Der Palazzo am See - Sophia Cronberg - E-Book

Der Palazzo am See E-Book

Sophia Cronberg

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Beschreibung

Schicksal und Familiengeheimnis in der Traumkulisse am COMER SEE Ein malerischer PALAZZO auf einer Insel im Comer See. Ein FLUCH, der seit Jahrhunderten auf dessen Bewohnern lastet. Eine junge Frau, die ein dunkles GEHEIMNIS aufdeckt Die junge Historikerin Stella bekommt den Auftrag, am Comer See eine Familienchronik zu verfassen. Bei ihren Recherchen stößt sie auf eine dunkle Legende: Seit dem 12. Jahrhundert lastet ein Fluch auf der ehrwürdigen Familie di Vaira. Seither kam der jeweils Erstgeborene noch im Kindesalter ums Leben. Auch die schöne, weltgewandte Tizia di Vaira entkommt diesem Fluch nicht. Während eines Bootsausflugs ertrinken ihr Mann und ihr kleiner Sohn. Stella ist vom tragischen Schicksal der Frau tief berührt. Doch als sie alte Tagebücher im Palazzo findet, erscheint ihr Tizia plötzlich in einem anderen Licht… Für Leserinnen von Lucinda Riley, Corina Bomann, Kate Morton

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Seitenzahl: 561

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SOPHIACRONBERG

DER PALAZZO AM SEE

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoPrologErster Teil Bérénice123456789Zweiter Teil Tizia1011121314151617181920Dritter Teil Tamino21222324252627282930Epilog

»Der Pfau hat die Federn eines Engels,

die Stimme eines Teufels

und den Tritt eines Meuchelmörders.«

Altes italienisches Sprichwort

Prolog

Comer See, 1925

Der See, in dem sich eben noch der strahlend blaue Himmel gespiegelt hatte, verdunkelte sich, als würden die mächtigen Berge wachsen und ihn, dicken Mauern gleich, einschließen. Die satten Wiesen färbten sich grau, der aufziehende Wind bewegte die Knospen der vielen Blumen. Nur in das Turmzimmer fielen durch die hohen, bogenförmigen Fenster ein paar rötliche Sonnenstrahlen. Trotz des matten Glases blendeten sie die junge Frau, doch während sie vergebens an der Tür klopfte, trommelte, schließlich so heftig schlug, dass ihr die Handflächen brannten, wurde auch das bronzene Licht immer trüber.

Kraftlos sank die Frau auf ihre Knie. Ihre Lage war auch bei Sonnenschein verzweifelt, und dennoch wurde sie erst jetzt, als die Wolken den Himmel verdunkelten, von ihrer Hoffnungslosigkeit übermannt. Anstatt weiter vergeblich an die Tür zu hämmern oder zu rütteln, trat sie zum Fenster. Vorhin hatte sie geschrien, jetzt blieb sie stumm. Ein Kreischen ertönte gleichwohl, hoch wie das einer Frau, aber nicht so melodisch, sondern unangenehm und schrill.

Wenn ich hier noch lange gefangen bin und immer wieder um Hilfe schreie, wird meine Stimme auch so klingen … so durchdringend … so hässlich …

Die junge Frau beugte sich vor, erblickte die beiden Pfauen, die diese Schreie ausstießen – ein lautes, kurzes Jack oder Jouhp, das von Gefahr kündete –, und legte sich unwillkürlich die Hände auf die Ohren. Die Federn der Pfauen waren wunderschön: Sämtliche Farben des Regenbogens schillerten darin und ließen selbst den größten Zweifler an einen Gott glauben, weil nur dieser etwas so Schönes erschaffen konnte. Hörte man allerdings ihr Kreischen, so vermeinte man, die Stimme des Teufels zu vernehmen.

Teuflisch ist es auch, mit Schönheit zu täuschen, dachte die Frau. Und ich … ich bin all die Zeit dieser Täuschung aufgesessen.

Nicht nur, dass das Kreischen der Tiere so hässlich klang. Die Farbe ihres Gefieders veränderte sich, je nachdem, aus welcher Richtung das Licht darauf fiel – ebenso wie die Wahrheit Dutzende Masken zu tragen schien, anstatt sich auf den ersten Blick zu offenbaren. Zu spät hatte sie die Wahrheit begriffen. Zu spät das nahende Unheil erkannt.

Die junge Frau ertrug den Anblick der Pfauen nicht länger. Ihr Blick ging zum See, der mittlerweile schwarz wie Pech war, dann zum Dach des Palazzos, der das schwindende Licht widerspiegelte und dessen Rotton sie an Blut denken ließ, schließlich zu den akkurat beschnittenen Büschen, die verzauberten Gestalten glichen und dazu verdammt waren, nur zu beobachten, nicht einzugreifen.

Als sie vom Fenster wegtrat, um erneut an die Tür zu hämmern und um Hilfe zu schreien, wurde das, was sie all die Monate geahnt hatte, zur Gewissheit.

Der Palazzo war verflucht.

Erster TeilBérénice

 

 

1

Der Palazzo war ein Traum.

Alles, was Stella vor dem Antritt ihrer Reise über das Anwesen der Familie di Vaira in Erfahrung gebracht hatte, hatte zwar bereits hohe Erwartungen geweckt, doch diese wurden bei weitem übertroffen.

Schon die Anfahrt war ein Genuss – sah man von dem wackligen Flug von Frankfurt nach Zürich und dem noch wackligeren Flug über die Schweizer Bergwelt nach Lugano ab. Aber dass ein Chauffeur, der Goldknöpfe an der dunklen Uniform trug, sie persönlich abholte, ihren Rollkoffer entgegennahm und sie zum Wagen brachte, auf dessen Rückbank bereits diverse Tageszeitungen – italienische ebenso wie deutsche – bereitlagen, hob ihre Laune und vertrieb die Übelkeit und die aufziehenden Kopfschmerzen. Schon während der Fahrt entlang des Luganersees entspannte sie sich deutlich, und ein regelrechtes Triumphgefühl erfasste sie, als sich vor ihnen der Comer See in seiner ganzen Pracht präsentierte: Sein strahlendes Blau reflektierte die Bergspitzen, die jetzt im Frühling noch weiß verschneit waren. Von Cadenabbia ging es mit der Fähre nach Bellagio – was zugegebenermaßen wieder eine etwas wackelige Angelegenheit war –, doch Stella staunte wie die zwei Touristen neben ihnen, die sofort ihre Kameras zückten. Sie konnte es sich nur schwer verkneifen, es ihnen gleichzutun, ahnte sie doch, dass sie dadurch in der Achtung des Chauffeurs deutlich sinken würde. Der war bis jetzt zwar ausnehmend höflich gewesen, aber etwas schmallippig und wortkarg, und sie wusste nicht, wie sie ihn aus der Reserve locken sollte. Während der Überfahrt versuchte sie zwar, mit ihm ein Gespräch anzufangen, aber mehr als seinen Namen – Fabrizio Gossini – und die Tatsache, dass er seit über dreißig Jahren in den Diensten von Flavia di Vaira stand, konnte sie nicht aus ihm herausbekommen. Er stellte seinerseits keine Frage – vielleicht galt Neugierde für Vertreter seines Berufsstandes als Todsünde, vielleicht war er mit dem Grund ihres Aufenthalts nicht einverstanden.

Unsinn!, schalt Stella sich. Lass dir von so einem Miesepeter nicht die Laune verderben!

Immerhin, nachdem die Fähre angelegt hatte und sie durch die pittoreske »Perle des Comer Sees« mit ihren prächtigen Grandhotels und den verwinkelten, schmalen Gassen fuhren, was ihr begeisterte Ausrufe entlockte, erschien die Andeutung eines Lächelns auf seinen Lippen. Und als sie mit dem Auto weiterfuhren und an der Villa Melzi vorbeikamen, deren strahlendes Weiß sich vom dunkeln Grün des Gartens abhob, ließ er sich sogar zu dem Hinweis herab, dass sie bald da wären.

Stella hatte sich bereits dank Google Streetview mit der Lage des Palazzos vertraut gemacht. Bellaggio lag an der Spitze einer Halbinsel, die den See in zwei Arme teilt – den Lecco-Arm und den Como-Arm. Fuhr man von dort auf der westlichen Seite etwa vier oder fünf Kilometer Richtung Como, erreichte man eine weitere Halbinsel, die deutlich kleiner war, und auf dieser befand sich ihr künftiger Arbeitsplatz.

Stella deutete aus dem Fenster. »Da drüben ist die berühmte Villa Balbianello, nicht wahr? Und natürlich auch die Villa Carlotta.«

»Sie können kaum mit dem Palazzo di Vaira mithalten«, antwortete Fabrizio.

Aus dem Mund eines jeden anderen hätte das wie eine schamlose Übertreibung geklungen, doch Fabrizio sagte es so ernsthaft, dass sie es ihm glaubte. Ihre Vorfreude wuchs, als sie wenig später vom Auto in ein kleines Boot umstiegen.

»Der Palazzo ist selbstverständlich auch mit dem Wagen zu erreichen, doch tagsüber bleibt das schmiedeeiserne Tor meist verschlossen. Die Touristen … Sie wissen schon.«

Stella beglückwünschte sich insgeheim, vorhin nicht die Kamera gezückt zu haben.

Das Boot lag im Schatten zweier Statuen, die Stella auf das 16. Jahrhundert datierte und die, wie sie mit einem Blick ausmachte, Apollo und Meleagros darstellten. Um Eindruck zu schinden, sagte sie das auch laut, und tatsächlich zog Fabrizio anerkennend die Augenbrauen hoch.

