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Tobias Elsäßer

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Beschreibung

Kurz nach dem Abitur gerät Samuel Pinaz in den Albtraum seines Lebens. Der Sohn eines erfolgreichen Mathematikers bricht von Hongkong nach Frankfurt auf, als ein bestialischer Mord seine Zukunftspläne durchkreuzt. Deutschland befindet sich im Ausnahmezustand.Demonstranten legen das öffentliche Leben lahm. Handynetze brechen zusammen.Da begegnet der 19-jährige Samuel Fabienne. Sie gehört zu einer Protestbewegung,die das Finanzsystem des zerrissenen Europas mit einer Revolution in die Knie zwingen will. Als ein weiterer Mord geschieht, begreift Samuel, dass sein Vater der Nächste auf der Liste des Killers ist … Ein gesellschaftlich und politisch hochbrisanter Thriller über eine Revolution, die mit modernsten Mitteln geführt wird und jeden Tag beginnen könnte.

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Seitenzahl: 390

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Tobias Elsäßer

One

Die einzige Chance

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Inhalt

MottoErster Teil InselnPrologEins Hongkong | 23 Grad | BedecktZwei Hongkong | 22 Grad | NieselregenDrei Hongkong | 23 Grad | BewölktVier Hongkong | 26 Grad | BewölktFünf Frankfurt | 17 Grad | HeiterSechs Frankfurt | 17 Grad | GewitterSieben Frankfurt | 18 Grad | BewölktAcht Frankfurt | 18 Grad | BewölktNeun Schönefeld | 25 Grad | WolkenlosZehn Schönefeld | 25 Grad | WolkenlosElf Schönefeld | 25 Grad | WolkenlosZwölf Berlin | 22 Grad | NieselregenDreizehn Berlin | 22 Grad | NieselregenVierzehn Potsdam | 21 Grad | BewölktFünfzehn Berlin | 22 Grad | NieselregenSechzehn Berlin | 22 Grad | NieselregenZweiter Teil GoldEins Berlin | 22 Grad | NieselregenZwei Berlin | 22 Grad | NieselregenDrei Berlin | 22 Grad | NieselregenVier Berlin | 22 Grad | NieselregenFünf Berlin | 22 Grad | NieselregenSechs Berlin | 16 Grad | RegenSieben Hessen | 29 Grad | SonnenscheinAcht Rheinland-Pfalz | 22 Grad | NieselregenNeun Grenzübergang Schaffhausen | 22 GradZehn Grüne Grenze | 22 Grad | OstwindElf Zürich | 26 Grad | GewitterDritter Teil MaybeEins Zürich | 22 Grad | SonnenscheinZwei Wald | 22 Grad | SonnenscheinDrei Wald | 22 Grad | SonnenscheinVier Wald | 22 Grad | BewölktFünf Wald | 22 Grad | BewölktSechs Wald | 22 Grad | BewölktSieben Chalet | 22 Grad | NachtsAcht Chalet | 22 Grad | NachtsNeun Chalet | 22 Grad | NachtsZehn Chalet | 22 Grad | NachtDanksagung

Das, worauf es im Leben ankommt, können wir nicht voraussehen.

Antoine de Saint-Exupéry | Der kleine Prinz

Erster TeilInseln

Prolog

Es war nicht leicht gewesen, unbemerkt auf die Insel zu kommen. Je reicher die Menschen waren, die Kayan töten sollte, desto mehr ließen sie sich einfallen, um ihre Privatsphäre und somit auch ihr Leben zu schützen. Der Plan musste perfekt sein. Jedes Mal. Doch genau das gefiel Kayan an seinem Job, dass man dafür Grips und Talent brauchte; ja, zum Töten brauchte man Talent, auch wenn keiner das wahrhaben wollte. Selbstverständlich wusste seine Familie nicht, womit er sein Geld verdiente. Geschickt hatte er sich eine zweite Identität aufgebaut. Eine Beraterfirma, die ab und zu Gewinn abwarf. Nichts Auffälliges. Sogar ein hübsches Büro hatte er dafür angemietet. Die Tarnung musste perfekt sein, für sein Leben im Leben, wie er es vor langer Zeit getauft hatte.

Er zündete sich ein Zigarillo an und behielt die Villa im Blick. In wenigen Minuten würde im Arbeitszimmer das Licht angehen, dann hatte er seinen Auftritt. Menschliches Handeln war vorhersehbar und das Ende eine schnelle Sache. Kayan wollte nicht quälen, er wollte töten, den Schalter ausknipsen, bevor die Zielperson begriff, was Sache war. Bei einem Kopfschuss stirbt der Mensch im Bruchteil einer Sekunde, das hatte er in einem Thriller gelesen. Er hoffte, dass hinter diesem Detail mehr Wahrheit steckte als hinter dem dämlichen Rest, den die Schreiberlinge dieser Welt wie Manna unters Volk streuten. Wie üblich hatte er das weitläufige Grundstück über Satellit ausgespäht, einen Grundriss angefertigt und die wichtigsten Daten auswendig gelernt. Er kannte das Fabrikat der Alarmanlage und er wusste, dass man erst vor wenigen Tagen ein unausgereiftes Software-Update aufgespielt hatte. Das genügte. Überwachungskameras, Geräuschsensoren, Drohnen. Sogar für ein paar Stunden einen Satelliten anzumieten, war für Kayan zur Routine geworden. Kaum ein Winkel der Erde war noch geschützt vor fremden Blicken, und jeder Mensch hinterließ Spuren. Wer diese Spuren lesen und miteinander verknüpfen konnte, war ein gemachter Mann. Nicht nur, wenn man wie er dafür tötete.

Dieses Mal war der Auftrag sehr umfangreich gewesen. Deshalb hatte Kayan die Recherchearbeit abgegeben. Outsourcing nannten das wohl richtige Manager. Zehntausend Dollar hatte ihn der Datensatz dieses Mannes gekostet. Inklusive aller Telefonnummern, Kontoverbindungen, Mailadressen und was es sonst noch in den Netzwerken zu finden gab. Kein billiges Vergnügen. Aber Qualität hatte ihren Preis; und das Doppelte würde er seinem Auftrag­geber später für die Vorarbeit in Rechnung stellen.

Kayan lehnte sich gegen die Wand des Geräteschuppens. Vielleicht würde er hier draußen sogar das Läuten des Telefons hören, obwohl das Zirpen der Grillen sehr laut war. Unangenehm laut. Wenigstens regnete es nicht. Bei Regen hasste Kayan seinen Job. Obwohl die feuchtwarme Hitze fast denselben Effekt hatte.

Er zog sein Handy aus der Tasche. Der Empfang war okay. Er hatte die Beleuchtung so weit gedämpft, dass der Busch vor ihm nicht wie ein Weihnachtsbaum aufleuchtete. Dennoch dauerte es keine zwei Sekunden, bis ein Heer von Insekten summend um das Display kreiste. Er versuchte behutsam, sie wegzupusten.

Seine rechte Hand glitt in die Innentasche seiner Jacke und befühlte den Schalldämpfer seiner Ceska 83. Die Pistole hatte schon etliche Jahre auf dem Buckel. Eigentlich gehörte sie ins Museum. Aber sie arbeitete noch immer zuverlässig. In dem Fall konnte die moderne Technik nicht mithalten. Elektronik in Handfeuerwaffen war immer ein Risiko, das hatte er am eigenen Leib erfahren.

Er wählte die vierzehnstellige Telefonnummer und horchte in die Dunkelheit. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das Klingeln, er konnte es tatsächlich hören.

