Das Leuchten über den Klippen - Sophia Cronberg - E-Book

Das Leuchten über den Klippen E-Book

Sophia Cronberg

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Beschreibung

Eine sturmumtoste Insel vor der Küste Irlands und eine tragische Liebe über die Zeiten hinweg

Nachdem Rebecca entdeckt hat, dass ihr Mann sie betrügt, flüchtet sie Hals über Kopf in ein kleines Cottage in Irland direkt am Meer. Von dort aus macht sie Ausflüge nach Skellig Michael - einer winzigen Insel vor der zerklüfteten Küste. Fasziniert durchstreift sie die Insel und ihre verfallene Klosterruine. Im Mittelalter, so heißt es, habe sich die junge Aislin in einen Mönch des Klosters verliebt. In einer Sturmnacht stürzte sie von den Klippen in den Tod, und seitdem soll ihr Geist in dem Kloster sein Unwesen treiben.

Rebecca will herausfinden, was damals geschah. Dabei bekommt sie Hilfe von Ian, der die Insel wie kein zweiter kennt. Die beiden kommen sich näher, doch dann gerät auch Rebecca in große Gefahr. Wird sich die Vergangenheit wiederholen?

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Prolog

ERSTER TEIL Rónán und Aislinn

1

2

3

4

5

6

7

8

9

ZWEITER TEIL Ceit

10

11

12

13

14

15

16

17

18

DRITTER TEIL Emma

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

Epilog

Gegenwart

Historische Anmerkung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Eine sturmumtoste Insel vor der Küste Irlands und eine tragische Liebe über die Zeiten hinweg

Nachdem Rebecca entdeckt hat, dass ihr Mann sie betrügt, flüchtet sie Hals über Kopf in ein kleines Cottage in Irland direkt am Meer. Von dort aus macht sie Ausflüge nach Skellig Michael – einer winzigen Insel vor der zerklüfteten Küste. Fasziniert durchstreift sie die Insel und ihre verfallene Klosterruine. Im Mittelalter, so heißt es, habe sich die junge Aislin in einen Mönch des Klosters verliebt. In einer Sturmnacht stürzte sie von den Klippen in den Tod, und seitdem soll ihr Geist in dem Kloster sein Unwesen treiben.

Rebecca will herausfinden, was damals geschah. Dabei bekommt sie Hilfe von Ian, der die Insel wie kein zweiter kennt. Die beiden kommen sich näher, doch dann gerät auch Rebecca in große Gefahr. Wird sich die Vergangenheit wiederholen?

Julia Kröhn schreibt als

Sophia Cronberg

Das Leuchten über den Klippen

Es ist ein unglaublicher, unmöglicher, verrückter Ort.

Ich sage euch, dieser Ort gehört zu keiner Welt,

in der ich und Sie leben und arbeiten.

Er ist Teil unserer Traumwelt.

Bernard Shaw über die Insel Skellig Michael

Prolog

Skellig Michael, 1116

Der Mönch schwitzte. Er konnte sich nicht erinnern, dass ihm auf dieser winzigen, sturmumtosten Felseninsel inmitten des Meeres jemals so heiß geworden war. Er konnte sich auch nicht erinnern, jemals so geschnauft zu haben. Manchmal hatte er Steine geschleppt, um die Stufen der Treppen auszubessern, doch nie zuvor hatte er versucht, mit einem Spaten ein Loch zu graben. Immer wieder stieß er auf etwas Hartes. Die vermeintlich saftig braune Erde war so dünn wie die Haut eines Mädchens — er konnte kaum daran kratzen, ehe er nicht schon wieder Stein fühlte. Und wenn er noch so verbissen schuftete — am Ende würde er wohl eher den Spaten ruiniert als ein Loch gegraben haben.

Aufhören konnte er dennoch nicht. Er musste etwas tun ... konnte nicht einfach stillsitzen ... darüber nachdenken, was er getan hatte ... oder gar beten ... Nein, beten konnte er am allerwenigsten! Er durfte es nicht!

Nirgendwo, so hieß es, wäre man dem Himmel so nah wie auf dieser Insel, deren zwei Gipfel geradewegs in das unendliche Blau wiesen. Wer lange genug hinaufstarrte und lange keiner menschlichen Stimme mehr gelauscht hatte, könnte die Engel dahinter singen hören. Aber der Mönch blickte nicht hoch in den Himmel, sondern auf den Boden vor sich, vernahm keine singenden Engel, sondern keckernde Dämonen, fühlte sich nicht im Himmel, sondern geradewegs in der Hölle gelandet.

Denn ja, so musste Satans Reich beschaffen sein: Es glich keinem Meer aus Feuer, in dem die armen Sünder gequält wurden, sondern war wie diese steinerne Wüste, in der nichts mehr lebte, nichts mehr atmete ...

Allerdings: Er selbst atmete noch, keuchte regelrecht, während der Mann, der nicht weit von ihm entfernt bäuchlings auf dem Boden lag, für immer verstummt war. Er selbst hatte ihn erschlagen, konnte ihm mit seinen verschwitzten Händen aber kein Grab graben, sich nun noch nicht mal mehr auf den Beinen halten. Erst ließ er den Spaten fallen, dann sank er auf die Knie. Stundenlang hatte er früher in gleicher Position ausgeharrt, um Gott anzurufen und ein Heiliger zu werden. Doch von jetzt an würde er nie etwas anderes sein als ein Mörder, und dass niemand von seiner Tat wusste, machte es nicht besser, im Gegenteil: Welche Erleichterung wäre es, wenn nicht nur er selbst sich dieser Tat anklagen müsste, sondern ein anderer es täte. Aber der Wind säuselte nur, anstatt zu heulen, die Wellen tanzten, anstatt mit ihren weißen Fäusten die Klippen zu prügeln. Selbst die Möwen, die ruhelos den Himmel durchpflügten, schwiegen, so dass nur das Echo des letzten Schreis zu hören war, den der Tote ausgestoßen hatte — und seine eigenen Gedanken.

Du musst dich entscheiden ... Du hast nicht mehr viel Zeit ... Heb den Spaten auf und stoße ihn weiterhin sinnlos auf Stein ... Oder lebe weiter, was vielleicht nicht minder sinnlos ist, aber die einzige Möglichkeit, um für deine Schuld zu büßen.

Wie erstarrt lauschte er seinen Gedanken, bückte sich dann unvermittelt, allerdings nicht nach dem Spaten, sondern um den Toten mit ein paar der rötlich braunen Steine, die hier überall lagen, zu bedecken. Ob diese die Vögel davon abhalten würden, sich am Leichnam gütlich zu tun, wusste er nicht. Er achtete auch nicht darauf, ob die Hände des Toten auf der Brust verschränkt waren und dass der Kopf Richtung Westen und die Beine Richtung Osten zeigten.

Hauptsache, die fahle Haut war nicht mehr zu sehen, nicht die schlaffen Glieder, nicht der leere Blick. Und Hauptsache, die Seele fand so selbstverständlich ihren Weg ins Jenseits, wie ihn die Sonne vom Morgen bis zum Abend ging.

Nicht dass von dieser Sonne viel zu sehen oder zu spüren war. Als der Mönch den Blick hob, wurde er nicht von ihr geblendet, sondern sah stattdessen etwas Dunkles über den Himmel ziehen — einen Eissturmvogel, der Vorbote des Winters. Für gewöhnlich erschreckte ihn sein Anblick ebenso wie der von Krähen oder Raben, denen man nachsagte, Unglück zu bringen. Heute aber war etwas zu Schlimmes geschehen, um den Winter zu fürchten. Heute war ihm heiß wie nie, er schwitzte wie nie.

ERSTER TEILRónán und Aislinn

1

Rebecca starrte auf den Felsen, der spitz aus dem dunklen, schaumgekrönten Wasser ragte. Die winzige Insel glich einer riesigen Haifischflosse. Oder nein, eigentlich dem stolz geblähten Segel eines majestätischen Schiffes — oder noch mehr einer Pyramide, wenngleich diese nicht von Menschenhand gemacht worden war, sondern von Mächten kündete, die irgendwo zwischen Himmel und Meer wohnten und das schroffe Eiland aus den dunklen Fluten hatten erstehen lassen.

Auch an die Spitze einer gotischen Kathedrale ließ die Insel denken, wies doch auch diese in die blauen Weiten des Himmels, hinter denen etwas wohnte, was stärker, größer und ewiger als der Mensch war.