Das Wasser schien ihr moosgrün und schlickig, doch sobald Fabrizio den Motor startete und sie losfuhren, zog sich eine weiße, schäumende Spur hinter ihnen her. Stella hielt den Atem an, als sich der Wald aus Pinien und Eichen, Kastanienbäumen und Haselnussstauden, der die Halbinsel vom Festland abschottete, lichtete und der Palazzo sichtbar wurde.

Schon der Triumphbogen mit den eingeritzten Dekorationen, der den Bootsanlegesteg vom Grundstück abgrenzte, war imposant. Noch beeindruckender waren der Palazzo und der Garten im italienischen Stil mit seinen unzähligen Statuen und Brunnen.

Die Fassade des Gebäudes war mit einer zweiläufigen Treppe sehr einfach und symmetrisch angelegt – typisch für den neoklassischen Stil, der auf Nüchternheit und Eleganz, einfache Linien und Ausgewogenheit setzte. Doch hinzu kamen – offenbar im Zuge späterer Umbauten – viele spielerische Elemente im Art Nouveau Stil, wie er zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Mode war: Die Dekorierung der Fassade mit steinernen Seidenwürmern und Blättern des Maulbeerbaums verriet, wie die Besitzer ihren Reichtum erworben hatten – nämlich durch die Seidenindustrie –, und das Motiv der Metamorphose des Seidenwurms von der Raupe zum Schmetterling kehrte auch auf einzelnen Ziegeln wieder.

Derart in diesem Anblick versunken, bemerkte Stella kaum, dass Fabrizio bereits aus dem Boot gestiegen war und ungeduldig darauf wartete, dass sie seine Hand ergriff und sich beim Aussteigen helfen ließ. Erst als er erklärte, dass er ihr jetzt ihre Unterkunft zeigen wollte, gab sie sich einen Ruck, kletterte aus dem Boot und folgte ihm über den schmalen Kiesweg, der den Bootssteg mit dem Haupteingang verband.

»Wann werde ich Flavia di Vaira kennenlernen?«, fragte sie.

»Es ist ihr ein Vergnügen, heute Abend mit Ihnen zu speisen.«

Ihnen hingegen, dachte Stella unwillkürlich, scheint nichts und niemand ein Vergnügen zu bereiten …

Im Schatten des Palazzos wirkte Fabrizios Sprache noch antiquierter und seine Haltung noch steifer. Die dunkle Uniform musste bei den frühlingshaften Temperaturen eigentlich schrecklich heiß sein, aber ein Mann wie er hatte sich wohl irgendwann abgewöhnt zu schwitzen. Bei seinem Anblick überkam Stella das Gefühl, dass er nicht erst seit dreißig Jahren hier arbeitete, sondern seit jeher zum Inventar des Hauses gehörte und als Geist einer längst vergangenen Epoche jeder noch so kleinen Neuerung feindselig gegenüberstand.

Das Licht blendete sie, als sie an den vier Löwenstatuen vorbeikamen, die den Eingangsbereich bewachten, doch kaum traten sie durch das breite Eingangsportal, wurde es so dunkel, dass sie keine Details mehr erkennen konnte. Sie nahm nur wahr, dass eine große Halle das Zentrum des Gebäudes ausmachte, von der rechts und links die Treppenaufgänge abgingen, die in die zwei Stockwerke der beiden Seitenflügel führten. Ehe sich Stellas Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten und sie die Fresken der Halle und den schachbrettartigen Boden ausführlich bewundern konnte, dessen Marmor, wie Stella vermutete, aus der Gegend stammte – der berühmte schwarze aus Varenna und der weiße aus Musso –, öffnete Fabrizio schon die Tür zum Ostflügel, und sie folgte ihm rasch eine schwindelerregende runde Treppe nach oben.

Fabrizio schwitzte immer noch nicht, doch bei ihr machten sich die lange Anreise und das frühe Aufstehen bemerkbar. Sie konzentrierte sich darauf, nicht zu stolpern, und hob den Blick erst wieder, als sie das Gästezimmer im Dachgeschoss erreichten.

»Wir haben uns erlaubt, diese Unterkunft für Sie auszuwählen. Von hier aus haben Sie einen herrlichen Blick auf den See.«

Dieser Blick war wahrscheinlich eine Wucht, aber Stella sah gar nicht erst aus dem Fenster – war sie doch zu sehr von dem Anblick des Zimmers – oder eher der Suite – gefangen. Augenblicklich fühlte sie sich wie in einem Luxushotel aus den 20er Jahren.

Über einen schmalen Gang mit Mosaikboden betrat sie einen großen Wohnbereich mit Kamin, Parkettboden und dunklen Kassettendecken, vor dessen dunkelvioletten Seidentapeten sich die cremefarbenen Möbeln deutlich abhoben: Die Vitrine, der Couchtisch und das Bücherregal, die mit Hochglanzlackierung und Goldapplikationen versehen waren, und nicht zuletzt das weiße Ledersofa. Eine Flügeltür stand weit offen und führte zum Schlafzimmer. Auch dort war es der Kontrast von den dunklen Holzbalken an der Decke und den schweren Pfosten des Himmelbetts zum weißen Marmorboden und der seidigen Bettwäsche, die den Raum überaus elegant wirken ließ.

Fabrizio deutete auf die Anrichte, auf der frisches Obst und ein Teller mit kleinen Sandwiches standen.

»Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen gerne Kaffee servieren.«

Stella war auch ohne Koffein viel zu aufgedreht und lehnte dankend ab. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie auf dem Weg ins Gästezimmer keinen Dienstboten begegnet waren, aber wahrscheinlich waren diese auf Diskretion geeicht.

»Wenn Sie sonst noch etwas brauchen …«

»Danke, ich würde nur gerne in Ruhe auspacken.«

»Dann erlauben Sie mir, Sie später zum Abendessen abzuholen.«

Nachdem er gegangen war, schob Stella den Koffer zur Seite, um sich ein paarmal ausgelassen im Wohnzimmer zu drehen, sich später auf die Ledercouch fallen zu lassen und hingerissen die vielen Vasen und Uhren, Tischläufer, Wandgemälde und das Keramikgeschirr in der Vitrine zu betrachten.

Ihre Finger waren so klebrig, dass sie aus Angst, etwas schmutzig zu machen, nichts anzufassen wagte, und schließlich erhob sie sich wieder und suchte das Bad. Dieses befand sich gleich neben dem Schlafzimmer und war fast so groß wie ihre ganze Wohnung in Frankfurt. Es war ein Traum aus grauem Marmor, goldenen Armaturen sowie einer riesigen Eckbadewanne, die für eine morgendliche Schwimmrunde angelegt zu sein schien. Außerdem gab es eine Dusche, ein Bidet und zwei Waschbecken, neben denen diverse Kosmetikartikel und flauschige Handtücher lagen. Stella wusch sich Hände und Gesicht, fühlte sich danach immer noch euphorisch, aber auch etwas schwindlig.

Anstatt auszupacken, ließ sie sich auf das Himmelbett fallen, das mindestens zwei Meter breit war, und sog den eigentümlichen Geruch nach Bergamotte ein, den die Bettwäsche ausströmte. Sie hätte sofort einschlafen können, hielt aber krampfhaft die Augen offen, weil sie keine Sekunde versäumen wollte.

Ein Traum … ein Traum … es ist einfach ein Traum …

Bis jetzt hatte sie befürchtet, dass dieses ungewöhnliche Jobangebot irgendeinen Haken hatte. Doch langsam begann sie, ihrem Glück zu trauen. Sie hatte tatsächlich einen Sechser im Lotto gewonnen. Die nächsten drei Monate würden die schönsten und aufregendsten ihres bisherigen Lebens werden.

 

Einige Wochen zuvor hätte Stella nicht gewagt, von so einem Glück auch nur zu träumen. Damals hatte sie in einem Café am Frankfurter Opernplatz gearbeitet und damit gekämpft, Milchschaum in der richtigen Konsistenz zu produzieren.

Wie so oft war es ein ungleicher Kampf. Die Kaffeemaschine führte ihn mit lautem Zischen und heißem Wasser, sie mit zusammengekniffenen Lippen und bösen Flüchen, letztere gerne auf Italienisch, was die Situation noch grotesker machte, sagte man doch gerade Italienern nach, Meister im Kaffeekochen zu sein. Sie war das auf jeden Fall nicht. Ihr Milchschaum wurde entweder so stocksteif, dass der Löffel steckenblieb, oder so flüssig, dass er nur ein paar Blasen warf. Wenn sie Glück hatte, genügte ein freundliches Lächeln, um die Gäste damit zu versöhnen. Doch heute fragte einer der schwarzen Anzugträger, der wohl bei einer Bank oder der Börse arbeitete, schroff: »Und das soll ein Espresso macchiato sein?«

Er hatte ja recht, genau genommen war es ein Milchkaffee, der sich aus Versehen in die kleinste Tasse verirrt hatte.

»Ich bringe Ihnen einen neuen«, sagte sie schnell.

»Porca miseria!«, stöhnte sie wenig später.

Ihr Fluch wurde von ungeduldigen Rufen übertönt.

»Können Sie mich endlich bedienen, meine Mittagspause ist bald vorbei!«

»Wir wollen bitte zahlen!«

»Dann nehme ich den Espresso eben ohne Milchschaum!«

Die Stimmen klangen immerhin nicht so bösartig wie das Zischen der Maschine – wobei es auch nicht gerade ein gutes Zeichen war, als dieses plötzlich abriss.

»Sternchen, Sternchen«, murmelte Bruno, ihr Kollege, als er schulterzuckend zu ihr trat.

Eigentlich hasste sie es, wenn er sie Sternchen nannte, aber heute ertrug sie es mit einem flehentlichen Lächeln.

»Kannst du mir helfen?«

Einige wenige geübte Handgriffe genügten, und schon war die Kanne mit cremigstem Milchschaum gefüllt. Noch neidischer machte Stella die Tatsache, dass Bruno mit der anderen Hand zwei Espressi heruntergelassen und sogar noch einen Rooibos-Sahne-Tee vorbereitet hatte.

