Eden Park – Der neunte Würfel - Tobias Elsäßer - E-Book

Eden Park – Der neunte Würfel E-Book

Tobias Elsäßer

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Beschreibung

Vincent hat ein schreckliches Problem: Wenn er zu lange auf einen Bildschirm schaut, fällt er kurzerhand in Ohnmacht. Er leidet nämlich an einer schlimmen Form von Bildschirmallergie. Das wird zu einem besonderen Problem, als seine Familie nach Eden Park umzieht, in die modernste Stadt der Welt. Hier sind sogar die Lehrer in der Schule nur virtuell anwesend, und gute Noten gibt es fürs Keine-Fragen-Stellen, für fleißiges Online-Shoppen und möglichst viele Online-Freunde. Absolut alles wird hier digital geregelt. So abgeschirmt von der Außenwelt bemerkt niemand in Eden Park, dass die Erde kurz vor dem Untergang steht. Überall graben sich bereits tiefe Risse durch die Straßen ... Bis ein seltsamer Postbote bei Vincent klingt und ihm ein Paket überreicht, in dem sich neun geheimnisvolle Würfel befinden. Doch wie rettet man damit die ganze Welt?

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Seitenzahl: 268

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Tobias Elsäßer

Eden Park

Band 1 – Der neunte Würfel

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Auszug aus der Zeitschrift »Kunst der Wissenschaft«Prolog Der erste KontaktErstes Kapitel ZwischenstoppZweites Kapitel Willkommen in Eden ParkDrittes Kapitel Fehler im SystemViertes Kapitel Zwei WeltenFünftes Kapitel Die ehemalige BibliothekSechstes Kapitel Der BoteSiebtes Kapitel Das PaketAchtes Kapitel SpurensucheNeuntes Kapitel Der WürfelZehntes Kapitel Ein Garten im ParadiesElftes Kapitel Besuch bei CorneliusZwölftes Kapitel Neue FreundeDreizehntes Kapitel Der BeweisVierzehntes Kapitel Äsch Flux UnderwoodFünfzehntes Kapitel Freunde?Sechszehntes Kapitel Das Volkslied der GargonautenSiebzehntes Kapitel Nichts als die WahrheitSiebzehntes Kapitel Die Welt rettenAchtzehntes Kapitel Unter dem RadarNeunzehntes Kapitel Auf der FluchtZwanzigstes Kapitel Zucker im TeeEinundzwanzigstes Kapitel Zwei Stunden bis NullZweiundzwanzigstes Kapitel Sechzig Minuten bis zum ExitDreiundzwanzigstes Kapitel Der falsche DuftVierundzwanzigstes Kapitel Déjà-vuFünfundzwanzigstes Kapitel Der neunte WürfelSiebenundzwanzigstes Kapitel Die EntscheidungAchtundzwanzigstes Kapitel Der Tag danachDanksagungVorschau Band 2

Für Jana

Auszug aus der Zeitschrift »Kunst der Wissenschaft«

PrologDer erste Kontakt

Der Riss in der Straße fraß sich mit eisernen Zähnen durch den Asphalt und machte auch vor der Gartenmauer der Parkers nicht halt. Er brach die Steine knirschend entzwei und wanderte ohne große Eile die Kieseinfahrt hinauf. Kleine blaue Blitze entluden sich an der Oberfläche, begleitet von einem Geräusch, das an das Klicken des alten Benzinfeuerzeugs erinnerte, an dem Vincent immer herumspielte, wenn er mit seinem Onkel über einem Kreuzworträtsel brütete und nicht weiterkam. Vincent wurde dann so entsetzlich ungeduldig, dass es in seinen Armen und Beinen kribbelte, als würden ihn die Flöhe von Betwedew[1] in den Wahnsinn treiben. Acht Kniebeugen, dreimal ums Haus rennen und zwei Wörter nach Wahl rückwärts aufsagen, ohne dabei dämlich zu grinsen – damit bekam Vincent die Unruhe normalerweise einigermaßen in den Griff und konnte nach menschlichen Maßstäben wieder klar denken. Zumindest für die nächste halbe Stunde.

Doch jetzt schlief Vincent tief und fest. Er hörte das Klicken nicht, sondern träumte davon, Wissenschaftler, Weltumsegler, Musiker oder gleich alles zusammen zu werden, weil er nicht wusste, dass er für etwas viel Größeres bestimmt war.

Nach einer kurzen Verschnaufpause (zwei rosafarbene Blitze) erreichte der Riss den überfüllten Briefkasten der Parkers und sprengte ihn von der Hauswand. Sämtliche Rechnungen, Mahnungen, Werbebroschüren und Flyer gingen in Flammen auf. Das hätte die Parkers mit Sicherheit gefreut, hätten sie es denn mitbekommen. Aber alle außer Vincent schauten gerade das Finale einer Internet-Fernsehshow mit dem Namen Wer küsst den Frosch und kriegt den Prinzen? und hätten nicht mal bemerkt, wenn neben ihnen ein Meteorit eingeschlagen wäre. Hochkonzentriert schaufelten sich Mutter Parker, genannt Martha, Vater Parker, genannt Wolfgang, und Tochter Parker, genannt Marlene (oder auch zugespachteltes Photoshop-Monster, wenn Vincent sich mit ihr stritt), Chips, Marshmallows und Gummibärchen in ihre Münder. Grölten, lachten, jauchzten und verschluckten sich dabei, weil sie es so lustig fanden, wie die Kandidaten in Froschkostümen durch einen Teich aus weißer Schokolade kraulten und sich gegenseitig untertauchten, um die meisten Punkte zu bekommen.