»Sie können gerne einen Ausflug nach Skellig Michael machen. So heißt diese winzige Insel vor der irischen Westküste.«

»Wie bitte?«, entfuhr es Rebecca. Sie fand zurück ins Hier und Jetzt und löste den Blick von der Fotografie, die hinter der Rezeption hing.

»Ja«, sagte die Dame, die sie im Bed and Breakfast in Empfang genommen hatte, »es werden täglich Bootstouren zur Insel angeboten. Natürlich sind diese wetterabhängig — man muss am Morgen vor der Abfahrt anrufen und nachfragen, ob sie auch wirklich stattfinden. Ich kann das gerne für Sie arrangieren. Mein Bruder hat ein Bootsunternehmen, und ich begleite ihn oft. Die Fahrgäste wollen schließlich ein wenig betreut werden, wissen Sie, ich mache Tee und habe sicherheitshalber warme Kleidung mit. Man unterschätzt häufig den Wind, und an Tabletten gegen die Übelkeit denken viele erst recht nicht. Manch einer hat das Boot schon mit der festen Überzeugung bestiegen, ein echter Seebär zu sein, um bei der ersten Welle mit grünem Gesicht über der Reling zu hängen ... Ach, meine Liebe, Sie werden ja ganz blass. Ich wollte Sie gewiss nicht erschrecken. Wie gesagt, es gibt Tabletten gegen die Seekrankheit und ...«

Rebecca war in der Tat schwindlig geworden, aber das lag weniger daran, dass sie sich eine Bootsfahrt auf dem offenen Meer ausmalte, als an der langen Reise, die sie hinter sich hatte.

»Mrs Donovan«, sagte sie bestimmt, ehe die andere zu einem weiteren Monolog ausholen konnte, »Sie haben also ein Zimmer frei?«

»Sagen Sie Sheila zu mir. Und ja, ich kann Ihnen ein sehr schönes Zimmer anbieten. Es liegt zwar auf der Rückseite — das heißt, Sie sehen nur auf die Brücke, nicht Richtung Skellig Michael —, aber um den Ausblick zu genießen, können Sie jederzeit in den Salon kommen. Dort gibt es auch das Frühstück, den Nachmittagstee und ...«

»Und für wie viele Nächte könnte ich das Zimmer haben?«

Sheila schwieg ausnahmsweise, als sie ihren Kalender studierte. Sämtliche Notizen hatte sie mit einem ziemlich stumpfen Bleistift eingetragen, weit und breit war kein Computer zu sehen. So tief, wie sie sich über die Seite des Kalenders beugte, hingen ihr etliche Strähnen des kinnlangen, auffällig rot gefärbten Haares ins Gesicht, aber sie strich sie nicht zurück. »Sie können das Zimmer für drei Nächte haben, danach bin ich leider ausgebucht.«

Sheila hob den Kopf und warf einen Blick auf Rebeccas Tasche, an die diese sich regelrecht festklammerte. Sie war nicht sehr groß, und Rebecca konnte sich auch nicht erinnern, was genau sie in der Eile eingepackt hatte.

»Das genügt doch, oder?«, fragte Sheila. »Die meisten Gäste bleiben nicht länger hier auf Valentia Island. Sie fahren einmal rund um die Insel und machen einen Ausflug nach Skellig Michael. Natürlich ist die Enttäuschung immer groß, wenn das Wetter mal nicht mitspielt. Aber es gibt auch noch das Skellig Experience Center, ein ganz tolles Museum gleich neben der Brücke. Es ist Ihnen sicher aufgefallen, als Sie hergekommen sind, es sieht ein wenig aus wie ein Bunker, wenn Sie mich fragen. Dort sind die Mönchszellen nachgebaut worden, um ...«

»Mönchszellen?«

Rebecca starrte wieder auf das Foto von der Felseninsel, und Sheila folgte ihrem Blick.

»Kaum vorstellbar, dass auf diesem schroffen Eiland je Menschen gelebt haben, nicht wahr? Aber ja, Skellig Michael war im Mittelalter bewohnt. Zwölf Mönche und ein Abt lebten dort. Damals gab es ja noch keine motorisierten Boote, sie sind mit ihren Schiffen einen ganzen Tag dorthin unterwegs gewesen. Und wie hart das Leben gewesen sein muss! Auf der Insel konnte man ja nicht sonderlich viel anbauen, vielleicht ein bisschen Gemüse und ein paar Kräuter. Ansonsten ernährten sich die Mönche von Vögeln und deren Eiern, und natürlich von Fischen, aber richtig satt sind sie wohl nicht geworden. Auch die Leuchtturmfamilien, die im 19. Jahrhundert auf Skellig Michael ...«

Die Tasche fühlte sich plötzlich sehr schwer an. »Drei Nächte genügen fürs Erste«, fiel Rebecca Sheila ins Wort.

»Ein Cottage vermiete ich übrigens auch, aber das müsste ich erst mal gründlich saubermachen. Schauen Sie sich das Zimmer an. Wie gesagt, es hat keinen Meerblick, aber die Brücke ist gut zu sehen.«

Obwohl Rebecca gerade selbst über die Brücke gefahren war, die Valentia Island mit dem irischen Festland oder genauer gesagt dem County Kerry verband, vermeinte sie zum ersten Mal davon zu hören. Plötzlich fühlte sie sich so verloren, dass sich auch keine Zweifel geregt hätten, hätte Sheila eine Bootsfahrt über den Lake Michigan vorgeschlagen.

»Sie sagen mir doch Bescheid.«

»Bitte?«

»Nun, falls ich für Sie einen Ausflug nach Skellig Michael arrangieren soll.«

»Ach so, ja.«

Rebecca nahm den Schlüssel an sich und warf einen letzten Blick auf das Foto. Nun las sie auch das Zitat von Bernard Shaw, das darunter stand. »Skellig Michael ist Teil unserer Traumwelt.«

Nun ja, sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand davon träumte, freiwillig auf dieser Insel zu leben wie einst die Mönche. Sie selbst wiederum hatte zwar jahrelang von einer Reise nach Irland geträumt, aber dass sie diese nun angetreten hatte, lag daran, dass sich ihr Leben in einen Albtraum verwandelt hatte. Und als sie wie betäubt die Stufen hochstieg und ihre Schritte von einem weichen, roten Teppich gedämpft wurden, hatte sie nicht das Gefühl, dass sie bald daraus erwachen würde.

An dem Schlüssel hing eine rote Quaste, von der sich etliche Fäden lösten. Mehrmals verfehlte Rebecca das Schlüsselloch. Kalter Schweiß brach ihr aus und erinnerte sie daran, dass sie kaum geschlafen hatte. Als sie endlich doch die Türe aufsperren konnte, eilte sie sofort zum Bett und ließ sich mitsamt ihren Schuhen darauf fallen. Eine Weile blieb sie mit geschlossenen Augen liegen, ehe sie sich umsah. Das Zimmer war nicht sehr groß, aber gemütlich. Der Teppichboden war — anders als im Gang und Treppenhaus — weiß, aber genauso flauschig und dick. Zwischen dem King-Size-Bett und dem Fenster war immerhin Platz genug für einen Lehnstuhl. An dem Polster, der dort lag, befanden sich ebenfalls etliche Quasten, diese allerdings in Mintgrün. Den gleichen Farbton hatten die Blümchen auf den Vorhängen und die Vögel auf den beiden Teetassen, die — neben einem Wasserkocher und einem Holzkästchen, das mit löslichem Kaffee und Teepackungen bestückt war — auf einem kleinen Tischchen standen.

Rebecca erhob sich, ignorierte ihre Kopfschmerzen und füllte den Wasserkocher im Bad mit Wasser. Das Bad war ebenfalls klein, aber sauber und modern. In der Badewanne konnte man gerade so sitzen, aber im Moment konnte sie sich trotz ihres verschwitzten Körpers ohnehin nicht aufraffen, auch nur zu duschen, geschweige denn ein Vollbad zu nehmen. Sobald sie sich einen Kaffee zubereitet hatte, starrte sie mit der Tasse in der Hand zum Fenster hinaus, sah aber nichts von der Brücke, die Valentia Island mit dem Festland verband, sondern nur Nebelschwaden.

Schon beim ersten Schluck verbrannte sie sich die Zunge, aber das hielt sie nicht davon ab, den Kaffee zügig auszutrinken, und danach schien ihr Kopf nicht länger in Watte gepackt zu sein. Dennoch fehlte ihr die Energie, ihre Tasche auszupacken und zu prüfen, ob sie wirklich alles Nötige eingepackt hatte. Sie zog lediglich ihr Smartphone aus der Handtasche, schaltete es ein und stellte fest, dass es nur noch zu dreizehn Prozent geladen war. Und sie hatte zwar ihr Ladekabel mitgenommen, jedoch keinen Adapter für die Steckdose.