»Kassier erst mal ab!«, meinte er.

Als die Gäste zufriedengestellt waren, schlich Stella kleinlaut zu Bruno zurück.

»Wie machst du das nur?«

»Ich frage mich eher, wie du es anstellst, die Maschine fast jedes Mal zu ruinieren? So schwer kann das doch nicht sein. Obwohl man so was natürlich nicht an der Uni lernt …«

Es war nicht das erste Mal, dass er gutmütig über ihre akademische Laufbahn spottete. An deren Ende standen trotz zweier Doktorate – in Geschichte und Kunstgeschichte – nur unbezahlte Praktika. Um ihre Miete zahlen zu können, musste sie an vier Tagen die Woche im Café jobben.

»Zeig’s mir noch mal.«

»Es ist ganz einfach, Sternchen. Milch einschenken, aber nicht zu viel, es muss ja noch ein wenig Platz für den Schaum bleiben. Dann die Dampfdüse rein und los geht’s. Schau dir mal diesen prächtigen Schaum an! Da möchte man ja fast darin baden. Hat nicht auch Kleopatra in Milch gebadet? Nachdem sie Cäsar im Teppich vor die Füße gerollt ist?«

Er klopfte ihr gönnerhaft auf die Schultern.

Stella war erleichtert, von einem Gast gerufen zu werden. Auf dem Weg zum Tisch stieß sie ein Stoßgebet aus: Bitte nichts mit Milchschaum!

Zumindest dieser Wunsch wurde ihr erfüllt – bestellt wurde eine Apfelsaftschorle –, doch dafür wartete eine andere Prüfung. Es war ausgerechnet ihre Tante Patrizia, die auf einem der roten Samtstühle in der Ecke Platz genommen hatte.

»Was machst du denn hier?«, fragte Stella erstaunt. »Ich dachte, du ziehst heute um.«

»Die Möbelpacker kommen erst morgen. Und ich brauchte mal ein Stündchen Abstand vom Kistenpacken.«

Tante Patrizia murmelte etwas von einem Kosmetikstudio in der Fressgass, wo sie schon immer mal hin wollte, und vom Demeterladen gleich nebenan, wo sie ihre getrockneten Aprikosen bekam, aber Stella hätte schwören können, dass ihr eigentliches Ziel dieses Café gewesen war, um wieder mal ihre Nichte zu kontrollieren. Gott sei Dank hatte Patrizia vorhin nicht mitbekommen, wie überfordert sie gewesen war.

»Kannst du dich nicht ein wenig zu mir setzen?«, fragte ihre Tante, als sie ihr die Apfelschorle brachte.

»Das geht leider nicht.«

»Im Moment ist doch nichts los.«

Bruno zwinkerte ihr vom Tresen aus zu. »Kein Problem, ich übernehme gerne. Wenn du willst, bringe ich dir einen Cappuccino.« Sein Zwinkern wurde anzüglich, und Stella bereute, ihm jemals mehr über ihr kompliziertes Verhältnis zu ihrer Tante erzählt zu haben.

Nach dem frühen Tod ihrer alleinerziehenden Mutter war sie bei ihr aufgewachsen, und genau betrachtet hätte sie es übler treffen können: Patrizia war eine humorvolle, etwas exzentrische Frau, die einem Kind Wärme gab, ohne es zu erdrücken. Ihren wechselnden Herrenbesuche gab sie immer Phantasienamen – am beliebtesten waren Papageno oder Vivaldi –, um damit deutlich zu machen, dass all diese Affären nichts Ernstes waren. Die einzige langlebige Partnerschaft, so betonte sie oft, führe sie mit ihrer Nichte, aber so augenzwinkernd wie sie das sagte, verbarg sich dahinter kein Besitzanspruch, im Gegenteil: Sie ließ Stella alle Freiheiten oder vielmehr fast alle. In einer Sache war die lockere Patrizia nämlich stockkonservativ: Von klein auf trichterte sie Stella ein, dass sie etwas Anständiges lernen sollte.

Nun erfüllten zwei abgeschlossene geisteswissenschaftliche Studien samt Doktorat durchaus diesen Anspruch, aber seitdem ihre Assistentenstelle an der Uni aufgrund von Einsparungen nicht verlängert worden war, lag sie ihr hartnäckig in den Ohren, dass sie ihr Leben nicht den Bach runtergehen lassen dürfte. Wie Stella diese Vorträge hasste, wonach die Geisteswissenschaft eine brotlose Kunst sei, sie doch wenigstens Lehrerin hätte werden sollen oder Journalistin! Aber »wissenschaftlich Arbeiten« – was war das denn?

»So eine graue Maus bist du doch gar nicht!«, pflegte Tante Patrizia kopfschüttelnd auszurufen.

Ständig kam sie mit neuen Vorschlägen, wie sie ihre umfassende Bildung zu Geld machen könnte. Der letzte war, einen Bestseller zu schreiben und damit in sämtlichen Talkshows zu landen. Als ob man einen Bestseller im Handumdrehen schriebe, wandte sie ein.

»Na ja, es muss eben das richtige Thema sein, natürlich nichts Verkopftes.«

Eine Biographie über Kleopatra würde dieses Kriterium wohl nicht erfüllen …

Zu Stellas Erstaunen war ihre Tante heute jedoch erstaunlich wortkarg. Sie trank ihre Apfelsaftschorle in kleinen Schlucken und wirkte ungewohnt erschöpft.

»Was denn?«, fragte Stella kämpferisch. »Keine Kritik, dass ich hier mein Leben verschwende? Dass das nicht mein Ernst sein kann? Dass ich endlich eine Zusatzausbildung machen soll, am besten was mit Computern? Oder noch besser: Dass ich lieber in deiner Boutique aushelfen sollte, anstatt in einem Café zu arbeiten?«

Tante Patrizia besaß ein Geschäft für italienische Designermode in der Goethestraße und wohnte zwei Stockwerke darüber in einer traumhaften Altbauwohnung. Diese war ihr unerwartet wegen Eigenbedarf gekündigt worden, und obwohl sie stets betonte, dass sie ohnehin schon seit längerem eine kleinere Wohnung suchte, nachdem Stella ausgezogen war, wusste diese, wie sehr sie der Umzug schmerzte. Heute war davon jedoch keine Rede.

»Meine Freundin Charlie …«, begann Patrizia zögernd, »du weißt schon, die, die in der Stadtbibliothek arbeitet … Sie hat gemeint, sie könnte dir etwas beschaffen, zum Beispiel im Archiv. Natürlich nicht für lange, es wäre auf ein halbes Jahr befristet, aber du würdest ein anständiges Gehalt bekommen.«

»Ein anständiges Gehalt?«, fragte Stella zynisch. »Etwa fünfhundert Euro?«

»So viel mehr verdienst du hier auch nicht.«

»Ich bitte dich, allein das Trinkgeld!«

Dass dieses aufgrund ihrer missratenen Cappuccini manchmal ausblieb, erwähnte sie lieber nicht.

Tante Patrizias Lächeln wurde schmallippig. »Ich wollte ja nur helfen.«

Stella seufzte, während Bruno, der das Gespräch belauschte, feixte. Sie war sich nicht sicher, was er so lustig fand, war aber dankbar, dass er einen Teller mit Cantuccini brachte. Stella biss krachend in eines hinein und genoss den süßen, nussigen Geschmack.

»Ich lass es mir durch den Kopf gehen«, lenkte sie ein.

Kurz sah sie sich unter einer Neonlampe irgendwo in einem staubigen Keller stehen, Bücher einbinden und nummerieren. Sie war nicht sicher, ob das besser war, als mit einer Kaffeemaschine zu kämpfen …

»Charlie braucht bis nächste Woche eine Rückmeldung.«

»Gut, ich melde mich.« Stella erhob sich. »Die Schorle geht auf mich.«

»Kommt nicht in Frage, ich zahle.«

Patrizia legte einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch und verweigerte das Rückgeld, was Stella sehr erboste. Dafür, dass ihre wissenschaftliche Karriere nicht so verlief wie erhofft, brauchte sie kein Mitleid und schon gar keine Almosen. Doch ehe sie ihr das Geld zurückgeben konnte, hatte ihre Tante das Café schon verlassen.

In den nächsten zwei Stunden war Stella damit beschäftigt, mehrere Reisegruppen von Japanern zu bedienen, die Gottlob nicht sehr anspruchsvoll waren, was den Milchschaum anbelangte, und großteils Jasmintee oder Grünen Tee tranken.

Als es wieder ruhiger wurde, lehnte sich Bruno neben sie an den Tresen.

»Na, Sternchen, muss ich bald auf dich verzichten?«

»Ich glaube nicht, dass ich das Angebot von dieser Charlie annehme.«

»Denk lieber noch mal drüber nach. Das hier ist nicht das Richtige für dich …«

»Na, vielen Dank auch.«

Stella flüchtete auf die Toilette und nutzte die kurze Pause, um ihr iPhone zu checken. Sarah, eine befreundete Archäologin, schickte eine SMS von einer Ausgrabung in Tunesien und schwärmte von Land und Leuten. Obwohl Stella ihr nur das Beste wünschte, erwachte sofort ein Neidgefühl in ihr.

Mit voller Leidenschaft bei dem zu sein, was man tat …

Doch da war noch eine zweite Nachricht. Von Professor Conrad Ahrens, ihrem Doktorvater. Er hatte sich seit Monaten nicht mehr gemeldet, ihr aber versprochen, sofort Bescheid zu geben, wenn eine freie Stelle in Sicht wäre.

