Zwischenlandung - Tobias Elsäßer - E-Book

Zwischenlandung E-Book

Tobias Elsäßer

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Beschreibung

Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte – romantisch, tragisch und wunderschön schräg.Wenn Gregor einen Raum betritt, scheint die Sonne heller und die Welt dreht sich ein wenig langsamer. Mit ihm ist alles strahlender, intensiver und lustiger – weil er ein Spaßvogel ist und ein Frauentyp. Dass er zwar alle Mädchen bekommt, aber nur Mira will, kann er ihr jedoch nicht mehr sagen: Denn ausgerechnet in dem Moment, als er ihr seine Liebe gestehen will, wird Gregor von einem Golfball am Kopf getroffen und ins Wachkoma befördert.Als Gregor nach vielen Wochen die Welt langsam wieder wahrzunehmen beginnt, sitzt Mira an seinem Bett. Die zauberhafte, wild gelockte Mira, der er doch nicht ganz egal zu sein scheint. Und da beschließt Gregor zu kämpfen für das ganz große Glück. Wird es ihm gelingen, die unsichtbare Mauer zu durchbrechen, die ihn von Mira und der Welt dort draußen trennt?Für alle Fans von Nick Hornbys ›A long way down‹ und ›Während du schliefst‹.

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Seitenzahl: 339

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Tobias Elsäßer

Zwischenlandung

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Inhalt

Die im Wachen träumen, [...]Für Frederic und Katrin. [...]Erster TeilPrologGregor1Gregor2MiraGregorMira3GregorMiraGregor4MiraGregor5MiraGregor6MiraGregorZweiter Teil7MiraGregorMira8GregorMira9MiraGregorMiraDritter Teil10GregorMira11GregorMiraGregorMira12GregorMiraGregorMiraVierter Teil13GregorMiraGregorMiraGregorFünfter Teil14MiraGregorMiraGregorMiraGregorMiraGregor15Gregor16GregorNachtragDANKSAGUNG

Die im Wachen träumen, haben Kenntnis

von tausend Dingen, die jenen verborgen bleiben,

die nur im Schlaf träumen.

 

Alfred Otto Wolfgang Schulze

 

Für Frederic und Katrin.

Freunde sind die besten Lotsen

in einer chaotischen Welt.

Erster Teil

Prolog

Ein Taucher. Ein Golfball. Ein Mädchen. Und die große Chance.

Gregor

In wenigen Minuten würde ich sterben, halb sterben, aber das wusste ich nicht. Niemand weiß, wann er stirbt, wenn er nicht selbst die Finger im Spiel hat oder in die Mündung einer Pistole blickt. Deshalb kletterte ich gut gelaunt vom Traktor, versicherte Bauer Johannson, unsere Angelegenheit weiterhin vertraulich zu behandeln, und schleppte mein Zeug hinunter zum See.

Ein warmer Ostwind blies mir ins Gesicht, eine Schar Enten setzte zur Notlandung an. Die Wasseroberfläche explodierte unter den kurzen harten Schlägen ihrer Flossen. Ein Schwan auf Nahrungssuche taumelte kopfüber in der Seemitte. Aufgeschreckt durch den Lärm, kippte er nach oben und gab den Ankömmlingen zu verstehen, dass sie soeben fremdes Territorium betreten hatten.

»Respekt!«, schien er zu schnattern. »Respekt!«

In der Natur gibt es nur Freund oder Feind, kein Dazwischen. Niemand muss sich verstellen, niemand muss ein anderer sein als er selbst.

 

Samstags bei Sonnenschein ist viel los auf dem Golfplatz, das machte meinen Job nicht ganz ungefährlich. Aber ich wollte mein Taschengeld in Sicherheit bringen, bevor es vom angekündigten Unwetter in die Kanalisation gespült wurde. Lustlos schlüpfte ich in meinen stinkenden Neoprenanzug. Außentemperatur achtundzwanzig Komma neun Grad, Luftfeuchtigkeit fünfundachtzig Prozent. Willkommen in den Tropen.

Konstantin oder Konsi, wie wir ihn nannten, hatte angekündigt, zur End-of-Summer-Party am Abend etwas »Besonderes« mitzubringen. »Besonderes« hieß, besonders teuer, exklusiv, nicht für jedermann, und das gefiel mir. In einer Ortschaft mit achthundertneununddreißig Einwohnern, drei Kneipen und diversen gut getarnten Freaks waren Feste und Partys die einzige Möglichkeit, seinen Geist unverdächtig in alle Richtungen zu öffnen.

Um exakt 15.31 Uhr ging ich unter Wasser. Die Fische hatten sich im löchrigen Schatten der Trauerweide versammelt. Vielleicht tauschten sie den letzten Tratsch aus. Angeln war hier verboten. Folglich würden sie eines natürlichen Todes sterben. Ich wollte mir den Schilfgürtel am östlichen Rand vornehmen. Dort war das Wasser nicht allzu tief, angenehm temperiert, und ich konnte fürs Erste mit Schnorchel tauchen.

Innerhalb weniger Minuten hatte ich acht Golfbälle beisammen. Wenn das so weiterging, würde ich unseren Rekord brechen. Und das alleine. Ich brauchte den größeren Köcher, also tauchte ich auf und schwamm zurück zum Steg auf der gegenüberliegenden Seite. Oben, an Loch achtzehn, sah ich zwei Gestalten. Ich setzte die beschlagene Taucherbrille ab, nahm meine Ray-Ban-Sonnenbrille aus dem Rucksack und musste lächeln, als ich durch die verspiegelten Gläser blickte. Auf dem Hügel stand Mira. Die langen roten Locken züngelten im Wind wie lodernde Flammen. Sie würde nie verstehen, wie schön sie war. Sie war die Sehenswürdigkeit in einem Dorf ohne Sehenswürdigkeiten. Aber das war ihr egal, und gerade das machte sie noch attraktiver.

Ihre Stimme wurde gedämpft herübergetragen. Sie gab dem Spieler Tipps. Nach Golfbällen zu tauchen war ein außergewöhnlicher Nebenjob. Miras Geldquelle war ähnlich ungewöhnlich. Sie arbeitete als Caddy für Leute mit richtig viel Kohle. Ein aussterbender Beruf. Caddys, die Sklaven der Reichen, müssen den Platz und seine Eigenheiten kennen, das passende Eisen reichen und die entsprechenden Tipps geben. Groß, schlank und schön zu sein wie Mira war nicht von Nachteil, wollte man ein gutes Trinkgeld einstreichen. Für mich wäre der Job nichts gewesen. Ich hasste es zu buckeln, nur weil jemand Geld hat.