Mist, Mist, Mist.

Aber nun gut, als sie heute Morgen das Einfamilienhaus im Taunus verlassen hatte und mit dem Taxi zum Frankfurter Flughafen gefahren war, hatte sie nicht gewusst, wohin es sie verschlagen würde. Das hatte sie allein dem Zufall überlassen.

Ob Sheila vielleicht einen Adapter hatte? Ehe sie sich aufraffen konnte, nach unten zu gehen und zu fragen, vibrierte das Smartphone. Eine SMS ... Bestimmt schrieb Nils ihr ... Vielleicht war er schon zu Hause und hatte gemerkt, dass sie nicht da war. Der Text verschwamm vor ihren Augen, doch als sie ihn endlich entziffern konnte, stellte sie fest, dass es nicht Nils war, sondern ihr Mobilfunkanbieter, der die Kosten für einen Daily oder Weekly Pass fürs Internet auflistete.

Rebecca ließ sich auf die Kissen fallen und tippte eine Nummer ein.

Kein Anschluss unter dieser Rufnummer.

Richtig, sie hatte vergessen, die Schweizer Vorwahl einzugeben. Bevor Johanna Richtung Genf aufgebrochen war, hatte Nils einen Vertrag mit einer Schweizer Telefongesellschaft abgeschlossen, weil dann die Anrufe billiger wären.

Schon verrückt. Das Schweizer Eliteinternat, das Johanna seit einigen Wochen besuchte, kostete monatlich so viel wie eine großzügige Mietwohnung in Falkenstein im Taunus — eine der teuersten Gegenden Deutschlands —, aber bei solchen Details legte Nils Wert auf Sparsamkeit.

Es klingelte sechsmal, doch als Rebecca schon auflegen wollte, ertönte etwas unwirsch: »Ja? Was gibt’s?«

»Schatz, ich bin’s ... Mama ...«

Anstelle einer Antwort vernahm Rebecca nur ein Rauschen. Sie erhob sich schnell, trat zum Fenster. »Johanna?«

»Mir geht’s gut, Mama, wirklich, du musst nicht jeden Tag anrufen.« Obwohl sie das Gesicht ihrer Tochter in diesem Augenblick nicht sehen konnte, war Rebecca überzeugt, dass sie gerade entnervt die Augen verdrehte — wie so oft seit jenem Tag, da sie beschlossen hatte, kein Kind mehr zu sein, sondern erwachsen. Und genauso wollte sie auch behandelt werden.

»Ich wollte doch nur sicher sein ...«, setzte Rebecca an.

»Ich habe einen Platz in der Theater-AG bekommen, stell dir vor!« Jetzt funkelten bestimmt Johannas dunkle Augen, die sie von ihr hatte. »Und mit dem Französisch klappt’s schon ganz gut ... In meine Klasse geht ein Mädchen, das aus Monaco kommt. Sie spricht vier Sprachen perfekt, ihr Vater ist irgend so ein hohes Tier in der Formel 1.«

»Das freut mich«, sagte Rebecca, obwohl ihre Stimme etwas gepresst klang.

Sie dachte an ihren Streit mit Nils, als Johanna zum ersten Mal ihren Wunsch geäußert hatte, ihrer besten Freundin aufs Eliteinternat zu folgen.

Was, wenn sie dort zum Snob wird?, hatte Rebecca zu bedenken gegeben. Wenn sie ständig mit diesen zickigen Millionärsgören zusammen ist und irgendwann genauso wird wie diese?

Doch Nils hatte gelassen geantwortet: Was, wenn das ihre große Chance ist, die ihr die ganze Welt eröffnet, und du ihr die Chance verbaust, weil du einfach nicht loslassen kannst?

Rebecca hatte nachgegeben und sagte sich seitdem jeden Tag wie ein Mantra vor: nicht klammern, nicht klammern, nicht klammern. Auch jetzt hatte sie sich so weit im Griff, um zu murmeln: »Ich will dich nicht weiter stören, irgendwann erzählst du mir ausführlich davon, mach’s gut, Schatz.«

Doch kaum hatte sie aufgelegt, schossen ihr die Tränen in die Augen. Das Zimmer, das ihr eben noch so gemütlich erschienen war, wurde ihr schlagartig zu eng. Sie schob ungestüm die geblümten Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster — zumindest versuchte sie es. Leider ließ es sich nur kippen. Wie eine Ertrinkende presste sie ihr Gesicht in den schmalen Spalt, atmete tief ein, glaubte, wie von weit her Sheilas Stimme zu hören, die offenbar gerade ankommende Gäste begrüßte. Beinahe überhörte sie, dass eine neuerliche SMS eintrudelte.

Diese kam von Nils.

Er weiß es ... Er weiß es ... Er weiß, dass ich es herausgefunden habe ... dass ich deswegen abgehauen bin ...

Doch als sie die Nachricht öffnete, las sie nur: Hast du schon meine Hemden abgeholt? Ich brauche morgen das hellblaue.

Wenn ihre Finger nicht so gezittert hätten, hätte sie sofort geantwortet. Und wenn sie das hellblaue Hemd in den Händen gehalten hätte, hätte sie es zerschnitten.

Davon war sie zumindest für wenige Augenblicke überzeugt, ehe sie sich eingestand, dass sie ihn noch nicht einmal per SMS mit ihren Vorwürfen konfrontieren konnte, geschweige denn von Angesicht zu Angesicht. Insgeheim war sie sogar erleichtert, dass er ihre Flucht noch nicht einmal bemerkt hatte.

Allerdings war es einer anderen nicht entgangen, wie eine weitere Textnachricht verriet. Diese stammte von ihrer Freundin und Nachbarin Charlotte, mit der sie heute zum Pilates verabredet gewesen war. Rebecca war jedenfalls davon überzeugt, dass es sich um Pilates handelte, während Charlotte die Sporteinheiten als Mischung aus Yoga, Kickboxen und Ballett bezeichnete. Rebecca rieb sich den verspannten Nacken. Zumindest ein Gutes hatte ihre Flucht — sie ersparte sich diese mühsamen Verrenkungen.

Das Smartphone war noch zu neun Prozent geladen, als sie Charlottes Nummer wählte. Ehe sie auch nur den Mund aufmachen konnte, wurde sie von einer Fülle an Vorwürfen überschüttet. »Kannst du mir nicht wenigstens rechtzeitig Bescheid sagen, wenn du verhindert bist? Ich habe EWIG auf dich gewartet, bin eine GANZE Viertelstunde zu spät gekommen. Die anderen haben sich bereits aufgewärmt, weißt du, wie komisch die ersten Übungen bei mir aussahen? Und warum kannst du nicht wenigstens an dein Handy gehen? Was hast du denn Wichtiges zu tun, Johanna ist doch jetzt im Internat. Ich hingegen muss mir einen freien Vormittag mühsam freischaufeln. Du solltest das doch noch wissen, wie das mit kleinen Kindern so ist ... wobei du ja nur eines hattest. Mit zweien ist es manchmal die HÖLLE, das sage ich dir.«

Rebecca ließ das Smartphone sinken, um sich wenigstens den Rest des Lamentos zu ersparen.

Ja, ja, dachte sie, ich weiß, ich weiß. Du bist die gestresste Kleinkindmutter, während ich den ganzen Tag auf der faulen Haut liege. Das Einzige, worum ich mich jetzt noch kümmern muss, sind blaue Hemden. Und nicht einmal das bringe ich auf die Reihe.

Ferdinand und Gustav, Charlottes Söhne, waren eins und drei. Jedes Mal, wenn ihre Namen fielen, spottete Nils, ob Charlotte ihre Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum nicht mit etwas weniger antiquierten Namen unter Beweis stellen hätte können. »Werden irgendwann auch wieder Namen wie Gernot und Eberhard gebräuchlich?«, pflegte er zu fragen.

