Lucy in the Sky - Paige Toon - E-Book
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Lucy in the Sky E-Book

Paige Toon

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Beschreibung

Noch bis eben war sich Lucy sicher, glücklich zu sein. Zusammen mit James, einem smarten Anwalt, wohnt sie in einer chicen, kleinen Wohnung in London und hat einen glamourösen Job in einer PR-Agentur. Also keinen Grund, warum die Hochzeit ihrer besten Freundin Molly in Australien und ein zweiwöchiger Urlaub ihr Leben in Frage stellen sollte. Doch kurz bevor das Flugzeug startet, bekommt Lucy eine SMS von James' Handy. Bevor sie ihr Telefon ausschalten muss, wirft sie schnell noch einen Blick auf die Nachricht …

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Seitenzahl: 531

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Paige Toon

Lucy in the Sky

Roman

Aus dem Englischen von Christine Strüh

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Greg, meinen wundervollen [...]PrologVon London nach SingapurSingapurVon Singapur nach SydneySydneyKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Von Sydney nach LondonLondonKapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27EpilogDanksagung

Für Greg, meinen wundervollen Ehemann.

 

 

Und für meinen Vater Vern, meine Mutter Jenny, meinen Bruder Kerrin und für Bridie und Naomi, meine beiden besten Freundinnen aus der Kindheit.

Ich vermisse euch alle immer noch, jeden Tag.

Prolog

Von London nach Singapur

Freitag: Abflug London Heathrow 21.05 Uhr Samstag: Ankunft Singapur 17.50 Uhr Flugdauer: 12 Stunden 45 Minuten

»Ladies und Gentlemen, bitte schnallen Sie sich an, klappen Sie den Tisch vor Ihnen hoch und bringen Sie die Lehne Ihres Sitzes in aufrechte Position. Bei Start und Landung müssen sämtliche elektronischen Geräte ausgeschaltet sein, Handys dürfen erst wieder benutzt werden, wenn wir sicher am Singapore International Airport gelandet sind, denn Mobiltelefone können die Navigationssysteme der Maschine stören … «

Ach, verdammt, ich glaube, ich hab mein Handy angelassen. Mist! Es ist oben im Gepäckfach. Ich wäge meine Möglichkeiten ab: Soll ich den fetten Typen neben mir fragen, ob er mich mal bitte vorbeilassen könnte, oder soll ich einen Absturz riskieren? Fetter Typ? Absturz? Nein, das Risiko möchte ich nicht eingehen.

»Entschuldigen Sie bitte.«

Er sieht mich verwirrt an.

»Ich hab mein Handy nicht ausgeschaltet.«

Mit einem unzufriedenen Grunzen stupst er seine dürre Frau an, damit sie Platz macht. Dann hievt er sich schnaufend und ächzend aus seinem Sitz. Jetzt muss er nur noch ein Stück zur Seite gehen, dann wird alles gut. Das dauert ja eine Ewigkeit! Ob er bei einem Notfall wohl schneller wäre? Allmählich bereue ich, dass ich mich für einen Fensterplatz entschieden habe.

Endlich ist der Weg frei. Ich finde mein Handy blitzschnell in der Handtasche und sehe, dass ich eine SMS bekommen habe. Mein Finger schwebt über der Austaste, aber der kleine blinkende Briefumschlag ist einfach zu verlockend. Nein, ich kann nicht widerstehen. Aah, eine Nachricht von James.

Hi Lucy! Habe gerade mit James in deinem Bett geschlafen. Dachte, das interessiert dich vielleicht. 4mal diesen Monat. Hübsche Bettwäsche. Xxx

Wie bitte? Ich versteh das nicht. Die SMS ist doch von James! Was meint er damit, er hat gerade mit James geschlafen …? O nein. Plötzlich hab ich ein Gefühl, als wäre mein Magen 10 000 Fuß tief abgestürzt, dabei ist das Flugzeug noch nicht mal gestartet.

Eine Flugbegleiterin kommt angeschwebt. »Miss, würden Sie sich bitte auf Ihren Platz setzen? Die Maschine wird gleich starten.«

Aber ich kann nicht. Meine Füße sind schwer wie Blei. Erschrocken starre ich die Frau an, das Handy fest umklammert.

»Sie müssen es ausschalten«, sagt sie mit eiserner Stimme und einem Kopfnicken in Richtung des leuchtenden Displays.