Unbemerkt kletterte der Riss in einer perfekten Zickzacklinie die Fassade hinauf. Im zweiten Stock angekommen, änderte er seine Richtung, was nach den Gesetzen der Physik unmöglich war, durchbohrte die Mauer und schoss an der Innenseite der Wand wieder hinunter. Mitten hinein in Vincents Zimmer. Mitten hinein in Vincents fast normales Leben.

Das Klicken wurde lauter, die Blitze greller. Der Riss machte einen tänzelnden Bogen um die vermackte E-Gitarre und blieb unentschlossen vor dem Teleskop stehen, das Vincent bei einem Preisausschreiben gewonnen hatte, obwohl das Lösungswort (Vulkanaffe) falsch gewesen war.

Vincent war größer als die meisten Kinder in seinem Alter. Seine Arme und Beine waren länger und seine Gedanken komplizierter. Deshalb hatte eine Lehrerin vor ein paar Monaten den Vermerk Stellt zu viele Fragen in den zentralen Schulcomputer eingegeben. Der Eintrag hatte ihm eine Standpauke seiner Eltern eingebracht, weil die Löschung aus der Perfect-Life-Datenbank[2] ziemlich teuer war und die Parkers zugunsten eines sprachgesteuerten Haartrockners mit Föhnwellenschaltung darauf verzichtet hatten.

Aber wie gesagt: Im Augenblick befand sich Vincent im Land der Träume, und das Letzte, woran er dachte, war der »lächerliche Eintrag«, wie ihn Onkel Cornelius völlig korrekt genannt hatte.

Vincents Arm hing aus dem Bett. Der Zeigefinger seiner rechten Hand berührte den Boden. Vor dem Finger lag ein Bleistift mit angekautem Radiergummi. Daneben aufgefächert mehrere Buntstifte, die dringend gespitzt werden mussten.

Wie ein Hund, der eine Fährte erschnüffelt hatte, änderte der Riss erneut seine Richtung, machte einen Schlenker nach links und verlangsamte seine Geschwindigkeit, bis er fast ganz anhielt. Die Blitze wurden schwächer, das Klicken leiser. Zögernd, vorsichtig, beinahe respektvoll, näherte sich der Riss einem Buch mit Leineneinband, das von Star-Wars-Aufklebern übersät war. Staubflocken gingen in Flammen auf. Unsichtbare Hände schoben sich raschelnd zwischen die Seiten und blätterten durch die Zeichnungen. Im Schein der Leuchtreklame, der durch die Rollladenschlitze fiel, erkannte man die Skizze einer grünen Hügellandschaft. In der Mitte eine kreisrunde Ansammlung von Holzhäusern und Sandwegen, am Horizont Wälder, die scheinbar im Nichts endeten. Ging man näher an die Zeichnung heran, so nah, dass die feinen Striche vor den Augen verschwammen, hörte man ein tosendes, lauter werdendes Geräusch. Das Papier, die Häuser und Straßen, wurden an mehreren Stellen in rasende Strudel gezogen. Kleine, schwarze Löcher, die in die Unendlichkeit führten.

»Auslöschungen«, flüsterte eine piepsige Stimme. »Und der Junge kann sie tatsächlich sehen! Das ist mal was Neues.«

Wieder zuckten die blauen Blitze durch die Dunkelheit. Eine Ecke der Buchseite fing Feuer und wurde im selben Moment wieder gelöscht, besser gesagt, ausgespuckt, was genauso widerlich aussah, wie es sich anhört.

»Mist!«, hörte man die Stimme etwas lauter fluchen. »So ein Mist.«

Das Buch klappte lautlos zu. Ein weiterer, gedehnter Blitz erhellte das Zimmer und machte einen spektakulären Sprung über das Buch hinweg. Ein Sprung, der aussah wie eine fliegende Acht aus leuchtendem Elektronenstaub, was wirklich allerhand ist. Nach der kleinen Showeinlage, die völlig unnötig war, weil ja keiner zuschaute, landete der Blitz auf dem Bleistift, spaltete ihn der Länge nach in zwei Teile (ebenfalls unnötig) und schnappte nach Vincents Zeigefinger. Die Fingerkuppe begann zu glühen wie flüssiges Glas über einer Flamme. Vincent spürte einen leichten Schmerz, der sich nach und nach in seinem ganzen Körper ausbreitete und ihn im Traum mit Traurigkeit und einer dunklen Vorahnung erfüllte. Nach einigen Sekunden verschwand das Glühen, und auch der Schmerz verging. Eine Rauchfahne kräuselte sich in das Buchinnere.

Ein tiefes Seufzen erklang. »Das, mein Junge, heißt, dass wir uns wiedersehen. Sehr wahrscheinlich werden wir das. Wenn es nicht schon zu spät ist.«

Der flackernde Schatten eines winzigen Männchens wurde gegen den Buchdeckel geworfen. »Aber Überstunden mach ich keine mehr. Nein, ganz bestimmt nicht bei meinem letzten Auftrag. Das bringt ja ohnehin nichts.« Das Männchen blickte hinüber zum Teleskop und schüttelte den Kopf. »Von wegen kaputt! Da hat wohl einer die Anleitung nicht gelesen. Tse, tse, diese Menschen sind immer so ungeduldig.«

Mit einer sehr starken Lupe oder einem ziemlich schwachen Elektronenmikroskop hätte man nun die flirrenden Umrisse von Äsch Flux Underwood, einem Superboten ersten Ranges, erkannt.