Jemand rüttelte an der Tür, aber Stella achtete nicht darauf. Conrad bat in seiner SMS um ihren baldmöglichsten Rückruf, und sie wählte hastig seine Nummer. Natürlich hatte sie keine Ahnung, was er ihr anbieten wollte, aber plötzlich war sie sich sicher: In der nächsten Zeit würde sie weder Milchschaum zubereiten noch Bücher einbinden.

 

Am Ende schlief Stella doch noch kurz auf dem Himmelbett ein und erwachte eine halbe Stunde später mit leichten Kopfschmerzen. In einem kleinen Kühlschrank im Wohnzimmer, der sich hinter einer der weiß lackierten Türen befand, fand sie eine Flasche San Pellegrino, und nach zwei Gläsern fühlte sie sich etwas frischer und genoss endlich den Ausblick über den See. Die Villa Carlotta war – anders als vermutet – von hier aus nicht zu sehen, weil sie von der Halbinsel verborgen war, an deren Spitze die gelbe Villa Balbianello stand. Dafür erblickte sie die Isola Comacina gegenüber von Ossuccio – die einzige Insel des Comer Sees. Sie beschloss, unbedingt einmal dorthin zu fahren, hatte sie doch gelesen, dass regelmäßig Boote dorthin ablegten und an manchen Tagen auch der Landweg offen war. Dann aber sagte sie sich, dass sie hier schließlich nicht auf Urlaub war, sondern zum Arbeiten, und verschob diesen Plan auf später.

Sie war unglaublich neugierig darauf, was für eine Arbeit auf sie zukommen würde, weswegen sie in Windeseile den Koffer auspackte, unter die Dusche sprang und sich umzog. Diesen edlen Palazzo konnte sie unmöglich mit T-Shirt und Jeans in Augenschein nehmen; stattdessen entschied sie sich für ein geblümtes Seidenkleid, das sie sich für einen besonderen Anlass mitgenommen hatte und wohl die richtige Garderobe für ein Abendessen mit Flavia di Vaira war. Zuletzt warf sie einen prüfenden Blick in den opulenten Spiegel im Vorraum, der von einem antiken Rahmen aus Holz eingefasst und mit kleinen Kristallblüten aus feinstem Muranoglas verziert war.

Stella war nach der langen Reise etwas blass, aber der dunkle Pagenkopf hatte unter dem kurzen Schläfchen kaum gelitten, und das Violett der Blumen auf ihrem Kleid passte zu ihren blauen Augen. Sie schlüpfte in cremefarbene Ballerinas, ehe sie nach draußen trat.

Fabrizio hatte zwar angekündigt, sie zum Abendessen abzuholen, aber die zwei, drei Stunden bis dahin wollte sie nicht ungenützt verstreichen lassen. Obwohl ihr der Palazzo fremd war, hatte sie in den Unterlagen, die ihr Conrad übermittelt hatte, gelesen, dass die Bibliothek samt Familienarchiv direkt unter dem Dach lag. Da auch ihr Apartment im obersten Stockwerk lag, musste sie sich also in unmittelbarer Nähe der Bibliothek befinden. Die Tür direkt neben ihrem Zimmer war zwar abgeschlossen, aber es gab eine weitere, die vom Treppenhaus zur Balustrade führte, welche einen Flügel des Gebäudes mit dem anderen verband. Der Blick auf die Halle, den man von dort aus hatte, war schwindelerregend, so dass Stella sich rasch abwandte und lieber das Fresko an der Wand musterte, das sich bei genauerer Betrachtung als riesiger Familienstammbaum herausstellte.

Stella zwang sich, ihn nur flüchtig zu überfliegen. Wenn sie sich ihm mit der ihr eigenen Gründlichkeit gewidmet hätte, wäre sie bis zum Abendessen nicht von hier weggekommen. So blieb ihr Blick nur an ein paar Namen hängen – Flavio, Quirino, Tizia –, ehe sie sich losriss und eine weißlackierte Flügeltür im Art Nouveau Stil erreichte. Sie war zwar schwer zu öffnen, aber nicht verschlossen, und dahinter befand sich wie erhofft die Bibliothek. Am liebsten hätte Stella einen kleinen Tanz aufgeführt, wie vorhin im Apartment.

Jemand anderes hätte diesen Raum mit seinen Bücherregalen, dem alten Globus und den schweren Teppichen, in denen sich der Staub von Jahrhunderten gesammelt hatte, bedrückend und miefig gefunden. Für sie, die leidenschaftliche Historikerin, die nichts so sehr liebte, als in der Vergangenheit zu wühlen, war es ein Paradies. Aus den Unterlagen wusste sie, dass hier etwa viertausend Bücher aufbewahrt wurden. Außerdem entdeckte sie nun eine Sammlung alter und neuer Landkarten, historische Drucke vom Comer See, Reiseausrüstungen und Fotografien aus dem letzten Jahrhundert.

Sie trat zum ersten Bücherregal, wo römische Klassiker wie Bertonis »Geschichte der Völker und Staaten« standen, außerdem diverse geographische und ethnographische Lexika, eine Einführung in die Archäologie sowie monumentale Architekturwerke, ganz zu schweigen von den Monographien über diverse italienische Paläste und Kathedralen. Erst als sie eines der Bücher herauszog, sah sie, dass die Wände nicht tapeziert waren, sondern wie der Fußboden unter dem Teppich und die Fensterbänke aus Stein bestanden. Vermutlich hatte dieser Raum ursprünglich nicht als Bibliothek, sondern als Musiksaal gedient.

Am liebsten hätte sie noch mehr Bücher aus dem Regal gezogen, verkniff es sich aber und trat zu dem großen Schreibtisch aus Kirschbaumholz, dessen Tischplatte mit rotem Leder bezogen war.

Flavia di Vaira hatte offensichtlich schon die eine oder andere Quelle für sie herausgesucht: ein paar Bücher, deren brüchige Ledereinbände ihr hohes Alter verrieten, Urkunden aus Pergament, die sie kaum zu berühren wagte, und mehrere Pappschachteln voller Fotos. Ihr Herz klopfte aufgeregt, obwohl ihr klar war, dass diese Quellen für sie vor allem jede Menge Arbeit bedeuteten. Schließlich blieben ihr nur drei Monate, um eine Familienchronik der di Vairas zu verfassen, und die Familie war alt. Ihre Ursprünge reichten bis zurück ins Mittelalter. Wie sie aus den Unterlagen erfahren hatte, kam Quirino di Vaira, der Stammvater, schon im 12. Jahrhundert in den Besitz der Halbinsel. Er ließ ein erstes Gebäude errichten, benutzte es jedoch nicht, sondern vertraute es dem religiösen Orden der Humiliati an, der dort eine kleine Kirche und ein Hospital gründete. Letzteres wurde im späten 16. Jahrhundert Rückzugsort für die Opfer der Pest, und auch die Familie di Vaira flüchtete in dieser Zeit aus Como auf die Insel und entschied sich später zu bleiben. Auf den Grundmauern des ersten Gebäudes sollte ein Renaissance-Palast errichtet werden, aber Geldsorgen vereitelten diese Pläne – was genau dahinter steckte, musste Stella noch herausfinden –, weswegen erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Hospital niedergerissen und der Palazzo errichtet worden war. Zunächst diente er nur als Sommerresidenz der Familie, deren Vermögen aus der Seidenproduktion stammte, später wurde er Hauptwohnsitz. Jetzt lebte nur mehr Flavia di Vaira hier, die, als Stella mit ihr telefoniert hatte, keinen weiteren Familienangehörigen erwähnt hatte.

Überhaupt war sie relativ wortkarg gewesen, hatte sich jedoch von Stellas zwei Doktoraten ebenso beeindruckt gezeigt wie von der Tatsache, dass sie dank etlicher Auslandssemester in Perugia fließend Italienisch sprach, und ihr zugesagt.

Stella strich über ein paar Bücher. Angesichts der Fülle von Unterlagen, aus denen sie eine möglichst unterhaltsame Geschichte machen sollte, musste sie sich ranhalten, aber heute wollte sie einfach nur die Vorfreude genießen.

Flüchtig überflog sie weitere Quellen, die offenbar aus der Seidenmanufaktur stammten – ein Rundschreiben an Mitarbeiter sowie Fracht- und Lieferscheine –, doch als sie die Zettel zur Seite schob, entdeckte sie darunter unerwartet einen Obduktionsbericht. Stella hatte die Papiere schon wieder weglegen wollen, setzte sich nun aber und las. »Der Ertrinkungstod im Speziellen ist, physiologisch betrachtet, derselbe wie der Erstickungstod. Er führt zum Aufheben des zum Fortleben notwendigen respiratorischen Reflexes …«

Na danke, da konnte sie sich ein erfreulicheres Thema vorstellen. Sie schob die Papiere zurück und entdeckte dabei ein kleines Büchlein mit dunklem Ledereinband, das ihr bis jetzt noch nicht aufgefallen war. Die spitze Handschrift war fast schon verblasst, doch das Datum des ersten Eintrags war gut zu erkennen. Offenbar handelte es sich um ein Tagebuch aus dem Jahr 1924, und sie konnte es sich nur schwer verkneifen, nicht darin zu lesen. Lediglich bei einem Namen blieb ihr Blick hängen.

Tizia.

Der gleiche Name, den sie vorhin schon auf dem Stammbaum entdeckt hatte.

Entschlossen legte sie das Büchlein weg, ehe die Neugierde überhandnahm. Sie stand auf und trat zum raumhohen Fenster. Anders als ihr Apartment bot es keinen Blick auf den See, sondern auf den Garten hinter dem Palazzo. Sie entdeckte einen eleganten Laubengang, der von der Rückseite des Hauptgebäudes zu einer Loggia und von dort weiter zu einem Turm führte.

