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In einer rasant erzählten, ebenso komischen wie furchtlosen Familiensaga verleiht Irene Dische ihrer Großmutter eine ganz eigene Stimme. Die gute Katholikin Elisabeth Rother kennt kein Tabu, ganz egal, ob es sich um ihr Ehebett, um die Juden, um den lieben Gott oder um die Gestapo handelt. Allerdings gibt es keine Katastrophe, nicht einmal die Flucht nach Amerika oder der Zweite Weltkrieg, die sie so sehr beschäftigt wie ihr weitverzweigter Clan. Irene Dische löst auf virtuose Weise ein ewiges Problem der Literatur: das der Autobiographie. Bekanntlich verstrickt sich jeder in ein Lügenknäuel, der sein eigenes Leben beschreiben will. Aus diesem Dilemma befreit sich die Autorin, indem sie sich dem gnadenlosen Blick ihrer überlebensgroßen Großmama aussetzt.
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Seitenzahl: 526
Irene Dische
Großmama packt aus
Roman
Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser
Hoffmann und Campe Verlag
Daß meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen. Er hat seine kleinen Männer durch Heldenhaftigkeit ermordet. Darüber später mehr. Jedenfalls brachte er nur ein Kind zustande. Und dieses eine hatte das falsche Geschlecht. Wir versuchten es noch mal und noch mal. Er pflanzte sich bei mir ein und ackerte los, strengte sich an, schnaufte und schwitzte – er war kein Faulpelz. Nachher blieb ich auf dem Rücken liegen. Ich streckte die Beine in die Luft, legte die Sohlen aneinander und betete mit den Füßen.
Gott erhörte meine Gebete nicht. Als unsere Bemühungen fünf Jahre lang nichts gefruchtet hatten und unser Kind schon in die Schule ging, sagte ich: »Carl, nach den Geboten der Kirche tut man das, um Kinder zu kriegen. Und wenn es nicht ums Kinderkriegen geht, dann läßt man es bleiben.«
Er hatte alle möglichen Einwände in petto. Gott habe die Zeugung zusammen mit dem Gebet geschaffen, als eine Form mit Inhalt oder ohne, als Ritual, das man so oft wie möglich wiederholen soll. Carl war sehr gläubig, und ich liebte ihn. Ich glaubte ihm, was er sagte – obwohl, natürlich nicht ganz. Eines Tages, als ich nicht wollte, sagte er: »Bei den alten Juden gab es ein Gebot, sie sollten sich gerade am Sabbat zueinander legen, weil der Höhepunkt sie Gott am nächsten brächte.«
»Juden!« schnaubte ich.
»Nicht alles an den Juden ist schlecht«, entgegnete er. Doch dann wurde er kleinlaut, was selten vorkam. Es war ein Ausrutscher gewesen. Ich schmollte eine Zeitlang und ließ ihn dann wieder. Aber ich setzte immer mehr Fett an. Bald war so viel von mir da, daß man kaum noch sagen konnte, wo ich anfing und wo aufhörte. Das entmutigte ihn, und er ließ mich in Ruhe. Selbst einen Chirurgen kann der menschliche Körper manchmal noch überraschen.
Als wir uns kennenlernten, war ich jedenfalls bildschön. In meiner Familie galt ich immer als die Schönste weit und breit; nach mir ging es bergab. Das klingt vielleicht eitel – aber ich bin bloß objektiv. Zunächst einmal sagten immer alle, ich und mein Lieblingsbruder Otto seien entzückend. Daran änderte sich auch nichts, als wir in die Pubertät kamen. Und zweitens bin ich nicht blind: wir sahen wirklich aus wie germanische Götter, beide mit dichtem, kastanienbraunem Haar, feingeschnittener Nase, großen, blauen Augen, die wie Weltkugeln leuchteten, und fast vollkommen fleischlosen Lippen. Man konnte deutlich erkennen, daß unsere Familie Beziehungen zum Adel hatte.
Heutzutage gilt das ja nichts mehr, vor allem nicht in weniger zivilisierten Gegenden wie New Jersey. Aber es sollte zählen. Denn Adel, das sind Leute – eine Kette von Leuten, die ein Gefühl von Würde und Wert von einer Generation an die nächste weitergeben, und zwar behutsam, damit nichts verlorengeht. Mein Ururgroßonkel hieß Joseph von Görres. Ich will mich hier nicht mit Erklärungen darüber aufhalten, wer das war. Aber in meiner Jugend gehörte sein Name zur Allgemeinbildung, von den unzähligen Straßen und Plätzen, die ihn trugen, gar nicht zu reden. Und alle, die uns kannten, wußten, daß wir mit Görres verwandt waren. Zugegeben, nicht direkt: Er war mit einer entfernten Tante verheiratet, einer von Lasaulx, auch das ein vornehmer Name. Dann folgten Generationen von Ärzten, Anwälten, Ingenieuren, Prälaten. Nicht alle waren deutsch – manche auch holländisch, andere französische Hugenotten –, aber fast alle waren katholisch. Mit der Zeit gerieten die Gierlichs, meine Familie, immer mehr ins Bürgertum, aber tiefer sind wir nie gesunken. Zu verdanken hatten wir das natürlich den Frauen, die darauf achteten, daß die Männer keine Fisimatenten machten.
Es ist Frauensache, dafür zu sorgen, daß die Familie ihr Niveau hält. Männer sind nicht stark genug. Die Frauen müssen darauf achten, daß sie nicht aus der Reihe tanzen, auch nicht aus der Ahnenreihe. Das hat mir meine Großmutter beigebracht. Mein bloßes Auftreten müsse, sobald ich irgendwo erscheine, die Männer veranlassen, unwillkürlich an ihre Hose zu greifen und zu prüfen, ob sie auch zugeknöpft ist. Als sie mir das erklärte, war ich sieben.
Die Frauen wurden von klein auf zur Umsicht bei der Wahl ihrer Männer erzogen. Meine Großmutter zum Beispiel hat einen reichen Adeligen abgewiesen, weil er faul war. Er besaß ein Schloß, aber er hatte keinen Posten. Statt dessen heiratete sie einen tüchtigen Ingenieur, der sie ein paar Jahre später damit belohnte, daß er die Eisenbahnlinie von Berlin nach Sankt Petersburg baute. Zar Alexander war nämlich so dankbar, daß er meiner Großmutter eine ganze Schatulle mit Onyx- und Brillantschmuck schenkte – große Stücke, die man wirklich als »Familienjuwelen« bezeichnen kann. Das Wort Juwelen mag ich zwar nicht besonders – wegen der ersten Silbe –, aber das, was es bezeichnet, hat mir in meinem Leben immer viel Freude gemacht. Ich habe schließlich auch die von meiner Großmutter geerbt, habe sie gehegt und gehütet, und Jahrzehnte später habe ich mein Leben aufs Spiel gesetzt, das großzügige Geschenk Zar Alexanders an ein sicheres Ufer zu schmuggeln – bloß damit meine Enkeltochter Irene sie dann für einen Apfel und ein Ei bei Christie’s versteigern läßt, unter derart unwürdigen Umständen, daß sich eine schlichte Vertreibung dagegen wie ein Sonntagsausflug nach Chadwick Beach ausnimmt. Darauf komme ich noch.
Denn diese schauderhafte kleine Geschichte betrifft meine Enkeltochter, das ganze Wie und Warum ihres Lebens, eine Art Beichte, die ich ihr aufschreiben will, weil auch sie in ihrem Leben einen Punkt erreicht hat, wo sie dringend in ihrem Gewissen aufräumen muß. Auf dem lastet nämlich so einiges. Aber daran ist sie nicht allein schuld. Sie hatte schlimme Vorbilder, ihre Mutter und ihren Vater. Und in Sachen Moral war sie schon von Natur aus nicht gut gerüstet. Es sieht tatsächlich so aus, als seien die schlechten Eigenschaften, die sich mit der Zeit in der Familie zusammengebraut und fortgepflanzt haben, am Ende allesamt bei ihr gelandet. Darauf komme ich noch, aber nicht, um sie zu entschuldigen. Denn man kann sehr wohl damit fertig werden. Es kommt nur darauf an, aus dem, was man hat, das beste zu machen. Trotzdem, ihr Hintergrund muß beschrieben werden, damit man den Vordergrund begreift. Wo war ich stehengeblieben?
Mein Aussehen.
Auf unserem Verlobungsphoto sehe ich aus wie eine Märtyrerin, die im nächsten Moment einem Löwen zum Fraß vorgeworfen werden soll. Mein künftiger Gemahl hält mich im Arm, und sein wildes Tier rempelt schon gegen die stofflichen und zeitlichen Hindernisse, die noch zwischen uns liegen: Hose und Hochzeitsfeier. Bald würde es losgelassen werden. Carls Augen waren noch größer als meine, aber schwarz. Auch seine Nase war groß und gebogen, und er hatte schwere Knochen. Sein Tier würde nicht klein sein.