Bei Dimensionsreisen und Quantensprüngen[3] dauerte es immer einen Moment, bis sich alle Körperteile an der richtigen Stelle materialisiert und zusammengefügt hatten. Acht Sekunden vergingen, was in Anbetracht von Äschs Lustlosigkeit relativ wenig war, dann kam sein rundliches Gesicht zum Vorschein. Arme, Beine, Oberkörper und der schlanke Hals waren schon da. Nur sein ausladendes Hinterteil machte wieder mal Probleme. Ein beträchtliches Stück davon hing noch in einer anderen Dimension fest, was den Superboten von der Seite aus betrachtet wie einen angebissenen Apfel aussehen ließ. Wegen der vielen Knabbereien, die sich Äsch aus Frust über seinen Job, die vielen hoffnungslosen Fälle und die bleierne Einsamkeit einverleibte, neigte er dazu, am Hintern anzusetzen. Aber auch sonst war es nicht allzu gut um sein körperliches Wohl bestellt. Die ständigen Welt-, Dimensions- und Wahrscheinlichkeitsreisen, das Größer- und Kleinerwerden, Auflösen und Zusammenfügen und nicht zuletzt das aufwendige Gestaltwandeln, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen.

Äschs Alter ließ sich schwer schätzen. An guten Tagen sah sein Gesicht für Botenverhältnisse recht passabel aus, an schlechten hässlicher als das einer mittelschweren Quarkkröte nach einem Rundflug im Teilchenbeschleuniger. Verbotenerweise war Äsch auch diesmal mit dreifach unwahrscheinlichem Blitzantrieb an seinen Bestimmungsort gerast. Und genau deshalb würden gleich alle elektronischen Geräte im Umkreis von einem Kilometer verrücktspielen.

Auch der übergroße, nagelneue Ultra-Breitbildfernseher und -Computer, kurz UbFuC, der Parkers begann zu knistern und verabschiedete sich mit einem kümmerlichen Plopp aus dem Leben der Familie.

Wolfgang, Martha und Marlene waren so verblüfft, dass sie sich verschluckten, und Krümel in Fontänen aus ihren Mündern schossen. Ihre Augen schnappten dabei hervor wie bei Eidechsen nach einer missglückten Teleportation[4].

Danach war es für die Winzigkeit einer Sekunde völlig still.

Diese Stille war wirklich bemerkenswert, weil sie so absolut war wie die Stille im Weltall bei minus zweihundertsiebzig Grad. Sie ließ die Parkers erstarren, denn im Gegensatz zu Vincent konnte der Rest seiner Familie mit echter Stille nichts anfangen. Schlimmer noch, sie empfanden sie als Bedrohung – und das war nun wirklich albern. Aber so sind gewöhnliche Menschen halt. Sie fürchten sich vor Dingen, die gar nicht existieren.

Kaum war der erste Schock überstanden, hörte man von draußen das Schrillen von Sirenen. Überall im Haus gingen die Rauchmelder an und kreischten aus tausend Kehlen. Im gleichen Moment begann die Erde zu beben. Gläser, Tassen und Teller fingen an zu summen wie Beobachter der Kategorie B[5] im Gegenwind – oder Alpakas mit Heimweh, um auch hier ein irdisches Beispiel zu wählen. Vincents große Schwester, Marlene, stieß einen spitzen Schrei aus. Erschrocken zeigte sie zur Decke, wo sich der unscheinbare Riss mit einem lauten Ratsch in einen exakt acht Komma vier Zentimeter breiten Spalt verwandelt hatte, durch den Vincents Hand zu sehen war.

»Was war das?«, fragte Martha, obwohl sie es wusste.

»Was war das?«, fragte Wolfgang, obwohl auch er es wusste.

»Ein Beben«, beendete Marlene das unnötige Hin und Her.

»Keine Panik«, sagte Martha.

»Keine Panik vor der Panik«, sagte Wolfgang mit erhobenem Zeigefinger. »Ein bisschen stärker als vor zwei Wochen, aber ich glaube nicht, dass es ein Rekord war.« Er wackelte mit den Zehen. »So was spür ich in den Fußsohlen.«

»Vielleicht doch«, sagte Marlene und starrte gebannt hinüber zur Anzeigetafel an der Wand, die zu blinken begonnen hatte. Eine rot flackernde 8,2 erschien.

»YEAH!«, brüllte Marlene, sprang auf und klatschte mit ihrem Vater ab, der vor Begeisterung und mit Tränen der Rührung in den Augen immer nur »O ja … ja, ja, ja, ja, ja. O ja, ja.« sang und dabei den Takt des Erdbeben-Songs[6] mit dem Kopf nickte.

Dem ein oder anderen mögen die Reaktionen der Parkers befremdlich erscheinen, aber dies war nicht das erste Beben, das ihr Haus durchschüttelte. Auch nicht das zweite oder dritte. Seit man in Hochtal mit den Erdbohrungen begonnen hatte, zitterte die Erde mindestens einmal die Woche. Überall in der Stadt breiteten sich Risse aus. Mittlerweile überzogen sie wie ein riesiges Spinnennetz Plätze, Straßen und Gebäude.