Charlotte selbst fand die Namen ihrer Jungs »hip«. Für eine Bildungsbürgerin hielt sie sich im Übrigen nicht, eher für eine Frau, die das Muttersein neu erfinden wollte. Ihr Erziehungsstil war, gelinde gesagt, etwas widersprüchlich. Einerseits legte sie viel Wert auf Tischmanieren — und das in einem Alter, da Kinder vorzugsweise Bananenbrei in der ganzen Wohnung verteilen —, andererseits brach sie, wie sie behauptete, ganz bewusst mit Konventionen, indem sie Gustav zum Ballett anmeldete (und ja, es war wirklich klassisches Ballett, keine Mischung aus Pilates, Yoga, Kickboxen oder Sonstigem). Jeden Nachmittag leistete sie sich ein Kindermädchen, aber eine Putzfrau, so erklärte sie, käme ihr nicht ins Haus. Stattdessen besaß sie einen sündhaft teuren automatischen Staubsauger, der in ihren Augen superpraktisch war, in denen von Nils hingegen nutzlos, denn »in den Ecken muss sie ja doch selber nachputzen«.

Charlotte allerdings, nach eigenen Aussagen ein »Freigeist«, waren die Ecken egal. Dort ließ sie gerne Spinnweben wuchern, und sie erschlug eigenhändig Fliegen, um ihre Hausspinne damit zu füttern. Diese hatte sie — zu Johannas großer Begeisterung — Thekla-Thusnelda genannt. Thekla, weil auch die Spinne in Biene Maja so hieß, und Thusnelda, weil das in Charlottes Augen ein typischer Spinnenname war.

Charlottes schrille Stimme riss Rebecca aus den Erinnerungen. »Also, was ist los mit dir?«

Rebecca atmete tief durch. Sie schloss das Fenster wieder, als gälte es, ein Geheimnis zu hüten, obwohl Sheila sicherlich ohnehin kein Deutsch verstand.

»Nils betrügt mich«, sagte sie schließlich leise.

Eine Weile herrschte am anderen Ende der Leitung Stille. »Ach du Scheiße, bist du sicher?«

»Absolut.«

»Aber wie ...«

»Wie ich es herausgefunden habe?«

Nun war es Rebecca, die schwieg, und entgegen ihrer Gewohnheiten bohrte Charlotte ausnahmsweise nicht nach. Wahrscheinlich konnte sie sich all die unschönen Details denken: Lippenstiftspuren am Hemdkragen ... der Geruch von fremdem Parfüm am Smoking ... Schnüffeln im E-Mail-Postfach. Nils benutzt zwei Passwörter. Das für die Bank war schrecklich kompliziert, da es genaue Vorschriften gab, aus wie vielen Buchstaben, Zahlen und Sonderzeichen es bestehen musste, aber für seine privaten E-Mails verwendete er seit Jahren schlichtweg »Johanna«.

Wie einfallsreich.

Rebecca ging ins Bad und setzte sich auf den Klodeckel. Sie hatte das Gefühl, nur weitersprechen zu können, wenn sie in einem möglichst kleinen Raum saß — vielleicht, weil dann auch der Schmerz, der Schock, die Enttäuschung keinen Platz fanden. Vorerst sagte sie allerdings gar nichts. Das erste Geräusch nach gefühlten Ewigkeiten war das Vibrieren des Smartphones, das signalisierte, dass der Akku bald endgültig leer war.

»Du musst jetzt einen kühlen Kopf bewahren«, sagte Charlotte schließlich und versuchte frohgemut zu klingen. »Lass dich nur ja nicht von Emotionen hinreißen.«

»Ich dachte, Emotionen nicht rauszulassen, wäre ungesund, weil man sich dann Krebs oder Depressionen oder beides holt.«

»Na ja, bei mir kannst du dich gerne auskotzen. Aber ihm gegenüber musst du Haltung bewahren.«

Rebecca war nicht nach Kotzen, sondern nach Schlafen zumute. »Ich habe ja in gewisser Weise schon Übung«, murmelte sie. »Beim letzten Mal war es irgendwann wieder vorbei.«

»Beim letzten Mal?«

Das Smartphone vibrierte wieder. »Nils hatte schon vor zwei Jahren eine Affäre«, bekannte Rebecca. »Ich habe es damals für mich behalten, ich wollte ...«

Ja, was hatte sie eigentlich gewollt?

»Ach so«, fiel Charlotte ins Wort und klang nun regelrecht erleichtert. »Dann ist es ja nicht so schlimm.«

»Wie bitte?«, entfuhr es Rebecca.

»Männer, die wiederholt fremdgehen, verlassen ihre Frauen nicht. Das ist statistisch erwiesen.« Charlotte berief sich oft auf erfundene Statistiken. »Weißt du, wenn er sich so richtig in eine andere verknallt hätte, wäre eure Ehe vielleicht in Gefahr. Aber dann und wann eine Affäre ... Ach, das läuft doch nie und nimmer auf was Ernstes hinaus. Deswegen setzt er doch nicht aufs Spiel, was er hat.«

Eine Frau, die seine blauen Hemden zur Reinigung brachte. Wobei das notfalls auch ihre Haushälterin machen konnte. Anders als bei Charlotte kam bei Rebecca dreimal die Woche eine ins Haus.

»Würdest du es auch so locker sehen, wenn Erich dich betrügt?«, fragte Rebecca. Auf dem Klodeckel wurde es langsam unbequem, aber anstatt aufzustehen, klammerte sie sich regelrecht daran fest.

»Solange ich es nicht weiß ...«

»Aber ich weiß es!« Ihre Stimme hallte von den Badezimmerwänden. Sie klang hysterisch ... und vor allem klang sie fremd.

»Ach Liebes, beruhige dich! Wie ich schon sagte: Du musst die Sache jetzt ganz nüchtern betrachten. Du darfst ihn keinesfalls mit der Wahrheit konfrontieren — wenn man ihnen Vorwürfe macht, ziehen sich Männer in ihr Schneckenhaus zurück. Tu lieber so, als wäre alles in Ordnung. Mach dich hübsch, koch was Feines, verwöhne ihn ein bisschen, du wirst sehen, dann verliert er bald die Lust an der anderen.«

»Das meinst du nicht wirklich ernst!«

»Was wäre denn die Alternative?«

Das, was ich gemacht habe, dachte Rebecca im Stillen. Ich habe meine Sachen gepackt, bin zum Flughafen gefahren, habe den Zufall entscheiden lassen. Der dritte Ort, der auf der Anzeigetafel steht, ist mein Ziel ...

Es war Dublin gewesen, und sie hatte sogar noch einen Platz in der Maschine bekommen. Dort angekommen, war sie mit dem Taxi zum Bahnhof gefahren, und der dritte Ort, der dort auf der Anzeigetafel aufschien, war Limerick gewesen. Von nun an hatte sie sich eigentlich nicht mehr auf den Zufall verlassen, sondern mit dem Leihauto Richtung Norden, nach Connemara, fahren wollen, doch an einem Kreisverkehr hatte sie die falsche Ausfahrt erwischt und war im Südwesten der Insel — im County Kerry — gelandet. Als sie müde geworden war, war sie gerade an dem kleinen Ort Portmagee vorbeigekommen und hatte von dort kurzerhand die Abbiegung nach rechts genommen — zur Brücke, die nach Valentia Island führte.

»Siehst du«, sagte Charlotte, die ihr Schweigen als Zustimmung wertete. »Es gibt keine Alternative. Männer und ihre Hormone ... Ach, das ist eine traurige Geschichte. Er muss sich eben noch mal beweisen, was er für ein toller Hecht ist. Du wiederum hast ein prima Leben, das willst du doch nicht ernsthaft aufs Spiel setzen! Rebecca, du bist zweiundvierzig! Die Typen, die du jetzt noch abkriegen würdest, sind doch allesamt gestört. Oder sie haben Bälger an der Backe, um die du dich dann kümmern musst. Patchworkfamilie ist doch Scheiße. Jetzt, da Johanna aus dem Haus ist, kannst du endlich dein Leben genießen und ...«

Sobald Johannas Name fiel, stiegen Rebecca wieder Tränen in die Augen. »Der Akku ist gleich leer ...«, warf sie ein.