»Bitte, ich muss nur schnell … «

Aber sie schüttelt langsam und unerbittlich den Kopf, und Fettbacke stößt einen tiefen Seufzer aus. Ich spüre, wie Dutzende von Augenpaaren mich anstarren, während ich benommen auf meinen Platz zurückwanke. Die ganze Sitzreihe wackelt und bebt, als mein stämmiger Nachbar sich mühsam wieder neben mich quetscht.

»Miss. Ihr Handy.«

Ich schaue zu der strengen Flugbegleiterin auf und dann auf mein Handy hinunter. Die Nachricht schreit mir ins Gesicht.

Hi Lucy! Habe gerade in deinem Bett mit James geschlafen.

Aber ich habe keine Wahl. Mit Argusaugen beobachtet sie mich wachsam, und mein Finger drückt langsam auf den kleinen roten Knopf. Kein Atompilz steigt auf. Niemand stirbt. Nur das Licht auf dem Display erlischt, und mein Herz wird schrecklich schwer.

James hat mich betrogen.

Und die Schlampe ist so dreist, mir mit seinem Handy eine SMS zu schreiben.

Jetzt rollt die Maschine zur Startbahn. Draußen vor dem Fenster ist es kalt und windig, eine typisch englische Winternacht. Ich bin unterwegs nach Australien, zur Hochzeit meiner beiden besten Freunde, Molly und Sam. Und in den Sommersonnenschein …

Doch im Moment weiß ich nicht, ob mir jemals wieder warm werden wird. Ich habe das Gefühl, als ob mir jemand die Innereien rausgerissen und mich mit Eiswürfeln gefüllt hat.

Mein toller Freund hatte Sex mit einer anderen.

Auf einmal blitzt in meinem Kopf das Bild von ihm mit einer anderen auf. Mit einer anderen, die mit ihren Fingern durch seine strohblonden Haare fährt. Mit einer anderen, die in seine blauen, blauen Augen blickt. Eine andere, die sich an ihn schmiegt, beide Körper in Schweiß gebadet …

Ich glaube, ich muss mich übergeben. Hastig wühle ich in der Sitztasche vor mir und finde tatsächlich eine Kotztüte. Aber dann vergeht das Gefühl wieder, und ich zwinge mich, ruhig und tief zu atmen. O Gott, ich habe einen Dreizehnstundenflug vor mir! Wie soll ich den bloß überstehen?

Die Maschine ruckt nach vorn, und während sie die Startbahn entlangrast, werde ich fest in meinen Sitz gepresst. Dann sind wir plötzlich in der Luft und steigen höher, immer höher, bis die Lichter von London weit hinter uns liegen. Dann stecken wir auf einmal mitten in den Wolken, und draußen wird alles dunkel.

In meinem Kopf fängt es an zu arbeiten. Wer ist sie? Kennt James sie schon lange? Wie oft haben sie zusammen geschlafen? Ist sie besser im Bett als ich? Schlanker? Größer? Sexier? Liebt er sie? O Gott, o Gott. Wie kann er mir das nur antun?

Erneut steigt Übelkeit in mir auf, und diesmal übergebe ich mich tatsächlich.

»Igitt.« Fettbacke zuckt angeekelt zurück, während seine magersüchtige Frau mich nervös beäugt, fast gänzlich vom schrankartigen Körper ihres Mannes verdeckt.

Dong! »Ladies and Gentlemen, der Kapitän hat das Anschnallzeichen ausgeschaltet, sodass Sie sich nun frei in der Kabine bewegen können … «

»Entschuldigung.«

Es ist geradezu unheimlich, wie viel schneller mein Nachbar sich bewegt, wenn der Gestank von Erbrochenem in der Luft liegt. Die Tüte in der einen, das Handy in der anderen Hand, dränge ich mich an ihm und seiner Frau vorbei und laufe bergauf zur Toilette, während die Maschine weiter steigt. Sobald ich in der Toilette bin, verriegle ich die Tür und leere den ekeligen Tüteninhalt in die Kloschüssel, bevor ich mir den Mund gründlich mit Wasser ausspüle. Die Diamantohrringe, die James mir letzten Oktober zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag gekauft hat, funkeln mich aus dem Spiegel an.