EinsHongkong | 23 Grad | Bedeckt

Das Klingeln war unangenehm laut und schrill. Vincent Pinaz saß vor dem Mahagonischreibtisch in seinem Arbeitszimmer und zuckte zusammen. Er hatte den plärrenden Klingelton noch nicht oft gehört und er hasste ihn. Als »selbsterklärend« hatte der Techniker die Telefonanlage angepriesen. Lächerlich. Um diesen Apparat zu bedienen, brauchte man nicht weniger als ein Diplom. Das Display zeigte flackernde Ziffern, aber keinen der abgespeicherten Namen. Wahrscheinlich war das Ding jetzt schon kaputt. Natürlich war es das. Damit verdienten die Hersteller ja ihr Geld. Mit Serviceleistungen, die man nur deshalb in Anspruch nahm, weil die Geräte nach kürzester Zeit ein undurchsichtiges Eigenleben entwickelten. Vincent schloss die Augen und atmete tief ein. Funktionier schon, du blöde Maschine! Als er die Augen wieder öffnete, spielte das Display immer noch verrückt und das erhoffte Wunder blieb aus. Es gab keinen Anrufbeantworter, auf den man hätte sprechen können. So viel zum Thema Fortschritt. Ein Anrufbeantworter sei zu gefährlich, hatte der Techniker gesagt und etwas von einem Trojaner gefaselt, der jede Silbe aufzeichnete, sobald er das System infiziert hatte. Nur Anrufer, die von der Software erkannt wurden, durften eine Nachricht hinterlassen. Die anderen flogen aus der Leitung, sollte Vincent nicht spätestens nach dem fünften Klingeln rangehen. Was er nicht tat. Das Klingeln hörte auf. Der Alarm in seinem Kopf verschwand und die Stille kehrte ins Haus zurück. Nur das Brummen des Aquariums war noch zu hören.

Vincent wandte sich dem leeren Blatt zu, das vor ihm lag. In einer Zeit, in der ein Großteil der Menschheit über Netzwerke kommunizierte, kam er sich beim Anblick des dicken elfenbeinfarbenen Papiers wie ein alter Narr vor. Er wollte einen Brief schreiben und hatte sich für den schwarzen Montblanc-Füller entschieden, mit dem er für gewöhnlich wichtige Verträge unterzeichnete, doch jetzt, da er zum ersten Wort ansetzte, begriff er, dass seine Wahl falsch gewesen war. Schließlich war dieser Brief an Samuel, seinen einzigen Sohn, gerichtet und nicht an einen x-beliebigen Geschäftspartner. Es ging nicht um Geld, nicht darum, Risiken zu minimieren, Gewinne zu steigern und die Kunden mit blühenden Zukunftsvisionen bei Laune zu halten. Es ging um ein Stück Wahrheit und es ging um … Er unterbrach sich. Er wollte das Wort nicht einmal denken. Es lag ihm auf der Zunge. Am liebsten hätte er es ausgespuckt, um es loszuwerden und für immer aus seinem Wortschatz zu verbannen. Seine Hände zitterten.

»Stell dich nicht so an«, ermahnte er sich flüsternd. »Das ist kein Abschied, du alter Trottel.«

Die Lincoln-Stretchlimousine schlängelte sich vom Peak hinunter in den Großstadtschlund von Hongkong Island. Bereit dazu, geschluckt zu werden, unterzutauchen im blinkenden Neonlichtermeer, das jeden willkommen hieß, der dafür bezahlen konnte.

Das Knistern und Knacken der Eiswürfel im Wodkaglas mischte sich mit dem Sound einer mittelmäßig begabten Indie-Pop-Band namens Circle Division[1], die es als Zombie-Marionetten in die hiesigen Hitlisten geschafft hatte. Samuel Pinaz gähnte und drehte den Lautsprecher des Entertainmentsystems lauter. Er schenkte dem Lichtspiel der Megastadt und den Menschen, die sie wie Fischrogen zu gebären schien, keine Beachtung. Nicht mehr. Er hatte sich daran gewöhnt, wie man sich an alles gewöhnt, was man zu oft sieht. Der Geist stumpft ab. Die Augen melden dem Gehirn, dass es nichts Neues zu entdecken gibt, und schalten auf Stand-by. Samuel schmunzelte. Er dachte an eine Geschichte, die ihm seine Mutter erzählt hatte, als er noch ein kleines Kind war. »Die Erde dreht sich nur, solange die Menschen, die darauf gehen, dieselbe Richtung einschlagen. Sonst gäbe es weder Tag und Nacht noch Sommer und Winter, Glück und Freiheit.« Das hatte sie gesagt, als sie die ersten beiden Jahre in Peking verbrachten und Samuel mit dem militärischen Drill an der Schule nicht klargekommen war. Ein merkwürdiger Satz, den er bis heute nicht richtig verstanden hatte. Die beruhigende Wirkung, die diese Worte damals hätten haben sollen, war nutzlos verpufft. Und jetzt, in Anbetracht der dunklen Gestalten, die mit gehetztem Blick kreuz und quer durch die Straßen eilten, um sich von Rolltreppen und Fahrstühlen an ihren Bestimmungsort bringen zu lassen, kam der Satz ihm einfach nur falsch vor. Jeder hatte sein eigenes Ziel, jeder seinen eigenen Plan, wohin die Reise ging. Wieso sollte sein Glück von dem der anderen abhängen? Wieso die Freiheit? Sobald er in London war, würde er seine Mutter mit ihrer Weisheit konfrontieren. Sie liebte es zu diskutieren. Sie liebte es, alles und jeden zu hinterfragen.

Hongkong war anders als Peking. Nicht so dreckig, nicht so laut, nicht so überfüllt, aber auch irgendwie langweilig, unecht und geradlinig. Eine Kulisse, die sich nicht darum scherte, wer sie für seine Zwecke missbrauchte. Nach vier Jahren gab es kaum noch etwas, das Samuel an der Perle des Orients, wie es unpassenderweise in jedem Reiseführer stand, erstaunte. Selbst an die schwüle Hitze hatte er sich gewöhnt. Nur den Geruch nach Abwasser, Fisch und menschlichen Ausdünstungen, den konnte er nicht ausblenden. Dieser Geruch fraß sich durch jeden Filter, saugte sich an Kleidungsstücken fest und verstopfte die Poren der Haut, die sich mit Pusteln und Ekzemen dagegen wehrte. Bei Smog musste man sich die dünne Staub- und Dreckschicht zweimal am Tag vom Leib schrubben. Früher oder später fand man sich trotzdem in der Queen’s Road wieder, um sich einer kostspieligen Laserbehandlung zu unterziehen. Nur bei Starkregen roch die Luft nicht nach Essen und Abgasen. Doch sobald man einen Tropfen in dem Mund bekam, explodierten die widerlichen Ausscheidungen der Millionenmetropole auf der Zunge und man musste unwillkürlich würgen.

Der Beat wurde lauter. Samuel trank zwei Tequila-Shots und fühlte sich besser, erleichtert, zuversichtlicher. Morgen, nein jetzt, korrigierte er sich in Gedanken, beginnt dein neues Leben.

»Das musst du aufnehmen!«, rief er über die Musik hinweg. Er hatte sich eine dicke Cohiba angesteckt und versuchte nun, möglichst cool an der Zigarre zu ziehen. Insgeheim fühlte er sich jedoch mehr wie ein Kind, das noch am Rockzipfel seiner Mutter hing, und nicht wie die käferartigen Geschäftsmänner, die er imitieren wollte. »Los, mach schon«, sagte er paffend und ungeduldig.