Doch Charlotte hatte sich gerade erst in Fahrt geredet. »Dieses ganze Geschwafel von der großen Liebe und so. In einer Ehe muss das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmen. Ich will ja nicht sagen, dass Nils perfekt ist. Aber er ist doch sehr großzügig, du kannst tun, was du willst, und wenn du es fürs Ego brauchst, such dir eben einen Lover. Der kommt deutlich billiger als ein neuer Partner. Du denkst doch nicht ernsthaft über eine Trennung nach, oder? Ich bitte dich, was willst du denn ohne Nils machen? Du hast damals noch nicht mal dein Referendariat abgeschlossen! Und in deinem Alter kannst du das nicht mehr nachholen.«

»Jetzt tu nicht so, als wäre ich eine alte Oma!«

»Und tu du nicht so, als wäre die Vierzig kein Einschnitt. Wenn du dich von Nils trennst, kannst du deinen bisherigen Lebensstandard vergessen.«

»Ich soll also aus wirtschaftlicher Berechnung bei ihm bleiben?«

»Mein Gott, wie du das sagst! Du warst doch noch nie so feministisch!«

Nein, aber romantisch. »Der einzige Grund, warum ich bei einem Mann bleibe, ist, weil ich ihn liebe.«

»Liebst du Nils noch?«

Rebecca erhob sich vom Klodeckel. Ihr Nacken schmerzte, obwohl sie ihn nun mit der freien Hand massierte. Vielleicht hätte sie heute doch zum Pilates gehen sollen.

»Natürlich«, sagte sie schließlich.

»Na also, dann musst du ihm das auch sagen! Oder besser noch — du musst es ihm zeigen!«

Rebecca unterdrückte ein Seufzen. »Das wird etwas schwierig, ich bin nämlich in Irland.«

»Irland? Wie kommst du denn ausgerechnet nach Irland?«

»Geschwommen bin ich nicht. Ich habe das Flugzeug genommen.«

»Aber warum um Himmels willen ...«

Ehe Charlotte den Satz beendet hatte, war der Akku endgültig leer. Kurz war ein kleiner angebissener Apfel zu sehen, dann verschwand auch der. Rebecca starrte eine Weile auf das schwarze Display und legte das Smartphone schließlich zur Seite.

Doch anstatt nach unten zu gehen und Sheila nach einem Adapter zu fragen, verließ sie nur das Badezimmer und bückte sich, um ihre Tasche auszupacken.

Sie konnte sich denken, was Charlotte hatte sagen wollen: Aber warum um Himmels willen bist du ausgerechnet nach Irland gefahren?

Eigentlich habe ich gar nicht dem Zufall die Entscheidung überlassen, gestand Rebecca sich ein. Erst als sie auf der Anzeigetafel Dublin gelesen hatte, hatte sie sich auf den dritten Ort festgelegt. Eigentlich hatte sie schon seit Langem einmal nach Irland reisen wollen, genau genommen seit den Zeiten, da sie Englisch und Geschichte studiert und während diverser Austauschprogramme Schottland und Wales kennen und lieben gelernt hatte. Irland hatte auf ihrer Liste noch gefehlt, aber dann war Nils in ihr Leben getreten, und Nils’ Reiseziele lagen vorzugsweise im Süden. In Irland würde es ja doch nur regnen. Charlotte wiederum hatte einmal erzählt, dass es total romantisch wäre, mit seinem Liebsten ein verregnetes Wochenende in so einem schnuckeligen kleinen Cottage zu verbringen ...

Rebecca zog erst ein total zerknülltes und ziemlich fleckiges T-Shirt aus der Tasche, dann ihre elektrische Zahnbürste, die ihr allerdings nicht viel nutzen würde, solange sie keinen Adapter für die Steckdose hatte. Dann ließ sie die Tasche auf den Boden fallen, warf sich aufs Bett und begann zu weinen.

Als Rebecca im Morgengrauen hochschreckte, wusste sie kurz nicht, wo sie war. Eine vage Ahnung überkam sie erst, als ihr Blick auf den Blümchenvorhang fiel, und als sie die leere Kaffeetasse auf dem Tischchen entdeckte, fand sie endgültig zurück in die Wirklichkeit.

Gott, warum habe ich gestern noch Kaffee getrunken ...

Bis zwei Uhr hatte sie wach gelegen, sich unruhig im Bett gewälzt, von Erinnerungen quälen lassen und vom ... Hunger. Gestern Abend war sie überzeugt gewesen, satt zu sein, doch ihr Magen war in der Nacht anderer Meinung gewesen und hatte diese mit lautem Knurren bekundet. Nach längerem Suchen hatte sie in ihrer Handtasche einen in Plastik eingeschweißten Butterkeks gefunden, doch sobald sie ihn verschlungen hatte, war ihr übel geworden.

Reflexhaft griff sie jetzt nach ihrem Smartphone, doch es war immer noch tot. Klar, sie hatte ja keinen Adapter organisiert. Sie hatte sich auch nicht darum gekümmert, dass jemand anderer die Blumen ihrer Schwiegermutter goss, die gerade auf den Azoren weilte. Und was Nils blaues Hemd anbelangte ...

Als sie sich erhob und langsam ankleidete, hatte sie nicht nur das Gefühl, eine längere Reise hinter sich zu haben, sondern mindestens zwei durchzechte Nächte. In ihrem Gepäck fand sie zwar frische Unterwäsche, aber keinen weiteren warmen Pulli, so dass sie erneut den von gestern anziehen musste. Sie zog die Vorhänge zur Seite und blickte heraus, doch was sie sah, war wieder nur Nebel.

Jetzt weißt du, warum ich nie nach Irland wollte, glaubte sie Nils’ Stimme zu hören.

»Aber es heißt, dass es hier so gute Steaks gibt«, murmelte Rebecca.

Nicht dass sie Lust auf ein Steak hätte. Eher auf Pancakes ... oder Obstsalat. Sie hatte für Johanna die Obststücke immer in Form von kleinen Gesichtern auf den Teller gelegt, auch, als sie kein kleines Kind mehr war. Und Heidelbeeren. Johanna aß so gerne Heidelbeeren. Ansonsten war sie wählerisch, und man musste sie stundenlang überreden, ein neues Gericht zu kosten.

Weil sie meinen erlesenen Geschmack hat, pflegte Nils zu sagen.

Nein, weil sie schrecklich heikel ist, pflegte Rebecca entgegenzuhalten.

Nein, erklärte er dann immer, weil sie sich Gedanken um ihre Figur macht. Das ist nicht verkehrt, solltest du auch mal tun.

Findest du mich etwa zu dick?

Wenn sie so etwas fragte, grinste er wohlwollend — genau wie auf der Party neulich, wo sie sich ein zweites Stück von der Sahnetorte genommen und Nils laut in die Runde gerufen hatte: »Ich liebe jedes Pfund an meiner Frau!« Auf diese Weise waren die Anwesenden überhaupt erst auf die Idee gekommen, ihre Figur zu betrachten und zu bemerken, dass sie begonnen hatte, mit geringerem Grundumsatz und den Gesetzen der Schwerkraft zu kämpfen.

Rebecca hatte den Teller mit der Torte wieder unauffällig abgestellt. »Jetzt iss doch die Torte, wenn sie dir schmeckt!«, hatte Nils gerufen und ihr den Teller wieder in die Hand gedrückt.

»Ich will aber nicht!«

»Wirklich nicht?« Und wieder hatte er in die Runde gesehen und Rebecca in den Hintern gekniffen. »Ich liebe wirklich jedes Pfund an meiner Frau«, hatte er wiederholt, um nachdrücklich hinzuzufügen: »Und jede Delle.«

Selbst jetzt, als sie daran dachte, wurde sie glühend rot.

Und was liebe ich an Nils?, fragte sie sich nun.

Als sie wenig später das Zimmer verließ und den Schlüssel mit der roten Quaste umdrehte, hatte sie keine Ahnung, wie spät es war. Unten war alles still, von Sheila war nichts zu sehen. Wieder fiel ihr Blick auf das Foto von Skellig Michael, dieser Felsenpyramide inmitten des Meeres. Einen Adapter hingegen entdeckte sie in der Rezeption nicht, nur einen zerfledderten Reiseführer mit jeder Menge Eselsohren.

Sie nahm ihn an sich, schlug ihn auf, überflog ein paar Informationen zu Valentia Island — einer der westlichsten Inseln Europas, die erst seit 1970 mit dem Festland verbunden war. Etwa siebenhundert Einwohner zählte sie, die von Landwirtschaft, Fischerei und Tourismus lebten. Mehrere Restaurants waren aufgelistet, auch Bars und Cafés, wo man ein »Full Irish Breakfast« erhielt.

Ob dazu auch Blutwurst gehörte wie in Schottland? Rebecca schüttelte sich.

Nun hab dich nicht so, gönn dir etwas, ich liebe jede Delle an dir.

Ist das bei deiner Geliebten auch so? Wer ist sie eigentlich? Eine Kollegin? Oder eine Kundin?