»Hey, Süße ... Lucy, wach auf!«

»Aach.«

»Herzlichen Glückwunsch!« James lächelt und küsst mich auf die Stirn. Ich schüttle mühsam den Schlaf ab und sehe ihn an. Tiefe blaue Augen blicken aufmerksam in meine.

»Ich bin so müde. Wie spät ist es denn?«

»Halb sieben.«

»Halb sieben? James! Ich brauch erst in einer Stunde aufzustehen.«

»Ich weiß, aber ich muss früh zur Arbeit. Und ich wollte dir das hier noch geben.«

Behutsam legt er eine silberne Geschenkschachtel auf meinen Bauch, mitten auf die weiche Daunendecke. Wenn ich in sein erwartungsvolles Gesicht sehe, kann ich ihm unmöglich böse sein, auch wenn er mich viel zu früh weckt. Lächelnd setze ich mich auf.

»Ich hoffe, sie gefallen dir.«

Sie? Ich hebe den Deckel von der Schachtel, und zum Vorschein kommt eine weitere Schachtel, diesmal aus schwarzem Samt.

Darin kuscheln sich zwei Diamantenohrringe aneinander.

Jetzt bin ich hellwach.

»James, die sind ja wunderschön! Die müssen doch ein Vermögen gekostet haben!«

Er schenkt mir ein schelmisches Lächeln, nimmt die Schachtel und zieht die Ohrringe vorsichtig heraus.

»Machst du sie gleich rein? Ich möchte sie unbedingt an dir sehen.« Damit reicht er mir erst den einen, dann den anderen, und ich befestige sie in meinen Ohrläppchen. Dann lehnt er sich zurück und nickt zustimmend.

»Umwerfend. Sie stehen dir ausgezeichnet.«

Aufgeregt steige ich aus dem Bett und gehe zum großen Spiegel am Kleiderschrank, während James die Halogenstrahler im Schlafzimmer anknipst. Sofort fangen die Ohrringe an zu funkeln – weiße Diamanten, einfach wundervoll im Kontrast zu meinen dunklen Haaren. Sie sind schwer, aber ich finde sie so toll, dass ich sie wahrscheinlich nie wieder ablegen werde.

»Danke!« Mir kommen die Tränen, als ich mich zu ihm umdrehe. Er streckt mir die Hand entgegen, und ich krabble zurück ins warme Bett, in seine Arme.

»Musst du wirklich so früh zur Arbeit?«, frage ich, während er mich auf den Hals küsst.

»Nein. Na ja, nicht ganz so früh.«

»Du kleiner Mistkerl … «

Aber er grinst nur und zieht mich aus, bis ich außer den Ohrringen nichts mehr anhabe …

Ich stelle mein Handy wieder an, denn ich muss die Nachricht nochmal lesen, egal, welche Konsequenzen das hat. Ich sehe nach, wann sie eingegangen ist. 21 Uhr. Auf dem Weg zum Abflug-Gate hatte ich versucht, James anzurufen. Er war nicht drangegangen. Jetzt weiß ich auch, warum. Über die Toilettenschüssel gekauert, übergebe ich mich ein zweites Mal.

Als ich zurückkomme, sitzt Fettbacke auf dem Sitz direkt am Gang und brummt irgendwas, was sich anhört wie eine Beschwerde, dass ich die ganze Nacht hin und her laufe.

Ich ignoriere ihn, aber seine Frau lächelt mich entschuldigend an. »Alles in Ordnung, Liebes?«, erkundigt sie sich, sobald ich wieder auf meinem Platz sitze. Die kleine Nettigkeit gibt mir den Rest. Mit ganz kleiner Stimme antworte ich: »Nein«, und schon brechen alle Dämme.

Es ist der schlimmste Flug meines Lebens. Ich kann nicht essen, ich kann nicht schlafen, ich kann mich auf keinen Film konzentrieren. Schließlich schlucke ich eine Schlaftablette und rolle mich unter dem Fenster zusammen. Zwischen grässlichen Träumen und schmerzenden Beinen schaffe ich es, wegzudösen. Jedes Mal, wenn ich aufwache, holt mich die harte Realität ein, und ich sehe auf der digitalen Fluguhr nach, wie spät es ist und wie lange ich noch warten muss, bis wir endlich in Singapur landen und ich James anrufen kann.