Ich will damit nicht sagen, daß sich Carl jemals anders als vollkommen ehrenwert benommen hätte. Bei unserer Hochzeit trug er Uniform. Mit seinen Heldenorden und dem Säbel am Gürtel sah er aus wie der deutsche Edelmann par excellence. Seine moralischen Referenzen waren untadelig. Trotzdem war es natürlich ein Fehler, ihn zu heiraten. Ich zog die Familie damit nach unten, bescherte ihr eine regelrechte Bruchlandung. Liebe macht leichtsinnig. Ich stritt mich mit den Eltern. Er sei zu unserem Glauben übergetreten und überhaupt doppelt so gütig wie ich – zu ihm komme die Güte wie von selbst, während ich mich ihretwegen immer anstrengen müsse (darauf heftiges Nicken meiner Eltern) –, und deshalb sei er als Ehemann eine vollkommen respektable Wahl. Wenn nicht er, dann keiner – wie ich es mir immer geschworen hatte, bis ich ihn kennenlernte, den Herrn Doktor Rother.
Es war in einem Feldlazarett gewesen, während einer Beinamputation. Ich war eine der Schwestern im keimfreien Kittel, das Haar unter einem spitzen Häubchen verborgen. Er war noch tiefer vermummt. Er trug eine Maske. Wie groß seine Nase war, sah ich erst später. Ich sah seine schwarzen Augen. Und die regsamen, anmutigen Hände, die die Säge mit solcher Vertrautheit führten. Er schnitt und schnippelte und nähte, alles sehr flink. Seine Hände waren breit und muskulös, und die langen Finger liefen in schmalen Spitzen mit gepflegten Nägeln aus. Als der Stumpf gründlich gesäubert war und wie eine riesige Salami auf dem Operationstisch lag, stieß er einen Seufzer aus, trat einen Schritt zurück und sah mich an.
Eine Zeitlang wollte ich nichts von ihm wissen. Im Rheinland, wo ich herkam, hatte ich schon alle in Frage kommenden Jungen abgewiesen. Aber dann ließ ich mich doch von ihm küssen. Es war gar nicht so übel. Er war sehr sauber. Er schenkte mir einen Ring. Ich gab ihn zurück. Er schenkte mir noch einen.
Sein Vater besaß eine Eisenwarenhandlung in einer oberschlesischen Kleinstadt. Die Männer in der Familie trugen Käppchen, die Frauen Perücken. Ich nahm den Ring an. Ich sagte es meinen Eltern und Geschwistern. Mein Bruder Otto sagte nichts. Wirklich – keinen Ton. Er sprach nicht mehr mit mir. Peter, mein jüngster Bruder, verkündete, er mache sich Sorgen. Bis dahin war immer er das schwarze Schaf in der Familie gewesen, hatte nicht mal das Abitur geschafft, und es sah so aus, als würde er sich als Handwerker oder Arbeiter durchschlagen müssen. Doch jetzt war er im Vergleich zu mir plötzlich ein großes Licht. Er genoß es, daß nun zur Abwechslung einmal ich in der Klemme steckte, und als ich nach Hause kam, um mit den Eltern über die Hochzeit zu sprechen, tat er so, als wolle er mir meine »dumme Idee« ausreden. Es amüsierte mich, wie er mir bei einem eilig angesetzten Abendessen einen Vortrag hielt, und mein Lächeln brachte ihn in Rage. Seine Schreie – »Du kleine Idiotin!« – spritzten in die Vorspeise, eine köstliche Milchkaltschale. Es war Hochsommer. Kalte Suppe, auf der kleine Eisberge aus Eierschnee schwammen. Meine Schwestern sahen mich nur an, und ihre Seelen bekamen Falten vor lauter Kummer: Verrat. Gemeinsam waren wir durch das rheinische Bürgerleben getanzt, hatten Bälle besucht und unsere ersten Bouquets getrocknet, hatten mit Offizieren und Akademikern und anderen Vertretern der höheren Männlichkeit geschäkert, wenn sie denn dazu einluden, und hatten gleichzeitig immer wieder den Schwur aus frühen Kindertagen bekräftigt, daß wir unsere Unschuld bewahren und dafür ein interessantes Leben führen würden. Meine Schwestern waren über meinen Entschluß so erschüttert, daß sie nichts dagegen sagten. Und ich bekam meinen Willen. Eine Woche nach Carls Taufe heiratete ich ihn und folgte ihm in die abgelegene Ecke des Reiches, in der er aufgewachsen war.
Was er mir zur Entschädigung anbot, ließ ich mir gefallen – einen Boxer, einen Dackel und die größte Villa im Ort. Sie war größer als das Haus der Gierlichs in Boppard mit seinem Blick über das Rheintal, hatte hohe Stuckdecken, schöne Parkettböden, eine riesige Küche, einen Dienstbotentrakt, ein Kinderzimmer und drei Toiletten, zwei für die Herrschaft, eine für das Personal. Noch eine Entschädigung – ich bekam ein hübsches Zimmer mit einem Kanapee. Für jede Jahreszeit hatte ich andere Überzüge. Pastellfarben im Frühling und Sommer, feierliches Braun und Grau im Herbst und dunkle Rot- und Grüntöne im Winter. Auf einem kleinen Tisch lagen meine Bücher und die Plätzchen, die ebenfalls mit den Jahreszeiten wechselten. Wenn ich mich auf den Frühling freute, blumige Anisplätzchen; im Sommer luftige Waffeln und Löffelbiskuit; im Herbst Russisch Brot; im Winter Lebkuchen und Spekulatius. Durchs Fenster sah ich die Gartenanlagen oder die Schneewehen hinter dem Haus. Den Vorgarten begrenzte eine hohe Ziegelmauer, so daß die Leute, die vorübergingen, nicht hereinsehen konnten. Aber die meisten Passanten waren freundlich, und viele waren mit uns verwandt. Ich akzeptierte Carls Verwandtschaft und nannte sie gern meine Familie, auch wenn sie gesellschaftlich nicht unser Niveau hatten – vier liebenswerte Schwestern, die ohne Haushaltshilfe auskamen, die ganz allein saubermachten und alle möglichen Torten und Kuchen backten; und drei Brüder – der eine Friseur, der zweite Kantor in der Synagoge und der jüngste, genau wie Peter Gierlich, das schwarze Schaf der Familie, schlimmer – ein Dieb.
Die Jüngsten sind meistens die schwarzen Schafe, wie es sich dann auch bei Irene herausstellte. Ich habe hier mal herumgefragt, woran das liegt, habe aber keine befriedigende Antwort bekommen. Als ich Carl kennenlernte, war Alfred Rother gerade mal fünfzehn, aber bis ins Gefängnis hatte er es mit seiner Unternehmungslust schon gebracht. Kein Schwerverbrechen. Er hatte auf dem Müll eine kaputte Kamera gefunden und sie wieder hergerichtet. Mit ihr zog er dann über Land – angeblich, um Porträtaufnahmen der Bauern mit ihren Familien zu machen. Sie zahlten im voraus, machten sich fein und bauten sich vor der Kamera auf. Dann drückte er feierlich den Auslöser, und das war das letzte, was sie von ihm sahen. Als der kleine Alfred aus dem Gefängnis freikam, behauptete er, es tue ihm leid, schockierte uns mit seinen Geschichten und war bald mit irgendeiner anderen Masche wieder verschwunden. Obwohl er der einzige Mann in der Familie war, der ebenfalls ohne Käppchen herumlief, konnte Carl ihn nicht ausstehen. »Ich habe genug Geschwister hier in der Gegend, dich brauche ich nicht auch noch, Alfred«, sagte er und verbot ihm, uns zu besuchen.
Ich ließ Alfred durch die Hintertür herein, wenn Carl nicht zu Hause war, gab ihm was Anständiges zu essen und erzählte ihm so viel von Jesus, daß die Einladung zu rechtfertigen war. Ich wußte, ich säte auf unfruchtbarem Boden, aber ich fühlte mich wohl in der Gesellschaft dieser jugendlichen Variante meines Carl. Alfred war genauso dunkelhäutig und muskulös wie er und fast so klug. Nachher schickte ich ihn unter allerlei Ermahnungen weg, auf die er nie hörte, und trotzdem war mir leicht ums Herz. Mir gefielen auch die zahllosen kleinen Nichten und Neffen, die in der Stadt lebten und immer so brav waren. Sie machten aus Leobschütz, diesem trostlosen Provinznest, einen warmen Schoß.
Die größte Entschädigung: in unserer Kleinstadt war Carl ein großer Mann, und obendrein war er ein ziemlich großer Mann in einer richtigen Großstadt. Bei uns leitete er das Städtische Krankenhaus, und in Breslau lehrte er an der Universität. Man sprach ihn nicht einfach mit Herr Doktor an, sondern mit Herr Professor Doktor. Ich als seine Frau war also nun Frau Professor Doktor, und dieses Stückchen Anerkennung – eigentlich eine Kleinigkeit – machte viel von dem Kleinkarierten wett, mit dem eine weltläufige Rheinländerin wie ich, die es nach Oberschlesien verschlagen hatte, fertig werden mußte. Aber davon abgesehen, bewunderte ich Carl so sehr, wie ich keinen Menschen je bewundert habe – ausgenommen meinen großen Bruder Otto. Mein Mann war genauso intelligent und genauso charaktervoll. In gewisser Weise war er sogar noch besser, denn er hatte diese außergewöhnlichen, ruhigen, verantwortungsbewußten Hände; sie waren seine Heilwerkzeuge. Unser Kind machte ihn ganz traurig, denn bald zeigte sich, daß es schwere Fehler hatte.