Die Bürger von Hochtal hatten sich daran gewöhnt, dass die Innenstadt einem Flickenteppich glich, den man notdürftig mit Teer und Spezialkleber zusammenhielt. Sie murrten nicht. Sie maulten nicht. Nein, im Gegenteil. Sie waren regelrecht enttäuscht, wenn es zu lange ruhig blieb. Denn nach jedem Beben verschenkte der Stadtrat Einkaufsgutscheine, Gratisproben neuer Waschmittel und organisierte Feste mit mittelmäßigen Cover-Bands, bei denen jede Menge Freibier, Freiwein, Freicola und Frei-Sonstwas ausgeschenkt wurden. Deshalb unterhielt man sich in Hochtal nicht wie anderswo über das Wetter, sondern tauschte Gerüchte und Vermutungen aus, was für Geschenke es nach dem nächsten Beben geben würde. Auf den meisten Selfies, die von Hochtal aus in die Welt gingen, sah man Gesichter voller Vorfreude – und jede Menge Risse in Kloschüsseln, Waschbecken, Porzellanhunden, dritten und vierten Zähnen. Doch das Beben in dieser Nacht war stärker als alle davor, und langsam dämmerte den Parkers, dass sie wohl doch bald umziehen mussten.

»Was ist mit Vincent?« Wolfgang Parker war aufgestanden. Er drückte den roten Knopf neben dem Sofa und beobachtete, wie im Wohnzimmer Stahlstützen aus dem Boden fuhren und sich zwischen Decke und Boden spannten.

»Siehst du irgendwas, Marlene?«, fragte ihre Mutter, während sie hektisch über ihre frisch lackierten Zehennägel pustete. »Kannst du irgendwas sehen?« Sie beugte sich nach vorne und zog die elektronischen Zehenspreizer ab.

Marlene schoss ein Selfie von sich und dem Riss in der Decke und drückte auf SENDEN. »Alles okay bei Vincent. Er schnarcht. Der verpennt noch mal sein ganzes Leben.«

»Was ist mit seiner Haut?«

»Sieht normal aus. Kein Schimmern, nichts.« Ein lautes Knacken ließ Marlene zusammenzucken. »Sollen … sollen wir vielleicht doch besser nach draußen gehen? Der neue Riss ist ziemlich groß.«

»Das Haus hält«, sagte Wolfgang Parker unbeeindruckt. »Das haben die uns schriftlich gegeben. Die Stahlträger und auch der Beton halten mindestens hundert Tonnen.« Zum Beweis rüttelte er an einer der Stützen. »Sitzt bombenfest.«

»Da ist auch wirklich kein Glühen an seinen Fingern?«, hakte Martha nach, begutachtete ihre neongelben Zehennägel und stemmte sich aus dem Sessel. »Bei diesen Beben entweicht immer so viel elektromagnetische Strahlung … hach, hach, der arme Vincent. Diese Allergie bringt ihn noch mal um. Cornelius muss endlich eine Lösung finden.«

»Nein, Mama«, schnaubte Marlene. »Mit Vincent ist alles okay.«

Nach und nach verstummten die Rauch- und Einbruchsmelder, der piepsende Kühlschrankwächter, die Alarmanlage des Geländewagens und das ploppende Popcorn in der Mikrowelle. Die lauteste Sirene von allen, die auf dem Rathausdach von Hochtal, setzte ein letztes jaulendes Signal in die Dunkelheit ab, dann war es wieder still. Aber nicht völlig still. Nicht so wie vorhin. Denn das kehlige Quaken der Zierfrösche im Garten war so laut zu hören, als hätte jemand an der Verstärker-App herumgespielt.

Marlene starrte mürrisch auf ihr Handy. Eine Fehlermeldung wurde angezeigt. »Wenn das Internet nicht gleich wieder funktioniert, raste ich aus. Das Bild gibt bestimmt tausend Klicks. Der Riss sieht so cool aus.« Ihr Blick wanderte hinüber zum Fernseher. Schwarzbild.

Wolfgang und Martha Parker runzelten fast gleichzeitig die Stirn, denn plötzlich fingen die Multifunktionsuhren an ihren Handgelenken an zu piepsen, die Pulsanzeige schnellte auf hundertachtzig, dann runter auf siebzig und schließlich auf null, wo sich die Uhren schließlich selbst abschalteten. Fassungslos hielten Vincents Eltern den Atem an, bis sie endlich kapierten, dass ihr Herz auch ohne die Dinger weiterschlagen würde.

»Vincent«, rief Wolfgang Parker zum Riss in der Decke. »Alles gut bei dir?«

Keine Reaktion. Vincent lag da wie festgefroren. Nachdem er den ganzen Tag im Wald verbracht hatte, war er gleich nach dem Abendbrot ins Bett gegangen und über seinem Skizzenbuch eingeschlafen.

Im Traum rannte er. Ein Heer aus Verfolgern war ihm dicht auf den Fersen. Er schlitterte eine steile Böschung hinunter, sprang über einen umgestürzten Baum und duckte sich. Sie durften ihn nicht finden. Er musste es rechtzeitig schaffen. Sonst war alles verloren. – Alles.

»Du musst es schaffen«, hörte er flüsternd die unbekannte Stimme eines Mädchens. Dann rauschte es in seinen Ohren, und eine andere, vertraute Stimme brach sich den Weg in sein Unterbewusstsein.

Es war sein Vater.

Der Traum verblasste.