»Ich nehm aber nicht alles auf, was du heute Nacht noch treibst.« Widerwillig zog der schwarzhaarige Junge gegenüber sein Handy heraus. Samuel setzte sich breitbeinig hin und machte ein grimmiges Gesicht. Für einen kurzen Moment wurde ihm die Lächerlichkeit seines Auftritts bewusst. Sein Vater, Vince, mit einem scharfen, zischelnden S, wie er ihn im Streit immer nannte, würde ihn hassen, wenn er ihn so sehen könnte. Mit Geld anzugeben war etwas, das er zutiefst verabscheute. Genau wie überflüssigen Kommerz und überteuertes Essen, wobei unter diese Ru­brik so ziemlich jedes Essen fiel, das es nicht für ein paar Dollar an der Garküche um die Ecke zu kaufen gab.

 

Aus dem Augenwinkel bemerkte Vincent, wie sich der Vorhang aufbauschte, aber der Luftzug brachte kaum Abkühlung. Mit einem tiefen Seufzer kommentierte er das Quietschen der Terrassentür. Wie oft musste er Emilia denn noch erklären, dass es auf der Insel genügend Tiere gab, die nur auf so eine Gelegenheit warteten? Die Wildhüter kamen ja kaum noch hinterher, ungebetene Besucher von der Siedlung fernzuhalten. Vincent wollte mal Emilias Gesicht sehen, wenn sie beim Kochen von einer Fünf-Meter-Python überrascht wurde. Sie bekam ja schon Panik, wenn eine harmlose Spinne ihren Weg kreuzte.

»Der Kater«, würde sie morgen antworten, wenn er sie auf die Tür ansprach. Immer der alte Kater. Gut, ermahnte er sich. Ganz unrecht hatte sie ja nicht. Seit ein paar Wochen hatte Badawi aus irgendeinem Grund Schwierigkeiten, den elektronischen Mechanismus für die Katzenklappe zu betätigen, aber deshalb die Tür offen zu lassen, war auch keine Lösung.

Ein Schatten, groß wie ein Tiger, huschte über den zitternden Vorhangstoff und blieb stehen. »Die Tür ist offen«, wollte Vincent schon rufen, ließ es aber sein. Wahrscheinlich wäre es das Beste, Badawi nachts im Haus zu behalten. Die Zeiten, in denen er noch auf Beutejagd ging, waren ohnehin vorbei.

Vincent drückte einen Schalter. Der Strahler auf der Veranda war mit einem Infrarotsensor gekoppelt. Jetzt war er deaktiviert, das Licht erlosch und mit ihm verschwand auch der Schatten. Ein Schleifen, ein Tapsen, dann hörte man, wie der Vorhang über die Dielen strich. Badawi schlich träge herein. Er humpelte um den Schreibtisch herum und hob den buschigen Kopf. Aus trüben Katzenaugen starrte er Vincent an. Dämlich, aber auch irgendwie vorwurfsvoll, gerade so, als wollte er Vincent zu verstehen geben, dass sein Verhalten lächerlich war. Es war das eines sechzigjährigen Mannes, der nicht damit klarkam, dass der Sohn die Ratschläge seines ach so weisen Vaters in den Wind schlug. Badawi ließ sich auf dem Teppich vor dem Sekretär nieder, rollte sich zusammen und schlief im selben Moment ein. Vincent lächelte schwach. »Du hast es gut. Musstest nie Entscheidungen treffen. Tage kommen und gehen, und dir ist es vermutlich scheißegal.«

Scheißegal. Vincent musste schmunzeln. Wann hatte er dieses Wort das letzte Mal gehört, geschweige denn gesagt? Es musste ewig her sein. Vielleicht in seiner Jugend. Als seine Adoptiveltern unbedingt wollten, dass er auf ein Konservatorium ging, um Konzertpianist zu werden. Rebelliert hatte er, war tagelang ziellos durch München gestreunt, nur um seinen Willen durchzusetzen und mit dem Rucksack ans andere Ende der Welt zu reisen. Hatte er das schon wieder vergessen? Ging es ihm wie den meisten Eltern, die irgendwann vergaßen, selbst einmal jung gewesen zu sein? War aus ihm ein alter engstirniger Kotzbrocken geworden? Hatte er vor lauter Zahlen-Hin-und-Herschieberei den Anschluss an die Wirklichkeit verpasst?

Erneut setzte er den Füllhalter an. Er hatte den Eindruck, eine Unregelmäßigkeit im Zirpen der Grillen zu erkennen. Als hätten sie sich darauf verständigt, kurz innezuhalten. Lass dich ruhig ablenken, ermahnte er sich selbst und versuchte, mit dem ersten Satz zu beginnen, aber der erste Satz kam nicht. Eigentlich sollte der Brief ein Glückwunschschreiben für Samuel werden. Zum bestandenen Abitur. Aber nach allem, was die letzten Monate vorgefallen war, nach den vielen Streitereien, den ständigen Meinungsverschiedenheiten, den unausgesprochenen Vorwürfen, die in der Luft hingen wie der zähe Smog über der Stadt, wäre es gelogen, so zu tun, als sei alles in Ordnung. Und Lügen gehörten nicht in sein Privatleben.

Badawi fing an zu schnurren. Wahrscheinlich spürte der Kater, dass Vincent wütend wurde. Auf sich selbst. Auf seine Unfähigkeit, ein guter Vater zu sein. Durch das gekippte Fenster drang das Rascheln der Blätter, dann ein Knacken. Welches Tier hatte sich dieses Mal in den Garten verirrt? Er stand auf, schob den geblähten Vorhang zur Seite und trat hinaus auf die Veranda, wo er sich eine Zigarette ansteckte. Dann spähte er in die Dunkelheit. Das Licht vom Arbeitszimmer flirrte über dem dicken Gras. Nichts. Vielleicht hatte sich der ungebetene Gast im Schatten des Geräteschuppens versteckt. Nachher würde Vincent den Sensor wieder einschalten. Zumindest die größeren Tiere ließen sich vom harten Flutlicht abschrecken.

 

»Nimm den Wodka«, sagte der schwarzhaarige Junge, als sie vor einer Ampel anhielten. Samuel griff nach der Flasche Grey Goose, schraubte den Verschluss ab und prostete damit in die Kamera. Der Wagen fuhr an. Samuel schlug mit den Zähnen gegen die Flaschenöffnung. »Scheiße!« Er rieb sich mit dem Handrücken über den Mund. Sein Kumpel pochte gegen die Trennscheibe. Am Steuer saß ein gedrungener Mann mit Mütze, Anzug und zerschlissenen Radfahrer-Handschuhen.

»Hey, kannst du vielleicht ein bisschen sanfter abbremsen!«, blaffte der Junge in holprigem Mandarin. Die Musik blendete aus. Der Chauffeur drehte sich um und entschuldigte sich auf Kantonesisch. Mit dem linken Arm versuchte er, den Bildschirm in der Mittelkonsole zu verdecken, über den gerade der Abspann einer Telenovela flimmerte. »Wegen diesem Soap-Müll bringt der uns beinahe um«, sagte der Junge. Samuel legte die Zigarre in den Aschenbecher und wischte sich den Mund ab. Er kontrollierte seine Zähne im beleuchteten Spiegel. Sie sahen makellos aus. Genau wie das leicht gebräunte Gesicht und die großen graublauen Augen. Die hatte ihm seine Mutter vererbt. Er versuchte, den Gedanken an den Streit mit seinem Vater zu verdrängen. Wieso hatte er immer ein schlechtes Gewissen, wenn er sich mit ihm gestritten hatte? Es war wirklich das Beste, von hier wegzuziehen. Er trank einen Schluck Wodka. »Nimm den Leuten ihre beknackten Telenovelas und sie gehen drauf.«