Jedenfalls stand Mira da, aufrecht, die Fahne von Loch 18 in der Hand wie eine mittelalterliche Freiheitskämpferin, eine Jeanne d’Arc, die ihre Macht noch nicht kannte. Sie schien mich nicht zu bemerken oder sie ignorierte mich, weil sie mich für einen hirnlosen Idioten hielt, der außer Mädchen, Partys und Geld nicht viel im Kopf hatte.

Ich wandte den Blick wieder ab, begutachtete die Beute in meinem Köcher und zuckte zusammen. Manche Menschen glauben an Zufälle, andere an Schicksal. Bis zu dem Tag wusste ich nicht, zu welcher Seite ich gehörte. Doch als ich den silbernen Ring zwischen den Fingern drehte, mit Spucke vom Schmutz befreite und die Initialen las, war mir klar, dass es keine Zufälle gab. Alles war vorbestimmt. Jeder Moment, jedes Lächeln, jeder Gedanke. Ich hielt den Atem an, wollte mich beherrschen, ruhig bleiben, aber mein ganzer Körper fing an zu zittern. Das hier war ein Märchen für einen Menschen, der nicht an Märchen glaubte. Das hier war eine, nein, meine dritte Chance, ein Wink des Schicksals, es noch ein letztes Mal zu versuchen. Der große Tag war gekommen.

Ich schaute zu Mira.

Ich schaute auf den Ring.

Ich wusste, dass es kein Zurück mehr gab.

Entweder das hier war der Auftakt zur kitschigsten Liebesgeschichte seit Titanic oder der traurige Schlusspunkt nach mehreren Jahren im Trainingscamp für unglücklich Verliebte. In Gedanken hörte ich einen Countdown.

Drei.

Zwei.

Eins.

Noch vor der Null nahm ich all meinen Mut zusammen, hielt den Ring in die Luft, ließ die Flossen an meinen Füßen und watschelte über den Steg zurück zum Ufer, was mit Sicherheit richtig dämlich aussah. Es war ein Wunder, dass ich nicht stolperte. Hinter dem Ufer, getrennt durch einen schmalen Grünstreifen, breitete sich der Sandbunker aus. Ich winkte Mira zu und hielt den Ring in die Luft, was sie aus der Entfernung unmöglich erkennen konnte. Mir ging so vieles durch den Kopf. Erinnerungen zogen im Schnelldurchlauf an mir vorüber. Ich surfte auf meiner Timeline vor und zurück.

Ja, verdammt!

Das hier war meine dritte Chance.

Ein Wink des Schicksals.

Die große Prüfung.

Mira ignorierte mich. Das hatte ich erwartet, also brüllte ich ihren Kosenamen quer über das Grün. »Mimi!«, rief ich wie früher, als wir noch jeden Tag zusammen verbracht hatten. »Hab ’ne Überraschung für dich.«

Sie reagierte nicht – zumindest nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Sie zeigte mir den Vogel und schüttelte energisch den Kopf. Mein Auftritt war ihr peinlich. Schließlich war das hier das Finale ihres übergewichtigen Kunden. So kurz vor dem Ziel wäre es dumm gewesen, sich ein ordentliches Trinkgeld zu verscherzen. Sie dachte, ich würde mal wieder den Clown spielen. Ich kannte sie gut genug – und meine beschissene Rolle ebenso, in der ich mich verfahren hatte. Mira konnte ja nicht ahnen, welchen Schatz ich da in meiner Hand hielt.

Es war windstill. Nur das Dauerfeuer der Driving-Range-Abschläge hinter dem Tannenwäldchen war zu hören. Die Zeit dehnte sich in die Unendlichkeit.

Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz an meinem rechten Knöchel, oder war es ein Stich, vielleicht auch ein Biss? Schließlich gab es ja Schlangen. Vor allem Ringelnattern. Eine harmlose Spezies, wie mir mein Vater, der Naturexperte, versichert hatte. Jedenfalls zog mir der Schmerz das Bein weg. Ich kippte in den Sand. Jetzt sah ich garantiert aus wie ein paniertes Schnitzel – und mein Knöchel brannte höllisch.

Ich wischte meine Brille frei und lächelte: Mira kam vom Berg der Unerreichbarkeit heruntergeschritten. Sie wusste wirklich nicht, wie elegant, wie schön sie war. Es war ihr egal. Sie machte sich nichts aus Äußerlichkeiten und war dennoch immer perfekt angezogen. Sie war immun gegen flüchtige Trends, iPhones und Tablets und den ganzen anderen Kram, und dennoch oder gerade deshalb wurde sie bewundert und nicht geächtet. Sie hatte das Zeug zur Anführerin, das hatte sie schon als Kind bewiesen.

Ich blieb liegen, den Ring eingeschlossen in meiner Faust. Das Herz kurz vor der Explosion. Sie stand jetzt über mir. Das Haar leuchtend rot in der Sonne. Das Gesicht in kitschig vollendeter Schönheit und so unerreichbar wie der Himmel selbst.

»Was ist los mit dir?«, fragte sie. »Musst du immer so ’ne Show abziehen?«

»Ich …«, krächzte ich. Plötzlich war meine Stimme weg. Das passierte nur bei Mira oder in Mathe, wenn ich von Dr. Rothfuß an der Tafel gedemütigt wurde.

Sie war wütend. Die Sommersprossen in ihrem blassen Gesicht, ein neu entdecktes Sternbild. Ich fotografierte den Anblick, während der Neoprenanzug auf meiner Haut zu kochen anfing und ich darunter verbrannte.

»Warum brüllst du rum wie ein Irrer?«, fragte sie.

»Ich …«, setzte ich erneut an, während sich die Gedanken in meinem Kopf zu einer meterhohen Welle auftürmten, die mich komplett lähmte. Es war, als würde ich versuchen, die ganzen letzten Jahre in einen einzigen Satz zu packen.

Reiß dich verdammt nochmal zusammen! Sag ihr, was du gefunden hast. Sag ihr, dass du ein Date willst. Und gib ihr verdammt nochmal den Ring!

Es ging nicht. Da war eine Schranke, eine unüberwindbare Grenze. Da waren die Bilder ihrer unterbelichteten Exfreunde. Da war ihr Kopfschütteln, wenn ich auf dem Schulhof den Entertainer spielte. Da waren das Stechen in der Brust und der freie Fall, wie damals nach unserem ersten und einzigen Kuss, der mich komplett aus meiner Umlaufbahn geschossen hatte.