Der Turm musste ein Überbleibsel der alten Befestigung sein, die Quirino di Vaira einst hier errichten ließ. Die Grundmauern waren aus grauem Stein, die später offenbar mit rötlichem Granit aufgestockt worden waren. Durch den Wechsel des Materials ergab sich ein faszinierendes Farbenspiel, und nicht minder beeindruckend war die Bauweise: Gegen oben hin wurde er breiter und mündete in einem Turmzimmer, dessen Fenster auf der Vorderfront im normannischen Stil gebaut waren – länglich und hoch, mit Rundbögen und schmalen Säulen.

Ob er wohl offen stand und sie ins Turmzimmer hochsteigen konnte?

Sosehr sie all die Quellen faszinierten, so groß bekam sie Sehnsucht nach einer Brise frischer Luft. Die Sonne fiel bereits schräg durch die Fenster, bald würde die Dämmerung einsetzen. Aber jetzt waren Garten und Turm noch in ein weiches Licht getaucht.

Wenig später stieg sie die schwindelerregende Treppe nach unten. Als sie die Halle durchquerte, erblickte sie wieder keine Dienstboten. Das Hallen ihrer Schritte war das einzige Geräusch, und für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, dass in diesem Palazzo die Zeit stehengeblieben war und sie sich in einer längst vergangenen Epoche befand.

Sobald sie ins Freie trat, kam ihr der Gedanke lächerlich vor. Die Sonne war stark genug, um sie zu blenden, weswegen sie mit gesenktem Blick über den Kiesweg ging. Dann hatte sie schon die Loggia erreicht, umrundete sie und kam zum Turm.

Er wirkte noch höher als von der Bibliothek aus, fast ein bisschen feindselig, als wollte er ihr sagen: Komm mir bloß nicht zu nahe! Das Tor war aus verwittertem, rötlichem Holz, und die runde Türklinke mit Grünspan überzogen. Sie versuchte, sie zu drehen. Nichts. Doch als sie mit dem Fuß gegen das Holz stieß, öffnete sich die Tür quietschend. Dahinter befand sich eine Treppe, deren Stufen schief und ungleich waren. Dort hochzusteigen war sicher ziemlich anstrengend. Während Stella noch überlegte, ob sie sich wirklich an diesen Aufstieg machen sollte, an dessen Ende ihr Blumenkleid wohl schweißnass wäre, ertönte eine Stimme.

»Betreten Sie ihn lieber nicht. Es sei denn, Sie sind lebensmüde. Der Turm ist sehr baufällig.«

Stella fuhr herum.

Hinter ihr stand ein junger Mann – zumindest vermutete sie aufgrund seiner Stimme, dass er jung war, denn die Sonne blendete sie zu stark, um mehr als seine Umrisse wahrzunehmen. Schon diese verrieten, dass er groß und schlank war, weiches, gelocktes Haar hatte, das gerade lang genug war, um die Ohren zu bedecken, und als sie die Augen mit ihren Händen abschirmte, sah sie genug, um festzustellen, dass er attraktiv war, wenn auch nicht auf diese aufdringliche Weise von männlichen Models oder Hollywood-Stars. Nein, ein junger George Clooney war er nicht, aber seine markanten Züge ließen an einen römischen Herrscher denken (natürlich nicht an die wahnsinnigen unter ihnen), wenngleich seine dunklen, blitzenden Augen nichts von deren Strenge hatten. Erst als er grinste, bemerkte sie, dass sie ihn angestarrt hatte, als wäre er eine Erscheinung.

»Der Turm … ach so … ja«, stammelte sie. »Ich dachte, man hätte von dort oben einen guten Ausblick.«

»Was in der Tat ein Grund wäre, den Tod in Kauf zu nehmen, das gebe ich zu. Aber an Ihrer Stelle würde ich mich überdies davor fürchten, zur Strafe dort eingesperrt zu werden.«

Sie sah in fragend an.

»Fabrizio hat doch sicher vorgesehen, dass Sie in Ihrem Zimmer warten, bis er sie abholt«, fügte er augenzwinkernd hinzu.

»Und Sie denken, auf Zuwiderhandeln steht Kerkerhaft?«

»Na ja, ich möchte nicht wissen, welchem Zweck dieser Turm früher gedient hat. Sie werden das ja bald herausfinden, nicht wahr? Ich habe gehört, dass sie eine Familienchronik über die di Vairas verfassen werden. Als meine Großmutter mir das erzählt hatte, hatte sie einen leichten Tadel in ihrer Stimme. Insgeheim ist sie wohl davon überzeugt, dass diese Pflicht eigentlich mir zukommt – als einzigem noch lebenden Nachfahren. Aber ich fürchte, ich bin diesbezüglich völlig ungeeignet.«

Der junge Mann war also Flavia di Vairas Enkel. Bevor Stella nach seinem Namen fragen konnte, stellte er sich vor: »Ich bin übrigens Matteo und verbringe hier meine Wochenenden. Ansonsten lebe ich in Mailand, wo ich einer ungleich profaneren Tätigkeit nachgehe als Sie. Vom Erben eines solchen Anwesens wird eigentlich etwas anderes erwartet, aber ich nehme an, dass meine ach so säkular eingestellte Mutter daran schuld ist. Die war nämlich Britin, allerdings keine mit dem Königshaus verwandte, was meine Großmutter ein wenig versöhnlicher gestimmt hätte.«

»Das Vermögen der di Vairas ist ja auch nicht vom Himmel gefallen. Ich habe gehört, dass sie es mit dem Seidenhandel gemacht haben.«

»Seide ist etwas sehr Edles. Ich hingegen verdiene mein Geld mit … Schuhen.«

Stella nickte.

»Wie? Kein Kommentar?«, spottete Matteo. »Normalerweise leuchten bei jeder Frau, der ich das anvertraue, die Augen, weil sie sich Manolo Blahniks mit Sonderrabatt erhoffen.«

Unmerklich ging ihr Blick zu den beigen Ballerinas, die sie bei Deichmann für fünfzehn Euro gekauft hatte. »Ich fürchte, dass ich Sie enttäuschen muss. Meine Tante hat mir mal einen Gutschein für irgendeine Schuhboutique gekauft. Ich habe ihn gegen Geld eingetauscht und dafür eine uralte Ausgabe von Dante Alighieri erstanden.«

Matteo tat, als würde er sich über die Stirn wischen. »Puh, da habe ich ja Glück gehabt. Manolo Blahniks kann ich nämlich nicht bieten – nur Sportschuhe. Und was für meine Großmutter noch peinlicher ist – ich führe nicht mal ein eigenes Unternehmen, sondern bin lediglich Manager bei einer internationalen Kette. Aber da Sie von Dante sprechen, werden Erinnerungen an meine Schulzeit wach. Ich wurde in ein britisches Internat verfrachtet und als Italiener und Exot konnte ich dort die Mädchen reihenweise verführen, indem ich Dante zitierte.« Er fuhr sich durch das Haar. »Leider ist nicht viel hängengeblieben. Zumindest nicht genug, um jemanden wie Sie zu beeindrucken.«

Die Augen funkelten, doch zu ihrer Überraschung las Stella keinen Spott darin, nur ehrliche Anerkennung. Sie kam unerwartet, hatte sie doch oft erlebt, dass man ihre Leidenschaft für die Geschichtswissenschaft als Spleen abtat.

»Wenn ich ehrlich bin, habe ich auch keinen Vers von Dante parat«, gab sie zu. »Sie wiederum könnten mir einen anderen Gefallen tun, als aus seinem Werk zu zitieren – mir nämlich den Garten zeigen. So groß wie er ist, würde ich mich wohl verlaufen.«

»Ob Fabrizio mir das wohl gestattet?«, fragte er humorvoll.

»Nun, falls er Sie dafür einsperrt, sind wir immerhin schon zu zweit.«

»Diese Vorstellung ist eher romantisch als furchterregend, nicht wahr?«

Stella lächelte, aber als ihr Blick hoch zum Turm ging und sie sich kurz vorstellte, im Turmzimmer eingesperrt zu sein, überkam sie ein Frösteln.

»Sie hätten sich etwas Wärmeres anziehen sollen. Die Abende sind jetzt im Mai noch sehr kühl.«

»Es geht schon, danke.«

Schweigend zog er seine eigene Strickjacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Wieder erschauderte sie, wenngleich es diesmal nicht an der Kälte lag.

Wenig später machten sie sich auf einen Rundgang durch den Garten, und Stella kam gar nicht hinterher, die vielen Eindrücke in sich aufzusaugen.

Der Garten bestand aus mehreren Terrassen und Brüstungen. An einigen Punkten erhoben sich steinerne Mauern, die verschiedene Ebenen auf unterschiedlichem Niveau erzeugten. Dort wechselten sich englischer Rasen, sorgsam beschnittene Lorbeerhecken und Zypressen, Myrten, Magnolien und Palmen ab – ganz zu schweigen von großen, als Kandelaber geschnittenen Platanen, den Glyzinien und dem Kletterefeu. Zum See hin lief – ausgehend von einem Wandbrunnen mit Medusenköpfen – ein kleiner Bach, der von Olivenbäumen begrenzt war. Die schmalen Kieswege wurden wiederum von diversen Statuen umsäumt, manche moosbedeckt und verwittert, andere deutlicher zu erkennen.