Der Wagen bremste sanft ab. Der Fahrer stieg aus. Die Seitentüren öffneten sich. Zwei Beinpaare, die in eleganten High Heels verschwanden, schoben sich vor die Beleuchtung eines Schnellimbisses. Zwanzig Kilometer südlich, in Shenzhen, hätten die zierlichen Figuren der beiden Mädchen wahrscheinlich zu minderjährigen Konkubinen gehört, doch an diesem Abend trugen sie die hübschen Gesichter von Kata und Su. Samuel fand sie beide attraktiv. Die langen blonden Haare von Kata und ihr blasses Gesicht fielen selbst in Hongkong auf. Sie wirkte wie die Elfe aus einem Fantasyroman. Lieben, richtig lieben, konnte er sie trotzdem nicht. Irgendetwas fehlte. Eine Eigenschaft, die er nicht benennen konnte. Äußerlich jedenfalls gab es nichts auszusetzen. Sie waren ein Paar geworden. Einfach so, nach einer Party. Sie hatten sich geküsst und von überallher konnte man das Flüstern hören: »Die passen so gut zusammen. Die sind so ein hübsches Paar.«

Samuel nahm Katas Hand, als sie neben ihm auf den Sitz glitt. Sie gab ihm einen Kuss. Er schmeckte den Champagner auf ihren Lippen. So hatte er sich seine erste Liebe nicht vorgestellt. Aber vielleicht war die Liebe, die große Liebe, wie sie in kitschigen Filmen gezeigt wurde, auch nur eine Illusion.

»Hey, was ist mit dir?«, fragte Kata und wich zurück.

»Sorry.« Samuels Lächeln wirkte aufgesetzt. »War nur in Gedanken.«

»Eine andere Frau?« Sie kniff die Augen zusammen.

»Quatsch.« Er zog sie heran, küsste sie lange und zärtlich, bis das Rattern einer kaputten Snaredrum den nächsten Song ankündigte. Zwar mochte Samuel den Hype nicht, den man um die Band mit den Marionetten machte, aber der Sound war außergewöhnlich. Er transportierte eine Mischung aus Melancholie und Zuversicht. Verstimmte Klaviermelodien verbanden sich mit mehrstimmigem Gesang. Das Schlagzeug klapperte, als hätte man es irgendwo in einem Keller aufgenommen. Manche Stücke dauerten acht, neun Minuten. Eigentlich zu lange für das Radioprogramm, aber die Sender hatten sich dem Willen der wachsenden Fangemeinde gebeugt.

In times of change

You’re forced to swim

In times of love

You’re forced to sing

In times of hate

Catch up with friends

That’s all, that’s all

That’s all, that’s all

»Jetzt ist aber gut.« Samuels Freund schnalzte mit der Zunge. Das Smartphone in seiner Hand leuchtete auf. Auf dem Display erschienen grellweiße Gestalten, eine wogende Meute, die zu Psychedelic-Jazz-House in die Luft sprang. »Die andern sind im Soho’s. Sieht cool aus. Ha­ben uns den Code geschickt. Ich streck euch die Kohle für den Check-in vor.« Er tippte auf das Display. Sein Fingerabdruck wurde gescannt und der abgebuchte Betrag in Dollar angezeigt. »Der Club hat heut Abend sogar Wasserbetten.« Er hielt Samuel die Hand hin. »Das haben wir uns verdient.«

»Ja, das haben wir uns verdient.«

In Hongkong war es normal, dass die Clubs regelmäßig ihre Location wechselten. Manchmal für eine Woche, manchmal auch nur für eine Nacht. Dann war es besonders schwer reinzukommen. Ohne Einladung war man ­ohnehin aufgeschmissen. Je schäbiger die Orte waren, an denen die Partys stattfanden, desto mehr mussten die Kunden dafür bezahlen. Hinter baufälligen Fassaden öffnete sich eine Glamourwelt, in der sich die Reichen und Schönen auf bizarre Weise am dauerhaften Wandel, dem ständigen Zerfall und Wiederaufbau Hongkongs, ergötzten. Die kaputte, düstere Seite der Stadt wirkte wie ein Magnet auf den internationalen Geldadel, der ansonsten in abgesicherten Ghettos mit All-inclusive-Service den Feierabend verbrachte. Schon der Weg zum Event war ein Abenteuer. Die Geisterbahn öffnete sich und manchmal kam es tatsächlich vor, dass ein Ungeheuer aus der Finsternis hervorstürzte und mit vorgehaltener Waffe Wegzoll verlangte. Seltsamerweise wurde nur selten geschossen. Die Fahrer der Limousinen waren dazu angehalten, mit wehenden Scheinen auszusteigen. Ein Bündel davon bekamen sie vor jedem Einsatz zugesteckt. Somit waren die Überfälle keine richtigen Überfälle, sondern Teil des Spiels.

Der schwarzhaarige Junge klopfte gegen die Trennscheibe und hielt sein Handy dagegen. Der neue Bestimmungsort flackerte in chinesischen Schriftzeichen auf. Der Fahrer nickte und bog bei der nächsten Kreuzung ab. Auf der linken Seite, zwischen einer gigantischen Leuchtreklame von Esprit und einer kantigen Skulptur, die sich dem Nachthimmel entgegenstreckte, tauchte das Hochhaus von HSBC auf. Neben Rolltreppen und Betonpfeilern campierten seit Monaten die Gegner der Großbank. Zelte, Plakate, ein Altar mit rußenden Kerzen und Plastikblumen. Zwei Demonstranten hatten sich mit Benzin übergossen und angezündet. Es war zu Krawallen gekommen. Die Ordnung der Stadt war kurz aus den Fugen geraten, doch jetzt war alles wieder unter Kontrolle.

»Schaut euch diese Idioten an«, sagte der Junge. »Haben die immer noch nicht genug?«

Ein Polizist winkte die Limousine durch die Absperrung. Samuels Handy läutete. Derselbe kratzende Klingelton wie im Arbeitszimmer seines Vaters. Er hatte ihn aufgenommen und abgespeichert. Nicht etwa, weil er ihn mochte, sondern weil er sich von der Masse an gleich klingenden Klingeltönen unterschied. Kata hielt sich die Ohren zu und jammerte: »Geh ran!«

Samuel grinste und ließ seinen Daumen provozierend lange über dem Display kreisen, bevor er den Anruf entgegennahm. Die Stimme seiner Mutter drang in bester Qualität durch die Leitung. Bis nach London waren es knapp zehntausend Kilometer, doch die digitale Verbindung ließ diese Entfernung auf wenige Zentimeter schrumpfen. »Eure Telefonanlage spinnt schon wieder«, sagte seine Mutter genervt.

»Oder Papa hat wieder daran rumgespielt. Der Techniker ist ja schon bald jede Woche bei uns, weil er irgendwo draufdrückt.« Samuel machte seinem Freund Zeichen, die Musik auszumachen. Der Wagen bog in eine enge, schmucklose Seitenstraße und von dort aus in eine noch engere Gasse, die dem Fahrer höchste Konzentration abverlangte. Hochhäuser mit klimatisierten Einzimmerapart­ments stachen neben ihnen in die tief hängenden Wolken. Durch die verdunkelten Scheiben der Limousine blickte Samuel in die Gesichter zweier Männer, die festgemeißelt wie Bronzestatuen vor einem halb zerfallenen Eingang standen. Ein Tourist wäre niemals auf die Idee gekommen, dass es hier zum neuesten Club der Stadt ging. Ein Feng-Shui-Meister hätte sich mit Sicherheit die Haare gerauft. Weder Geld noch Energie konnten hier zwischen Mülltonnen, Kartons und ausgemusterten Bürostühlen fließen.