Der Ring! Gib ihr verdammt nochmal den Ring, und hör endlich auf mit dem Gesülze!

Ich fing mich wieder. Kam wieder in die Spur.

Ich war ein mittelmäßiger Schauspieler. Ich war Durchschnitt und sie über alle Maßen perfekt. Ich dachte an die Reise, an meinen großen Traum, und überlegte, ob ich meine Chancen erhöhen würde, wenn ich ihr den Ring erst nach dem Abi gab. Ich hatte den Etappensieg in der Tasche und setzte auf volles Risiko.

Ich war ein Vollidiot!

Ich räusperte mich.

»Bist du heut Abend auch auf der Party?«, fragte ich.

»Von Helena?« Mira schaute mich entgeistert an. »Wie kommst du denn darauf?«

»Schade«, sagte ich, obwohl das klar gewesen war. Mira und Helena. Feuer und Wasser.

»Und deshalb hast du so rumgeschrien? Um mich das zu fragen? Ist das dein Ernst?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Was ist bloß los mit dir, verdammt! Kannst du nicht ein Mal normal sein?«

»Warte«, sagte ich. »Bitte, bitte geh nicht.« Ich änderte meinen Plan. Jetzt oder nie hieß der neue. »Ich hab tatsächlich was für dich.«

Sie zögerte, glaubte mir nicht. Ich streckte ihr die leere Hand entgegen, die Hand mit dem Ring behielt ich hinter dem Rücken, wie ein Kellner beim Einschenken. »Kannst du mir kurz aufhelfen?« Ich spürte, wie der Knöchel unter dem Anzug dicker wurde. Mira hob skeptisch die Brauen.

»Mich hat was in den Knöchel gestochen«, stöhnte ich.

»Ist jetzt aber nicht der nächste blöde Witz, oder? Darauf hab ich echt keinen Bock.«

»Nein«, jammerte ich. »Im Ernst. Es brennt.«

Sie streckte mir die Hand entgegen und schmunzelte leicht.

Ein Windstoß raschelte durch die Blätter der Trauerweide. Aus dem Tannenwäldchen wurde das Knacken von Ästen herübergetragen, die Entenschar setzte zum Weiterflug an und der Schwan plusterte sein Gefieder auf. Das Letzte, was ich sah, waren Miras Fingerspitzen. Ich spürte eine winzige Berührung, einen Stromstoß. Dann prallte etwas Hartes gegen meinen Kopf, kullerte über den Steg und landete im Wasser. Ein Golfball der Marke Slazenger. Gut erhalten. Zwei Euro. Ein Volltreffer!

1

Ein Tauchgang. Eine Leiche. Und das Atmen unter Wasser.

Gregor

Ich war wieder unter Wasser. Mir war schummrig, aber Sternchen sah ich keine mehr. Der Schmerz am Knöchel war verschwunden. Kurz blitzte das Bild eines silbernen Rings vor mir auf. Dann das Gesicht von Mira und ihre Stimme weit entfernt, wie sie meinen Namen rief. Ich ließ mich davon nicht aus dem Konzept bringen und sank hinab in die Schwerelosigkeit, die sich warm, weich und grenzenlos anfühlte. Der Ball, der mich getroffen hatte, musste irgendwo da unten sein, und ich würde ihn finden. Ich musste ihn finden. Leider war das hier kein seichter Tümpel, kein künstliches Hindernis, wie auf anderen Golfplätzen; das hier war ein richtiger kleiner See. Elf Meter an der tiefsten Stelle. Gespeist von einem Bachlauf, der dafür sorgte, dass es unter der Oberfläche von Lebewesen nur so wimmelte. Mein Herz pumpte in zuverlässiger Langsamkeit. Den Ball, den Volltreffer, wollte ich als Andenken behalten.

Mathis hatte immer Witze gemacht, wie es sich anfühlte, von einem Golfball am Kopf getroffen zu werden. Jetzt konnte ich ihm die frohe Botschaft überbringen, dass man zwar Sternchen sieht, ein kurzes Schwarzbild, ein silbernes Flimmern, aber von Schmerz keine Spur. Vielleicht bekam ich eine Beule, aber das war mir diese einzigartige Erfahrung allemal wert. Wer konnte schon von sich behaupten, von einem Golfball am Kopf getroffen worden zu sein. Eine schöne Geschichte. Der perfekte Einstieg für die Party heute Abend.

 

Unterhalb von vier Metern war die Sicht selbst bei strahlendem Sonnenschein ziemlich mau. Der südliche Uferrand mit der Betonmauer fiel steil ab, deshalb musste ich ganz runter. An die schlechten Sichtverhältnisse gewöhnt man sich, an die Kälte nicht. Der erste Moment, wenn sich der Neoprenanzug mit Wasser vollsaugt, ist jedes Mal ein Schock. Vor allem an heißen Sommertagen wie diesem. Das ist wie ein Stromstoß. Man ist sofort wach. Selbst wenn man die Nacht davor gefeiert hat.

Beim Tauchen nach Golfbällen muss man sich auf seine Hände verlassen und auf sein Gespür. Das steht in keinem schlauen Buch und auch nicht auf Google. Mit einer Lampe konnte man nichts ausrichten. Hier unten gab es einfach zu viele Schwebeteilchen, die den Lichtschein reflektierten wie Schneetreiben das Fernlicht.

Das Wasser wurde wärmer. Der Neoprenanzug begann auf der Haut zu kribbeln. Stärker als sonst. Eine seltsame Hitze kroch bis hinauf zu meinem Gesicht. Ich hatte das Gefühl, in einem Strom aus lauwarmer Pisse zu baden. Mein Gleichgewichtssinn spielte verrückt. Oben und unten, links und rechts. Sollte ich wieder auftauchen? Ohne den Ball. Ohne die Beute?

Jetzt musste ich auch noch schwitzen. Unter Wasser. Schweißperlen quollen aus meiner Stirn und kitzelten wie Kohlensäure auf meiner Haut. Vielleicht wurde ich krank. So fing das immer an. Aber die Party wollte ich auf keinen Fall verpassen. Darauf hatte ich mich die ganzen letzten Wochen gefreut.

Helenas Eltern hatten richtig viel Kohle und eine Villa, wie man sie von Filmstars kennt. Mit einem Pool und einem riesigen Fernseher neben der Poolbar. Auf dem Land heizte man mit so einem Protzbau die Gerüchteküche an. Die Wahrheit blieb hinter den Erwartungen zurück: Ihr Vater handelte mit edlen Stoffen, war extrem locker und hatte einen grandiosen Sinn für Humor. Manche Familien sind wie Filme, man möchte von ihnen adoptiert werden.