Zehn Stunden und einundfünfzig Minuten …

Sieben Stunden und dreizehn Minuten …

Vier Stunden und zwanzig Minuten …

Ich leide Höllenqualen. Was, wenn er wieder nicht ans Telefon geht? Nein, darüber kann ich jetzt nicht nachdenken.

 

James und ich haben uns vor drei Jahren auf einer Party kennengelernt. Ein Freund von einem Freund hat uns einander vorgestellt. James arbeitete damals bereits in einer Anwaltskanzlei, ich war grade erst mit der Uni fertig. Zuerst fand ich ihn noch nicht mal interessant. Ziemlich groß mit seinen eins achtzig, gut gebaut, strohblonde Haare, dunkelgrauer Anzug, weißes Hemd, oben aufgeknöpft. Die Krawatte hatte er abgenommen, wahrscheinlich, um trotz Anzug nicht zu sehr nach Büro auszusehen. Aber irgendwann biss ich doch an. Ich glaube, es war sein freches Grinsen. Das und seine tiefblauen Augen.

Bei unserem ersten Date gingen wir zum Oxo Tower, wo wir Champagner tranken und den Ausblick über London und die Schiffe auf der Themse genossen. Vier Tage später schliefen wir zusammen, in einer Wohnung in Clapham, die er sich mit einem südafrikanischen Typen namens Alyn teilte. Zwei Monate danach zog ich bei James ein, und Alyn zog aus. Manche Leute fanden das überstürzt, aber mir konnte es gar nicht schnell genug gehen.

 

James zahlte den größten Teil der Miete, während ich an den meisten Abenden in einem Pub lauwarme Pints zapfte und ein Praktikum bei »Mandy Nim PR« machte, einer PR-Firma, die sich für so ziemlich alles engagiert, von Wodka bis Lipgloss. Nach elf Wochen – eine Woche, bevor die Zeit abgelaufen war, die ich mir gegeben hatte, um einen »richtigen Job« zu finden – hatte ich das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, und bekam bei Mandy Nim eine Assistentenstelle. Inzwischen arbeite ich als Senior-PR-Beraterin, und meine Freunde meinen, ich hätte den besten Job überhaupt: Ständig kann ich irgendwelche kostenlosen Produktproben mit nach Hause nehmen, mehr, als ich mir jemals erträumt hätte.

Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, fällt mir auf, dass James sogar am Anfang unserer Beziehung oft später nach Hause gekommen ist als ich von meiner Schicht im Pub. Ob die ganzen Überstunden im Büro wirklich notwendig waren? Damals hat er mich doch bestimmt noch nicht betrogen ...

Nein. Nein. Unmöglich. Ich versteh das nicht. Er würde mich nie betrügen, niemals! Oder etwa doch?

O mein Gott, ich versteh das einfach nicht. Vielleicht stimmt irgendwas nicht mit dieser SMS. Vielleicht haben seine komischen Freunde sie mir geschickt! Könnte doch sein. Vielleicht war James mit ihnen im Pub, und als er mal aufs Klo musste, hat sich einer sein Handy geschnappt. Ist doch möglich, oder nicht?

Aber ganz tief in meinem Herzen weiß ich, dass es nicht die Wahrheit sein kann.

Der Fettsack schüttelt sich vor Lachen über irgendwas im Fernsehen, während seine Frau im Schlaf leise vor sich hin jammert. Womöglich kann sie hier aufrecht in ihrem Sitz besser schlafen als zu Hause im Bett, wo sie ständig aufpassen muss, nicht von dem Fettberg zerquetscht zu werden. Jetzt sieht sie eigentlich ganz entspannt aus.

Ich strecke meine Beine aus und wackle mit den Füßen. Am liebsten würde ich nochmal aufstehen und im Gang hin und her laufen, aber ich habe keine Lust, nochmal den Zirkus mitzumachen, wenn ich mich an Fettsack vorbeidrängen muss, oder?

Ach, der kann mich mal!

Vorsichtig stehe ich auf und manövriere mich geschickt an seiner schlafenden Frau vorbei. »Sie brauchen nicht aufzustehen!«, flüstere ich laut, als er überrascht aufblickt. Ganz vorsichtig steige ich über ihn hinweg, schiebe mit den Zehen das über die Armlehne quellende Fleisch zurück, und endlich bin ich frei.

Ein paar Minuten tigere ich auf dem Gang hin und her, aber dann merke ich plötzlich, dass es mir peinlich wird. Schließlich ziehe ich mich wieder in die Toilette zurück. Ich sehe müde und verhärmt aus. Meine Augen sind rot und geschwollen.