»Du hast bei Papa angerufen?«, fragte Samuel verwundert. Die Seitentüren wurden aufgezogen. Fischgestank wehte herein. Ein großer Regenschirm verdeckte den Blick nach oben. Das Prasseln der Tropfen übertönte das Surren unzähliger Klimaanlagen. Samuel stieg als Letzter aus. Seine Schuhe klatschten in eine ölig schimmernde Pfütze und hinterließen keine Spur. Die beiden »Statuen« behielten ihre versteinerte Miene bei. Offensichtlich sollte man sich vor ihnen fürchten. Einer von ihnen zog einen Scanner aus der Innenseite seines Mantels. Vielleicht war es auch ein Elektroschocker. Manchmal verirrten sich Leute vor die Clubs, die sich die Adresse über teure Zwischenhändler besorgt hatten und nun auf die Bestechlichkeit des Sicherheitspersonals hofften. Ungebetene Gäste jedoch konnten froh sein, wenn sie ohne größere Blessuren davonkamen. Die Angst vor Überfällen oder gar Anschlägen war sehr groß. Deshalb musste man sich vorab registrieren. Perfektes Sicherheitsmanagement war das Aushängeschild der besten Clubs.

»Kommst du?«, fragte Kata.

Samuel hielt die Hand vor das Mikro. »Geht schon mal vor.« Er wandte sich erneut seiner Mutter zu. »Papa hat schon wieder versucht, mich davon abzuhalten, nach Deutschland zu fliegen. Er meint, ich soll warten, bis sich die Lage beruhigt hat. Wenn du mich fragst, ist das nur vorgeschoben. Er will einfach nicht kapieren, dass ich keine Lust mehr auf Hongkong hab.«

»Hat er sich wenigstens bei deiner Abschlussfeier blicken lassen?«

»Er kann doch die abgehobenen Leute nicht ausstehen.«

»Dazu sage ich jetzt mal nichts«, sagte sie, begleitet von einem tiefen Seufzer. »Ich bin froh, dass du das so locker nimmst. Schließlich war es dein großer Tag.« Sie machte eine Pause. Früher hatte sie seinem Vater hin und wieder den Kopf gewaschen, wenn er seine »asoziale« Seite herausgekehrt hatte und sich lieber zum Musikhören in seine Bibliothek verzog. Seit sie nicht mehr da war, verbrachte er dort jede freie Minute. »Tut mir leid, dass ich nicht dabei sein konnte«, sagte sie wehmütig. »Aber die Regeln für Sonderurlaube sind hier an der Uni abnormal streng.«

»Schon gut. Die vielen Reden über unsere blühende Zukunft hätten dir eh nicht gefallen.«

»Sollen wir auf Video umschalten?«

»Besser nicht.«

»Wo treibst du dich wieder rum?«

»Ist doch der letzte Abend.«

»Na gut.« Seine Mutter machte eine Pause. Sie hatte schon immer mehr Verständnis für ihn gehabt als sein Vater. Vielleicht lag es am Altersunterschied, schließlich war sie elf Jahre jünger. Vielleicht war das auch der Grund gewesen, weshalb sich seine Eltern getrennt hatten. Wäre Samuel damals nach London mitgekommen, hätte sein Vater bestimmt auch die Koffer gepackt. Aber er konnte nicht fortgehen. Nicht ohne Emilia, nicht ohne seine Nanny. Sie war immer für ihn da gewesen, hatte ihn getröstet, wenn seine Eltern unterwegs waren, und ihm vorgelesen, wenn er nicht schlafen wollte. Erst jetzt war er bereit zu diesem Schritt. Doch allein bei dem Gedanken, sich morgen von Emilia verabschieden zu müssen, wurde ihm übel.

Durch den Hörer drang die nölende Stimme eines Kindes. Samuel lächelte. Seine fünfjährige Stiefschwester hieß Mira. Wegen seiner bescheuerten Flugangst hatte er sie bisher nur über Skype gesehen. Für den morgigen Flug hatte er sich von Dr. Chen extra Beruhigungsmittel verschreiben lassen und sogar fünf Stunden auf der Couch eines seltsamen Psychologen verbracht, der ihm seine Angst mit getrockneten Echseneiern, Hypnose und anderem Hokuspokus austreiben wollte.

»Bei uns haben sie gestern die halbe Stadt wegen einer Bombendrohung abgeriegelt. Angeblich von aufgebrachten Jugendlichen. An jeder Ecke stehen Polizisten und kontrollieren willkürlich Passanten«, sagte seine Mutter ernst. »Neulich haben Studenten die Hörsäle besetzt und den Dekan in seinem Büro eingeschlossen. Wenn du immer noch mit dem Gedanken spielst, hier zu studieren, solltest du vielleicht bis zum Bachelor an eine Privatuni gehen.«

»Aber …«, setzte Samuel an.

»Das willst du nicht, ich weiß«, unterbrach ihn seine Mutter seufzend. »Aber in öffentlichen Einrichtungen sparen sie an allen Ecken und Enden. Gibt nicht mal mehr genügend Bücher in den Bibliotheken. Und wenn sich diese Chaoten bei den Wahlen durchsetzen, will ich mir gar nicht ausmalen, wie das alles weitergeht. Mach dich am Flughafen auf lange Wartezeiten gefasst. Sie haben Angst vor weiteren Terroranschlägen. Und vergiss auf keinen Fall das Visum, sonst lassen sie dich nicht rein.«

»Hab ich schon eingepackt.«

»Wie ist es denn bei euch?«

»Hat sich alles wieder beruhigt. Papa glaubt nicht, dass Hongkong seinen Sonderstatus verlieren wird. Sonst würden die Investoren abziehen.«

»Vielleicht redet er sich das auch schön. Hier in den Nachrichten behaupten sie genau das Gegenteil. Und wie sieht’s in der Bay aus?«

»Alles beim Alten. Ist nur mehr Polizei unterwegs und es gibt neue Sicherheitsschleusen, weil neulich bei den Spencers eingebrochen wurde.«

»Ist ihnen was passiert?«, fragte seine Mutter erschrocken.

»Nein. Sie waren Golf spielen.«

»Auch noch bei Tag? Die schrecken wirklich vor nichts mehr zurück.«

Sogar der tiefe Seufzer seiner Mutter klang, als würde sie direkt vor ihm stehen. »Du musst deinen Vater verstehen. Er hat Angst, dich zu verlieren. Deshalb verhält er sich so bescheuert. Wahrscheinlich denkt er, dass du wegen ihm die Insel verlassen willst.«

»So ganz falsch wäre das ja nicht.«

»Er liebt dich. Aber er gehört eben nicht zu den Menschen, die das zeigen können. Das hat er nicht gelernt.« Mit diesem Satz hatte seine Mutter schon früher das merkwürdige Verhalten seines Vaters entschuldigt. Er ging nicht zu Elternabenden, kommentierte keine Schulnoten und spornte ihn auch sonst nicht dazu an, in irgendeinem Fach der Beste zu sein. Nur wenn Samuel am Flügel im Wohnzimmer saß und vor sich hin klimperte, leuchteten seine Augen, als sei irgendwo ein Wunder geschehen.

»Die ganze Zeit liegt er mir mit irgendwelchen fadenscheinigen Geschichten in den Ohren. Er hat mir sogar angeboten, ein Praktikum bei einem seiner Künstlerfreunde zu machen, um mich davon abzubringen, BWL zu studieren. Aber ich will das nicht.«

»Lass ihm Zeit. Bei dem Thema hat er seine eigene Sicht. Das ist schwer zu verstehen.«

»Du nimmst ihn in Schutz? Das ist ja mal was Neues.«

»Er macht sich Vorwürfe, weil er die letzten Jahre immer so viel unterwegs war. Jetzt fürchtet er sich davor, einsam zu sein. Apropos Einsamkeit. Hat er sich noch mal mit dieser Carla getroffen?«

»Fehlanzeige.«

Kata stand vor dem geöffneten Tor und signalisierte ihm ungeduldig, endlich zu kommen.