Fehler Nummer eins: es ähnelte mir nicht in dem, worauf es ankam. Es hatte Carls riesige dunkle Augen, seine Nase und außerdem ganz von allein – ich weiß nicht, woher sie kamen – rote, wulstige Lippen. Anders als wir hatte unser Kind auch ein auffällig schwach ausgeprägtes Kinn, und Carl meinte, das bedeute, es habe auch kein Rückgrat. Gleich nach der Geburt konnte man das alles natürlich noch nicht erkennen. Da erkennt man ja überhaupt noch nichts. Sie sehen alle gleich aus, und um ganz ehrlich zu sein, ich finde sie ein bißchen abstoßend. Aber das wußte ich vorher, und es war nicht das, was mich enttäuschte, sondern etwas anderes. Fehler Nummer zwei. Ein Schock. Darauf war ich nicht gefaßt: ein Mädchen.
Es war schlimm genug, daß ich ein Mädchen war und kein Offizier und Kriegsheld werden konnte. Otto badete immer nackt, aber ich sollte die Unterhose anbehalten, damit man nichts sah. Ich zog sie trotzdem aus, und mein Kindermädchen gab mir eins hinter die Ohren dafür. Vater, ich war unkeusch. Andauernd. Alle anderen um mich herum waren leuchtende Vorbilder. Meine Schwestern waren immer schon nach fünf Minuten wieder aus dem Beichtstuhl. Ich nicht. Vater, ich war zornig, neidisch, habgierig.
Es blieb nicht unbemerkt. Ich tunkte die Zöpfe des Mädchens, das vor mir in der Bank saß, in mein Tintenfaß, weil sie dicker waren als meine, und flog von der Klosterschule. Ein Mädchen sprach im Beichtstuhl zu laut – ich lauschte, kicherte und flog von der Schule. Als einmal unsere Lehrerin von ihrem Stuhl fiel, behauptete ich, wir Kinder hätten ihre Unterhose gesehen und deshalb könne sie uns nicht mehr unterrichten. Ich flog von der Schule. Zuletzt hatte ich nur noch Hauslehrer. Eine Frau, die zu Besuch kam, schenkte jedem Kind ein schweres Glasei mit einer Figur aus dem Neuen Testament darin. Nur in meinem war ein Huhn. Ein Huhn! Ich warf es aus dem Fenster. Mein Schutzengel lenkte das Ei einen winzigen Zentimeter von seiner Flugbahn ab, so daß es den Filzhut eines Herrn nur an der Krempe streifte und ihm den Hut vom Kopf schlug, ihn aber nicht umbrachte. Totschlag um ein Haar, eine Sünde! Alle redeten auf mich ein, alle schimpften mit mir, in zahllosen Streitereien im Wohnzimmer, im Kinderzimmer, beim Abendessen – widerspenstig sei ich und unbelehrbar, und nie im Leben würde ein guter Mensch aus mir werden. Ich fürchte, meine Enkeltochter Irene hat meinen Charakter geerbt. Der Unterschied zwischen uns besteht nur darin, daß ich mich mein Leben lang bessern wollte, während sie dafür überhaupt keinen Grund sah. Dazu später mehr.
Ich muß noch etwas zu Otto sagen. Mein Bruder Otto war fromm, gottesfürchtig und still. Er war zehn Monate älter, aber genauso groß wie ich, bis zum Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren. Man hat uns oft verwechselt. Dann schoß er in die Höhe und bekam eine brummige Stimme, während ich meine dünne, piepsige behielt. Er fing an, mich von oben herab zu behandeln. Er mochte Mädchen genausowenig wie ich, auch als Erwachsener. Zufällig weiß ich, daß ihm Jungs lieber waren. Auch das war eine Tragödie für mich: daß ich kein Junge war, den er gern haben und ins Vertrauen ziehen konnte.
Also wünschte ich mir einen Sohn, aus dem mal ein prächtiger Mann werden würde, so blond und gutaussehend wie Otto, aber statt dessen bekam ich ein Mädchen mit dunklem Haar. Zu Anfang freute sich Carl. Er sagte, unsere Tochter sehe aus wie die Heilige Jungfrau, und wollte sie deshalb Maria nennen. Ich war für Renate, weil mir dieser Name immer – und heute mehr denn je – so voller Hoffnung zu sein schien: wiedergeboren, alles ist möglich. Wir einigten uns auf Maria Renate. Aber als dann wenig später ihre wahre Natur zum Vorschein kam und jeden Gedanken an die Muttergottes grotesk erscheinen ließ, nannten wir sie nur noch Renate.
Es stellte sich heraus, daß sie noch viel schlimmer war als ich – wegen all der tollen Talente, die sie besaß. Aber was zuviel ist, ist zuviel. Sie war kaum fünf, da blendete sie uns schon mit ihrer Intelligenz – wie sie zeichnen konnte und wie sie jedes Lied nachsingen konnte, wenn sie es nur einmal gehört hatte. War es nicht viel bezeichnender, daß sie ständig irgendwas im Schilde führte? Ich verpaßte zahllose Gelegenheiten, ihrem Charakter die richtige Richtung zu geben. Noch heute habe ich im Ohr, wie sie von draußen ins Haus geschlichen kommt. Ich konnte hören, wenn eine Tür zu langsam und zu leise geschlossen wurde und wenn jemand auf leisen Sohlen unterwegs war. Ich sprang von meinem Kanapee auf und wollte sehen, was los war. Sie versuchte, ins Badezimmer zu schleichen. Ich stellte den Fuß in die Tür und rief: »Renate, zeig mal!« Sie brach in Tränen aus und sagte, sie sei hingefallen und habe sich weh getan. Mund und Hände waren rot verschmiert. Ohne zu zögern, nahm ich ihre Hand und leckte daran. »Mein Blut ist zuckersüß!« rief sie. »Süßer als deines!« Und kreischte vor Lachen. Ich wußte, sie hatte wieder Himbeeren geklaut. Natürlich hätte ich mitlachen können. Aber diesmal besann ich mich. Ich nahm eine Schüssel mit in den Garten und sammelte unter den Sträuchern die alten, verwurmten Himbeeren vom Boden auf, und dann zwang ich sie, alles zu essen. Sie behauptete, sie würden köstlich schmecken. »Danke, Mama, vielen Dank!« Und dann erbrach sie alles auf meinen schönsten Teppich.
Ich sperrte sie auf dem Speicher ein. Es wurde dunkel. Ich wartete auf das Abendessen, hatte Kopfschmerzen, glaubte, ich würde vor lauter Unglücklichsein eine Gehirnblutung bekommen. Würde 1927 mein Todesjahr sein?
»Ihr Starrsinn muß gebrochen werden«, sagte Carl.
Da nahm ich sie in Schutz. »Mit der Zeit wird es sich geben, genau wie bei mir.«
Ich ging nach oben, um sie zu holen. Sie kam mit, still, Zufriedenheit verströmend. Sogar Triumphgefühle. Erst Jahre später erfuhr ich, warum. Sie hatte für solche Zeiten der Verbannung ihre Vorbereitungen getroffen, hatte auf dem Speicher Pralinenschachteln versteckt, Saftfläschchen, ein paar Bücher, Kissen und Opferkerzen. Das Abendessen rührte sie nicht an, so sehr hatte sie sich mit Süßigkeiten vollgestopft. Wir glaubten damals, sie sei ein bißchen durcheinander und verstockt.
»Das ist mehr als Starrsinn«, sagte Carl, als wir im Bett lagen und über unseren Sprößling sprachen. »Das ist Wille zur Macht. Sie will über uns herrschen.«
Und dann rief er: »Aber das lassen wir uns nicht gefallen!«
Vor allem wollte sie den Willen ihres Vaters brechen. Was er auch tat, sie wollte es besser machen, um ihm eins auszuwischen. Ihr fehlte ein älterer Bruder, der ihr gezeigt hätte, wo ihr Platz war. Carl spielte Klavier. In seiner Familie spielte sonst keiner. Er war auch der erste, der je über die achte Klasse hinaus zur Schule gegangen war. Notenlesen und Klavierspielen brachte er sich selbst bei, und nachdem wir geheiratet hatten, kaufte er sich ein schönes, großes, glänzendes Instrument. Sein ganzes Gefühl floß in die Art, wie er spielte, wobei er die lauten romantischen Stücke bevorzugte, besonders Wagner. Es sah seltsam aus, wenn er spielte. Er schnitt furchtbare Grimassen, schloß die Augen, warf den Kopf nach hinten und wiegte den Oberkörper im Takt. Ich mochte nicht hinsehen, aber ich hörte gern zu – mit geschlossenen Augen.
Mit acht Jahren spielte Renate dieselben Stücke wie er, und selbst ich konnte erkennen, daß sie sie besser spielte. Inzwischen bekam sie Unterricht, aber sie brauchte sich kaum anzustrengen, setzte sich einfach ans Klavier und spielte, als sei es das Natürlichste von der Welt. Ihre Lehrerin sagte, sie habe »Klavierhände« – es waren Carls Hände.