Stella blieb vor zweien stehen. »Da haben wir sie ja.«

»Wen?«

»Nun, Dante und Beatrice.«

»Wie kommen Sie denn da drauf?«

»Nun, der Lorbeerkranz, den Dante trägt, ist eine klassische Auszeichnung für Dichter. Auf dem berühmten Gemälde von Botticelli wird er auch damit gezeigt – und die Statue in Florenz trägt ihn ebenso. Beatrice wiederum, von der man nicht weiß, ob sie nun tatsächlich seine früh verstorbene Jugendliebe war oder bloß eine literarische Gestalt, begegnet ihm bei seiner Reise durchs Jenseits im irdischen Paradies. Sie schwebt in einer Wolke von Blumen herab – und schauen Sie, die Blumen sieht man auch hier.«

Sie deutete auf den Stein, woraufhin Matteo di Vaira sich zu ihr beugte. »Beatrice, das Blumenmädchen also …«

»Na ja, falls Sie jetzt wieder auf romantische Gedanke kommen … Beatrice hält Dante seine vergangenen Verfehlungen vor und ruft ihn zur Buße auf, ehe sie wieder entschwebt. Neben den Blumen ist die Wolke ein typisches Attribut von ihr – und diese wiederum symbolisiert Christi Wiederkehr beim Weltgericht.«

»Wir reden hier also von stacheligen Blumen«, sagte Matteo amüsiert. »Ich muss zugeben, dass ich mir keine dieser Figuren jemals genauer angeschaut habe. Als Kind habe ich gerne verstecken gespielt, wobei die Statuen genau genommen kein wirklich gutes Versteck boten. Kommen Sie mit, dann zeige ich Ihnen den Ort, wo man mich nie gefunden hat.

Er führte sie zur Orangerie, die früher offenbar benutzt worden war, um während der kalten Monate die Zitronenbäume zu überwintern.

Stella deutete auf das Blätterdach. »Und da drunter haben Sie sich versteckt?«

»Nein, aber da drin.«

Neben der Orangerie standen mehrere eisenvergitterte Käfige. Die Zwischenräume waren verglast, aber mittlerweile so grau beschlagen, dass man kaum hindurchsehen konnte.

»Hier könnte uns Fabrizio eventuell auch einsperren«, meinte Stella spöttisch.

»Na ja, anders als das Turmzimmer war das hier ein Gefängnis für Ziervögel, nicht für Menschen. Pfauen, genauer gesagt – wenn ich es recht in Erinnerung habe, indische Pfauen, also eine ganz besondere Rasse, die auf Sankt Helena gezüchtet wurde.«

»Ich wusste bis jetzt nur, dass Napoleon dort im Exil lebte, nicht, dass dort auch Pfauen gezüchtet wurden.«

Er schlug sich stolz auf die Brust. »Kaum zu glauben, dass Sie von mir etwas lernen können!« Er lächelte. »Eigentlich sollten Pfauen nachts ja in Ställen untergebracht werden, nicht in Käfigen, aber offenbar war Tizia der Meinung, dass solche Ställe den Garten verschandeln würden. Sonderlich begeistert zeigten sich die Pfauen von den Käfigen nicht. Ich glaube, die Dienerschaft war damals ziemlich genervt wegen des ständigen Gekreischs. Haben Sie schon mal einen Pfau schreien gehörte?«

Stella nickte gedankenverloren. »Sie erwähnten eine Tizia«, murmelte sie.

»Die Pfauen waren ihr ganzer Stolz.«

Zweimal war Stella dem Namen schon begegnet – einmal auf dem Stammbaum und einmal in diesem ledernen Büchlein.

»Tizia di Vaira«, sinnierte sie, »was für ein klangvoller Name!«

»Haben Sie noch nie von ihr gehört? Ihr Mädchenname war Tizia Massina – unter dem war sie besser bekannt.«

Stella zuckte die Schultern. »Ich fürchte, auch hier muss ich passen.«

»Nun, Sie sind ja auch aus Deutschland, und Tizia hat Italien meines Wissens nie verlassen.« Er beugte sich so nahe zu ihr, dass sie seinen warmen Atem spüren konnte. »Schon bevor sie Gaetano di Vaira geheiratet hat, war sie hier eine Berühmtheit – einer der ganz großen italienischen Stars der Stummfilm-Zeit.«

2

1923

Das Erste, was Bérénice wahrnahm, als sie Tizia Massina gegenübertrat, war der Duft. Später erfuhr sie, dass Tizia nur Crêpe de Chine trug, ein Parfüm, das Gaetano di Vaira ihr geschenkt hatte, doch in diesem Augenblick dachte sie nur, dass sie nie zuvor etwas so Köstliches gerochen hatte. Sie nahm eine Note von Bergamotte, Orange und Vanille wahr und schloss unwillkürlich die Augen. Ewig hätte sie so dastehen können und diesen Duft in sich einsaugen, doch da ertönte ein glockenhelles Gelächter.

»Wie willst du mich denn frisieren, wenn du es kaum wagst, mich anzusehen?«

Bérénice hob kurz den Blick, senkte ihn aber sofort wieder. Sie arbeitete mittlerweile seit einigen Wochen im Hotel d’Este als Zimmermädchen, und man hatte ihr strikt eingebläut, keinen der Gäste jemals anzustarren. Am besten sollte sie sich sofort zurückziehen, wann immer Schritte ertönten – Mädchen wie sie wären bestenfalls lautlose Schatten. Und da Bérénice in ihrem kurzen Leben die Erfahrung gemacht hatte, dass es sich als solcher Schatten recht gut lebte, hatte sie sich bislang bereitwillig danach gerichtet. Natürlich hatte sich auch bis zu ihr herumgesprochen, dass sich der berühmte Stummfilmstar Tizia Massina im Hotel aufhielt – nicht nur, um hier zu residieren, sondern um im Garten und ihrer Suite ein paar Szenen für den neuen Film zu drehen, in dem es gerüchteweise um ein Brüderpaar ging, das sich über eine ebenso rätselhafte wie gefährliche Frau entzweite –, doch während die anderen Angestellten sich darum rissen, einen verbotenen Blick durch den Türspalt oder die Fensterritze zu ergattern, hatte Bérénice bis jetzt strikt Distanz gewahrt.

Heute Morgen aber hatte Tizia Massina sie zu sich in ihr Zimmer rufen lassen, genauer gesagt in die große Suite mit dem prachtvollen Kamin, den weißen Säulen, die den Wohn- und den Schlafraum voneinander abgrenzten, und dem erlesenen Mobiliar: runde Tische mit Aschenbechern, mehrere Stühle und Stehlampen sowie Fauteuils, die mit einem gestreiften, golddurchwirkten Stoff bezogen waren. Die Räumlichkeiten kannte Bérénice mittlerweile – die Frau hingegen nicht. Als sie zögernd hochsah, blieb ihr Blick auf den fremdartigen Vögeln mit langen Federn und rosafarbenen Blumen hängen, mit denen der seidene Morgenmantel bestickt war. Der helle Stoff reflektierte das Sonnenlicht, aber anstatt instinktiv die Augen zusammenzukneifen und sich wieder zu ducken, sah Bérénice noch höher und erwiderte Tizias Blick.

»Also gut«, erklärte diese und lachte wieder glockenhell, »du bist ja doch kein Angsthase. Nachdem du mich mittlerweile anzusehen traust – verrätst du mir auch deinen Namen?«

Zu sprechen war fast noch schwerer, als Tizias Blick zu erwidern, doch schließlich presste sie hervor: »Bérénice.«

»Was für ein hübscher Name.«

Ihre Wangen wurden glühend heiß, und sie konnte nur nicken.

»Das klingt französisch, stammst du etwa nicht von hier?«

»Doch, doch, aber meine Mutter … sie … sie kam aus der Schweiz …« Nach den wenigen geflüsterten Worten war Bérénice ganz außer Atem.

»Ich verstehe. Lebt deine Mutter noch?«

Bérénice schüttelte den Kopf.

»Aber von ihr hast du wahrscheinlich gelernt, diese wunderschönen Frisuren zu machen, oder?«

Bérénice’ Augen weiteten sich überrascht. Schon vorhin war sie überzeugt gewesen, dass es sich um einen Irrtum handeln musste, als ausgerechnet sie zu Tizia Massina gerufen wurde, um diese zu frisieren. Noch mehr misstraute sie den Worten, dass es irgendetwas gab, das sie gut – geschweige denn wunderschön – konnte. Das hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. Unter wessen Aufsicht sie auch immer gearbeitet hatte – bestenfalls bekam sie ein Nörgeln zu hören, schlimmstenfalls Geschimpfe. Sie sei zu langsam, zu faul, zu verträumt. Die höchste Form der Anerkennung war ein stummes Nicken, das sie stets mit großer Erleichterung erfüllte, ihr aber nie das Gefühl gab, sie wäre in irgendeiner Sache besonders gut.

Und nun … wunderschön?

In ihrem Leben gab es nichts Wunderschönes. Ausgenommen diese elegante Frau, vor der sie nun stand und die einer fernen, unerreichbaren Welt zu entstammen schien.

Unwillkürlich ging Bérénice’ Hand hoch zu ihrem Kopf, um ihre Frisur zu betasten: Sie hatte heute früh aus ihren dunklen Haaren viele kleine Zöpfe geflochten, die sie sich auf jeder Seite zu einem schneckenhausförmigen Knoten aufgesteckt hatte. Auf der Stirn kringelten sich wie immer ein paar Locken.

Tizias Haare – diese kastanienbraune, dichte Flut – fielen hingegen lang und offen über ihren Rücken. Sie waren dicker und glänzender als Bérénice’ Locken und umrahmten ein ebenmäßiges Gesicht, das eher an eine Statue im Park des Hotels als an einen Menschen aus Fleisch und Blut denken ließ. Sie war stark geschminkt – hatte dunkle Ränder um die Augen, ganz schmal gezupfte und mit einem Kohlestift nachgezogene Augenbrauen, außerdem einen kleinen, dunklen Schönheitsfleck. Die Form des Mundes war mit Puder und kirschfarbenem Lippenstift so betont worden, dass er wie ein Herz aussah.

Tizia schwieg, war sie es doch offenbar gewohnt, von Menschen gemustert zu werden.