»Vincent!« Wolfgang nahm den elektrischen Rückenkratzer vom Tisch. »Du musst aufwachen.« Er steckte den Stab durch die Decke und stellte enttäuscht fest, dass sich der Greifmechanismus nicht mehr anschalten ließ. »Von hier aus sieht alles normal aus. Er will nur nicht aufwachen.«

»Das hat er von dir«, sagte Martha, als die Kellertür aufgestoßen wurde.

Riley, der frisch geschorene – oder nennen wir’s beim Namen – verschandelte Königspudel betrat das Wohnzimmer.

Wolfgang schüttelte den Kopf. »Ach, hat der faule Kläffer auch schon mitgekriegt, dass das Haus wackelt? Los, hol Vincent. Weck ihn auf! Husch, husch.«

Riley warf Wolfgang, Martha, Marlene, einem nach dem anderen, einen verständnislosen Blick zu, bevor er mit erhobener Nase in den ersten Stock trabte. Dort versuchte er, Vincent zu wecken, indem er ihm wie üblich die feuchte Zunge einmal quer übers Gesicht zog. Vincent reagierte nicht. Er machte keinen Mucks, was dazu führte, dass der Vierbeiner sein ekelhaftes Begrüßungsritual ein zweites Mal wiederholte. Diesmal noch schleimiger.

Endlich öffnete Vincent die Augen.

»Komm runter«, krächzte Marlene durch den Spalt im Boden. »Die Erde hat gebebt. Gleich erfahren wir, was es diesmal für Geschenke gibt.«

»Was?«, fragte Vincent, halb im Schlaf. Er fühlte sich wie betäubt. Seine Beine taten weh, sein Schlafanzug war schweißnass, hinter seiner Stirn lauerte ein dumpfes Pochen. Greller Lichtschein schoss in blinkenden Streifen durch die Rollladenschlitze. Noch im Halbschlaf starrte Vincent auf den neuen Riss im Boden. Der war deutlich breiter als die anderen im Haus. Vielleicht durfte er vorübergehend in seiner Gartenhütte schlafen, bis die Handwerker den Riss repariert hatten. Dort schlief er ohnehin am besten.

Vincent stand auf und ließ den Rollladen nach oben schnellen. Die riesige Leuchtreklame am Bohrturm blinkte wie verrückt. Vincent schaltete die Schreibtischlampe an und zuckte zurück. Ein brennender Schmerz jagte durch seinen linken Zeigefinger. Über den Rücken lief ihm ein kalter Schauer. »Bitte nicht«, seufzte er, als er die längliche Blase an der Fingerkuppe entdeckte. Sie hatte sich mit Wasser vollgesogen. »Nicht schon wieder.« Er hatte doch vor dem Schlafengehen nicht mal ferngesehen. Und auch sein Handy hatte er nach exakt dreißig Minuten ausgeschaltet. War das jetzt schon zu viel? War seine Allergie noch schlimmer geworden? Daran wollte er gar nicht erst denken.

Vielleicht kam die Blase ja vom Gitarreüben. Das könnte doch sein. Cornelius hatte gesagt, dass sich Hornhaut bilden würde, wenn er häufiger übte. Und das hatte er die letzten Tage ja getan. Stundenlang hatte er gespielt. Da ist es doch kein Wunder, wenn sich eine Blase bildet, versuchte Vincent sich zu beruhigen.

»Zieh dir was an und komm runter«, sagte sein Vater durch den Riss im Boden. »Kann sein, dass es jetzt so weit ist. Dass wir jetzt evakuiert werden. Die haben es ja angekündigt.«

Vincent nickte stumm. Die Vorstellung, eventuell an eine neue Schule zu müssen, versetzte ihm einen Stich in die Brust. Dann würde alles von vorne losgehen. Er müsste wieder jedem erklären, warum Monitore bei ihm eine Allergie auslösten und er deshalb aus abgenutzten Büchern lernen musste und nicht wie alle anderen aus dem Internet. Er hasste diese Sonderbehandlung. Er hasste die bemitleidenden Blicke, Fragen und Hänseleien.

Plötzlich begann der Boden unter Vincents Füßen zu vibrieren. Riley kläffte die Tonleiter einmal rauf und runter, bevor er sich zitternd hinter Vincents Beinen verschanzte. Er war der ängstlichste Hund, den Vincent kannte, aber auch sein bester Freund.

Erneut tauchte Vincents Vater im Spalt auf. »Komm bitte runter. Das Internet ist ausgefallen. Scheint diesmal wirklich ernst zu sein.«

»Ich weiß«, sagte Vincent ärgerlich. »Cornelius hat es doch vorhergesagt. Er hat berechnet, dass es durch die Bohrungen noch schlimmer wird mit den Wellen.«

»Ja, ja, die Wellen«, seufzte Wolfgang. »Klar hat mein großer Bruder das. Der große Wissenschaftler. Der Herrscher über Zeit und Raum bastelt schon wieder an einer neuen Endzeitheorie.«

Martha Parker schob sich ins Bild. »Und mit dir ist auch wirklich alles okay?« Sie stellte sich auf das Sofa. »Auch nichts mit deinen Händen? Zeig mal her!«

Widerwillig ging Vincent in die Hocke. Warum hatte er ausgerechnet eine Bildschirmallergie? Heuschnupfen, Milch, Getreide – so was hatten normale Leute. Aber nein, er reagierte auf Strahlung. Wenn seine Mutter die Blase entdeckte, ging es schnurstracks in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses. Da gab es dann jede Menge Ärzte, die Tests mit ihm anstellen wollten, um am Ende doch nur ratlos mit den Schultern zu zucken und seltsame Therapien und Medikamente zu empfehlen. Darauf konnte er verzichten.