Gewiss war sie gertenschlank ... jünger ... hübscher ... ach, was für ein Klischee. Rebecca beschloss, Nils’ Affäre fortan Thekla-Thusnelda zu nennen. Wobei sie eigentlich gar nicht über sie nachdenken wollte, nur schleunigst das Bed and Breakfast verlassen, ins Auto steigen und wegfahren, egal wohin.

Eher instinktiv als willentlich nahm sie bei der ersten Abzweigung nicht die Straße, die Richtung Portmagee führte, sondern den schmaleren Weg nach rechts, wo der Aussichtspunkt Bray Head ausgeschildert war.

Wer weiß, wenn die Klippen so sehenswert sind, gibt es hier vielleicht auch ein Café, dachte Rebecca.

Schon nach wenigen Hundert Metern bereute sie ihren Entschluss. Nicht nur, dass die Straße immer schmaler zu werden schien. Obendrein wuchsen rechts und links Fuchsien. Dass sie in einem kräftigen Rot blühten, versöhnte sie ein wenig, dennoch befürchtete sie bleibende Lackschäden. Gar nicht erst ausmalen wollte sie sich, was wäre, wenn ihr ein Auto entgegenkäme. Unmöglich würden auf dieser Straße zwei Autos Platz haben, und allein bei der Vorstellung, den Rückwärtsgang einzulegen, brach ihr der Schweiß aus.

Das einzige Fahrzeug, das ihr schließlich entgegenkam, war ein Motorrad mit italienischem Kennzeichen, und dieses fuhr sehr langsam, drehte die Beifahrerin doch mit ihrer Handykamera gerade einen Film. Schöne Erinnerungen an den Urlaub: eine Nebelsuppe und dann und wann ein Cottage — vom Meer keine Spur.

Wenig später erreichte Rebecca zwar einen kleinen Parkplatz, nach einem Café hielt sie jedoch vergebens Ausschau. Ein Hinweisschild machte lediglich darauf aufmerksam, dass zwei Euro zu zahlen waren. Eine Weile suchte sie nach den passenden Münzen, stellte das Auto schließlich ab, ohne zu zahlen, stieg aus und ... fröstelte. Immerhin war jetzt das Meer zu sehen, wenn auch keine Klippen, obwohl die vom gegenüberliegenden Festland die steilsten von Kerry sein sollten.

Rebecca trat zu einer Anschlagtafel, auf der der Fußmarsch rund um den Bray Head — einer tief ins Meer hineinragenden, schroffen Landzunge — beschrieben wurde. Etwa eine Stunde dauerte es bis zur höchsten Erhebung an der Spitze und zurück. Ob der steile Fußmarsch allerdings heute wirklich von einer spektakulären Aussicht belohnt wurde, wie sie eben in ihrem Reiseführer nachlas, bezweifelte sie. Anstatt ihn anzutreten, blätterte sie weiter und erfuhr, dass von hier aus im 19. Jahrhundert das Transatlantikkabel verlegt worden war, das Valentia Island mit Neufundland und damit quasi die Alte mit der Neuen Welt verbunden hatte. Seit damals dauerte es nicht mehr Tage oder gar Wochen, um Nachrichten zu überbringen, sondern — der Telegraphie sei Dank — wenige Minuten.

Und ich habe nur ein totes Smartphone.

Rebecca trat von einem Bein auf das andere. Sie konnte sich weder aufraffen, einen Teil des Weges zu gehen, noch, sich wieder ins Auto zu setzen und nach einem Café zu suchen. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie sich noch nie so einsam und verloren gefühlt hatte wie in diesem Moment, da sie in einem grauen Niemandsland gefangen zu sein schien. Ehe sie das Elend endgültig überwältigte, begann sie loszulaufen. Schon nach wenigen Metern stieß sie auf ein geschlossenes Gatter und musste über eine hölzerne, ziemlich rutschige Leiter klettern, um es zu überqueren. Offenbar wurden hier Rinder gehalten, wenngleich keines der Tiere zu sehen war. Blieb nur zu hoffen, dass die weiche Masse, in die sie jetzt stieg, nur Schlamm war und kein Kuhfladen. So oder so sogen sich ihre Sportschuhe schon nach wenigen Schritten mit einer bräunlichen Pampe voll. Wie gut, dass ich die richtige Ausrüstung zum Wandern mitgebracht habe ...

Dennoch ging sie weiter, um wenigstens den düsteren Gedanken zu entfliehen, und plötzlich schien sich der Nebel zu lichten. Aus den erstickenden Schwaden wurden Fäden — fast so dünn wie die von Thekla-Thusneldas Spinnennest —, und bald genügte ein Windstoß, um der Welt den grauen Schleier abzureißen. Nicht länger schwarz, sondern tiefblau lag das Meer vor ihr, das von strahlend weißem Schaum gekrönt war und nicht nur gegen die Klippen, sondern gegen einige kleine, dem Land vorgelagerte Inseln donnerte. Auf der Spitze von Bray Head war nun ein kleiner Turm zu sehen, und dahinter schienen zwei weitere gebaut worden zu sein, wenn auch nicht auf festem Boden, sondern inmitten des Meeres: Zwei Inseln ragten aus dem Meer, deren Gipfel mit dem noch etwas farblosen Himmel zu verschmelzen schienen, so dass man sie kurz für eine Sinnestäuschung halten konnte.

Rebecca schlug wieder den Reiseführer auf und erfuhr, dass die eine Insel die »Skellig Michael« sein musste und die daneben das sogenannte »Little Skellig«, das nur von Vögeln bewohnt wurde. Vögel kreischten auch über ihren Kopf hinweg, und unwillkürlich duckte sie sich.

Nicht dass sie irgendetwas bei sich hatte, auf das diese Möwen scharf waren. Sie hatte ja noch nicht einmal etwas für sich zu essen dabei. Ob sie nicht doch zurück zum Auto gehen sollte? Vorerst blieb sie stehen und genoss den Anblick — zumindest versuchte sie es.

Von wegen immer Regen ... Es ist wunderschön hier ... Nein, es wäre wunderschön, wenn Nils auch hier wäre ... wenn er keine Affäre hätte und ich nicht abgehauen wäre, sondern wir gemeinsam diese Reise geplant und angetreten hätten ...

Sie würden Hand in Hand den Weg hinaufgehen, würden den Blick nicht von den winzigen steinernen Inseln in der Ferne lassen, würden diskutieren, ob es ein Zeichen von Irrsinn oder Mut war, dass sich dort einst Mönche niedergelassen und ihr Leben Gott geweiht hatten.

Nils würde ein Selfie machen, wahrscheinlich würde er sich die Kapuze seiner Regenjacke von Jack Wolfskin — anders als sie war er ja immer perfekt ausgerüstet — über den Kopf ziehen und einen auf Mönch machen. Im Urlaub bewies er gerne mal, dass er das Leben nicht so ernst nahm, wie es den Anschein hatte. Und sie würde lachen ... während sie jetzt nur wieder mit den Tränen kämpfte.

Allein ... allein ... Sie war so allein ... und sie hasste es, allein zu sein ... hasste es weit mehr, als dass sie Nils liebte.

Und wenn ich nur noch mit ihm zusammen bin, weil ich die Einsamkeit fürchte?

Die Mönche im Mittelalter schienen sie nicht gefürchtet zu haben — im Gegenteil. Sie hatten die Einsamkeit, die Weltabgeschiedenheit gesucht, um ihr Leben allein Gott zu widmen. Hatten sie sich auf Skellig Michael aber wirklich abgewöhnt, sich nach anderen Menschen zu sehnen? Oder hatten selbst die Frömmsten von ihnen dann und wann mit dem Gefühl grenzenloser Verlorenheit zu kämpfen gehabt?

2

1116

Bruder Mícheal musste sich während der gesamten Überfahrt erbrechen. Schon als er das winzige Boot erblickt hatte, das sie zur Insel bringen würde — ein kleiner Einmaster mit zwei Rudern —, war ihm ganz schlecht geworden. Auf dem Boot dann hatte er zu würgen begonnen, und obwohl Bruder Ciaran ihn streng gemustert hatte, hatte er sich vorgebeugt und den Mageninhalt auf den Boden gespien. Da der Boden von modrig riechenden Algen bedeckt war, fiel der Gestank nicht weiter auf, doch sobald Mícheal wieder zu würgen anfing, griff Bruder Rónán beherzt zu. Indem er den Kopf seines Mitbruders über die rechte Seite des Boots hielt, landete alles im dunklen Wasser und nichts auf seiner Kutte.

