A (post)traumatic narrative of suicide.” In: Virginia Woolf and trauma. Hrsg. Suzette A. Henke. New York, 2007.
54Vgl. Pilar Baumeister: Wir schreiben Freitod. Frankfurt am Main [u.a.], 2010.
55Vgl. Alexander Graf: Das Selbstmordmotiv in der russischen Prosa des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main, 1996; Heinz Niermann: Untersuchungen zur Suizidthematik im französischen Roman zwischen 1925 und 1945. Münster, 1988; Gerit Langenberg-Pelzer: Das Motiv des Selbstmords in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. 1995; Harald Neumeyer: Anomalien, Autonomien und das Unbewusste. Göttingen, 2009; Julia Schreiner: Jenseits vom Glück. München, 2003. Weitere Beispiele sind: Heiko Buhr: „Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun?” Würzburg, 1998; Bernard Deforge: Le festival des cadavres. Paris, 1997; Timothy Hill: Ambitiosa mors: suicide and the self in Roman thought and literature. New York [u.a.], 2004; Dagmar Hofmann: Suizid in der Spätantike. Stuttgart, 2007; Eric Langley: Narcissism and suicide in Shakespeare and his contemporaries. Oxford [u.a.], 2009; Irina Paperno: Suicide as a cultural institution in Dostoevsky’s Russia. Ithaca [u.a.], 1997; sowie Michael Zimmermann: Suicide in the German novel 1945-89. Frankfurt am Main [u.a.], 2002.
56Vgl. Christian Katzschmann: Selbstzerstörer. Köln [u.a.], 2003.
57Ringel (1981): S. 9. Vgl. Erwin Ringel: Das Leben wegwerfen? Reflexionen über Selbstmord. Wien; Freiburg (Breisgau), 1981.
58Alvarez (1972): S. 166. Vgl. Alfred Alvarez: The Savage God. London, 1972.
59Vgl. Kai Wode: „Sich selbst das Leben nehmen”. Hannover-Laatzen, 2007.
60Vgl. Dirk Lange: Warum will Frankensteins Monster sterben? Heidelberg, 2005.
61Beispielhaft seien hier Tennessee Williams A Streetcar Named Desire, Eugene O’Neills The Iceman Cometh und Long Day’s Journey into Night, Arthur Millers All my Sons, Sam Shepards Suicide in Flat B und Lilian Hellmans The Children’s Hour angeführt, die allesamt mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet bzw. dafür nominiert wurden.
62Hebach (2006): S. 200f.
63Vgl. Niermann (1988): S. 48.
64Stengel (1969a): S. 42.
65Jost (1984): S. 237.
66Niermann (1988): S. 48.
67Ebd.: S. 48.
Der Selbstmord ist ein Ereignis der menschlichen Natur, welches, mag auch darüber schon so viel gesprochen und gehandelt sein als da will, doch einen jeden Menschen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder einmal verhandelt werden muss.
Johann Wolfgang von Goethe in Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit
Es kann nicht Gegenstand der vorliegenden Dissertation sein, einen historischen Abriss über die Bewertung des Suizids seit der Antike zu geben. Diese ist von anderen Autoren umfangreicher erforscht worden, als es im Rahmen dieser Arbeit möglich wäre.68