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Peter wächst bei seinem strengen Großvater in Ungarn auf. Doch als Peters Vater Diplomat in Berlin wird, holt er ihn zu sich. Er nimmt ihn mit auf Partys und ins Theater. Eine wunderbare Fassade, die den Blick auf die drohende Gefahr durch den Nationalsozialismus verstellt. Peter weiß nicht einmal, dass er Jude ist. Erst in der Reichskristallnacht wird ihm die Geschichte seiner Familie erzählt. Als sich die Illusion nicht länger aufrechterhalten lässt, muss Peter zurück nach Ungarn. Jede Woche trifft dort ein Brief des Vaters ein. Doch was wirklich geschehen ist, erfährt Peter erst viel später. Der einzige Jugendroman von Irene Dische: ausgezeichnet mit dem deutschen Jugendliteraturpreis.
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Peter wächst bei seinem strengen Großvater in Ungarn auf. Doch als Peters Vater Diplomat in Berlin wird, holt er ihn zu sich. Er nimmt ihn mit auf Partys und ins Theater. Eine wunderbare Fassade, die den Blick auf die drohende Gefahr durch den Nationalsozialismus verstellt. Peter weiß nicht einmal, dass er Jude ist. Erst in der Reichskristallnacht wird ihm die Geschichte seiner Familie erzählt. Als sich die Illusion nicht länger aufrechterhalten lässt, muss Peter zurück nach Ungarn. Jede Woche trifft dort ein Brief des Vaters ein. Doch was wirklich geschehen ist, erfährt Peter erst viel später. Der einzige Jugendroman von Irene Dische: ausgezeichnet mit dem deutschen Jugendliteraturpreis.
Irene Dische
Zwischen Zwei Scheiben Glück
Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser
Carl Hanser Verlag
Bis zum 2. März 1944, was eigentlich noch gar nicht so lange her ist, klagte Dr. Nagel, ein unnahbarer, strenger Kleinstadtarzt, gern darüber, dass sein heißblütiger Sohn Laszlo für ihn ein Fremder sei.
»Laszlo ist ein Heißsporn«, murmelte er zum Fenster hinaus in den neuen Morgen, während sich das Hausmädchen neben ihm, das mit dem Knoten seiner braunen Fliege kämpfte, ein wenig duckte.
»Laszlo riskiert zu viel«, sagte er zu der schweren Holztür seines Arbeitszimmers, bevor er eintrat und sein Tagwerk begann.
»Laszlo hat nichts von dem kühlen Verstand mitbekommen, den die Nagels immer hatten«, brummte er in seine Teetasse, wenn er, wie jeden Nachmittag, in seiner Bibliothek saß.
»So ist es immer gewesen mit deinem Vater. Da kannst du froh sein, dass ich mich um dich kümmere«, sagte er zu seinem Enkel Peter. »Laszlo Nagel hat kein Talent zur Mäßigung.« Dr. Nagel seufzte, von den eigenen Worten gerührt, und streichelte dem Jungen über den Kopf. Der Junge kämpfte mit den Tränen.
Vor nicht allzu langer Zeit war Dr. Nagels draufgängerischer Sohn, der damals noch in Budapest studierte, eines Tages zu Besuch in seine Heimatstadt gekommen. Er blieb nicht lange, aber lange genug, um sich in die sommersprossige, rothaarige Dalia zu verlieben, die Nichte eines Nachbarn, die für längere Zeit aus Deutschland zu Besuch gekommen war. Sie war sechzehn, er zwanzig, und er sagte zu ihr, der Anblick einer so hübschen Kombination von Augen, Nase und Mund könnte ihn blind machen. Der Klang ihrer munteren Stimme könnte ihn taub machen und ihre weiche Hand verrückt. Er zitterte, während er das sagte. Aber kalt war ihm nicht. Sogar sein schwarzes Haar fühlte sich immer warm an.