Bruder Ciaran begnügte sich nicht länger mit einem strengen Blick, sondern schüttelte mahnend den Kopf. Er war ein dürrer Mann, hatte allerdings kräftige Arme. Wann immer er die Ruder in das Wasser stieß, schien es, als wollte er es schlagen. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er wohl auch Bruder Mícheal gerne geschlagen hätte, als der — nunmehr auf der anderen Seite des Boots — sich weiter übergab.

»In der Abtei von Killenane muss es viel zu essen geben, wenn du einen so vollen Magen hast«, knurrte er. »Glaub mir, auf Skellig Michael wird das anders werden.«

Bruder Mícheal wurde noch bleicher — fürchtete er sich vor dem Hungertod doch noch mehr als davor, in der stürmischen See zu ersaufen.

»Es ... es wird schon nicht so schlimm werden«, sagte Rónán, der wie Bruder Mícheal bislang in der Abtei von Killenane bei Cahersiveen gelebt hatte. »Und bedenke, was für eine große Ehre es ist, dass wir ausgewählt wurden, uns der Gemeinschaft von Skellig Michael anzuschließen.«

Nicht dass sich nicht auch in ihm Zweifel geregt hatten, als der Abt sie vor wenigen Tagen seine Entscheidung hatte wissen lassen. Doch wann immer er Mícheal tröstete, fühlte sich Rónán selbst besser.

Bruder Mícheal richtete sich auf. Von der Küste war nurmehr ein schmaler Streifen zu sehen, während sich vor dem Bug die endlose Weite des Meeres ausbreitete. Nichts verriet, dass es hier eine Insel gab, die von Mönchen bewohnt wurde.

»Ob wir es überhaupt ans Ziel schaffen ...«, murmelte er. Gottlob hörte Bruder Ciaran ihn nicht, denn eben gab das Segel ein Geräusch von sich, als würde es gleich reißen.

»Es wird alles gut«, murmelte Rónán, drückte Mícheal auf den Boden und presste sich selbst an den Rand des Boots. Nicht länger stieg ihm nur salzige Meeresluft in die Nase, sondern auch der süßliche Geruch von Harz, mit dem das Leder, welches das hölzerne Gerippe des Boots umspannte, abgedichtet worden war. »Es wird alles gut«, wiederholte er.

Mícheal blieb flach liegen, widersprach jedoch. »Du hast die Geschichten doch auch gehört ... von Mönchen, die auserwählt wurden, Teil der Gemeinschaft von Skellig Michael zu werden, die Gott aber im Meer ertrinken ließ, weil sie unwürdig waren.«

»Das sind doch nur Gerüchte. Und die Strecke ist gar nicht so weit — zumindest nicht so weit wie der Weg, den einst der heilige Brendan zurückgelegt hat. Er ist bis ans Ende der Welt gereist.«

»Das Schiff vom heiligen Brendan war riesengroß«, sagte Mícheal mit kläglicher Stimme. »Es heißt, es sei aus dem Holz von zehn jungen Erlenbäumen und den Häuten von acht Ochsen errichtet worden und dass auf jeder Seite drei Ruderer saßen.«

»Nun ja«, meinte Rónán und versuchte zu verbergen, wie sehr ihn das stete Ächzen des Bootes, das an die Klagen eines Greises denken ließ, beunruhigte. »Ein so großes Schiff könnte auf Skellig Michael nicht anlegen. Dieses Boot hingegen ist so leicht, dass es zwei Männer an Land heben können, wo es festgebunden wird.«

Bruder Mícheal hörte gar nicht richtig zu, sondern war in Gedanken immer noch beim heiligen Brendan. »Eines Tages hat er eine Insel erreicht. Zumindest dachte er das. Doch die Insel war in Wahrheit ein riesiger Wal. Was, wenn wir von so einem Ungeheuer verschlungen werden?«

Rónán blickte sich um. Inmitten der spitzen Wellen konnte er sich gut vorstellen, dass hier nicht nur Wale, sondern Fische mit scharfen Zähnen hausten.

»Wir werden nie ankommen«, stöhnte Mícheal und beugte sich einmal mehr über den Rand des Bootes.

»Lieber Himmel!«, schaltete sich Bruder Ciaran ein und hörte für einen Augenblick zu rudern auf. »Und ausgerechnet du Memme trägst den Namen des Erzengels Michael, der unsere Insel aus dem Meer erstehen hat lassen und ihr seinen Namen gegeben hat?«

Mícheal sah aus, als würde er sich seines Namens schämen. »Meine Mutter hat mich nun mal so genannt«, sagte er kleinlaut. »Sie stammte von den Nordmännern ab, die vom Hafen in Kerrycurrihy aus Handel trieben.«

»Wir haben keinen Vater und keine Mutter mehr — wir gehören allein Gott«, brüllte Bruder Ciaran gegen das Tosen des Windes an.

»Und Gott hält mich gewiss auch für einen Schwächling«, jammerte Bruder Mícheal.

»Nun, und?«, sagte Rónán schnell, ehe Bruder Ciaran auf den Gedanken kam, mit dem Ruder auf Mícheal einzudreschen. »Wer Gott dient, hat in der Tat keinen Vater und keine Mutter, keine Heimat und keinen Reichtum mehr. Selbst wenn er stark wäre, würde er Gott diese Stärke schenken. Und wenn er mutig wäre, würde er Gott diesen Mut schenken. Wir geben alles, so dass nichts von uns übrig bleibt.«

»So ist es«, pflichtete Bruder Ciaran bei. Sein Gesichtsausdruck war immer noch verdrossen, aber seine Stimme klang etwas freundlicher. »Gemessen an Gottes Größe sind wir alle erbärmliche Würmer. Und Würmer geben keinen Ton von sich. Sie schweigen.«

Mícheal zog seinen Kopf ein und presste die Lippen zusammen, allerdings wohl weniger, um seine Gedanken zu verschweigen, als den bitteren Speichel zurückzuhalten, der sich in seinem Mund gesammelt hatte. Rónán presste sein Gesicht wieder an das Leder und schloss die Augen.

Das Tosen des Windes wurde noch lauter und übertönte seinen Herzschlag, wenn auch nicht das Kreischen einer Möwe über ihnen und das Knattern des Segels. Es überraschte ihn nicht, dass Bruder Ciaran sie zum Schweigen ermahnt hatte. Der Abt des Klosters Killenane, wo er seit seinem elften Lebensjahr lebte und vor zwei Jahren sein Gelübde abgelegt hatte, hatte ihn darauf vorbereitet, dass die Mönche von Skellig Michael noch weniger Worte verloren als die ihrer Gemeinschaft. »Wirst du es ertragen?«, hatte er gefragt.

Und Rónán hatte genickt. »Am liebsten verrichte ich die Arbeit eines Steinmetzes«, hatte er gesagt, »und die Steine schweigen auch.«

Der Abt hatte zufrieden genickt, und Rónán war stolz gewesen, doch schon bei den nächsten Worten des Abtes war er erschrocken. »Nun, auf Skellig Michael bedarf es keines Steinmetzes, jedoch eines Mönches, der stark genug ist, die Treppen weiter auszubauen. Dafür bist du geeignet.«

Er hatte Rónán nicht gefragt, ob er sich diese Aufgabe auch zutraute, und der war nicht sicher, ob er in diesem Fall zu sagen gewagt hätte, was ihm eben durch den Kopf ging. Wenn er mit Hammer und Meißel Steine formte, so hatte er nie etwas nur Nützliches schaffen wollen, sondern immer auch etwas Schönes. Doch gab es auf Skellig Michael, einem Ort, der einsam wie kein zweiter war, dem Himmel ungleich näher als der hiesigen Welt, windumtost und den Gewalten des Meeres preisgegeben, überhaupt Schönheit?

Als Mícheal einmal mehr laut stöhnte, öffnete Rónán die Augen. Der Mund des anderen war weit geöffnet, doch es flossen weder Speichel noch Erbrochenes noch Klagen heraus, nur ein staunendes: »Oh!«

Rónán blickte in die gleiche Richtung wie er und sah nun auch jenen Zacken, der aus dem Meer ragte — nein, nicht einen, sondern deren zwei. Nicht weit von Skellig Michael entfernt gab es noch eine zweite Insel, die nur von Vögeln bewohnt wurde. Kein Mensch, so hieß es, hätte sie jemals betreten, nur der Erzengel Michael. Auch die größere Insel sah nicht so aus, als wäre sie jemals von Menschen bewohnt gewesen. Weder waren die runden Mönchszellen zu sehen noch die Kapelle, nur schwarzer, spitzer, an manchen Stellen mit Moos bewachsener Stein. Und er, der so gerne Stein formte, der oft vermeinte, dass er unter seinen kundigen Händen zu Wachs würde, dem man jedes Muster, jede Verzierung einprägen konnte, hatte plötzlich Angst davor.