Ach James … ich liebe dich. Ich will dich nicht verlieren. Dieser Flug dauert ewig. So lange musste ich es noch nie ohne Handy aushalten. Ich setze mich auf die Toilette und heule vor lauter Frust.

Was soll ich tun? Der Gedanke, mein ganzes Zeug aus unserer Wohnung räumen zu müssen …

Unsere schöne, unsere wunderschöne Wohnung. Letzten Sommer haben wir sie gekauft. Sie liegt in Marylebone, in einer Seitenstraße der High Street. Nur eine kleine Zweizimmerwohnung, aber ich liebe sie heiß und innig.

Einen kurzen Moment spüre ich, wie die Wut in mir hochkocht, heiß und scharf. Nein, er soll ausziehen! Dieser Mistkerl! Wenn er tatsächlich eine andere gevögelt hat …

Aber die Wut verfliegt rasch wieder, und zurück bleibt eine tiefe Verzweiflung. Wo soll ich denn hingehen? Zieht er dann mit der anderen zusammen? Allein kann ich mir den Kredit für die Wohnung nicht leisten. Aber wenn ich ausziehe, zieht die andere dann ein? Was mache ich dann mit meinen ganzen Sachen? Wie sollen wir die CDs aufteilen? Und die DVDs? Wer kriegt das Sofa? Den Fernseher? Das Bett? O nein, das Bett! Bitte, ich will nicht daran denken.

 

Irgendwann im Januar bin ich um zwei Uhr nachts aufgewacht und habe gesehen, wie James am Fußende des Betts stand, sich die Anzughose auszog und sich dabei offensichtlich anstrengen musste, das Gleichgewicht zu halten. Er hatte mir schon gesagt, dass er erst spät von der Arbeit nach Hause kommen würde, und jetzt stieg mir der Gestank von Zigaretten und Alkohol in die Nase. Weil ich nicht mit ihm reden wollte, solange er betrunken war, tat ich so, als würde ich schlafen.

Am nächsten Morgen bestritt er heftig, einen Kater zu haben, obwohl sein Gesicht aschfahl war. Er beharrte darauf, dass er nach der Arbeit nur schnell zwei Bier getrunken hatte. Ich weiß bis heute nicht, warum er mir diese Lüge aufgetischt hat. Es war so offensichtlich, dass er im Pub versackt war. Aber manchmal kann man einfach nicht vernünftig mit ihm reden.

Neulich zum Beispiel war ich in der Küche, um die Schränke nach meiner Schachtel Kirschlikörpralinen zu durchsuchen. Ich wusste, dass James sie nicht gegessen haben konnte, weil er sie hasst, aber ich fragte ihn trotzdem, ob er vielleicht wusste, wo sie waren.

»Nein«, antwortete er.

»Ich finde sie aber nicht.«

»Oh, Scheiße, stimmt ja – ich hab sie verschenkt.«

»Du hast was? Wem denn? Die Schachtel war doch fast leer!«

»Einem Bettler.«

»Einem Bettler?«, wiederholte ich ungläubig.

»Ja.«

»Also bitte.« Ich schüttelte den Kopf.

»Doch, das stimmt! Er hat unten vor dem Haus in den Müllsäcken gewühlt und eine Mordssauerei veranstaltet, und da bin ich nach oben gerannt und habe das Erstbeste geschnappt, was ich finden konnte, um ihn loszuwerden.«

»Ach James, lass das. Wo hast du meine Pralinen versteckt? Hör auf, mich zu ärgern.«

»Lucy, ich mach keine Witze. Warum sollte ich dich anlügen?«

»Ich hab nicht den leisesten Schimmer. Aber warum solltest du einem Obdachlosen Kirschlikörpralinen schenken? Bestimmt hat er schon ein Alkoholproblem, und das hast du jetzt noch schlimmer gemacht.«

»Na ja, es war wahrscheinlich nicht die intelligenteste Idee«, räumte er ein. »Aber ich hab einfach nicht nachgedacht.«

Was für ein Haufen Quatsch. Er hat meine Pralinen doch keinem Bettler geschenkt! Ich wette, diese dumme Zicke, mit der er im Bett war, hat sie sich reingezogen.