Ich bewunderte sie natürlich. Aber ich ließ es sie nie merken. Es ist nicht gut für Kinder, wenn man sie bewundert. Sie bilden sich dann zuviel ein, und das untergräbt ihren Charakter. Deshalb versuchte ich genau wie Carl, ihr klar zu machen, was uns an ihr nicht gefiel. Doch wenn ich ihre kleinen Hände in meine nahm und spürte, wie stark sie schon waren, wie beweglich, ganz anders als meine, dann überlief mich ein heimlicher Schauer, und ich dachte, sie wird Chirurgin werden wie ihr Vater. Dann seufzte ich und sagte: »Warum hast du bloß immer so schmutzige Finger?«
Carl und ich gaben uns große Mühe, unseren Sprößling zu formen, mit einem eisernen Tagesablauf zu kneten. Wir gingen früh zu Bett und standen früh auf. Um fünf beteten wir den Rosenkranz. Dann ein Bad und unser bescheidenes Frühstück – mit einem Spiegelei, das auf einem Bett aus Toast und Butter seinem Ende entgegenbibberte. Um halb sieben stand Carls Chauffeur wie aus dem Ei gepellt neben der Hintertür des blitzblanken Wagens. Er kam dann noch mal zurück und holte auch mich und Renate. Sie setzte er bei der Schule ab, und mich brachte er rechtzeitig zur ersten Operation um acht ins Krankenhaus.
Am wohlsten fühlte sich Carl immer im Operationssaal. Er glaubte an seine Hände, an altmodische, gediegene Handarbeit. Aber Neuerungen faszinierten ihn. Und so verliebte er sich in den Röntgenapparat. Er ließ niemand sonst an ihn heran, behauptete, die anderen hätten kein Gefühl für das neue Gerät, sie hampelten zuviel herum und hielten die Platte nicht still. Bei Röntgenbildern vertraute er niemandem außer sich selbst, hielt die Platte fest umklammert und krümmte einen Daumen um die Kante, so daß jede Aufnahme auch ein Röntgenbild seines kräftigen Fingers zeigte – und Carl wurde nicht müde, ihn sich immer wieder anzusehen. Aber Gott mag keine eitlen Männer! In dem geröntgten Daumen wuchs der Krebs, wanderte den Arm hinauf und dann hinunter in seine Hoden.
Die Kollegen rieten ihm, er solle sich die ganze Hand abnehmen lassen. Er dachte darüber nach und kam zu dem Schluß, daß er lieber sterben würde. Mit dem Verlust des Daumens fand er sich ab. Aber er verlor mehr. Nachdem wir uns mehrere Jahre an einem zweiten Kind versucht hatten, sagte ich ihm, er solle sich seine kleinen Männer mal unter dem Mikroskop ansehen. Ich saß zu Hause und wartete, daß in dieser Instanz die Schuldfrage nun endlich ein für allemal geklärt werden würde. Ich konnte den Gesichtsausdruck nicht ergründen, als er zurückkam – seine Miene, seine Haltung, alles war steif, erstarrt. Noch in der Diele erklärte er: »Wir sind einfruchtig«, und schon dabei ertrank seine Stimme in Bitterkeit.
Zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben hatte er ein Wort benutzt, das ich nicht kannte. Sonst bemühte er sich immer darum, mich nicht zu beschämen. Ich verstand trotzdem, was er sagen wollte: Keine weiteren Kinder! Eine Last weniger in unserem Tagesablauf. Der mittags mit dem Mittagessen seinen Fortgang nahm. Dazu kamen wir nach Hause.
Der Tisch war für drei gedeckt, mit Serviettenringen und Messerbänkchen für das Silberbesteck. Kurz vor eins setzten wir uns. Renate sprach das Tischgebet. Wir verharrten in gespanntem Schweigen. Die Uhr tickte. Wenn dann der große Zeiger auf die Zwölf glitt, versank das Ticken im Geräusch von Schritten. Die Köchin schob den Servierwagen herein. Der Höhepunkt des Tages begann mit Suppe – dicker, dampfender Fleisch- und Kartoffeleintopf im Winter, köstliche Brühen im Frühling und Herbst, kalte Suppen im Sommer. Die Spannung ließ nicht nach. Viele Gänge folgten. Ich will hier nicht in die Einzelheiten gehen, denn bis heute weckt die Erinnerung daran in mir die Sehnsucht, mich noch einmal an diesen Tisch zu setzen. Aber Carl war nie so recht einverstanden. Er hatte etwas gegen meine Freude. Er versuchte mich abzulenken und in ein Gespräch über die morgendlichen Abenteuer im Krankenhaus zu verwickeln. Kaum hatte ich den Löffel an den Mund gehoben, da wollte er von mir wissen, wie ich über diesen Patienten oder jene Entscheidung dachte. Ich war immer ein wenig traurig, wenn das Essen vorbei war.
Carl kehrte gleich nachher ins Krankenhaus zurück, kümmerte sich um die frisch operierten Patienten und die laufenden Angelegenheiten. Ich dagegen – es stimmt, ich machte mir oft einen gemütlichen Nachmittag. Ich spielte mit den Hunden im Garten. Renate und ich, wir ließen es uns gutgehen. Ich brachte ihr ein paar Fertigkeiten bei, die einem im Leben nützlich sein können – zum Beispiel blöd kucken. Wenn man nicht wirklich strohdumm ist, erfordert es einige Phantasie und Übung. Leicht schielen, so daß es kaum auffällt, funktioniert ganz gut. Ich erklärte ihr auch, wie man jemandem klarmacht, daß man über ihm steht: dem Quälgeist in die Magengrube starren – die meisten Leute finden das ziemlich beunruhigend. Und ich zeigte ihr das Wichtigste: wie man vollkommen ernst bleibt, wenn man am liebsten loslachen würde. Man muß sein Gesicht entspannen, vom Mund aus anfangen und dann aufwärts – einfach entspannen. Entspannung signalisiert Anstand, und es ist komisch, wie schnell die eigene Stimmung dem Gesicht gehorcht. Wenn wir das geübt hatten, lachten wir uns jedesmal halb tot und mußten dann in meinem Zimmer Kekse essen, um meinen Blutdruck wieder ins Lot zu bringen.
Die Kekse. Ich wurde immer dicker. Ich weiß, daß sich meine Tochter meinetwegen schämte. Einmal stand ich am Fenster und sah, wie sie im Garten hockte und mit einem Stöckchen nach einer großen Wegschnecke stocherte. Dabei murmelte sie etwas. Ich öffnete das Fenster und lauschte. Sie hatte der Schnecke einen Namen gegeben – »Mutti«. Ein paar Wochen später, an Silvester, zahlte ich es ihr heim. Der Weihnachtsbaum stand in einer Ecke des Wohnzimmers. Wir waren allein. Carl war nach oben gegangen. Plötzlich ließ ich den Kopf zur Seite hängen, riß den Mund auf und rollte die Augen. Ich machte ein Gesicht, als wäre ich plötzlich verrückt geworden. »Mutti«, flüsterte Renate, und nun klang es ängstlich und respektvoll. »Mutti, was ist denn?« Ich sagte nichts. Sie begann zu wimmern. »Bitte – Mutti.«
Ich sagte: »Mutti hat sich in eine Schnecke verwandelt.« Sie starrte mich an, und dann heulte sie. Ich nahm sie in den Arm. Ich verzieh ihr. Sie hatte ja recht, ich war dick. Aber je dicker ein Gesicht ist, desto schöner wird es. Ich finde, auf das Gesicht kommt es mehr an als auf die Figur.
Aber wo war ich stehengeblieben? Mein Alltag. Nach dem Mittagessen.
Ich kümmerte mich um den Haushalt, und das bedeutete: ich mußte das Personal in Schach halten. Auch die Verwandtschaft mußte ich in Schach halten. Ich schrieb Briefe und bekam Briefe. Und wenn ich sonst nichts zu tun hatte, besuchte ich Helga.
Helga Weltecke war mir als Assistenzschwester zugeteilt, und Joseph Weltecke, ihr Mann, war am Krankenhaus der zweite Chirurg. So gab es viele Gemeinsamkeiten. Sie und ihr Mann konnten von Glück sagen, daß sie sich mit ihren Vorgesetzten so gutstanden. Sie waren fröhliche Kirchgänger, wie ich sie mochte, und wir gingen immer zusammen zur Messe. Dr. Weltecke und Dr. Rother hatten beide ein Faible für gute Zigarren und Briefmarken, während Helga und mich das lebhafte Interesse an Obstschnäpsen verband. Wir experimentierten und stellten sie selbst her, aus Frühobst in großen Krügen, die bei ihr im Keller standen. Ein Jahr später füllten wir unsere Schnäpse in silberne Flachmänner, die man bei Spaziergängen in der Tasche mitnehmen konnte, oder in hübsche Glasflaschen mit verschiedenfarbigen Stöpseln. Bald fanden wir heraus, daß Himbeergeist einen näher zu Gott bringt.
Am späteren Nachmittag ging ich wieder nach Hause. Ich wollte da sein, wenn Carl um Punkt vier Uhr zur Tür hereinkam. Er zog nicht mal den Mantel aus, sondern rief mit einem langen, leisen Pfiff die Hunde herbei. Egal, ob es regnete oder die Sonne schien – er ging gleich wieder los und machte mit ihnen einen flotten Spaziergang. Er war ein großer, energischer Mann. Das Geräusch an der Tür, der Pfiff, das aufgeregte Jaulen der Hunde und das Geräusch beim Schließen der Tür riefen mich ans Fenster, und dann sah ich ihm nach, wie er mit großen Schritten die Straße zum Leobschützer Wäldchen hinunterging. Wenn er dann schwitzend und beschwingt zurückkam, machten wir ein Nickerchen. Renate übte um diese Zeit Klavier. Wir dösten und lauschten ihrem Spiel. Die Haushälterin deckte den Kaffeetisch. Nachher zog sich Carl zum Lesen oder um an seiner Briefmarkensammlung zu arbeiten, ins Herrenzimmer zurück, und jeden Abend vor dem Essen übte er eine Stunde Klavier. Das Abendessen fand um sieben statt, eine leichte Mahlzeit, kaum der Rede wert, Schnittchen auf dünnem, saftigem Schwarzbrot mit dicker, süßer Butter und Cervelatwurst oder Käse, danach ein Riegel Schokolade und vielleicht ein Schluck Obstschnaps, dann das Abendgebet, eine Formsache, rasch erledigt und doch tief empfunden, und nachher gingen wir zu Bett, immer um neun.