Dalia hatte keine Chance, ihr eigenes Herz zu befragen — Laszlo überwältigte sie mit seinem. Als er sie ein paar Wochen später wieder besuchte, ließ sie sich von ihm zu einem Kuss in den Garten lotsen und fing dann an zu weinen. Während ihr die Tränen über die Sommersprossen liefen, erklärte sie ihm, schon sein erster Besuch sei sehr fruchtbar gewesen; sie sei schwanger. Er tröstete sie nicht, sondern stürmte nach Hause in sein Zimmer, lehnte sich zum Fenster hinaus und zündete mehrere Feuerwerksknaller, die er sich für einen besonderen Anlass zurückgelegt hatte. An die Hochzeit der beiden konnte sich später der ganze Ort erinnern, weil es so ein fröhliches, ausgelassenes Fest gewesen war. Anscheinend war halb Deutschland in die kleine Stadt geströmt. Selbst Dr. Nagel hatte sich offenbar gut amüsiert.
Dalia zog mit Laszlo nach Budapest. An ihrem siebzehnten Geburtstag kam der rothaarige Peter zur Welt. Dr. Nagel war ein paar Wochen vorher gekommen, um bei der Geburt des Kindes dabei zu sein. Er war ein ausgezeichneter Mediziner und wollte sein Enkelkind keinem anderen Arzt überlassen. Das Baby gefiel ihm. »Ein ruhiges Kind«, sagte er erleichtert. »Es kommt eher auf die Mutter als auf den Vater.« Er hatte den Geldbetrag, den er Laszlo regelmäßig zukommen ließ, schon verdoppelt, jetzt bezahlte er auch noch ein Kindermädchen und eine Haushaltshilfe. Laszlo schloss gerade sein Jurastudium ab. Es war für Dr. Nagel eine Enttäuschung gewesen, dass sein einziger Sohn nicht Arzt hatte werden wollen, aber er beklagte sich nur manchmal darüber und war schließlich vollends besänftigt, als Laszlo mit etwas Glück einen gut bezahlten Posten im diplomatischen Dienst fand. Es war aber nicht nur Glück gewesen. Laszlo Nagel besaß auch Charme und gute Manieren, ein freundliches Gesicht und die Energie eines Optimisten. In einer großen Behörde würde er gut zurechtkommen. Dr. Nagel wollte seinem Sohn zeigen, dass er zufrieden mit ihm war, und machte ihm ein imposantes Geschenk: ein Auto.
Das Auto war schnell, schwarz und glänzend. Laszlo sagte zu Dalia, sie solle dem Kleinen zum Abschied einen Kuss geben, sie würden einen Ausflug mit dem Wagen machen. Er fuhr sehr schnell, und als seine Frau vor Schreck die Augen zumachte, nahm er ihre Hand und drückte sie. »Er ist in allem zu leidenschaftlich«, hatte Dr. Nagel immer geklagt. Vielleicht lag eine Glasscherbe auf der Straße. Einer der Reifen platzte. Mit der linken Hand allein konnte Laszlo das Lenkrad nicht festhalten. Der Wagen prallte gegen einen Baum. Auch Dalias Hand hatte er nicht fest genug gehalten: Dalia wurde getötet. Er selbst kam mit ein paar Beulen und Schrammen davon.
Dalias Tod machte Laszlo Nagel für eine Weile sehr traurig. Aber dann schlug sein Naturell wieder durch. Er konnte es nicht ändern, er liebte das Lebendigsein. In Budapest galt er schon bald als lustiger Witwer. Er war auch ein lustiger Vater. Manchmal nahm er einen Tag frei, um mit seinem Sohn zu »spielen«. So nannte er es. Andere hätten es eher »Herumtreiben« oder »eine Tour machen« genannt. Er machte mit Peter Ausflüge in Stadtviertel, in die ehrbare Erwachsene keinen Fuß setzten. Er nahm ihn auf die Schulter und drängte sich durch die Menschenmenge, um bei einem Hahnenkampf zuzusehen. Er nahm ihn mit ins oberste Gericht und zeigte ihm anschließend das größte Gefängnis. Auf der Straße plauderte er mit Fremden, die sich seit Monaten nicht rasiert oder gewaschen hatten, oder mit Leuten, die aussahen, als wollten sie gerade eine Bank ausrauben. Gern sagte er: »Ich bin ein Glückspilz.«
Sein Sohn glaubte ihm alles, was er sagte, auch die Geschichte, dass er ihn in einem Spezialgeschäft für rothaarige Kinder gekauft habe. Als Peter ihn bat, dort noch eine Schwester oder einen Bruder zu kaufen, war er sofort einverstanden. Er nahm Peter mit in dasselbe fremde, staubige Städtchen, wo er angeblich vor ein paar Jahren ihn gekauft hatte. Nur konnte er dummerweise den Laden nicht wieder finden, also gingen sie stattdessen dort auf die Kirmes, das war genauso gut.