Ich überlegte, was ich kurz vor dem Einschlag gemacht hatte? Daran konnte ich mich ums Verrecken nicht erinnern. War wohl doch nicht ganz so harmlos. Mir fehlten ein, zwei Minuten. Und was hatte Mira damit zu tun? Warum spukte sie mir plötzlich durch den Kopf? Sie würde bestimmt nicht zur Party kommen. Sie war so verdammt vernünftig, so erwachsen geworden. Langweilig trifft es besser. Aber dennoch war ich fasziniert von ihr, und das würde nie aufhören. Bisher hatte ich noch kein Mädchen kennengelernt, das ihr das Wasser reichen konnte.

Ich sah ihre schlanken Finger, ihr Gesicht, ein freches Grinsen. Die Sommersprossen, leuchtend braun. Eintrag ins Logbuch: Hier war etwas faul.

»Immer noch ein Clown«, hörte ich nun sogar ihre Stimme, ganz nah an meinem rechten Ohr. Ich bildete mir ein, ihren warmen Atem zu spüren. Verrückt. Das war total verrückt. Dann ohne Vorwarnung ein aufgebrachter Schrei, die Rückkehr in tiefste Dunkelheit und ein paar Sekunden Stille. Schließlich kehrte das vertraute Klicken der Kieselsteine zurück und wurde lauter. Boulekugeln auf Asphalt, so hörte sich das an. Spielte irgendein Idiot an der Schleuse rum? Ich konnte mir darauf keinen Reim machen, aber ich blieb ruhig. Mathis, mein großer spießiger Bruder, hatte mir beigebracht, wie man im Blindflug nach Golfbällen taucht, ohne in Panik zu geraten, wenn der Arm im Gitter eines Einkaufswagens steckenbleibt oder ein wütender Schwan durch die Wasseroberfläche Hallo sagen will. Wer zappelt, verliert, lautete unsere goldene Regel. Bei Missachtung verlor man die Orientierung und hatte gute Chancen, als Beifang, mit ausgeploppten Augen und dämlicher Visage, nach oben gezogen zu werden. Wasserleichen sehen richtig scheiße aus, kann ich euch sagen. Stellt euch das Widerlichste vor, was ihr je gesehen habt und multipliziert es mit zehn. Der Tag schafft es mühelos unter meine persönliche Top 5 der schlimmsten Ereignisse.

»Sei froh, dass es kein Kind war«, sagte mein Bruder nach dem Vorfall. Bis vor einem halben Jahr waren wir immer zu zweit unter Wasser gewesen. Das war unser gemeinsames Ding. Mathis und ich. Buddys eben, Tauchpartner, die aufeinander zählen konnten. Doch seit dem letzten Streit ließ sich mein Bruder nicht mehr auf dem Golfplatz blicken.

»Werde endlich erwachsen!« Dieser Satz war der Anfang vom Ende gewesen. Er klingelte auch jetzt wieder in meinen Ohren. Ich sollte ihn mir übers Bett hängen. Als Mahnung, genau das Gegenteil zu tun. Es lebe die Freiheit! Unser Dorf war zu klein. Ständig wurde man beobachtet und beurteilt – und dann die vielen Gerüchte … Damit könnte man ganze Bücher füllen. Sobald ich mit einer neuen Freundin aus der Stadt aufkreuzte, ging das Getuschel los. Die alten Männer waren neidisch, weil der Zug für sie abgefahren war, und die Jüngeren, weil sie nicht wussten, wie man ohne aufgemotzte Karre mit Doppelauspuff bei solchen Frauen landen konnte. Sie kapierten nicht, dass alles nur eine Frage des Stils war. Stil ist die ultimative Formel, um Mädchen zu beeindrucken. Man darf es natürlich nicht übertreiben, sonst kommt man altmodisch rüber. Aber mit dem richtigen Maß an Anstand und Optik kann man selbst als Durchschnittstyp bei jeder Frau landen. Okay, das stimmt nicht ganz. Mira ließ sich nicht blenden. Mira war die Einzige, die mich durchschaute, als wäre ich nackt. Und wenn man es ernst meint, dann ist man nackt.

Als ich Mathis erzählte, an einer ernsten Sache dran zu sein, und ihm ein paar dürre Hinweise vor die Füße warf, um wen es sich handelte, rastete er aus. »Warum willst du das tun? Brauchst du noch mehr Striche auf deiner Liste? Wird das jetzt zu deinem Hobby? Mädchen flachlegen und ihnen dann einen Arschtritt verpassen?«

»Die Mädels gehen doch genauso ab wie wir«, sagte ich. »Die wollen Spaß. Aber das will ich ja gar nicht mehr. Darauf will ich doch hinaus. Ich will sesshaft werden.«

Wie mich Mathis jetzt anschaute, hielt ich es für das Beste, mein Vorhaben für mich zu behalten.

»Du weißt doch gar nicht, wie sich richtige Liebe anfühlt!«, schleuderte er mir entgegen. Ich hasste es, wenn er sich so allwissend aufführte. Wahrscheinlich glauben alle großen Brüder, ihre jüngeren Geschwister erziehen zu müssen. Aber damit war es ein für alle Mal vorbei. Ich hatte seine Bevormundung satt.

»Du weißt also genau, was Liebe ist?«, sagte ich herausfordernd. »Wahre, einzigartige Liebe? Kein Kompromiss-Scheiß? Kein ›Wir können’s ja mal versuchen‹-Schwachsinn?«

»Ich – liebe – Hannah! Wenn du darauf hinauswillst.«

»Komm mal wieder runter. Das hab ich nie bezweifelt.«

Sein Blick, eine Mischung aus Wut, nein, Hass und Verständnislosigkeit. »Ich weiß nur eines«, kam es bissig aus seinem Mund. »So wie du dich aufführst, wirst du nie herausfinden, was richtige Liebe ist. Du tust mir echt leid. Kein Mädchen hat es verdient, von dir verarscht zu werden, nur weil du nicht weißt, was du willst, und dich wie ein kleines Kind aufführst, das zu viel Spielzeug hat.«

Beim letzten Satz war die Wut aus seiner Stimme gewichen, dafür klang Enttäuschung durch. Enttäuschung ist schlimmer als Wut. Enttäuschung heißt, dass man die Erwartungen des anderen nicht erfüllt.

Als mein Bruder nachbohrte, um wen es sich handelte, machte ich einen Rückzieher.

»Wozu willst du das wissen, ist doch sowieso nicht ernst?«, sagte ich ironisch.