Sonntags arbeitete Carl nur, wenn es einen Notfall gab. Wir standen spät auf, ganz nach Lust und Laune, aber selbstverständlich rechtzeitig, um auf nüchternen Magen in die Kirche zu gehen. Sonntags gab es ein großes Mittagessen, fast immer mit den Welteckes und ihren vier wohlerzogenen kleinen Jungen. Die Sonntagnachmittage waren Ausflügen mit Renate vorbehalten, entweder ein langer Spaziergang oder eine Fahrt zu einer Sehenswürdigkeit in der Nähe, und abends waren dann regelmäßig einige von Carls Verwandten zum Essen bei uns.
Die Rothers aus Leobschütz waren nicht wie die Gierlichs. Die Rothers waren gemächliche kleine Leute, die nichts aus der Ruhe brachte, die nie aus ihrem Nest herausgekommen waren und trotzdem gutmütig auf mich, den christlichen Neuzugang, und auf den Rest des Universums herablächelten. Selbst über Alfred, den Dieb in der Familie, dachten sie nicht schlecht, sondern wunderten sich bloß. Wirklich, sie waren so gut, daß sie das Schlechte einfach nicht wahrnahmen. Zum Beispiel Carls Schwester Else. Sie sah aus wie eine schöne, sanfte Milchkuh mit hellbraunen Augen und prächtigem schwarzen Haar, das sie unter ihrer prächtigen schwarzen Perücke verborgen trug. Du liebe Zeit, war sie hübsch! Die Schönste in der ganzen Stadt, bis ich kam. Nie sagte sie über irgend jemanden etwas Unfreundliches, war immer für andere da, und oft schämte ich mich in ihrer Gegenwart; sie hätte eine mustergültige Christin abgegeben.
Die Rothers überhäuften sich gegenseitig mit Freundlichkeiten – und Renate ebenfalls. Meine Tochter hatte zwölf Tanten und Onkel, eine Oma und einundzwanzig Cousins und Cousinen, die sie alle »eine von uns« nannten. Dadurch entstand in Renates Kopf natürlich ein großes Fragezeichen hinsichtlich ihrer Stellung in der Gesellschaft. Aber noch schlimmer war etwas anderes – indem ich Liesel einstellte, verschaffte ich der Geringsten unter den Geringen einen Platz in Renates Herz.
Liesel war sechzehn, als Renate geboren wurde. Sie hatte schon eine Zeitlang für mich gearbeitet, so daß ich sie inzwischen gut kannte und ihr auch beim Silberzeug traute. Sie kam aus Niederschlesien. Ihr Deutsch war mit polnischen Wörtern und Wendungen durchsetzt, und sie stotterte so entsetzlich, daß es wie Wiehern klang, wenn sie den Mund aufmachte. Als ich sie einstellte, hatte ich nicht damit gerechnet, daß ich sie viel würde reden hören. Und abgesehen von ihrem Gestotter, machte sie einen ordentlichen, sauberen Eindruck. Sie besaß zwei vollkommen gleiche hellblaue Baumwollkleider mit weißem Gürtel und weißem, rundem Kragen, die sie sorgsam pflegte, immer wieder flickte und stärkte, und darüber band sie noch eine Schürze, so daß die Kleider ewig hielten. Wenn es kalt war, zog sie außerdem eine weiße Wolljacke und Wollstrümpfe an. Ich akzeptierte diesen Aufzug an Stelle der üblichen Dienstmädchentracht. Ihr drahtiges, schwarzes Haar hatte sie zu einem festen Knoten gebunden. Sie war eigentlich ziemlich hübsch, bis auf die schlecht vernähte Hasenscharte. Die buschigen Brauen hingen ihr tief in die Augen, und auf den starren Gesichtszügen zeigten sich keine Gefühle. Nie habe ich Liesel fröhlich oder traurig dreinblicken sehen. Gefühle und Stimmungen äußerten sich in ihrer Körperhaltung und in der Art, wie sie sich bewegte. Beim Beten in der Kirche hielt sie die Augen geschlossen und drückte die gefalteten Hände wie ein kleines Mädchen an die Nase. Ich glaube, sie verausgabte ihre Gefühle in ihrer Beziehung zu Gott. Sie war winzig und trotzdem sehr stark. Sie tat ihre Arbeit gern und konnte gar nicht genug davon bekommen. Nach einem regulären Arbeitstag von zehn Stunden, wenn andere Hausangestellte zu Abend essen und dann ins Bett wollen, fragte sie, ob sie noch den Keller fegen oder die Kerzenhalter putzen könne. Und nie sprach sie über Geld, bat nie um eine Lohnerhöhung. Gesellschaftliches Ressentiment, das in ihren Kreisen so verbreitet ist, kannte sie nicht – dabei kam sie aus einer Familie von lauter Sozialdemokraten. Aber sie selbst hatte Gott sei Dank kein Verlangen nach Gleichheit. »Hier herrscht Ordnung«, pflegte sie zu sagen. Erst später erkannte ich, daß ihre Ordnung ein ganz besonderer Herrscher war.
Außerdem hatte ich Anna, ein gelerntes Kindermädchen, das sich nach der Geburt um Renate kümmerte. Anna war tüchtig. Das Kind sah immer aus wie gestärkt und gebügelt. Eines Tages, nachdem ich meinen Nachmittagsbesuch beim Baby gemacht hatte, gab ich es ihr zurück. Sobald es spürte, wie Annas gelernte Hände nach ihm griffen, fing es an zu schreien. Ich verstand nicht viel von kleinen Kindern, aber ich zahlte dem Kindermädchen noch einen Wochenlohn aus und sagte ihr, sie solle ihre Sachen packen und gehen. Ich hatte noch den ganzen Nachmittag, um einen Ersatz für sie zu finden. In der Stadt wimmelte es von arbeitslosen Dienstboten. Ich setzte mich auf Annas Stuhl im Kinderzimmer und schmuste mit dem Baby, das teilnahmslos in meinen Armen lag.
Während ich das Kindermädchen entlassen hatte, war Liesel kurz in der Tür erschienen und hatte ein empörtes Schnaufen von sich geben. Nachher hörte ich sie auf dem Speicher, wo sie Mottenkugeln in den Truhen mit den Sommersachen verteilte. Daran, wie sie auf den Dielen herumstampfte, erkannte ich, daß sich etwas zusammenbraute. Wenig später erschien sie wieder, baute sich vor mir auf (eine Frechheit – ich hatte sie nicht mal hereingebeten) und stotterte: »Die Frau Doktor Rother kann die Anna nicht einfach entlassen. Die Kinderchen schreien nun mal, wenn man sie hochnimmt, es hat nichts damit zu tun, wer sie hochnimmt.« Der lange Satz kostete sie große Mühe.
Sie wollte mir sagen, wie ich mit meinen Angestellten umzugehen hätte. Vor lauter Zorn stand sie wie angewurzelt da, in ihrer weißblauen Kluft, die Hände wie ein Polizist in die Hüften gestemmt, und wiederholte: »Wie können Frau Doktor Rother Anna die Schuld geben, daß das Kindchen schreit! Die Kinderchen schreien immer!« Na ja, sie hatte nicht ganz unrecht. Mit einem Ruck stand ich auf und drückte ihr das Mädchen in die Arme. Liesel hatte die Ärmel ihrer Jacke hochgestreift und schwitzte ein bißchen. Ich sah die Muskeln an den kurzen weißen Unterarmen, die sich mir reflexartig entgegenstreckten und das kleine Paket übernahmen. Nun lag das Baby in dieser aufrührerischen Krippe und schaute still zu Liesels ausdruckslosen Augen auf, zu den Strähnen ihres schwarzen Eselshaars, die ihr in die Stirn hingen, und zu der Narbe auf ihrer gespaltenen Lippe. Ich sah, wie ruhig mein Kind dalag und wie es diese neue Physiognomie studierte. Und dann – zum erstenmal in ihrem Leben – lächelte Renate.
Von nun an kümmerte sich Liesel um unsere Tochter. Sie machte ihr auch zu essen und nähte für sie, aber wenn das Kind schlief, half sie natürlich den anderen Angestellten bei der Hausarbeit und beim Kochen. Bald ruhte der ganze Haushalt auf ihren Schultern, und wenn sie ihre Familie besuchen wollte, versuchte ich es ihr auszureden. Liesel war ein Segen. Sie hatte keinen Mann und keine Kinder. Einmal, mit einundzwanzig, wollte sie unbedingt heiraten – Josef, unseren Chauffeur. Ich hatte es kommen sehen. Ich war darauf vorbereitet. Ich verbot es ihr einfach.