Im Frühjahr, als die Heuschrecken in solchen Massen auftraten, dass die Leute von einer Landplage sprachen, beobachtete Laszlo sie ganze Nachmittage lang; er konnte Männchen und Weibchen unterscheiden. Peter sah zu, wie er in den Büschen des kleinen Parks an der Ecke herumstöberte und seine feine Jacke auf dem Boden hinter sich herschleifte.
Peter wusste, dass sein Vater vor nichts Angst hatte, weder vor zähnefletschenden Hunden, von denen sie in irgendeinem Dorf angebellt wurden, noch vor den tadelnden Bemerkungen seines eigenen Vaters, der einmal im Monat übers Wochenende zu Besuch kam und jedes Mal schon am ersten Abend sagte: »Laszlo, das ist unmöglich.«
An diesen Abenden gab Laszlo dem Kindermädchen frei und brachte Peter selbst nach oben zu Bett, obwohl es Dr. Nagel missbilligte. So etwas sei Sache des Personals. Aber Dr. Nagel konnte seinen Sohn nicht davon abhalten, und während Laszlo Peter beim Zähneputzen half, wartete der alte Mann ungeduldig auf die Fortsetzung eines Gesprächs über Laszlos Unzulänglichkeiten. Als sie aus dem Badezimmer traten, legte Laszlo den Kopf schief und horchte auf die Schritte des alten Mannes, der unten im Wohnzimmer hin und her ging. Er runzelte die Stirn, legte sich flach auf den Boden, presste ein Ohr an die Dielenbretter und winkte Peter, er solle das Gleiche tun. Zusammen lagen sie flach auf dem Bauch und lauschten.
»Hörst du deinen Großvater?«, fragte Laszlo. »Wie er hin und her läuft? Kummer Kummer Kummer. Unseretwegen. Ah. Hörst du das Glas? Er ist stehen geblieben und nimmt einen Schluck Kognak. Recht so. Es ist kalt draußen. Und jetzt? Wieder hin und her.«
Laszlo sprang auf, riss seinen Sohn in die Höhe und sagte: »Was liegst du da auf dem kalten Fußboden?« Dann warf er den Jungen ohne viel Umstände in sein Bett, und Peters Gekicher tönte durch das ganze Haus. Die Schritte unten hielten an. »Oh, Himmel, er belauscht uns«, sagte Peters Vater. »Ich bin verloren! ›Vor dem Schlafengehen soll man mit Kindern nur ruhige Dinge machen‹, wird er mir sagen.«
Er setzte sich auf die Bettkante, nahm die Hand seines Sohnes, sah ihm aufmerksam ins Gesicht und flüsterte: »Auf jeden Fall weiß ich, dass du deinen eigenen Kopf haben wirst, wenn du groß bist. Du wirst vor nichts Angst haben. Nicht einmal vor dem Sterben. Aber vor allem wirst du gern leben. O ja, du wirst das Leben genießen. Außerdem hast du klebrige Finger. Wir haben vergessen, dir die Hände zu waschen. Aber das macht jetzt nichts.«
Unten begann Dr. Nagel wieder hin und her zu laufen. Laszlo strich Peter über die Stirn, sah ihm in die Augen und redete flüsternd weiter, über Kunst und Architektur und dass sich manche Leute wie Schweine benähmen, aber so etwas zu sagen wäre den Schweinen gegenüber eigentlich nicht nett. Peter merkte, dass die seltsamen Wörter an der fröhlichen Miene des Vaters nichts änderten, und schlief in der Wärme von Laszlos liebevollem Blick ein.