»Mama.« Jedes Mal, wenn er dieses Wort benutzte, fühlte er sich in der Zeit zurückversetzt. Vor seinem inneren Auge sah er einen kleinen Jungen, der quengelnd neben seiner Mutter stand und an die Hand genommen werden wollte. »Muss jetzt. Sorry.«

»Dann bis nächste Woche. Ich freue mich. Und wenn irgendetwas sein sollte, dann melde dich.« Sie flüsterte etwas Unverständliches neben den Hörer. »Da will noch jemand Hallo sagen.« Ein Rascheln. Mira war dran. Samuel musste schmunzeln. Die Stimme seiner Stiefschwester hörte sich an, als würde sie jeden Tag eine Schachtel Zigaretten rauchen.

»Bringst du mir ein Geschenk mit?«, fragte sie aufgeregt.

»Was wünschst du dir denn?«

»Einen Schmetterling. So einen mit Punkten, den man wie einen Drachen fliegen lassen kann. Aus ganz dünnem Papier.«

»Okay«, sagte Samuel lächelnd. »Mit Punkten. Aus ganz dünnem Papier. Ist notiert. Rot oder gelb?«

»Egal.«

Erneut das Rascheln. Seine Mutter übernahm wieder. »Richte Vincent liebe Grüße aus. Und sag ihm, dass auch er jederzeit bei uns willkommen ist. Ich weiß ohnehin nicht, was ihn in Hongkong hält, wenn du weg bist. Er könnte doch von überall aus arbeiten. Dazu müsste er nicht auf dieser Insel leben.«

 

Kayan näherte sich dem Haus von der Rückseite. Der klobige Bau hatte bestimmt Millionen gekostet. Die dunkle Betonfassade wirkte abstoßend, menschenfeindlich und kalt. Diese Leute bauten sich ihr eigenes Gefängnis, um sich zu schützen. Idiotisch. Vor der Doppelgarage stand keine protzige Luxuskarosse, sondern ein aufpolierter Golfwagen mit Sonnendach. Im Internet hatte er gelesen, dass die Preise für solche Elektroautos nach Lieferengpässen in astronomische Höhen geklettert waren. Reiche Menschen leisteten sich saubere Luft und saubere Autos, sie starben später und gaben diese Privilegien an ihre Kinder weiter. Aber warum regte er sich darüber auf? Auch seine Kinder mussten sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen. Er hatte vorgesorgt. Sie sollten später einmal studieren und einen ordentlichen Beruf ergreifen. Arzt, Anwalt oder Journalist, etwas in der Art geisterte ihm durch den Kopf. Eine bürgerliche Existenz, die Respekt und ein passables Auskommen garantierte. Deshalb schickte er seine Tochter auf eine renommierte Privatschule. Auch sein Sohn würde später dorthin gehen. Eine lohnende Investition, wie Kayan fand. Trotzdem sollten seine Kinder früh lernen, was es heißt, für Geld zu arbeiten. Überheblichkeit gegenüber Menschen, die am unteren Ende der Nahrungskette standen, würde er nicht dulden.

Zum Glück leisteten sich nur wenige Reiche eigenes Sicherheitspersonal. Sie glaubten an teure Überwachungssysteme, den Notfallknopf am Handgelenk und den Panic Room neben dem Schlafzimmer. Aber Technik konnte man immer auch manipulieren.

Das Handy in seiner Hosentasche vibrierte. Er sog lautstark Luft durch die Vorderzähne. Mist! Er hatte vergessen, Amélie eine SMS zu schreiben, dass er gut angekommen war. Seine sechsjährige Tochter machte sich mehr Gedanken als seine Frau, wenn er auf Geschäftsreise war. Schon jetzt sorgte sich sein kleiner Sonnenschein um Gott und die Welt. Vielleicht würde sie später auch etwas Soziales machen. Erzieherin, Altenpflegerin, Lehrerin oder so, überlegte Kayan, während er die sorgfältig angelegten Beete umging und sich der Terrasse näherte. Hauptsache, sie war glücklich. Für Machtkämpfe und dergleichen jedenfalls war sie nicht geschaffen. Zwei Tage hatte sie geweint, als ihre Katze von einem Lastwagen überrollt worden war. Unfassbar. Zwei Tage für ein Tier. Kayan wollte sich nicht ausmalen, wie lange sie um einen Menschen trauern würde.

Er drückte auf »Wahlwiederholung« und aktivierte das kleine Programm. Das Sicherheitssystem war mit dem Internet gekoppelt. Das war die Lücke, die er brauchte. Jetzt genügte ein Knopfdruck und er hatte freie Bahn.

ZweiHongkong | 22 Grad | Nieselregen

Das Telefon klingelte schon wieder. Was war heute nur los? Wochenlang hatte der Apparat keinen Mucks von sich gegeben und jetzt dieses Störfeuer mitten in der Nacht. Gleich morgen früh würde er den Techniker anrufen. Musste er die Software halt noch mal aufspielen. Der freundliche Asiate schien in seinem Job ja aufzugehen. »Scheißtelefonanlage!«, zischte Vincent in die Dunkelheit und kehrte nach drinnen zurück. Diesmal waren auf dem Display Ziffern zu erkennen. Die Vorwahl gehörte nach Deutschland, damit war seine Exfrau ausgeschlossen. Es dauerte einen Augenblick, dann hatte der Computer die Nummer mit den Telefonbucheinträgen dieser Welt abgeglichen und ein Name erschien, den Vincent stumm mit den Lippen formte, als gehörten die vier Silben in eine unbekannte Sprache. Ein kurzes Zögern und er ging ran.

»Ist deine Leitung sicher?«, fragte die Stimme.

»Was soll das?«, schnaubte Vincent in den Hörer. »Meldest du dich deshalb nach all den Jahren, nur um diesen blöden Witz zu machen? Oder willst du dich etwa entschuldigen?«

»Entschuldigen?« Ein kehliges Lachen drang durch die Leitung. »Ich soll mich auch noch dafür entschuldigen, dass ihr mich reingelegt habt? Das kann nicht dein Ernst sein.«

Vincent atmete tief durch. Er hatte wirklich Besseres zu tun, als sich mitten in der Nacht mit diesem Starrkopf Kaspar Weinfeld, einem alten Studienkollegen, zu streiten.

»Warum rufst du an? Woher hast du überhaupt diese Nummer?«

»Anna hat mir deine Geheimnummer gegeben. Keine Angst, ich werd sie nicht ins Netz stellen.«

Vincent zögerte. Er runzelte die Stirn. »Ihr … ihr habt noch Kontakt, du und Anna?«

»Wieder. Wir haben wieder Kontakt. Ich hab letzten Sommer eine ihrer Vorlesungen besucht. Aus ihr ist eine brillante Dozentin geworden. Bewundernswert, dass sie noch einmal einen beruflichen Neuanfang gewagt hat.«

»Ja, das finde ich auch.« Vincent ärgerte sich darüber, dass er drangegangen war. »Aber du rufst doch sicherlich nicht an, um mir das zu sagen.«

»Da hast du wohl recht«, sagte Weinfeld. »Eigentlich wollte ich dir nur mitteilen, dass jemand One ausgegraben hat und als Grundlage für ein Computerspiel benutzt.«

»Was?«, entfuhr es Vincent lauter als beabsichtigt. »Das ist doch ein Witz, oder? Und dazu noch ein ganz schlechter.«