Er schüttelte den Kopf. Offensichtlich wurmte ihn mein plötzlicher Vertrauensentzug. »Wieso musst du immer Ärger machen?«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, als hätte er die Antwort in meinen Gedanken gelesen.

Ich schwieg.

Mathis kickte gegen den Eimer mit den Bällen und stapfte fluchend davon. Danach trennten sich unsere Wege. Keine Diskussion. Keine weitere Erklärung. Kein Handschlag der Versöhnung wie sonst. Nur sein Tauchanzug an meiner Zimmertür. Das war’s.

Deshalb befand ich mich nun alleine im Dunkeln.

Irgendwo.

Es war still.

Das Wasser war still. Ich mochte Stille nicht. Ich streckte meine Hände nach vorne. Zentimeter für Zentimeter. Weit hinein in dieses Nichts, das mich umgab wie schwarze Tinte und die Zähigkeit von Hafergrütze aufwies, die ich auf den Tod verabscheute. Etwas Scharfes kratzte über meine Fingerkuppen. Ein leichtes Brennen auf der Haut. Ich unterdrückte den Impuls, loszuschreien. Das Bild einer gemeingefährlichen Schnappschildkröte vor Augen, zuckte ich zurück und verharrte in der Bewegung. Das Brennen verschwand. Nur Einbildung. Wo war der verdammte Golfball? Woher kam dieses laute Brummen? Ich spürte ein Stechen an meinem Arm. Ein Hitzeschwall schoss durch meinen Körper wie glühende Lava. Dann Kälte, ein lähmendes Kribbeln in Armen und Beinen, als würden Gasbläschen durch meine Adern rauschen, weil ich zu schnell auftauchte. Hatte sich der Vulkankrater geöffnet? War ich zu weit runtergetaucht? Aber das war unmöglich. Beruhig dich, sagte ich mir und war glücklich darüber, den Sound des Atemreglers zu hören. Meine Sauerstoffflasche war ganz voll gewesen, als ich sie am Nachmittag aus dem Schuppen geholt hatte. Was das anbetraf, war ich so gewissenhaft wie mein Bruder. Ich fragte mich nur, wann ich die Flasche aufgezogen hatte? Noch etwas, woran ich mich nicht erinnern konnte. Ausradiert, gelöscht.

Das Geräusch des Reglers wurde lauter. Ich hatte das Gefühl, dass meine Lunge mit Gewalt gedehnt wurde. Aber ohne den Golfball würde ich nicht auftauchen. So viel Ehrgeiz hatte ich dann doch. Er musste hier irgendwo sein. Im Schlamm oder neben der kaputten Beinprothese. Seltsam, dachte ich, als ich mit den Fingerspitzen den Untergrund abtastete. Er fühlte sich an, als sei er aus Stoff. Irgendwas stimmte hier nicht, und ich kam nicht dahinter. Weiterdenken war unmöglich. In meinem Kopf baute sich ein gewaltiger Druck auf. Schwindel. Stechender Schmerz. Pochen. Dann ein Knistern und Knacken, als würde mein Schädel in einem Schraubstock stecken, den irgendein blöder Idiot mit voller Kraft zudrehte. Doch damit nicht genug. Ein neues Geräusch folgte. Es mischte sich leise, als würde jemand an einem unsichtbaren Regler drehen, unter den holprigen Beat meines Herzens. Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, konnte es aber unmöglich zwischen dem Knirschen und Reiben orten. Es kam von überall und nirgends. Bewegte sich im Panorama mal nach links und dann wieder nach rechts und blieb unvermittelt stehen. Und während es dastand, halb rechts, etwa auf ein Uhr, wischte eine unsichtbare Hand meine Gedanken aus meinem Oberstübchen, bis von all den Fragen, die um mein Bewusstsein kreisten, nur noch eine einzige übrig blieb:

Wer bin ich?

2

Ein Schatten. Ein Splitter. Und ein Schluckauf im Universum.

Mira

Mathis umarmte mich wie üblich nur ganz kurz. Als wären wir zwei gleichgepolte Magnete, die sich abstoßen müssen. Er würde nie lernen, mit Berührungen umzugehen. Das war nicht sein Ding. Von seinen Eltern konnte er das nicht haben, Esther und Frank hatten kein Problem, einen zur Begrüßung in die Arme zu nehmen und zu drücken, als würde man zur Familie gehören.

Ich wollte gleich losreden, mit meinem Geständnis herausplatzen, als mir Mathis das Cello aus der Hand nahm. Ich wollte nicht dastehen, mit aufgesetztem Lächeln und einem Puls, der kurz davorstand, mich umzubringen. Aber ich war nicht auf der Höhe. Ich war so sehr damit beschäftigt, mir die Worte im Kopf zurechtzulegen, dass Mathis bereits die Treppe erreicht hatte, während ich noch im Türrahmen stand und meinem Magen zuhörte, wie er so laut knurrte, als wollte er mich verraten.

Ich schloss hinter mir dir Tür und betrat den Vorraum. Die Welt bewegte sich in Zeitlupe, während meine Gedanken rasten. Geräusche, Gerüche, das Ticken der kitschigen Kuckucksuhr an der Wand. Alles wirkte um ein Vielfaches verstärkt. Ein Stapel mit Zeitungen lag halb verdreht neben unzähligen Schuhpaaren. Das Radio im Wohnzimmer kündigte die stündlichen Nachrichten an. In der Schule, im Dorf und auf dem Golfplatz hatte es tagelang kein anderes Thema gegeben als Gregors Unfall. Sogar das Fernsehen hatte darüber berichtet und den vermeintlichen Hergang in eine medientaugliche Physik-Show fürs Vorabendprogramm gepackt. In zwei wichtigen Punkten irrten sich die aufdringlichen Journalisten: Gregor und ich waren kein Liebespaar gewesen und der Unfall hatte sich auch nicht so zugetragen, wie sie es in die Welt hinausposaunten. Es ging nur darum, Quote zu machen, Klicks zu bekommen oder Zeitungen zu verkaufen. Drei Tage später wurde Gregors Geschichte von einer Umweltkatastrophe abgelöst. Auf YouTube kursieren noch immer geschmacklose Experimente mit Wassermelonen, versehen mit hunderttausend Klicks. Wassermelonen, verdammt!

»Kommst du?«, fragte Mathis. Er stand auf der Treppe auf halber Höhe und schaute mich merkwürdig an. Vielleicht ahnte er etwas.