»Du bist also einverstanden und wirst mich frisieren«, stellte sie nach einer Weile fest, »das ist gut. Du weißt, was wir hier tun, nicht wahr?«

Bérénice nickte und ließ ihren Blick kurz schweifen. Auch wenn die Suite ihr vertraut war, war sie doch deutlich verändert. Auf dem Bett lagen nicht die üblichen Seidenlaken, sondern türmten sich viele Felle, dicke Decken und Kissen. Offenbar wurde hier eine Szene für den Film gedreht, in der Tizia eine Kranke spielte. Viele zusätzliche Lampen waren aufgestellt worden, und Bérénice hatte beim Hereinkommen darauf achten müssen, nicht über eines der Kabel zu stolpern. Außerdem standen hier einige dieser Ungetüme, die man Kameras nannte – riesige schwarze Kästen, aus denen ein Rohr mit einer gläsernen Scheibe am Ende ragte und die auf drei Füßen standen. Über dem Kasten befand sich eine kreisrunde Scheibe, auf der ein breites, schwarzes Band aufgespult wurde. Das dürfte man, so war ihr eingebleut worden, keinesfalls berühren.

»Hier … hier wird ein Film gedreht«, sagte sie.

»Genau«, erwiderte Tizia, »und die Frau, die meine Haare frisiert, ist heute leider unpässlich … Da dachte ich mir, dass du meine Haare aufstecken kannst, zuerst für den Film, und später …«

Obwohl weiterhin nur Anerkennung durch die Stimme schwang, schlug Bérénice wieder den Blick nieder. Sie hörte ein leises Rascheln, als Tizia sich erhob, und eine neue Woge des Parfüms hüllte sie ein. Es roch fast zu gut, um den Duft zu ertragen, so wie Tizia zu schön war, um sie länger als ein paar Minuten anzustarren. »Heute Abend werde ich Gast im Palazzo di Vaira sein. Auch für diesen Anlass kannst du mich frisieren, nicht wahr? Es wird ein ganz besonderer Abend werden, ich muss schöner sein denn je.«

Bérénice lag es auf den Lippen zu sagen, dass sie unmöglich noch schöner sein konnte als im Moment, schon gar nicht durch ihre Hilfe, aber sie nickte tonlos.

»Das freut mich. Am besten wartest du in der Schminkstube auf mich, ich komme gleich nach.«

 

Die Schminkstube war eigentlich das Boudoir und so klein, dass Bérénice zwischen den Schränken und Tischchen kaum Platz fand. Jede freie Fläche war mit Tiegeln und Döschen vollgestellt. Der Geruch, der in der Luft hing, war ebenso durchdringend wie der von Tizias Parfüm, wenngleich nicht so betörend. Regelrecht unangenehm war die Stimme der Frau, die offenbar dafür zuständig war, Tizia das Make-up aufzutragen. Aus schrägen Augen starrte sie Bérénice eine Weile verächtlich an, ehe sie verkündete: »Was für ein blasses Geschöpf du bist! Du bist ja weiß wie die Wand.«

Bérénice wäre am liebsten sofort geflohen, doch das war nicht möglich, stand hinter ihr doch – elegant an den Türrahmen gelehnt – Tizia.

»Aber, aber«, meinte diese spöttisch, »Bérénice muss schließlich nicht vor der Kamera stehen. Und außerdem – sagst du nicht selber oft, dass man Make-up sparsam einsetzen muss und nichts so billig wirkt wie allzu rote Wangen? Bérénice wird mich frisieren.«

Was die Dame davon hielt, sagte sie nicht, aber die zusammengekniffenen Lippen und hochgezogenen Augenbrauen ließen nichts Gutes vermuten. Immerhin wurde ihre Miene zunehmend gleichgültig, als sie sich schweigend ans Werk machte und Tizias Make-up auffrischte. Nicht, dass das in Bérénice’ Augen notwendig gewesen wäre.

Nachdem Tizia einen prüfenden Blick in den ovalen Spiegel geworfen hatte, winkte sie Bérénice zu sich. Nebst den Tiegeln und Döschen lagen auf dem Tischchen auch jede Menge Kämme und Haarnadeln, Lockenpapier und Lockenwickler. Bérénice wagte sie ebenso wenig anzufassen wie den Haarkräusler, der offenbar warm gemacht wurde und unangenehm roch. Nicht auszudenken, wenn sie damit Tizias Haare versengen, gar die alabasterne Haut verbrennen würde! Eher wie Folterinstrumente erschienen ihr der schwere Eisenföhn und die Trockenhaube, die dem Helm einer Ritterrüstung glich. Außerdem war da ein weiteres Gerät, ebenfalls aus Eisen, vielleicht auch aus Zink, an dem diverse Lockenwickler angebracht waren. Lieber Himmel, es musste schrecklich unbequem sein, die Haare damit aufzurollen und womöglich eine Weile darunter sitzenzubleiben!

Was sie ebenfalls noch nie gesehen hatte, war ein Fläschchen Shampoo, auf dem der Name »Schwarzkopf« stand. Dass es so etwas wie Shampoo gab – eine spezielle Seife, die gut duftete und nur dem Haarewaschen diente –, wusste sie zwar, aber sie hätte es nie gewagt, es für die eigenen braunen Krausen zu nutzen. Für Tizias Haare schien ihr hingegen das Beste gerade gut genug – wobei sie deren Haare ja nicht waschen, sondern lediglich aufstecken sollte.

 

»Nun, du kannst loslegen«, forderte Tizia sie auf, sobald die Dame fürs Make-up den Raum verlassen hatte. Zögernd trat Bérénice zu ihr. Unter mehreren Kämmen sah sie einige maschinenbeschriebene Seiten. Sofort senkte sie ihren Blick, doch Tizia war ihre Neugierde nicht entgangen.

»Das ist das Skript«, erklärte sie bereitwillig, »eigentlich sollte ich es auswendig lernen, aber erfahrungsgemäß hat das nicht viel Sinn. Der Regisseur lässt sich ohnehin immer wieder neue Anweisungen einfallen.

Obwohl Bérénice’ Kehle trocken war, stammelte sie: »Es ist bestimmt sehr aufregend, einen Film zu drehen.«

»Aufregend? Ach du lieber Himmel!«, stöhnte Tizia, aber das Lächeln schwand nicht von den Lippen. »Eine Sklavenarbeit – das ist es. Wenn wir draußen drehen, herrscht ständig große Hast, weil es schließlich gilt, das ›saubere‹ Vormittagslicht zu nutzen. Und in den Ateliers ist es nicht besser. Manchmal habe ich das Gefühl, taub zu werden. Ständig surrt die Kamera, ständig brüllt der Regisseur Anweisungen in das Megaphon – selbst, wenn wir gleich daneben stehen. Wenn er wenigstens der Einzige wäre, der redet, aber nein, alle schwatzen sie durcheinander, vom Kameramann bis zum Beleuchter, vom Operateur bis zum Hilfsregisseur. Ach, wenn sie nur reden würden. Aber nein, sie schimpfen und fluchen, kommandieren und witzeln – und glaub mir, diese Witze sind selten komisch –, und am schlimmsten ist, dass sie ständig mit Fachausdrücken um sich werfen, um zu beweisen, wie viel sie von ihrem Gewerbe verstehen. Angeber, pah!« Tizia seufzte. »Von morgens bis abends muss man sich umkleiden. Unaufhörlich rasseln die Lampen, kreischen die Statistinnen und kochen die Scheinwerfer, und habe ich einmal fünf Minuten Pause und ziehe ich mich aus den Lichtkegeln der Projektionsapparate zurück, kann ich sicher sein, von einem Dutzend Menschen belagert zu werden, denen ich irgendwelche Rollen beschaffen soll. Herrje, eine grässliche Arbeit ist das Schauspielern. Sie bringt einem nichts anderes ein als müde Glieder, zerrissene Nerven und schmerzende Augen.« Geistesabwesend griff sie nach einem feuchten Lappen. »Damit sollte ich eigentlich meine Augen kühlen, sonst entzünden sie sich. Die Atelierlampen sind so stark, es ist kaum auszuhalten, aber jetzt bin ich ja schon geschminkt.« Sie legte den Lappen wieder zurück. »Und nicht nur, dass man beim Drehen halbblind wird. Es wird bis zu vierzig Grad heiß. Glaub mir, das ist kein Vergnügen.«

Obwohl sie so viele Strapazen heraufbeschwor, klang ihre Stimme glockenhell, und man sah ihr die Knochenarbeit mitnichten an. Ein himmlisches Geschöpf schien sie zu sein, dem nichts und niemand etwas anhaben konnte, das nie müde, erschöpft oder gar krank wurde.

Und dennoch, als Bérénice ihre Hände hob, begann sie nicht mit dem Frisieren, sondern massierte Tizia ganz sanft die Schläfen. Nicht, dass es ihr leichtfiel, die Schauspielerin zu berühren, doch als diese wohlig aufseufzte, wuchs der Wunsch in Bérénice, ihr etwas Gutes zu tun und ihr eine unsichtbare Last abzunehmen.

»Du bist ein Engel, kleine Bérénice, weißt du das?«

Sie – ein Engel? Bis jetzt hatte sie nur zu hören bekommen, dass sie ein Trampel sei. Nein, Tizia war ein Engel, und im Schatten ihres unsichtbaren Flügelschlags schien die Luft aus Silber zu sein.

Nach einer Weile begann Bérénice doch noch, sie zu kämmen, ganz behutsamen, damit es nicht ziepte. Hinterher wusste sie nicht, wie sie es geschafft hatte, ohne dass ihre Hände feucht wurden oder, was noch schlimmer gewesen wäre, zu zittern begonnen hätten –, aber am Ende hatte sie die lange, glänzende Mähne zu einem kunstvollen Knoten geschlungen.