»Nein, mein Lieber, es ist die Wahrheit. One ist nicht mehr geheim.«

Vor dem Aufzug des Clubs stand eine leicht bekleidete Frau mit schneeweißem Geisha-Gesicht. Kaum hatte sie von jedem die Kreditkarte eingescannt und das Gesicht fotografiert, streckte sie ihnen stumm lächelnd eine Schatulle entgegen, in die sie ihre Wertsachen legen konnten. Nachdem die Regierung sämtliche illegalen Nachtclubs geschlossen hatte, hatten die verbliebenen ihre Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Ohne drei Empfehlungen und den richtigen QR-Code gab es keinen Zutritt. Nicht die Volljährigkeit zählte, sondern die Bereitschaft, knapp tausend US-Dollar für eine Partynacht hinzublättern. Im Voraus, Getränke nicht inklusive. Als Pfand-, Zahlungs- und Kommunikationsmittel bekam man ein goldenes Armband mit Club-Logo. Das Design war dem Gehäuse einer Rolex Oyster nachempfunden. Anstelle des Zifferblatts hatte es ein kleines quadratisches Display, das die Beträge, die man für Getränke, Massagen, Wetten und dergleichen ausgab, anzeigte. Der darin enthaltene Mikrochip registrierte auch den Ort, an dem man sich befand, und die Anzahl und Dauer der Blicke, die die anderen Besucher einem schenkten. Dafür waren überall Kameras angebracht, die sich an der Biometrie der Gesichter und den Blickwinkeln orientierten. Wer die Match-Funktion aktivierte, spürte anhand kleiner elektrischer Impulse und Vibrationen, wie groß das Interesse an ihm war. In abgeschotteten Nischen konnte man sich die Gesichter derer anschauen, die mit einem in Kontakt treten wollten, und sie per Knopfdruck um ein Date bitten. Das Treffen fand in einem weiteren Raum statt, der mit Wasserbetten ausgestattet war, die sich unter geräuschdämmenden Baldachinen verbargen.

Kata legte ihren Arm um Samuels Hüften und küsste ihn. Sie betraten den schwach beleuchteten Lastenaufzug. Die klimatisierte Luft transportierte einen künstlichen, aber durchaus erfrischenden Duft. Zitronenmelisse mit einer Spur Zedernholz. Nicht so süß wie das billige Zeug, das sie in Kaufhäusern verwendeten. Eine andere Asiatin mit wasserstoffblonder Perücke drückte ihnen Cocktailgläser in die Hand. Die Flüssigkeiten darin leuchteten im Schwarzlicht. Ruhiger Jazz-House begleitete die Fahrt in das einundzwanzigste Stockwerk. Samuel erzählte den anderen, was die nächsten Tage auf dem Programm stand. Ein kurzer Zwischenstopp in Deutschland, pünktlich zu seinem achtzehnten Geburtstag nach London und anschließend ein Trip durch Europa. Und vielleicht, dachte Samuel weiter, vielleicht würde ihm die Stadt an der Themse so gut gefallen, dass er dort hinziehen und studieren würde. So gesehen war die Angst seines Vaters, er könne nicht mehr nach Hongkong zurückkehren, berechtigt. Er wollte sich alles offenlassen. Planen war nicht sein Ding. Seit seinem achten Lebensjahr waren sie alle paar Jahre in eine neue Stadt gezogen, wie Nomaden, die für ihre Herde nach den ­besten Weideplätzen suchten. Ihre Weideplätze waren Versicherungen und Banken, die seinen Vater, das von allen bewunderte Mathegenie, als Berater hinzuzogen. Doch die Zeiten waren vorbei. Jetzt war es an ihm, die Route zu bestimmen.

 

»Sie haben aus One ein Spiel gemacht?«, fragte Vincent nach einer halben Ewigkeit. Seine Mundwinkel zuckten leicht, als wüsste er nicht, ob er auf diese Nachricht mit einem Lächeln reagieren sollte oder tiefer Ernst angebrachter wäre. Er schenkte sich einen Cognac ein. Wenn es etwas gab, mit dem er One niemals in Verbindung gebracht hätte, dann mit einem Computerspiel.

»Wie soll man daraus denn ein Spiel machen?«, fragte Vincent. »Wäre doch viel zu langweilig in der heutigen Zeit, wo Computerspiele wie Actionfilme aussehen müssen.« Er spürte dem Cognac nach, der wärmend seine Kehle hinunterlief und ihn ein wenig entspannte.

»Wenn man deine, eure, unsere Ideen der neuen, digitalisierten Welt anpasst und sie mit viel Geschick integriert, ist es alles andere als langweilig. Strategie- und Rollenspiel-Apps sind groß im Kommen. Gibt genügend Menschen, die in ihrer Freizeit in fremde Rollen schlüpfen wollen, um der Tristesse und der Ungerechtigkeit des Alltags zu entfliehen. Und du glaubst gar nicht, was man auf diese – zugegebenermaßen unwissenschaftliche – Weise alles testen kann. Jeder kann sich in seinem Profil als Unternehmer, Handwerker, Künstler oder weiß der Himmel was sonst noch ausprobieren, um in den einzelnen Leveln aufzusteigen. Alles ist transparent. Sogar was die Be­wertung von Leistung und die Bezahlung anbetrifft, haben die Spieler mit den Top-Rankings einen Ansatz gefunden, um das Volk nicht gegen sich aufzuwiegeln. One bekommt eine zweite, moderne Chance. Ist das nicht großartig?«

»Eine zweite Chance? Jetzt übertreib mal nicht. Es erscheint mir doch ziemlich weit hergeholt, dass solche Spielereien die Leute in der Realität zum Umdenken bringen. Selbst den meisten Experten fehlt der Überblick, was läuft. Sie gehorchen der Beraterfirma, die ihnen das angenehmste Szenario verkauft. Das erlebe ich jeden Tag und daran wird ein Computerspiel mit Sicherheit nichts ändern.«

»Wieso wusste ich, dass du das sagen würdest? Dein Verlangen nach Sicherheit und Wohlstand hat dich zu einem angepassten Feigling gemacht.«

Vincent atmete tief durch. Ihm war nicht nach streiten zumute. In Gedanken war er bei Samuel. Er hätte zu seiner Abschlussfeier gehen müssen, auch wenn ihm die aufgeblasenen Leute und das ganze Drumherum auf die Nerven gegangen wären. Doch die Gelegenheit hatte er verpasst.

»So kann nur jemand reden, der die Sache von außen betrachtet«, erwiderte er ruhig. »Weißt du, wie schwierig es ist, Managern Strategien nahezulegen, die länger reichen als bis zum nächsten Quartalsbericht?«

»Was dir immer schon gefehlt hat, war Fantasie und der Mumm, für die eigene Sache einzustehen und sich von dem ganzen Wahnsinn zu lösen. Ich hab ja immer gesagt, dass One nur dann eine Chance hat, wenn es auch von normalen Leuten verstanden wird und nicht nur von Fachidioten.«

»Und deshalb hast du damals auf eigene Faust Flugblätter verteilt und Verschwörungstheorien von geheimen Zirkeln gestreut, oder was? Das war also dein Ansatz, die breite Masse zu erreichen, dass wir beinahe alle von der Uni geflogen wären.«

»Ja, vielleicht war es der falsche Weg. Aber ich fand es nun mal schade, dass du und die anderen … dass ihr so wenig an eine bessere Zukunft für alle geglaubt habt und daran unsere Freundschaft zerbrochen ist.«

»An mir hat es nicht gelegen.«

Es entstand eine Pause. Vincent schenkte sich ein zweites Glas ein. Alkohol und Schlaftabletten sind die optimale Kombination für einen Kater, dachte er und prostete sich selbst zu. Dann zog er die Ausdrucke mit den elektronischen Flugtickets aus dem Ablagefach und horchte nach draußen. Das Knacken war näher gekommen. Er blickte zur Vitrine mit der Schrotflinte. Wenn er mitten in der Nacht herumballerte, würden die Nachbarn den Sicherheitsdienst alarmieren und er müsste sich entschuldigen. Und wo war überhaupt die Munition? Hatte Emilia nicht irgendetwas davon gesagt, dass sie umgeräumt hatte? Sie war ja regelrecht ausgerastet, als er sich die Schrotflinte gekauft hatte. Beinahe hatte sie ihn angeschaut, als wollte er jemanden damit umbringen.