»Ich komme gleich«, sagte ich und schlüpfte in Zeitlupe aus meinem Mantel. Mathis nickte bloß, drehte sich um und verschwand nach oben. Ich blieb unentschlossen in der Diele stehen, hatte große Lust, einfach abzuhauen, wegzurennen, mich wie früher in unser morsches Baumhaus zu verkriechen. Natürlich war ich nicht schuldig, nicht richtig schuldig, aber trotzdem war nichts mehr wie vorher. Und daran hatte ich meinen Anteil.

Ich war da.

Mit allen Sinnen war ich da und Gregor nicht. Er sendete auf einer anderen Frequenz. So jedenfalls versuchte ich mir seinen jetzigen Zustand zu erklären. Ich sehnte mich nach Gregor, nach dem alten Gregor, dem verrückten Jungen von früher, der mit seinen bescheuerten Ideen und seinem derben Lachen alle anstecken konnte. Ja, lachen. Ich Idiotin hatte tatsächlich gelacht, nachdem ihn der Golfball am Kopf getroffen hatte. »Immer noch ein Clown«, hatte ich gesagt, als er schon dalag. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass es ihn so schwer erwischt hatte. Die Szene war so surreal gewesen, eine richtige Slapstick-Einlage, und Slapstick gehörte in Gregors Repertoire als Dauer-Entertainer. Im Moment vor dem Einschlag schien er eine Grimasse schneiden zu wollen. Das hatte er als Kind ja ständig gemacht. Aber dann verdrehte er nur die Augen und kippte zur Seite wie ein Cowboy in einem drittklassigen Western, wie ein nasser Sack. So langsam, so entsetzlich langsam. Als würde er seine Muskeln anspannen. Ich war mir sicher, dass er nur eine Show abzog, sonst hätte ich das mit dem Clown doch niemals gesagt. Ich dachte, er würde gleich mit einem überdrehten Lachen zurückkehren und mich mit Sand bewerfen oder so. Aber nichts. Er rührte sich nicht. Blieb einfach liegen, wie eine umgestürzte Schaufensterpuppe, die Arme unnatürlich nach hinten gedreht.

Und dann sah ich das Blut. Es kam aus seiner Nase, nicht viel – aber es reichte, um mich durchdrehen zu lassen. Und zwar richtig. Erst der Notarzt zog die Reißleine und stellte mich ruhig.

Das war vor sechs Wochen gewesen, und jetzt berührte ich Gregors rote Lederjacke, roch daran, inhalierte das würzige Parfum und wünschte mir, die Zeit zurückzudrehen. Am besten gleich um Jahre. Am besten bis dahin, wo wir uns aus den Augen verloren hatten, weil Gregor so cool geworden war.

Ich grub meine Finger in das weiche Leder.

»Gregor«, flüsterte ich. Ich redete mit einer Jacke, wie lächerlich. »Wenn du das hier auf irgendeiner Frequenz empfangen kannst, dann hör gut zu: Du kannst dich nicht einfach so aus der Affäre ziehen und mich mit diesem Scheißrätsel zurücklassen, was dein merkwürdiger Auftritt an dem Tag sollte. Das lass ich mir nicht gefallen, verstehst du?«

Ich ließ die Jacke wieder los. Die Abdrücke meiner Fingernägel waren deutlich zu erkennen. Ich würde ihm eine neue kaufen, wenn er wieder aufwachte. Versprochen.

Warte!, sagte ich in Gedanken und starrte auf ein Kinderbild von ihm und Mathis, das auf dem wackeligen Holztischchen neben dem Uralt-Telefon einstaubte. Ich bin noch nicht fertig. Hiermit verspreche ich hoch und heilig, dir den Kopf zu waschen, wenn du wieder richtig aufwachst. Dieser oberflächliche Playboy-Verschnitt, den du allen vorspielst, das bist du nicht. Du weißt das, und ich weiß das auch. Und glaub mir, ich werde jeder deiner aufgetakelten Tussen stecken, was für ein verdammtes Weichei du sein kannst, sobald es dunkel ist. Das gebe ich dir gerne schriftlich. Gleich nachher schreib ich dir eine SMS, die bekommst du dann, wenn du wieder fit bist. Aber die Wahrheit ist auch, dass ich dieses Weichei tausendmal mehr gemocht hab, als diesen aufgedrehten Clown, den du allen vorgespielt hast. Und deshalb werde ich meine Scheißangst vor Krankenhäusern überwinden, wenn du vorhast, dort noch länger zu bleiben.

Um ein Haar hätte ich geheult. Ich musste mich so was von beherrschen. Zum Glück war keiner da, außer Mathis, und der war ja schon oben.

Der Kloß in meinem Hals verschwand, als ich das Post-it an der Wohnzimmertür entdeckte: AN ALLE MÄNNER IN DIESEM HAUS: ICH BIN NICHT EURE PUTZFRAU! NEUER PUTZPLAN HÄNGT AM KÜHLSCHRANK UND STEHPINKLER WERDEN IN DIESEM HAUSHALT NICHT GEDULDET!

Ich musste kurz grinsen. Esther, Gregors Mutter, hatte den Zettel geschrieben. Sie liebte Post-its. Über dem dreckigen Geschirr auf der Spüle, am Waschbecken oder im Kühlschrank. Überall klebten die kleinen gelben Zettel. Manchmal mit Smileys mit Teufelshörnern, manchmal mit lustigen Sprüchen und manchmal mit unmissverständlichen Aufforderungen wie dieser hier.

Ich ging nach oben. Stufe für Stufe, Schritt für Schritt, mit Beinen aus Beton. Als Kinder hatten wir auf der Holztreppe getanzt. Jede Stufe machte ein anderes Geräusch. Wir hatten uns die Stufen als Klaviertasten vorgestellt, sie mit Zetteln und Klebern markiert und darauf »Alle meine Entchen« gespielt oder den Anfang von »Für Elise«. Mathis hatte dirigiert, Gregor und ich getanzt und herumgealbert, wenn Mathis die Sache zu ernst nahm.

Heute gaben die Stufen nur ein launisches Ächzen von sich. Als wollten sie nicht für mich alleine spielen. Die Tür zu Gregors Zimmer stand einen Spaltbreit offen. Ich spähte hinein. Das Bett war ordentlich gemacht, nicht zerknüllt wie sonst. Es lag keine dreckige Wäsche auf dem Boden. Das Bitte-nicht-stören-Schild hatte jemand entfernt. Ich ging weiter, vorbei an Familienbildern, Schnappschüssen und Porträts, die die Wände säumten wie eine meterlange Collage. Auf ein paar Bildern war ich selbst zu sehen. Mit Zahnspange, Pippi-Langstrumpf-Zöpfen und Beinen wie Streichhölzer. Mathis’ Zimmer war kleiner als das von Gregor und immer aufgeräumt. Ein hohes Bücherregal trennte Schreibtisch und Bett vom Rest des rechteckigen Raums. Ich öffnete den Koffer, nahm das Cello heraus und fragte mich, ob es schon immer so schwer war.