»Hier ... hier kann man doch nicht leben«, entfuhr es ihm, »und wer es dennoch versucht, ist ein Tor!«

Ciaran ruderte verbissen weiter und schalt ihn nicht dafür, das Schweigen gebrochen zu haben. »In der Bibel steht, dass die Torheit der Welt Weisheit vor Gott ist. Skellig Michael ist die zu Stein gewordene Torheit des Menschen, die in Gottes Augen zur Weisheit wird. Für uns mag es verrückt sein, hier zu leben ... für Ihn ist es das nicht.«

Der Himmel war etwas heller geworden, die Schaumkronen wirkten nicht länger grau, sondern weiß, und das Geschrei der Möwe klang lustvoll, nicht klagend. Als Rónán sich am Boot festklammerte, fühlte er sich dennoch so verlassen, so winzig klein, so erbärmlich wie nie. Jäh war ihm auch derart übel, dass er sich am liebsten übergeben hätte, aber anders als Bruder Mícheal hatte er während der letzten zwei Tage gefastet.

Ein Mönch der Abtei Killenane hatte die zwei Gipfel von Skellig Michael mit zwei Händen verglichen, die sich zum Gebet erhoben. Als sie sich nun der Insel näherten, schien es Rónán aber eher, als wollte jemand drohend den Zeigefinger heben. Immerhin erhaschte er nun erstmals einen Blick auf die Mönchszellen — diese waren nicht spitz, sondern rund wie Bienenwaben, aber als er versuchte, mehr zu erkennen, ruderte Bruder Ciaran an dem schroffen Eiland vorbei geradewegs auf das offene Meer zu.

»Gütiger Gott, was tust du denn?«, schrie Rónán entsetzt, während Mícheal vor Schreck die Zähne klapperten.

»Das, was jeder tut, der die Insel und das Meer kennt und der weiß, dass dieses Meer launischer als jedes Weib ist.«

Rónán war seit dem Eintritt ins Kloster keiner Frau mehr begegnet und hatte heute zum ersten Mal seit Jahren das Meer wieder gesehen. Aber er konnte sich noch gut an seine große Schwester Nola erinnern. Sie hatte ihn großgezogen, weil seine Mutter gestorben war, und als kleiner Junge hatte er oft an ihrem Zeigefinger genuckelt, weil aus ihren Brüsten schließlich keine Milch kam. Sie hatte immer gedroht, dass es damit ein Ende hätte, falls er sie jemals beißen würde, aber er hatte sie nie gebissen, er hatte genuckelt und ihren Geschichten gelauscht. Nola war nicht launisch wie das Meer gewesen, sondern zärtlich und liebevoll ...

»Drei Anlegeplätze gibt es«, erklärte Bruder Ciaran, »doch man weiß im Voraus nie, an welchem man am leichtesten anlegen kann. Heute erscheint mir der im Norden der sicherste Landeplatz zu sein, doch ob wir dort wieder festen Boden betreten dürfen, weiß Gott allein. Betet! Betet so inbrünstig, wie ihr könnt!«

Bruder Mícheal schaffte es, aus den Tiefen seines Gedächtnisses ein paar lateinische Verse zu kramen, während in Rónán alles wie tot war.

Ihm fiel kein Gebet ein, nur die Geschichten, die Nola ihm erzählt hatte ... von den Túatha dé Danann, die einst in Irland herrschten, bevor Milesius kam, um ihnen die Insel zu rauben. Er hatte Erfolg, doch dieser Erfolg hatte seinen Preis: Zwei seiner Söhne erlitten vor Skellig Michael Schiffbruch und ertranken. Obwohl das nicht nur Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte her sein musste, vermeinte Rónán plötzlich das Geräusch von knackendem Holz zu hören, das Schreien von Männern, das Brüllen des Sturms.

Allerdings, so hatte Nola auch erzählt, hatte die steinerne Insel nicht nur Menschen ins Verderben geführt, sondern war auch zur Zuflucht geworden — von König Daire Doman zum Beispiel, der nach einer Niederlage ein ganzes Jahr und einen Tag hier lebte.

»Credo in Deum Patrem omnipotentem creatorem caeli et terrae«, murmelte Mícheal dicht an Rónáns Ohr, »et in Jesum Christum, fillium eius unicum, Dominum nostrum, qui conceptus est de Spiritu sancto, natus est Maria Virgine.«

Warum fielen ihm nicht diese Worte ein? Warum kam ihm nur der Name eines heidnischen Königs in den Sinn?

»Heiliger Suibni, bitte für uns ...«, krächzte Mícheal. »Heiliger Fionán, bitte für uns ...«

Welchen meinst du?, lag es Rónán auf der Zunge zu fragen, gab es doch zwei Heilige, die den Namen Fionán trugen — Fionán, der Lepröse, und Fionán, der Schieler. Einem von beiden sagte man nach, das Kloster auf Skellig Michael gegründet zu haben, aber wer es nun genau gewesen war, wusste niemand.

Die Möwe, die hartnäckig das Boot umkreiste, schoss plötzlich auf sie herab, weil sie Mícheals nach Schweiß glänzendes Gesicht wohl mit einem Fisch verwechselte, und da Bruder Ciaran erbittert gegen die Strömung anruderte, blieb es Rónán überlassen, die Faust zu ballen und nach der Möwe zu schlagen. Er erreichte nichts anderes, als dass das Boot bedrohlich wankte. Schon näherte sich der bösartige Vogel wieder, und diesmal erhob sich Rónán, um den Angriff besser zu parieren. Im nächsten Augenblick aber wurde er blind für die Möwe. Nicht nur, dass er erneut einen Blick auf die Mönchszellen erhaschte. Nicht weit davon entfernt erblickte er ein Dutzend schwarzer Vögel ... Nein, es waren in Schwarz gekleidete Mönche.

Mícheal hatte sie noch nicht erblickt, denn er hatte sich beide Hände vors Gesicht geschlagen, doch die Möwe schien die gleiche Ehrfurcht zu fühlen, wie Rónán sie nun überkam, und flog davon.

»Schau nur!«, stieß Rónán aus.

Bruder Ciaran ruderte und ruderte, bugsierte das Boot an Felsen vorbei, die gottlob nicht spitz, sondern glatt und rund waren, hatten die Wellen sie doch zurechtgeschliffen, wie Rónán es bei Steinen tat.

Sobald sie das Boot erblickten, setzten sich die Mönche in Bewegung und kamen die steile Treppe heruntergeschritten. Rónán zählte zehn — den Abt und neun Brüder. Um die Zahl der Apostel, die Christus auf seinen Wegen begleitet hatten, komplett zu machen, fehlten nur sie drei — Ciaran und die zwei neuen, die jene Brüder ersetzen sollten, die kürzlich gestorben waren.

Woran eigentlich?, fragte sich Rónán zum ersten Mal. Waren sie von den Klippen gestürzt? Von einer Möwe angefallen worden? Waren sie verhungert, erfroren?

Ein Dutzend Arten zu sterben kam ihm in den Sinn, als sie dicht an die Insel heranfuhren, zwei der Mönche den Hanfstrick packten, den Ciaran ihnen entgegenwarf, und daran zogen, bis das Leder des Bootes auf Stein traf und ein quietschendes Geräusch von sich gab. Sehr wendig sprang Ciaran aus dem Boot. Es sah so leicht aus — war es aber nicht. Als Rónán es ihm gleichtun wollte, rutschte er aus und wäre wohl ins Wasser gefallen, wenn nicht einer der Mönche ihn gepackt hätte. Mícheal wiederum klammerte sich erst ans Boot fest, kroch dann auf allen vieren heraus und versank prompt bis zur Hüfte im schwarzen Wasser, das sich gewiss wie tausend Nadelstiche anfühlte. An seinem offenen Mund erkannte Rónán, dass er jammerte, doch es war kein Ton zu hören, weil der Wind so laut heulte. Dieser wehte nicht eben milder, als sie sich an den Aufstieg machten und am Ende der Treppe vom Abt empfangen wurden, der hier — auf einer kleinen Ebene zwischen den beiden Gipfeln — auf sie gewartet hatte.