Weinfeld meldete sich mit einem Räuspern zurück. »Auf jeden Fall sieht es so aus, als hätten die Macher des Spiels verschiedene Szenarien durchgeführt, wie man das Wirtschaftschaos neu ordnen könnte. Die Spieler können Waren, Anteile an Unternehmen und Dienstleistungen tauschen. Wer betrügt, wird enteignet und an den Pranger gestellt. Preise für Lebensmittel sind festgesetzt. Die Börse, wie wir sie jetzt mit all den Zockereien kennen, wurde in ein Spielcasino für jedermann ausgelagert. Die Gewinne werden abgeschöpft und demjenigen Staatshaushalt zugeführt, der auf der Kippe steht, oder für kulturelle Projekte eingesetzt. Vielleicht haben sie tatsächlich eine Möglichkeit gefunden, One zu verwirklichen. Vielleicht wissen sie, wie man unsere Gleichung zu einem Ergebnis bringt, das die Gesellschaft nicht weiter spaltet und für mehr Nachhaltigkeit sorgt. Wäre das nicht großartig?«

»Es funktioniert nicht«, sagte Vincent knapp. »Nicht in einem Spiel und erst recht nicht in der Wirklichkeit.«

»Nicht mit friedlichen Mitteln, willst du sagen.«

»Ja, nicht mit friedlichen Mitteln. Ich weiß, du wolltest dich durchsetzen und unsere Gruppe zu einer kriminellen Vereinigung machen. Wir hatten also keine andere Wahl, als dich rauszuschmeißen.«

»Du übertreibst. Ich habe an uns geglaubt. Das war nicht aus Trotz oder Eitelkeit, wie du mir immer vorgeworfen hast. Ihr habt an den alten Regeln des Wirtschaftskreislaufs festgehalten, obwohl ihr gewusst habt, dass sie falsch sind. Das ging mir einfach nicht runter. Mit einer guten Strategie wäre es schon damals möglich gewesen, eine Entwicklung anzustoßen. Aber ihr wart zu feige. Vielleicht würden heute schon Volkswirtschaften existieren, die nicht um jeden Preis auf Wachstum setzen und die Folgen für den schwächeren Teil der Welt unter den Tisch kehren.«

»Jetzt übertreibst du.«

»Jedenfalls sind die Leute, die One zurückgeholt haben, nicht so zimperlich wie wir damals. Sie geben sich nicht mit ein paar Gleichungen und schön formulierten Sätzen zufrieden. Sie wollen es wissen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Verfolgst du denn nicht die Nachrichten?«

»Natürlich tu ich das.«

»Dann achte mal auf die vielen Stromausfälle, die in den letzten Wochen gemeldet wurden, und auf die Reihenfolge der Anschläge. Hast du von dem neuen Virus gehört, der die Lobbyisten-Meute hat auffliegen lassen? Man konnte ihren Mailverkehr live auf sämtlichen Videoboards mitverfolgen. Das war großartig. Diejenigen, die One benutzen, haben uns gegenüber einen großen Vorteil: Sie können die Welt aus den Angeln heben, nur indem sie irgendwo vor einem Rechner sitzen. Aber wem erzähle ich das. Das ist ja dein täglich Brot.«

»Ich analysiere nur Zahlen.«

»Tun das nicht alle Mächtigen?«

Vincent schwieg einen Augenblick. Das Knacken war näher gekommen. Er löschte das Licht. Er wollte das Tier nicht auch noch anlocken. Zumindest nicht, solange er unbewaffnet war.

 

Samuel kippte den Long Island Ice Tea hinunter. Der starke Alkohol verdrängte den schalen Geschmack in seinem Mund. Er hasste Abschiede. Er blickte in die Runde. Seine Freunde lachten und tanzten ausgelassen. Als Kind hatte er sich immer Lügengeschichten einfallen lassen, wenn er neu in die Klasse kam. Er wollte sich interessant machen. Wenn man interessant war, fand man schneller Freunde, das hatte er gelernt. In Hongkong hatte er nicht gelogen. Warum auch immer. Wahrscheinlich wollte er den Unterschied spüren, wie es sich anfühlte, nur er selbst zu sein, ohne die wahnwitzigen Kindergeschichten, die irgendwann sowieso aufflogen. Ohne Maske hatte er richtige Freunde gefunden. Doch richtige Freunde machten den Abschied noch schwerer. Samuel fragte sich, welche Gesichter er schon bald wieder vergessen haben würde. Kontakt halten. Wie oft hatte er sich das vorgenommen? Und wie oft war dieses Vorhaben gescheitert? Noch einen Cocktail und er begann zu tanzen. Er war ein guter Tänzer. Der Balken auf seinem Armband stieg an. Mehr als zwanzig Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Kata hielt ihr Armband neben seines und lachte. Bei ihr waren es fünfzig.

»Ich liebe nur dich, schöner Mann«, sagte sie, schlang ihre Arme um seine Hüften und küsste ihn. Jeder sollte sehen, dass sie zusammengehörten. Vier Jahre hatte er in dieser Stadt verbracht. Vielleicht war es seine eigene Schuld, dass er sich immer noch fremd fühlte. Vielleicht war es auch die Stadt selbst, die es nicht zuließ, dass man sie mochte. Schnappschüsse, Momentaufnahmen, nichts für die Ewigkeit. Das Klirren der Gläser, die über den Tresen geschoben wurden, das Hämmern der Musik. Cocktail Nummer drei und die Gewissheit, dass sich Abschiedsschmerz nicht betäuben lässt. Vielleicht sollte er sich ein Tattoo stechen lassen. Eines, das wehtat. Nicht für die Stadt, sondern nur für seine Freunde.

Die Musik, mehr Geräusch als Melodie, mehr Maschine als Mensch, peitschte die schlanken Körper vor sich her. Und mitten in dem Nebel aus Soundschnipseln und Lichtreflexen bahnte sich in Samuels Kopf ein Gedanke den Weg an die Oberfläche. Er würde nicht zurückkehren. Sein Vater hatte recht. Er würde diese Stadt für immer verlassen.

 

»Nicht jeder hat das Glück, aus einer reichen Familie zu kommen«, sagte Vincent mit zusammengebissenen Zähnen und horchte nach draußen. Das Geräusch war verstummt. Heute kommst du wohl noch mal davon, sagte er in Gedanken, stand aber dennoch auf und holte das Gewehr aus der Vitrine. Weinfeld redete weiter. Er war immer noch derselbe arrogante Sack von damals. Vincent verspürte große Lust, ihm das bei dieser Gelegenheit endlich zu sagen. »Du musstest dich nicht darum sorgen, wie du den nächsten Monat über die Runden kommst. Ohne finanziellen Druck kann man sich vielem entziehen.«

»Ich mache dir und den anderen keine Vorwürfe. Wenn du zu dem stehst, was du tust, ist das völlig in Ordnung. Keiner von euch wollte als Märtyrer für eine gerechtere Welt in die Geschichtsbücher eingehen.«

»Im Gegensatz zu dir«, sagte Vincent mit bissigem Unterton.