»Sein Zustand hat sich nicht verändert«, sagte Mathis unvermittelt. »Es geht ihm gut. Er träumt viel. Die Ärzte sagen, dass er Glück hatte, weil der Splitter sich nicht bewegt.«

»Glück?« Ich schüttelte den Kopf, ließ den Stachel aus meinem Cello und breitete die Notenblätter aus. Was Blöderes hätte er nicht sagen können. Bei einem Menschen, der ein Bein verliert, sagt man doch auch nicht, er hat Glück, weil er ein zweites besitzt.

Ich schluckte meinen Ärger hinunter. Mathis öffnete das Fenster und schloss es gleich wieder, weil Bauer Johannson, der Nachbar, sich wie üblich lautstark mit seiner Frau stritt. Das Leben ging weiter. Gregor war nur ein Schluckauf im Universum.

»Wird er wieder aufwachen?«, fragte ich. »Gibt es dazu eine neue Prognose? Oder wäre das dann zu viel Glück?«

Keine Ahnung, woher plötzlich diese Wut kam. Ich hätte allen Grund gehabt, mich in die hinterste Ecke des Zimmers zu verkriechen, bei dem, was ich getan hatte.

Mathis ignorierte meine ironische Anspielung. »Das Gehirn braucht Zeit, um die Funktionen hochzufahren«, sagte er wie ein Arzt, der es gewohnt war, mit schwierigen Artgenossen umzugehen. »Bei solchen Verletzungen gibt es ganz unterschiedliche Verläufe und …«

»Stopp! Warum kannst du nicht einfach sagen, dass es dir beschissen geht. Glaubst du, bei mir ist das anders? Ich war dabei. Ich hab gesehen, wie das passiert ist. Also hör endlich damit auf, mir was vorzuspielen. Ich brauch das nicht.« Was ich brauchte, war die Wahrheit, meine Wahrheit, aber dazu fehlte mir im Augenblick der Mut. Ich hätte mich vor dem Unterricht betrinken sollen.

»Am Telefon hast du doch gesagt, dass es dir wieder bessergeht?«, sagte Mathis kleinlaut.

»Ja, das … das stimmt ja auch.« Ich knetete meine Finger. Sie fühlten sich eiskalt an. »Ich finde es nur albern, wenn du mir was vormachst. Ich mein, wie lange kennen wir uns? Seit der zweiten Klasse? Denkst du wirklich, irgendwem ist damit geholfen, wenn wir einen auf heile Welt machen?«

Mathis antwortete nicht. Er setzte sich wieder hin. Er war der einzige Mann, den ich kannte, der sich Haarsträhnen hinters Ohr klemmte, wenn er sich unwohl fühlte.

»Gregors Fall liegt aber wirklich anders«, sagte er. »Und das wissen wir auch erst seit ein paar Tagen. Deshalb dachte ich, es könnte dich vielleicht interessieren.«

»O Mann, jetzt sei nicht gleich beleidigt. Natürlich tut es das. Ich … ich bin einfach schlecht drauf. Und ich will nicht, dass du die Lage beschönigst, weil du denkst, ich könnte die Wahrheit nicht aushalten.« Ich lächelte ein wenig. »Also sag schon: Was ist bei Gregor anders?«

»Na ja, dort, wo das Belohnungssystem im Gehirn sitzt, passiert ungewöhnlich viel. Und das bedeutet aller Wahrscheinlichkeit nach, dass es ihm gutgeht. Seelisch gut, meine ich, und das ist doch wirklich was Besonderes.«

Ich nickte wie ein kleines Kind, das Mist gebaut hatte. »Ja, das ist es.« Ich rieb die Hände aneinander, um die Kälte zu vertreiben.

»Willst du überhaupt, dass wir heute Unterricht machen?«, fragte Mathis.

»Natürlich will ich das«, sagte ich und dachte das Gegenteil.

»Wir können auch ins Krankenhaus fahren. Jetzt, wo Gregor nicht mehr auf der Intensiv liegt, sieht es gar nicht mehr schlimm aus, ohne die ganzen Apparate. Davor musst du dich nicht fürchten.«

»Ich fürchte mich nicht. Ich bin nur noch nicht so weit. Du hast doch geschrieben, dass er vielleicht bald nach Hause kommt. Hat sich daran was geändert? Ihr steckt ihn doch nicht in ein Heim oder so?«

»Nein, natürlich nicht. Ist nur noch nicht ganz klar, wie wir das hier stemmen sollen. Gregor muss ja rund um die Uhr betreut werden. Und in sein altes Zimmer kann er ja auch nicht mehr.«

»Ich will auf jeden Fall mithelfen«, sagte ich und nahm den Bogen in die Hand, als wäre es ein Zauberstab, der meinem Willen gehorchte. Meine Hand zitterte. »Habt ihr eigentlich Anzeige erstattet?«

»Gegen unbekannt?« Mathis schüttelte den Kopf. »Dass jemand den Ball über das Wäldchen schießt, ist ja wie ein Sechser im Lotto.«

Ich stellte mir den Unglücksschützen vor, wie er von einer Meute Paparazzi gejagt wurde, und nickte. Je länger ich dasaß, desto weniger wusste ich, ob heute der richtige Tag war, um Mathis zu erzählen, dass ich weder dem Polizisten noch den Eltern den exakten Ablauf erzählt hatte. Was würde die Wahrheit ändern? Nichts! Sie hätte nur für Unruhe gesorgt und mich in den Mittelpunkt gerückt. Wahrscheinlich hätten sie mich bedauert oder so, wie ein Kind nach einem schrecklichen Erlebnis. Und das wollte ich auf keinen Fall.

Die nächsten zehn Minuten spielte ich das Stück für das Abitur-Vorspiel und befahl meinen Gedanken, Gregor auszublenden. Natürlich war es zwecklos. Seine Moleküle zirkulierten in jedem Kubikzentimeter Luft, den alte Häuser von ihren Bewohnern archivieren. Er war ein Schatten an der Wand. Ein Lachen im Korridor. Eine Projektion, die sich in durchscheinenden Bildern über die Wirklichkeit legte.