»Siehst du?«, sagte Vincent lächelnd, den Finger mit der Blase angewinkelt hinter dem Daumen.

»Wenn du die Hände so hältst, sehe ich gar nichts.«

»Aber …«

»Ich will sofort deine Finger sehen.«

Da seine Mutter so hartnäckig war, musste wohl Plan B in Kraft treten: Hinter dem Rücken gab Vincent Riley ein Zeichen, dann drehte er in Zeitlupe die Handflächen. Doch bevor seine Mutter einen Blick auf den verletzten Finger erhaschen konnte, streckte Riley die Schnauze durch den Riss und bellte einmal laut auf.

Martha wäre vor Schreck beinahe vom Sessel gekippt. »Herrgott nochmal, Vincent, nimm den Hund weg! Und komm endlich runter.«

Vincent atmete tief durch. »Bin gleich da.«

Von draußen hörte man Feuerwehrsirenen näher kommen. Vincent hob sein Skizzenbuch vom Boden auf und blätterte zur letzten Zeichnung. Ungläubig betrachtete er die angekokelte Buchseite. Konnte ein Beben tatsächlich Papier entzünden? Aber gewöhnliches Papier brannte doch erst bei knapp zweihundert Grad … Vincent inspizierte den Boden und entdeckte einen zweiten Riss, kaum breiter als einen Zentimeter. Dieser Riss schlängelte sich von der gebrochenen Fensterbank aus in sein Zimmer und machte einen Schlenker um die E-Gitarre. So einen Riss hatte er noch nie gesehen. Die Ränder waren gerußt, als hätte jemand mit einem Schneidbrenner den Beton und die Stahlverbindungen durchtrennt. Aus der Nähe erkannte man eine feine Zickzacklinie. Das musste er Cornelius erzählen. Dafür gab es bestimmt eine physikalische Erklärung. Vielleicht waren das die Wellen gewesen, von denen sein Onkel immer erzählte. »Sie können alles zerstören, wenn sie die richtige Frequenz haben. Auch Menschen sind nicht sicher. Im schlimmsten Fall lösen sie sich einfach in Luft auf.«

Vincent setzte sich auf die Bettkante und betrachtete das Skizzenbuch. Ein seltsamer Geruch stieg ihm in die Nase, als er sich die verkohlten Seitenränder anschaute. Das Papier roch nach Erdnussflips. Kein Zweifel, der Geruch von Erdnussflips! Erdnussflips, die er nicht essen durfte, weil seine Schwester sonst Ausschlag bekam.

Es klingelte an der Haustür. Fast zeitgleich ließ ein lauter Knall die Scheiben zittern, und in Vincents Zimmer wurde es dunkel. Erschrocken fuhr Vincent herum und starrte aus dem Fenster. Riley presste sich dabei wimmernd gegen seine Beine.

Neben dem Bohrturm stieg eine glitzernde Staubwolke in den orangefarbenen Nachthimmel.

Die gigantische Videotafel war abgestürzt.

Erstes KapitelZwischenstopp

Die restliche Nacht verbrachten die Parkers in ihrem geräumigen Van. Das heißt alle außer Vincent und Riley, dem leicht verwöhnten Königspudel. Die beiden durften ausnahmsweise in der Hütte im Garten vor dem Haus schlafen, weil Vincents Eltern lauter schnarchten als eine Herde Oligolypen[7] mit Heuschnupfen. Vincents Schwester Marlene schützte sich gegen den Lärm mit bunten Bluetooth-Schlafsound-Ohrstöpseln, die sie auch gerne mal beim Frühstück noch trug.

Vorigen Sommer, als es mit Vincents Strahlungsallergie besonders schlimm gewesen war, hatte sein Onkel das Häuschen innerhalb weniger Tage zusammengezimmert, ein altes Sofa und einen Schreibtisch reingestellt und es auch sonst mit allem Notwendigen ausgestattet. Sobald Vincent die Tür hinter sich zuzog, hatte er das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Selbst das Atmen fiel ihm hier drin leichter als im Haus oder in der lärmenden Schule. In den Regalen standen Tüten mit Astronautennahrung, Konservendosen, Kerzen, ein Gaskocher, Blechtöpfe und ein Überlebenshandbuch für die Wildnis, das zur Grundausstattung größerer Expeditionen gehörte. Nach und nach waren immer mehr von Vincents Sachen in die Hütte gewandert. Stifte, Zeichenpapier, die zwölfsaitige Westerngitarre und natürlich seine Comicsammlung. Das mit dem Essensvorrat war natürlich übertrieben. Der nächste Megasupermarkt war ja nur einen Steinwurf entfernt, aber Vincent mochte die Vorstellung, wie sein Onkel, unabhängig von der Außenwelt, für sich selbst sorgen zu können.

An der Wand über dem Sofa hing das einzige elektronische Gerät im Raum. Ein kleiner grauer Kasten, der je nach Wetterlage mit Solar oder Windkraft betrieben wurde. In dem Kasten befand sich ein Messapparat für elektronische Strahlung. Cornelius hatte ihn installiert, als man in und um Hochtal mit den Erdbohrungen begonnen hatte.