Ich hatte Josef einmal zu oft zu ihr in die Küche gehen sehen. Von da an nannte ich ihn nur noch »den Buckel«. Mit aller Macht drückte ich diesen Spitznamen durch – »Buckel Josef«. In Wirklichkeit hatte er gar keinen Buckel, aber eines Tages würde er einen bekommen, das sah man, denn er war sehr groß und von Natur aus sehr bescheiden, so daß er sich immer bückte, wenn er mit jemandem sprach, und es war klar, daß er in ein paar Jahrzehnten nur noch gebückt gehen würde.
»Liesel, das kommt nicht in Frage. Nicht so einen häßlichen Buckel«, sagte ich. »Du wirfst dein Leben weg. Das kann ich nicht zulassen.«
»Er ist so ein braver Mann«, entgegnete Liesel. »Er arbeitet sehr schwer.«
»Arbeitet? Er hat seinen Spaß. Jeder junge Mann will einen schönen, großen Wagen fahren. Aber vernünftig ist er, das muß man ihm lassen. Weil er jemanden wie dich zur Frau nehmen will. Aber es kommt nicht in Frage. Renate kommt ohne dich nicht aus. Sie ist doch erst fünf!«
Schließlich sagte sie Josef, sie wolle nicht heiraten, und damit war die Sache erledigt. Er war so enttäuscht, daß er den Dienst bei uns quittierte. Was mir nur recht war. Denn Liesel blieb. Ein Chauffeur ist leicht zu bekommen. Ich sorgte dafür, daß wir nie mehr einen alleinstehenden Mann nahmen.
Ich kenne Gruselgeschichten von Dienstmädchen, die weglaufen, um sich zu verheiraten. Bei den Keils zum Beispiel. Die hatten ein Kindermädchen für ihren Jungen, das Fräulein Strecker. Als der Junge groß war, blieb sie bei ihnen und kümmerte sich zusammen mit dem Dienstmädchen um den Haushalt. Ihre Butterplätzchen waren ein Gedicht, und sie konnte sehr gut nähen. Fräulein Strecker hatte ein schönes Zimmer im zweiten Stock, mit eigenem Waschbecken. Als sie sechzig war, kam Herr Keil einmal zu spät nach Hause. Ausgerechnet an diesem Tag hatte er einen Kollegen zum Essen eingeladen, einen steinreichen, aber einsamen Bankier. Der Gast mußte warten, und Fräulein Strecker brachte ihm etwas zu trinken und eine Zeitung. Irgendwie verliebte sich der vornehme Herr in das alte Mädchen. Die Keils mußten zusehen, wie er sie ihnen einfach unter der Nase wegheiratete, und dann wohnte sie für den Rest ihres Lebens als eine Frau Doktor Edelmann in ihrer eigenen Villa, die viel größer war als die Villa der Keils, mit einem viel größeren Garten und mehr Personal. Plätzchen backte sie noch immer und schickte auch den Keils welche, und wenn sich die Figur von jemandem änderte, dann wollte sie unbedingt, daß man ihr die Sachen zum Ändern brachte. Aber es war ein Schock für den ganzen Ort.
Carl warnte mich, bei Liesel bestehe eine ganz andere Gefahr. Er fand, ich sei zu abhängig von ihr und sie könnte das ausnutzen.
»Gib auf diese Liesel acht«, sagte er. »Wenn du nicht aufpaßt, schwingt sie hier eines Tages das Zepter.«
»Ihre Führung ist tadellos«, sagte ich. »Immer findet sie etwas zu tun. Renate ist sauber und gut genährt und fühlt sich wohl bei ihr. Wir müssen bloß aufpassen, daß das Kind nicht anfängt, Schlesisch zu sprechen. Schon bei dem Gedanken wird mir ganz übel.«
Das Kind wuchs heran, und bald sprach es Liesels Schlesisch fließend. Auf Wasserpolnisch »tut« man alles mögliche – »Ich tu jetzt spazierengehen«, »Ich tu jetzt putzen« –, und das geht natürlich nicht. Aber mit mir sprach Renate immer perfektes Hochdeutsch, so daß ich mich nicht beschweren konnte. Im Umgang mit Menschen war sie ein Chamäleon. Sie behandelte Liesel nicht als das Dienstmädchen ihrer Mutter. Wenn sie sich das Knie aufschürfte, dann lief sie zu Liesel, obwohl ich die gelernte Krankenschwester war. Wenn sie traurig war, dann weinte sie sich auf Liesels Schoß aus. Das vermute ich zumindest. Beweise hatte ich nie. Auf meinem Schoß hat sie jedenfalls nie geweint. Vielleicht hat sie ja überhaupt nie geweint. Auch in der Schule verstand sie, sich anzupassen, indem sie ihre wahre Person versteckte. Ihre dunklen, glänzenden Augen täuschten selbst den Lehrer, der die Theatergruppe leitete; jedes Jahr beim Krippenspiel spielte sie ihre Namensschwester, Maria.
Ich biß mir auf die Zunge und hoffte, sie werde in die Rolle hineinwachsen. Aber nach drei Jahren verlor ich die Hoffnung. »Wenn die wüßten, wie du in Wirklichkeit bist!« sagte ich zu ihr.
»Das weiß nicht mal der liebe Gott!« erwiderte sie.
»Bist du wohl still!« fuhr ich sie an.
Diesmal blickte sie beim Krippenspiel tief ergriffen und voller Hingabe zum Himmel und preßte die Hände an die Brust. Aber als sie die Augen wieder sinken ließ, suchte sie meinen Blick und zwinkerte mir fast unmerklich zu. Lachen stieg in mir hoch. Die Mundwinkel wollten nicht stillhalten. Ich vergrub das Gesicht in den Händen, bat den Herrn inständig um etwas mehr Ernst. Er erhörte mein Gebet nicht. Ich lachte in die Hände und sah zu, daß es so klang, als müßte ich husten. Tränen traten mir in die Augen. Carl klopfte mir liebevoll auf den Rücken.
Der Lehrer und die anderen Zuschauer ahnten nicht, was sich wirklich abspielte. Natürlich schimpfte ich mit Renate. »Du blamierst mich vor allen Leuten!« sagte ich. »Wie kann man so rücksichtslos sein!« Sie entschuldigte sich, was selten vorkam. Ich empfahl ihr einen Besuch bei unserem Beichtvater. Mit ihm sollte sie sich beraten. Aber meine Tochter holte sich keine Hilfe bei anderen. Sie brauchte keine.
In allem, wo Geschicklichkeit gefordert war, kam sie nach ihrem Vater und glänzte sogar in Sport – sie hatte Carls breite Schultern und seine Körperbeherrschung geerbt, auch seinen Kampfgeist. Sie liebte Wettkämpfe. Und wie Carl war sie nicht nur musikalisch, sondern auch klug. Sie übersprang das erste Schuljahr und später auch das vierte, war schon mit vierzehn Jahren in der Oberstufe und hatte nur noch zwei Jahre bis zum Abitur. Das war 1935. Jetzt bekam ich die Quittung für meinen Eigensinn und meine Torheit.
Wenn ich auf Renates Kinderjahre zurückblicke, finde ich nichts, was schon irgendwie auf meine Enkeltochter Irene hindeutet. Man macht sich natürlich Gedanken über die Zukunft. Eines nicht allzu fernen Tages würde Carl irgendwo im Rheinland Professor werden, am liebsten in Koblenz, aber Köln war mir auch recht, und wir würden dorthin ziehen. Ich wußte immer, wußte einfach, daß ich mich eines Tages mit meinem Bruder Otto wieder vertragen würde, er würde mir verzeihen, daß ich Carl geheiratet habe, er würde verstehen, worum es mir ging, und sich sogar bei mir entschuldigen. Seine Kinder würden sich mit Renate prächtig verstehen. Sie würden zusammen studieren, zusammen auf Bälle gehen und im Freundeskreis heiraten. Renate würde einen guten Katholiken heiraten, vielleicht einen Arzt oder einen Rechtsanwalt wie Otto, und Kinder bekommen, mehrere. Sie würden in meiner Nähe leben. Ich würde eine Enkeltochter haben, die, wenn es nach mir ginge, und es würde nach mir gehen, so hieß wie ich – Elisabeth. Diese Enkeltochter würde mir nachschlagen, und alles in ihrem Gesicht würde klein und zierlich sein.
Ich wußte auch, daß ich nicht besonders alt werden würde, knapp über fünfzig vielleicht. Ich gab mir bis 1945. Man hat ein Gespür für sein Schicksal, und mein Schicksal, das war eine schwere Krankheit in verhältnismäßig jungen Jahren. Ich würde einen Mann und eine Tochter und Enkelkinder hinterlassen, die mich allesamt noch jahrzehntelang betrauern würden. Auch Otto würde trauern.