Tizia betrachtete das Ergebnis verzückt. »In deinen Händen müssen Zauberkräfte wohnen.«

Bérénice starrte auf ihre Finger. Sie waren rot, weil sie ständig fror, außerdem trocken und rissig, weil sie so oft in ihrem Leben mit scharfer Lauge und kaltem Wasser Wäsche gewaschen hatte. Nein, diese Hände sahen nicht aus, als könnten sie jemals Wunder wirken, und dennoch …

»Nach dem Dreh wirst du mich also noch einmal frisieren, nicht wahr?«

Bérénice nickte.

»Ich bin schon so aufgeregt, wenn ich an das Fest denke. Gaetano di Vaira ist ein vollendeter Gastgeber, musst du wissen.«

Die Aufregung sah man ihr nicht an, so gesetzt, wie jede ihrer Gesten ausfiel, und so gelassen, wie sie sprach.

»Du kennst doch Gaetano di Vaira?«

»Ich … ich glaube, ich habe schon einmal seinen Namen gehört.«

Mehr als diesen wusste sie nicht. Menschen wie er lebten in Spähren, die Bérénice nie betrat.

Tizia erhob sich. »Schau, ich zeige dir das Kleid, das ich heute tragen werde.«

Bérénice war zerrissen – einerseits voller Stolz, die andere zufriedengestellt zu haben, andererseits voller Furcht, dass man sie später dafür maßregeln würde, weil sie nicht die angebrachte Distanz gewahrt hatte.

Ehe sie ablehnen konnte, hatte Tizia aber bereits einen der Schränke geöffnet und das Kleid herausgenommen. Noch war es unter einer Hülle verborgen, die es vor Motten schützte, aber seine Schönheit und Eleganz war trotzdem deutlich zu erkennen: Es war ein Traum aus türkisgrüner Seide, weit geschnitten, so dass es eher einer Bluse glich, jedoch mit raffinierten Details ausgestattet, unter anderem einem Schleier, der an der Hüfte angenäht war und den man sich über den Kopf legen konnte. Die blassgoldenen Samtapplikationen fingen das Licht ein, so dass die Trägerin des Kleides stets von der Sonne geneckt zu werden schien. Bei genauerem Hinsehen erkannte Bérénice, dass sich hinter den Mustern Bäume und Vögel verbargen, letztere sehr exotisch anmutend und mit ausgestreckten Flügeln, als würden sie sogleich fortfliegen wollen.

»Es … es ist wunderschön«, stammelte Bérénice.

»Nicht wahr?«

»Der Stoff schimmert wie eine Pfauenfeder …«

Nachdenklich betrachtete Tizia das Kleid noch einmal. »Da bringst du mich auf eine Idee. Ich … ich glaube, ich habe noch eine Pfauenfeder. Du kannst sie mir doch in meine Haare flechten, nicht wahr?«

Bérénice war sich dessen nicht sicher, aber vorhin hätte sie sich auch nicht zugetraut, Tizia zu frisieren und hatte es doch geschafft.

Die Schauspielerin wandte sich ab, hängte das Kleid wieder auf und zog ein zweites aus dem Schrank. Es war etwas schlichter als das andere, aber trotzdem hübsch anzusehen. Bis auf den elfenbeinfarbenen Spitzenkragen war es blau wie der See bei Sonne, fiel bis zur Hüfte in geraden Bahnen und ging dort in einen weiten, sanft gefalteten Rock über.

»Haben Sie sich anders entschieden?«, fragte Bérénice. »Werden Sie doch lieber dieses Kleid tragen?«

»O nein! Ich dachte nur, dass es dir ganz gut stehen würde.«

»Mir? Aber ich kann doch nicht …«

»Du hast gute Arbeit geleistet, lass mich dir doch dankbar erweisen.«

»Aber ich kann doch nicht …«, setzte Bérénice wieder an.

»Du musst sogar!«

»Es ist so … elegant.«

»Und deswegen genau das Richtige, wenn du mich in den Palazzo di Vaira begleitest.«

»Ich … soll … Sie … begleiten?«

Bérénice war so fassungslos, dass sie kein weiteres Wort hervorbringen konnte. Kurz überkam sie der schlimme Verdacht, dass sie bloß träumte, oder – was noch schlimmer wäre – Tizia sich einen Spaß mit ihr machte. Aber Engel logen nicht.

»Natürlich kommst du mit mir. Ich werde dich dort als meine Zofe vorstellen. Falls du hier im Hotel arbeiten musst, sorge ich dafür, dass du freibekommst. Du … du tust mir doch diesen Gefallen?«

Sie klang flehentlich, als wäre es Bérénice, die ihr einen Herzenswunsch erfüllte – nicht umgekehrt.

Bérénice nickte benommen.

»Tizia Massina!«, rief jemand.

Das Lächeln verschwand von Tizias Lippen, aber sie beugte sich verschwörerisch zu ihr. »Ich fürchte, ich muss jetzt wieder in die Rolle einer Schwindsüchtigen schlüpfen. Wenn ich den ganzen Tag husten soll wie gestern, werde ich am Abend keine Stimme mehr haben.«

Bérénice starrte ihr nach. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieses glockenhelle Lachen jemals verstummte.

 

Der Duft des Gartens, der den Palazzo di Vaira umgab, war fast so köstlich wie der von Tizias Parfüm. Als Bérénice unter das Blätterdach einer Laube trat, hatte sie das Gefühl, eine fremde Welt zu betreten – eine Welt ohne Schmutz und Armut, eine Welt voller Farben und Musik. Wobei genau genommen diese Welt ihr nicht erst dort ihre Pforten geöffnet hatte. Der ganze Tag schien ihr wie ein Traum, umso mehr, als sie das wunderschöne Kleid trug, das Tizia ihr geschenkt hatte und das wie angegossen passte. Als sie sich im Spiegel gemustert hatte, hatte sie sich selbst nicht wiedererkannt: Ihre Augen glänzten ebenso wie das ansonsten so stumpfe Haar, ihre blassen Wangen hatten einen Pfirsichton angenommen, die geröteten Hände schienen weicher zu werden.

Und dann erst die Fahrt zum Palazzo di Vaira! Vom Hotel Villa d’Este bei Cernobbio aus waren sie von einer Barke zu einem großen Dampfschiff gebracht worden, befanden sich die Straßen doch in einem zu schlechten Zustand, um sie freiwillig zu befahren. Obwohl Bérénice am Comer See aufgewachsen war, vermeinte sie, ihn zum ersten Mal richtig zu sehen, wie sie am Bug des Schiffes stand und dessen stählerner Körper die Fluten teilte. Wie prachtvoll erhoben sich auf den steilen Berghängen Gärten und Villen!

Kleine Ruderboote schwebten förmlich auf den grünen Wellen; blassgraue Schleier legten sich über das zarte Blau des Sees, nur die Berghäupter waren wolkenfrei und erhoben sich in strahlendem Weiß vor dem violetten Himmel.

Auf der Höhe der Villa Balbianello glänzte das felsige Vorgebirge im Abendlicht fast silbrig. Andere Orte lagen im Schatten einer Bucht, wo riesige alte Bäume die Magnolien, Oleanderbüsche und Rhododendren überragten, aber deren Farbenpracht und vor allem deren Düfte, die über den See zogen, nicht mindern konnten. Selbst die kleinen weißgrauen Möwen, die das Schiff begleiteten, schienen sich daran zu erfreuen, denn sie schossen durch die Luft, als gäbe es kein Halten mehr, und ihr Kreischen klang vergnügt wie nie.

Auf der Höhe der Villa Carlotta setzten sie über in Richtung Bellagio. Mittlerweile waren am Himmel Mond und Sterne aufgegangen, und ihr freundliches Licht vermischte sich mit den Lampions der sanft dahingleitenden Gondeln, die aus der Ferne betrachtet einem Schwarm Glühwürmchen glichen. Hinzu kam das flammende Strahlen der Hotelbeleuchtung und der Promenaden in allen Regenbogenfarben. Die Pfauenfeder, die Bérénice in Tizias Haar geflochten hatte, schien dieses zu reflektieren und schimmerte noch durchdringender.

Sie war so schön, so wunderschön, kein Wunder, dass Gaetano di Vaira sie zu seinem Fest eingeladen hatte. Auf der Fahrt zu dem Palazzo hatte Tizia ihr mehr von ihm erzählt, so auch, dass seine Familie wie viele in der Region ihr Vermögen mit der Seidenproduktion gemacht hatte. Er besaß mehrere Maulbeerbaumplantagen in der Brianza – jenem Gebiet, das bis zu den Toren Mailands reichte –, und außerdem zwei Manufakturen in der Nähe von Como und Lecco. In der einen wurde der Seidenspinner gezüchtet – jener Schmetterling, dessen Raupe mit den Maulbeerblättern gefüttert wurde und den Seidenfaden lieferte. In der anderen wurde die Rohseide zu Stoffen verarbeitet.

»Außerdem«, schloss Tizia, »will er sich zunehmend auf das Färben der Stoffe mit sogenannten Anilinfarben verlegen. Nur auf diese Weise kann sich das Unternehmen gegen die Konkurrenz aus China behaupten.«

So melodisch, wie ihre Stimme klang, schien sie keine nüchternen Geschäftsüberlegungen wiederzugeben, sondern ein Märchen zu erzählen. Tizia schien Gaetano restlos dafür zu bewundern, dass er das Familienunternehmen trotz des großen Krieges, der den Handel unterbrochen hatte, diverse Rückschläge wegen Schädlingsbefall und der schwindenden Nachfrage nach Seide sicher in die neue Zeit geführt hatte – ein Umstand, der Bérénice fast ein wenig befremdete.

Die Welt sollte dir zu Füßen liegen, aber du musst niemanden bewundern …