»Wenn sie das vorhaben, was ich glaube«, hatte er gesagt, »dann sind die Beben nur der Anfang.«

Sobald Vincent sein Handy neben die Messstation hielt, zuckte die Nadel wegen der Strahlung nach oben, und einige der roten Lämpchen begannen zu leuchten. Bei einem Laptop mit WLAN begannen sie, hektisch zu blinken. Aber dass die Station so ausflippte, war bisher nur zweimal passiert: als Cornelius das Gerät installiert hatte und gestern Abend, als Vincent einen neuen Griff an der Gitarre geübt hatte und mitten im Spielen eine Saite gerissen war. Am Telefon hatte sein Onkel gesagt, dass es die Schwingung der Saite gewesen sein könnte. »Die Wellen des Akkords sind ja abrupt abgebrochen, als die Saite gerissen ist. So etwas bemerkt die Messstation. Da schlägt sie Alarm.«

Vincent hatte nicht weiter nachgefragt. Manchmal waren die Erklärungen seines Onkels genauso kompliziert wie die Textaufgaben in den abgegriffenen Mathebüchern, aus denen er lernen musste.

 

Im Laufe des nächsten Tages zeigte sich das ganze Ausmaß der Schäden, die das nächtliche Beben angerichtet hatte. Rot-weißes Absperrband flatterte über Straßen, Fußgängerwegen und im Stadtpark. Dort klafften überall Krater im Rasen, so groß, dass sie problemlos ein Auto verschluckt hätten. Trichter, die Hunderte Meter in die Tiefe reichten und übelriechende Dampfschwaden ausstießen.

Über die Lautsprecher der Polizeiwagen kam im Minutentakt die Aufforderung, die Häuser wegen Einsturzgefahr so schnell wie möglich zu verlassen und Lose für die bevorstehende Hauslotterie zu kaufen.

Die Gewinner durften schon bald in ein exklusives und vor allem bereits abbezahltes Haus ziehen und mussten nicht in Containern oder bei Verwandten unterkommen, bis Hochtal II und III, fünf Kilometer weiter, fertig gebaut waren und man die Leute neu verteilt hatte.

Sechs Stunden blieben den Parkers, um ihre Sachen zu packen. Das war nicht viel, wenn man bedachte, wie viel Blödsinn sie in den letzten Jahren angeschafft hatten. Da waren unter anderem zehn selbstaufblasende Nackenrollen mit Massagefunktion[8]; eine Waschmaschine mit Rückwärtsgang, vier Lautsprechern und einem Monitor, der anzeigte, wie viele Socken ohne passendes Gegenstück in der Trommel umherwirbelten und wie hoch der Verschmutzungsgrad der einzelnen Wäschestücke war. Dann gab es da noch einen Roboterstaubsauger, der auf Sofas, Schränke und Betten springen konnte, aber neulich in der Kloschüssel ertrunken war; einen Roboterrasenmäher, der am liebsten Strickmuster ins Gras fräste und Riley auf Schritt und Tritt verfolgte, was ebenfalls zu einem aberwitzigen Unfall geführt hatte. Nicht zu erwähnen die unzähligen kleinen, großen und mittleren Küchen- und Elektrogeräte, die sich allesamt über die Happy-Family-App steuern ließen, die allerdings nur nach Lust und Laune funktionierte.

Aus Angst vor Nachbeben wollten Vincents Eltern so viel wie möglich einpacken. Doch der relativ große Van war dafür eindeutig zu klein. Fassungslos starrte Vincent in den überfüllten Kofferraum. Warum die Mikrowelle, der Toaster und auch der Roboterfensterputzer mitsollten, war ihm ein Rätsel. Seine Schwester drängte sich an ihm vorbei und legte eine Ladung Klamotten und ihre elektronischen Lockenwickler auf den Rücksitz. Damit war der letzte freie Platz belegt.

»Die Gitarre muss aber jetzt mit«, protestierte Vincent. »Und das Teleskop auch. Das hab ich bei einem Preisausschreiben gewonnen.«

»Ich dachte, es funktioniert nicht«, sagte sein Vater.

»Aber ich hab es gewonnen. Cornelius und ich haben es gewonnen.«

Marlene verdrehte die Augen. »Und der Weihnachtsmann lebt am Südpol, kleiner Bruder. Wann kapierst du endlich, dass Cornelius diese Geschichten nur für dich erfindet, damit du dich wegen deiner Allergie nicht langweilst.«

»Ich langweile mich nicht!«

»Ja, weil Cornelius dir ständig Schwachsinn erzählt und ihr uralte Kreuzworträtsel löst, für die es mit Sicherheit keine Gewinne mehr gibt.«

»Schwachsinn ist es, den ganzen Tag Schminkvideos anzuschauen und bescheuerte Fotos zu posten und darauf zu hoffen, eine Million Klicks zu bekommen. Du wirst nicht berühmt! Große Schwester.«

»Du bist doch nur neidisch.« Sie zog ihren Lippenstift nach.

»Bin ich nicht, du zugespachteltes Photoshop-Monster!«

Marlene holte zu einer Ohrfeige aus.