Otto genoß die Früchte seiner Rechtschaffenheit in Koblenz. Er war Staatsanwalt. Manchmal las ich seinen Namen sogar in der Zeitung. Er war fabelhaft in seinem Beruf, in dem man ja mit felsenfester Gewißheit wissen muß, was Recht und was Unrecht ist. Meine ältere Schwester Maria war Nonne geworden und nach Südamerika gegangen, in einen Orden, der sich der Errettung der Seelen von Indios widmete. Was das Abenteuerleben anging, war sie mir voraus – so kam es mir damals zumindest vor. Peterchen war noch immer das Familienproblem, war in die Arbeiterklasse abgerutscht – Elektriker in einer kleinen Firma. Er und Otto hatten Frau und Kinder, die ich kaum kannte, weil sie uns nie besuchten. Na ja, wir lebten auch zu weit vom Schuß. Kein halbwegs normaler Mensch kommt freiwillig nach Oberschlesien zu Besuch. Nur meine Mutter, die inzwischen Witwe war, kam. Die letzte Krankheit meines Vaters hatte ihr schwer zugesetzt. Er war schwach gewesen, hatte sich seinen Schmerzen überlassen, hatte gestöhnt und geklagt. Wie ein Kind hatte er sie mit seinen Forderungen überhäuft, und sie hatte ihn wie einen Säugling gepflegt, und als er dann von uns gegangen war, trug sie ihr Schwarz mit der Würde einer Königin, aber ihr Schritt war merklich leichter, und ihr Blick wurde wieder klar und fest, wie vor seiner letzten, langen Säuglingszeit. Sie hatte Carl zuletzt doch in ihr Herz geschlossen, und nun versuchte sie, Renate beizubringen, vornehm zu sein.
Leider schlugen ihre Lehren bei meiner Tochter überhaupt nicht an. In ihrer Art, sich zu geben, ähnelte Renate den Frauen der Rothers, die ein Zimmer nur betraten, wenn sie denen, die drinnen waren, etwas zu essen brachten. Die Bescheidenheit der Rother-Frauen war geradezu krankhaft, und bei Renate nahm diese Krankheit eine besonders gräßliche Form an, denn sie war bloßes Getue, und darunter verbargen sich Ungestüm, Aufsässigkeit und eine Überheblichkeit der schlimmsten Sorte. Als sie dreizehn war, konnten andere das noch nicht erkennen. Meine Freundin Helga Weltecke sagte mal über Renate: »Was hat deine Tochter für ein Glück. Carl und du, ihr habt ihr soviel Talent mitgegeben. Euer Erbgut und eure Erziehung sind einfach vorbildlich.«
»Helga, du hast vier glückliche Söhne, wie ich sie mir immer gewünscht habe. Blonde Knaben.« Ich seufzte. Und dann fielen wir einander in die Arme und lachten nach all den Komplimenten, die wir einander gemacht hatten, bis uns die Knöpfe von den Röcken platzten und wir Liesel rufen mußten, damit sie sie uns wieder annähte.
Helga war nicht so hübsch wie ich – sehr bleich, mit einer tiefen Falte, die ihr waagerecht über die Stirn lief. Darunter blitzten kleine, muntere Augen und eine niedliche Nase, aber bei den vielen Schwangerschaften waren ihre blonden Locken zu traurigen Strähnen verkümmert, die sie nun unter kleinen Hüten versteckte, und ihre Knochen waren wie Fischgräten. Sie war meine beste Freundin und ich die ihre. Sie war kultiviert, liebenswürdig und kam aus einer guten Familie. Ihr Vater arbeitete bei Siemens in Berlin. Sie war in Lichterfelde aufgewachsen und fühlte sich nur in großen Häusern mit interessanten Gärten und umherhuschenden Dienstmädchen wohl. Genau wie ich liebte sie Hunde, hatte Krankenpflege studiert und einen Arzt geheiratet, und selbstverständlich war sie katholisch. Geschlechtsverkehr haßte sie sogar noch mehr als ich, weil sie ihn viel länger über sich ergehen lassen mußte, jahrein, jahraus. Am Tag danach, wenn sie sich ihrem Mann hingegeben hatte, sah ich ihr die Quälerei immer an – wie sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, als wollte sie einen Bogen um ihren Abscheu machen. Er war ein kleiner Mann mit runden Schultern und sehr glatten Wangen, aber sie sagte, er zöge die Prozedur gern in die Länge. Einmal gestand sie mir, er habe eine Vorliebe für die seltsamsten Stellungen. Zum Beispiel zwinge er sie, sich auf sein Tier zu setzen, während er bequem auf dem Rücken liege, und wiege sie dann vor und zurück wie ein Kind auf einem Schaukelpferd. Nachdem sie mir das erzählt hatte, konnte ich ihm wochenlang sonntags beim Mittagessen nicht mehr ins Gesicht sehen. Er war ein tüchtiger Chirurg, aber plötzlich ekelte ich mich vor ihm. Schließlich vergaß ich es zum Glück wieder. Es ging mich ja letzten Endes nichts an, was sie ihn mit ihrem Körper tun ließ, auch wenn sie meine beste Freundin war.
Habe ich unser Familienleben mit seinen Problemen einigermaßen anschaulich geschildert? Wirkliche Probleme waren eher selten. Im Rückblick – und inzwischen kann ich das beurteilen – würde ich sagen: Näher als wir kann man dem Paradies auf Erden gar nicht kommen.
Es war Helga, die mir die Neuigkeit mitteilte. An einem Nachmittag im Herbst kam sie vorbei und sagte: »Sie haben ein Gesetz erlassen.«
Liesel hatte etwas mitbekommen und tanzte vor lauter Zorn auf den Dielen herum. Ihr Gepolter wurde so laut, daß ich mich bei Helga entschuldigen und in die Küche gehen mußte.
»Liesel, würden Sie sich bitte zusammenreißen.«
»Herr im Himmel«, sagte ich, als ich ins Wohnzimmer zurückkam. »Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist. Ich sage dir, sie tyrannisiert mich. Also – was für ein Gesetz?«
Wie sich herausstellte, hatte die Regierung ein Gesetz erlassen, das meine Ehe mit Carl verbot.
Es war natürlich zu spät. Was geschehen war, war geschehen. Auflösen wollten sie schon geschlossene Ehen nicht. Aber sie würden Carl das Leben schwer machen. Er gehörte, trotz seiner Konfession, nicht zur edlen Rasse. Ich brauchte mir nur die rund vierzig verwandten Gesichter in der Stadt anzusehen, um mir klar zu machen, wie das gemeint war.
Und Helga sagte: »Du solltest dich von ihm scheiden lassen.«
Aber eine Scheidung kam überhaupt nicht in Frage. Die Kirche hat Scheidungen sowieso verboten. Und dann – mein geliebter Mann! Mit seinen schwarzen Augen und dem versonnenen Blick, der mich so leicht aus der Fassung brachte, und seiner großen Nase! Ich versuchte, ihm durch die Nasenlöcher in den Kopf zu sehen und herauszufinden, was er dachte. Es gelang mir nie. Er blieb mir immer ein Rätsel. Genau wie seine Reinlichkeit. Er hatte überhaupt keinen Körpergeruch. Da war bloß ein Hauch von Eau de Cologne, das er wegen Köln am Rhein so schätzte, also wegen mir. Im Krankenhaus roch er natürlich nach Desinfektionsmittel. Aber selbst wenn wir uns ganz nah waren, konnte ich immer nur mich riechen, ein Gestank, der ihn offenbar nicht störte oder über den er sich nicht beklagte, um meine Gefühle zu schonen. Über Politik sprachen wir nie. Wir warteten ab, daß der Sturm abflauen würde. Juden waren im Augenblick nicht sonderlich beliebt. Gesellschaftlich waren sie es nie gewesen. Und jetzt versuchte man, das in Gesetze zu fassen.
Ein paar Wochen später, im Oktober, platzte meine Schwiegermutter kurz vor dem Mittagessen bei uns herein, völlig außer Atem vor Erschöpfung oder Aufregung. Aber alles der Reihe nach. Erst mal ließ ich ein zusätzliches Gedeck für sie auflegen. Sie wehrte ab. Sie könne nichts essen. Also setzte ich sie auf mein Kanapee. Es hatte einen Überzug mit gelben Blättern auf einem beigen und dunkelbraunen Hintergrund, und so seltsam es in diesem Augenblick war, während sie an ihrem weißen Haarknoten herumdrückte und nach Luft schnappte – mir fiel auf, wie gut sie zu dem Muster paßte. Als Renate in der Tür erschien, sah die alte Frau sie an und brach in Tränen aus. Carl kauerte sich neben sie wie ein kleiner Junge und hielt ihre Knie umschlungen. Seine Hände zitterten. Ich sagte in freundlichem Ton zu Renate, sie solle auf ihr Zimmer gehen.
Wie sich herausstellte, hatten städtische Beamte alle Männer der Familie über sechzehn verhaftet und mitgenommen. Wohin, das wußte niemand. Es gab nur Gerüchte. Meine Schwiegermutter wollte, daß Carl herausfand, was los war. Er solle anrufen und sich erkundigen. Er habe Protektion, er sei der Chef des Krankenhauses. Schließlich sei ihm eben erst »im Namen des Führers« das Ehrenkreuz für Frontkämpfer des Weltkriegs verliehen worden. Carl sagte nichts. Er blieb neben ihr knien, und ich sah, daß seine Hände immer noch zitterten. Ich erschrak. Und dann besann ich mich. Ich sagte ihnen, die ganze Sache müsse ein Versehen sein. Schließlich sei mein Bruder Otto jetzt ein hochrangiges Parteimitglied. Und selbst mein anderer Bruder, Peterchen, der ewige Verlierer, gehörte inzwischen zu den Gewinnern. Er war der Partei beigetreten, wo sich niemand darum scherte, daß er keine akademische Laufbahn vorweisen konnte, und hatte bald einen Büroposten bei der SS bekommen. Meine beiden Brüder würden niemals zulassen, daß sich jemand an Carl vergriff.