Mathis lobte mich trotzdem, obwohl er wusste, dass sich Dvořák im Grab umgedreht hätte, so wie ich sein Werk misshandelte. Meine Finger fühlten sich steif an. Das Cello war ein unbeherrschbares Tier zwischen meinen Händen.

Als ich wieder an derselben Stelle hängenblieb, brach ich ab. »Warum musste Gregor immer den Kasper spielen?« Ich drückte das Cello wütend von mir weg. »Und wann ist er so cool geworden?«

Mathis schaute mich überrascht, beinahe ängstlich an, dann zuckte er die Schultern. »Keine Ahnung. Wollte halt bei allen gut ankommen.«

»Wir hätten ihm das nicht durchgehen lassen sollen. Schließlich waren …« Ich stockte. Wieso benutzte ich plötzlich die Vergangenheitsform? Gregor war am Leben. Er war nicht richtig da, aber am Leben. »Wir sind immer noch Blutsbrüder«, korrigierte ich mich. »Und das hat was zu bedeuten. Das war nicht bloß Spaß. Wieso haben wir ihm nicht einfach mal ordentlich den Kopf gewaschen, wenn er wieder mit so einer dämlichen Tusse angekommen ist?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wir werden das nachholen. Sobald er wieder zurück ist, werden wir das nachholen und unsere Brüderschaft erneuern, auch wenn ich kotzen muss, wenn ich Blut sehe.« Ich spürte ein Brennen in den Augen. Gleich würde ich losheulen. Ich zwickte mich unauffällig in den Arm. Schmerz hilft gegen Tränen – es funktionierte.

»Deshalb willst du uns helfen, wenn Gregor nach Hause kommt?«, sagte Mathis leise. »Wegen des Schwurs. Hab ich recht?«

So wie mich Mathis jetzt anschaute, hatte ich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen.

»Du findest das vielleicht lächerlich. Aber ich nicht. Gregor hat sich damals auch um mich gekümmert, als das mit meinem Vater passiert ist, falls du das vergessen hast.«

»Aber der Schwur ist doch ewig her.«

»Was spielt das denn für eine Rolle?«, sagte ich schroff. »So was verfällt nicht einfach.«

»Ich meine ja nur. Ihr hattet ja eigentlich nicht mehr viel miteinander zu tun. Deshalb fühl dich nicht verpflichtet. Wir kriegen das auch so irgendwie hin.«

Ich schüttelte fassungslos den Kopf. »Und ob ich mich verpflichtet fühle«, sagte ich lauter, als beabsichtigt. »Es ist ein Versprechen! Das bricht man nicht einfach mal so, wenn es schwierig wird. Egal, was aus unserer Freundschaft geworden ist, ob wir damals Kinder waren oder nicht, ob da Wochen, Monate oder Jahre dazwischenliegen. Ich steh zu meinem Wort. Sobald Gregor aus dem Krankenhaus zurück ist, werde ich bei ihm sein. Ob du das nun komisch findest oder nicht, ist mir scheißegal.«

»Jetzt komm mal wieder runter«, sagte Mathis. »Man darf sich doch noch wundern.«

»Ich mag es nur nicht, wenn man mich nicht ernst nimmt, großer Bruder.«

»Tut mir leid.«

»Schon gut.« Ich zwang mich, zu lächeln, obwohl mir noch immer nach Heulen zumute war. Gregor musste wieder gesund werden. So ein beschissener Unfall durfte nicht sein ganzes Leben kaputtmachen. Das hatte er nicht verdient. Das hatte keiner verdient.

Ein, zwei Minuten saßen wir da, ohne zu reden, dann stand Mathis auf und schenkte mir ein Glas Wasser ein.

»Gregor ist so oft davongekommen«, sagte er ruhig. »Erinnerst du dich noch an die frisierte Vespa und die Verfolgungsjagd mit der Polizei?«

Ich nickte.

»Und dann der Hochseilakt auf dem Kastanienfest und die Idee, gebrauchte Bälle als neu zu verticken. Er ist jedes Mal davongekommen. Aufräumen mussten immer die anderen. Ist verdammt scheiße, was passiert ist, schrecklich, aber wie oft kann man das Schicksal herausfordern, wie oft lässt es sich das gefallen? Irgendwann musste mal so was passieren. Irgendwann musste mal jemand auf die Stopp-Taste drücken. War nur eine Frage der Zeit.«

Ich hätte mich beinahe verschluckt. »Das kannst du nicht ernst meinen?« Ich stellte das Glas lautstark auf dem Tisch ab. »Gregor hat jetzt also die gerechte Strafe dafür bekommen, dass er im Gegensatz zu uns beiden normal war und rebelliert hat? Meinst du das wirklich ernst?« Die Wut von eben war zurückgekehrt. »Du findest es also gerecht, von einem Golfball getroffen zu werden, wenn man sich nicht an die spießigen Dorfregeln hält und stattdessen seinen eigenen Weg sucht?«

»So hab ich das nicht gemeint. Du drehst mir ja das Wort im Mund um. Ich … ich … was ich damit eigentlich sagen wollte, war, dass Gregor wirklich oft Glück gehabt hat. Ich … ich hab immer Angst gehabt, dass mal was schiefgeht. Dass es dann nicht nur bei ein paar Schrammen oder Sozialstunden bleibt.«

Ich nickte. »Hört sich schon besser an.«

»Du hast doch auch oft gesagt, dass dir sein großspuriges Getue auf die Nerven geht.«

»Ja, aber das ist was anderes.«

»Wieso ist das was anderes? Meine Eltern, ich, Tante Irma. Jeder hat sich Sorgen gemacht, dass mal was schiefgeht. Und glaub mir, das ist ein Scheißgefühl.«

Ich verstummte. Mathis steckte sich eine Zigarette an, öffnete das Fenster und pustetet den Rauch hinaus. Jetzt war es draußen still.

Ich trank noch einen Schluck Wasser, um irgendwas zu tun. Mit einem Mal waren meine Gedanken wieder bei den Sekunden vor dem Unfall. Die Szene war ausgeleuchtet wie bei einem Film. Scheinwerfer, heller als die Sonne. Ich hörte Gregors Stimme. Ich hab tatsächlich was für dich. Warum hatte er das gesagt?

»Ich hab das nicht böse gemeint«, sagte Mathis in die entstandene Stille. »Ich wollte damit eigentlich nur sagen, dass Gregor manchmal auch etwas Rücksicht auf die Menschen hätte nehmen können, denen er etwas bedeutet. Aber das hat er irgendwie ausgeblendet.«

Ich nickte. Die Szene verblasste.

»War bei Gregors Sachen eigentlich was Besonderes dabei?«, fragte ich.