Vincents Mutter konnte sie gerade noch am Arm festhalten. »Das reicht! Könnt ihr euch nicht einmal vertragen?«

Ihr Vater hob Marlenes Sachen aus dem Wagen, deponierte sie im Gras und legte stattdessen das Teleskop auf den Rücksitz. »Wir werden zweimal fahren. Basta!«

»Ja, ja. Im Zweifel immer für Vincent, weil der so arm dran ist.«

»Ich bin nicht arm dran.«

»Doch. Und du merkst es nicht mal.«

Auf den elektronischen Werbetafeln, die rechts und links die Straße säumten, liefen Sondersendungen der Baufirma, die die Erdbohrungen vorgenommen hatte und somit für den ganzen Schlamassel verantwortlich war. Ein Mann in Anzug und Krawatte redete sanft lächelnd in die Kamera: »Bewahren Sie die Ruhe, liebe Bürger von Hochtal. Wir werden Sie schon in den kommenden Tagen für die entstandenen Unannehmlichkeiten entschädigen. Dafür bürgt die Alpha-Gruppe. Jeder von Ihnen darf zusätzlich an der Haus-und-Grund-Lotterie von Eden Park, der modernsten Stadt der Welt, teilnehmen. Erwerben Sie dazu jetzt gleich Lose bei der Polizei oder der Feuerwehr!«

»Martha«, rief Wolfgang und befestigte die vollautomatische Grillstation auf dem Dachträger. »Hast du schon ein Los gekauft?«

»Ja, mein Schatz. Vier Lose. Für jeden von uns eines. Sind alle registriert.« Martha gab jedem von ihnen einen blauen Chip, während auf der Anzeige eine Losnummer aufleuchtete.

»… Eden Park verwirklicht Ihren Traum von einer unbeschwerten Zukunft.«

 

Eine Stunde später standen die Parkers mitten im Wald, direkt vor der Holzhütte von Onkel Cornelius. Die Hütte war keine richtige Hütte, sondern ein großes Holzhaus, das sich wie ein sechseckiger Donut um eine knorrige alte Eiche schlang und über zwei Stockwerke, acht geräumige Zimmer und einen großen Keller verfügte. An der Eingangstür wurde man von einem Blechschild mit einer eindeutigen und einer zweideutigen Botschaft in Empfang genommen:

Vincents Vater schenkte dem Schild keine Beachtung, aber Cornelius versperrte ihm den Weg.

»Nein, kleiner Bruder«, sagte Cornelius bestimmt. »Da mache ich auch in diesem Fall keine Ausnahme. Alles, was sendet und empfängt, bleibt draußen. Wäre ohnehin besser für Vincent, wenn ihr nicht ständig wie lebende Funkmasten rumlaufen würdet. Man kann ja nie wissen, wann es zu viel wird.«

Marlene machte einen Schritt auf Vincent zu und wuschelte ihm durchs Haar. »Unser strahlenempfindlicher Alien könnte zur Abwechslung auch mal wieder seinen schicken Schutzanzug tragen. Der war doch so teuer. Nicht wahr?«

Vincent schlug ihre Hand weg. »Sei froh, dass du nur gegen Erdnüsse allergisch bist.«

»Ja, sonst müsste ich womöglich auch mein Leben damit verbringen, schwachsinnige Comics zu lesen und mich wie ein einsamer Freak vor gruseligen unsichtbaren Strahlen im Wald zu verstecken.«

»Jetzt ist es gut, Marlene!« Vincents Mutter zwängte sich zwischen die beiden. »Hört sofort auf, euch zu streiten, oder ich vergesse mich.«

Die Multifunktionsuhr von Vincents Vater landete mit einem lauten Scheppern im Metallkasten neben der Tür. Was nicht weiter schlimm war, da sie seit der letzten Nacht ohnehin nur noch die Wetterprognose für den unaussprechlichen Ort Karabasinolograd (37 Einwohner) anzeigten. Und die restlichen Funktionen ihren Geist aufgegeben hatten.

»Du auch, Marlene!«, sagte Wolfgang streng.

Widerwillig rückte sie ihr Handy heraus. »Immer stellt ihr euch hinter Vincent. Nur wegen seiner blöden Allergie. Das ist unfair.«

»Aber heute Abend werden die Gewinner der Hauslotterie bekanntgegeben«, meldete sich Vincents Mutter zu Wort und fuchtelte mit dem Los-Chip in der Luft herum. »Vielleicht gewinnt ja einer von uns.«

»Okay«, grummelte Cornelius. »Heute Abend könnt ihr für zehn Minuten ein Handy anschalten. Das muss genügen, so lange ihr bei mir seid.« Er runzelte die Stirn und blickte ernst zu Marlene. »Für die Strahlungsallergie kann dein kleiner Bruder nichts. Es wäre schön, wenn du darauf etwas mehr Rücksicht nehmen könntest.«

Marlene zog eine Schnute und sagte trotzig: »Und wie sollen wir ohne Handy mitbekommen, wenn es Neuigkeiten gibt?«

»Buschfunk, meine Liebe.« Cornelius lächelte ironisch. »Vincent. Könntest du bitte das Transistorradio aus dem Keller holen? Und ich glaube, es ist mal wieder an der Zeit für ein neues Kreuzworträtsel.«

 

Im Keller herrschte Chaos. In den Regalen drängten sich unzählige Aktenordner, alle möglichen Apparaturen, uralte Festplatten und Computer, die anscheinend alle noch funktionierten. Und Kisten gab es, jede Menge Kisten. Die meisten Sachen stammten aus der Zeit, als Cornelius noch als Wissenschaftler an der Alpha-Universität über die Entstehung der Erde und die Welt der kleinsten Teilchen geforscht hatte. Vincents Eltern sagten, er habe sich mit anderen Wissenschaftlern über das große Ganze verkracht und sei dann wegen Kleinigkeiten gegangen. Was das genau war, das große Ganze