Politik interessierte mich nicht. Ich hörte kein Radio. Hitler mochte ich nicht, weil mir seine Stimme zuwider war. Ein Schreihals. Wenn wir das Radio einschalteten und er hielt gerade eine Rede, sagte ich immer: »Da ist er ja wieder, kreischt herum wie eine Frau in den Wechseljahren!« Erst gestern hatte ich es wieder gesagt, während Liesel den Kaffee servierte, und sie hatte beim Einschenken innegehalten und gesagt: »Die Frau Doktor Rother kreischt aber nicht so.« Ich hatte ihr dafür einen Rüffel erteilt: »Liesel, was Sie über mich denken, ist vollkommen uninteressant.«
Plötzlich verschmolzen all die halblauten, albernen Beleidigungen der vergangenen Jahre zu einer zentnerschweren Gewißheit – man demütigte mich auf die schlimmste Weise, die man sich vorstellen konnte: der Staat belästigte meinen Mann. Aber dank meiner Verbindungen waren wir der Lage gewachsen. Ich sagte: »Entschuldige, Carl, aber ich kann diese Sache ganz leicht in Ordnung bringen. Du bleibst hier bei deiner Mutter. Und Renate laßt ihr nicht vor die Tür! Keine Besuche heute. Ich gehe aus. Wenn nötig, rufe ich Otto oder Peter an.«
Und mit Liesels Beistand – denn die Haushälterin gab mir zu verstehen, daß ich genau das Richtige tat, und erwartete mich schon mit Mantel, Hut und Schal in der Diele – stürmte ich in den kalten Nachmittag hinaus. Ich hatte nicht mal Zeit, sie dafür zu tadeln, daß sie sich schon wieder erdreistet hatte, mir ihre Meinung kundzutun.
Meine unmögliche Enkeltochter hat von alldem nie etwas begriffen. Dafür ist sie viel zu sehr verwöhnt worden – von einer Mutter, die sie vergötterte, von einem Vater, zu dem alle Welt ehrfurchtsvoll aufblickte, obwohl er jüdisch war und furchtbare Manieren hatte. Und getrübt haben ihre Kindheit einzig und allein die Fehler, die Renate machte. Zuerst wiederholte sie meinen eigenen und heiratete einen Juden, und dann machte sie weitere Fehler, vor allem den, daß sie noch einen Juden heiratete und, als wäre es immer noch nicht genug, schließlich auch noch einen dritten Juden. Aber dazu später mehr, viel mehr.
Wo war ich stehengeblieben? Mein Aussehen. Mit Ende Vierzig sah ich gut aus – man muß an sich arbeiten. Schick angezogen, ordentlich frisiert, dichtes kastanienbraunes Haar, blasser Teint, blaue Augen und vor allem: Klasse. So betrat ich das Polizeirevier in Leobschütz, und sofort setzte sich der diensthabende Beamte gerade hin, während eine Hand abwärts glitt und die Knöpfe seiner Hose abtastete. Alle zu.
»Ja, bitte, gnädige Frau.«
Das Revier war wie geleckt. Ein Schreibtisch, ein Wachhabender, dahinter die Fahne und das Führerbild.
»Ich bin Deutsche. Ich stamme aus einer angesehenen Familie. Mein Bruder ist Erster Staatsanwalt im Rheinland und Mitglied der NSDAP, Otto Gierlich. Ich möchte wissen, was Sie mit den Verwandten meines Mannes gemacht haben. Den Rothers. Sie sind verhaftet worden. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Sagen Sie mir, was das zu bedeuten hat. Ich will eine Antwort, auf der Stelle.«
Ich sprach, ohne die Stimme zu heben. Kalt und unerbittlich wie eine Stahlklinge ließ ich sie in ihn eindringen.
Das Blut schoß ihm ins Gesicht.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie sprechen, gnädige Frau.«
»Dann veranlassen Sie eine polizeiliche Untersuchung. Sofort. Man hat meine Verwandten entführt. Heute morgen um sechs wurden sie aus ihren Häusern geholt, mußten zum Bahnhof marschieren und wurden in einen wartenden Zug gesteckt. Stellen Sie fest, wo sie jetzt sind.«
Er stürzte aus dem Raum.
Ich nahm Platz. Langes Stehen bekam mir nicht. Es ist schlecht für die Krampfadern. Und ich will auch nicht bestreiten, daß ich aufgeregt war und mir Sorgen machte. Ich mußte immerzu an den armen Onkel Simon mit seiner Herzschwäche denken und an seine vier strammen Jungs, alle mit Käppchen auf dem Kopf. Und an Elses Mann, Onkel Leon, der Renate demnächst wieder die Haare schneiden sollte, und an seine fünf prächtigen Söhne. Und an Onkel Alfred, den jugendlichen Dieb, den es wieder einmal erwischt hatte.
Ich hörte aufgeregte Männerstimmen in einem Hinterzimmer, dann Schritte. Ein SS-Mann. Wie mein jüngerer Bruder. Er blickte auf mich herab. Das Lametta auf seiner Uniform schimmerte im Lampenlicht. Ich erhob mich.
»Gnädige Frau«, sagte der hochdekorierte Herr. »Ihre Verwandten …«
»Blutsverwandte sind sie nicht«, unterbrach ich ihn.
»Ich nehme an, Sie sind die Gattin von Doktor Carl Rother«, fuhr er fort, ohne meinen Einwurf zu beachten. »Ihn hat man zu diesem Ausflug nicht eingeladen, weil er meiner Frau letztes Jahr die Eierstöcke entfernt hat, eine bedauerliche Notwendigkeit, aber er hat seine Sache gut gemacht. Ein sehr gefragter Mann. Ein ausgezeichneter Chirurg.«
»Danke«, sagte ich automatisch. Dann besann ich mich. »Sind Sie nicht selbst katholisch? Ich weiß, Sie kommen nicht von hier, aber ich habe Sie in der Messe gesehen.«
Er überhörte meine Frage.
»Die Stadt Leobschütz muß dringend ihren Steinbruch in Ordnung bringen. Einige ihrer Verwandten schienen für diese kleine Aufgabe bestens geeignet. Sie befinden sich zur Zeit in der Obhut der städtischen Müllabfuhr unter Leitung von Obersturmführer Wolf. Sobald sie ihre Arbeit getan haben, werden sie wieder ihren Familien überstellt. Vielleicht schon heute abend. Sonst morgen.«
»Ich möchte eine Beschwerde gegen diese Behandlung einreichen.«
»Vielleicht warten Sie lieber ihre Rückkehr ab. Soviel ich weiß, sind alle freiwillig mitgegangen. Sie werden nämlich ordentlich bezahlt. Und Geld besitzt für diese Leute große Anziehungskraft.«
Irene wuchs in New York auf, in einem Stadtteil voller Krimineller, meistens Farbige, Neger, Puertoricaner, und natürlich auch Juden. Deutsche wohnten da nicht. Warum mußte Renate ihren Kindern das antun? Sie hätte mit ihnen genausogut in Germantown wohnen können, wo es sauber ist und wo ihre Kinder dann auch in den Religionsunterricht gingen. Aber für die Schwestern der Unbefleckten Empfängnis war Irenes Seele praktisch unerreichbar, solange das Kind ständig zwischen ihrer stillen, vernünftigen Welt des Glaubens und dem verwahrlosten Uptown mit seinen Juden und seinen schmuddeligen darkies unterwegs war. Renate versprach immer wieder, sie würde mit ihrer Familie nach Downtown ziehen. Aber das sagte sie nur, weil sie genauso nett und freundlich wie Carls Mutter sein wollte – immer »ja, ja, natürlich, du hast ja so recht« sagen und dann das Gegenteil tun. Auf kritische Bemerkungen reagierte sie mit einem breiten, falschen Lächeln oder mit einem Geschenk – sie verteilte ständig Geschenke – und damit, daß sie zugab, natürlich sei alles ein großer Fehler, den sie sofort abstellen werde. Später fand ich heraus, daß Renate nach den beiden Religionsstunden mit Irene immer bei einem jüdischen Metzger vorbeifuhr und für sich und sie koschere Hotdogs kaufte, die die beiden auf dem Nachhauseweg aßen – »als Gegengift«. Als Gegengift wogegen, möchte ich mal wissen! Aber davon später mehr.
Carls Verwandte kamen nach drei Tagen zurück. Die Schläfenlocken hatte man ihnen abgeschnitten und die Köpfe geschoren. Sie hatten ohne Mantel in der bitteren Kälte arbeiten müssen und waren übersät mit Kratzern und blauen Flecken. Onkel Simon war so dumm gewesen, seine Taschenbibel mitzunehmen. Man hatte sie entdeckt, eine Ausbeulung an seiner Hose. Der ganze Trupp hatte sich im Kreis aufstellen und zusehen müssen, wie die Bibel zerrissen wurde, Blatt für Blatt, bis nichts mehr von ihr übrig war. Das Schlimmste: ihr Bedürfnis mußten sie über einem Graben verrichten. Vor aller Augen mußten sie sich in der Kälte hinhocken. Waschen durften sie sich nicht, und Sachen zum Wechseln hatten sie nicht dabei.