Mir ist übel, als ich zu meinem Platz zurückgehe, und der Geruch des fettigen Flugzeugessens, das gerade auf dem Wägelchen durch die Kabine gekarrt wird, macht es auch nicht besser. Ich will nichts essen. Und ich glaube, ich kriege auch nie wieder eine Kirschlikörpraline runter.

Umso besser.

Wer zum Teufel ist dieses Flittchen überhaupt? Eine Kollegin? Auf einmal erinnere ich mich an die Weihnachtsparty, die vor ein paar Monaten in James’ Büro stattgefunden hat. Er hatte mich mit einer der Sekretärinnen stehen lassen, angeblich, um etwas zu trinken zu holen. Als er zehn Minuten später immer noch nicht zurück war, unterbrach ich schließlich meine Plauderei mit der Sekretärin und machte mich auf den Weg, um ihn zu suchen. Er stand am Tresen und unterhielt sich für meinen Geschmack etwas zu vertraulich mit einer großen, schlanken, dunkelhaarigen Frau. Auch die Körpersprache der beiden wirkte alles andere als distanziert, und ich weiß noch, dass ich kurz mit meiner ziemlich ausgeprägten Eifersucht zu kämpfen hatte. Aber als er hochsah und mich entdeckte, wirkte er kein bisschen schuldbewusst. »Lucy, da bist du ja! Ich hab mich grade ein bisschen mit, äh, mit Zoe hier unterhalten.«

Als ich ihn später nach dieser Frau fragte, erzählte er mir, wie peinlich es ihm war, dass er sich nur noch mit Müh und Not an ihren Namen hatte erinnern können. Sie sei neu im Büro, sagte er, und kenne kaum jemanden. Ja, er fände sie ganz nett, aber sie sei absolut nicht sein Typ. Natürlich musste ich ihn danach fragen. Das kann ich mir nie verkneifen.

Jetzt spüre ich plötzlich, dass die Druckverhältnisse sich verändern, und spähe auf die digitale Flugdarstellung: Nur noch fünfundzwanzig Minuten bis zur Landung! Eine Welle der Nervosität überrollt mich, gefolgt von erneuter Übelkeit. Wenige Sekunden später kündigt der Kapitän die Landung an. Ich ziehe meinen Gurt fest, klappe mein Tischchen hoch und bringe meine Rückenlehne in die aufrechte Position. Während die anderen Passagiere ihre elektronischen Geräte abschalten, umklammere ich mein Handy ganz fest – der Flughafen von Singapur ist nur noch wenige Minuten entfernt …

Singapur

Singapore International Airport Zwischenstopp: 2 Stunden 10 Minuten

Ohne das Handy auch nur eine Sekunde loszulassen, mache ich mich auf den Weg durchs Gate und weiter ins Flughafengebäude. Leider herrscht dort ein Riesengedränge, und da ich ein bisschen Ruhe brauche, kehre ich um und bahne mir einen Weg durch die Menge zurück zum Gate. Dort suche ich mir eine einigermaßen ungestörte Ecke, schalte das Handy an und wähle James’ Nummer. Es klingelt und klingelt und klingelt …

Dann hab ich seine Voicemail dran.

Das glaub ich jetzt nicht! Dreizehn verdammte Stunden hab ich gewartet, um ihn endlich anrufen zu können. In England ist es jetzt kurz nach zehn am Vormittag. Wo zum Teufel steckt er bloß? Plötzlich bin ich gar nicht mehr sicher, ob ich das wirklich wissen will. Ich breche die Verbindung ab, versuche es aber gleich noch einmal. Dann überwältigt mich die Übelkeit in meiner Magengrube, ich sinke auf den nächstbesten Sitzplatz und vergrabe den Kopf in den Händen.

»Wenn ich doch bloß mitkommen könnte! Ich werde dich so furchtbar vermissen«, murmelt er in meine Haare und hält mich ganz fest.

»Das wünsche ich mir auch.«

»Diese Känguru-Typen sollen sich bloß fernhalten und ihre Finger von meiner wunderschönen Freundin lassen. Ich werde denen eine richterliche Verfügung aufbrummen!«

»Als könntest du das, du Spinner.«

»Ich liebe dich, Lucy. Ruf mich an, sobald du da bist. Oder noch besser gleich heute Abend, bevor du einsteigst.«

»Wird gemacht. Ich liebe dich auch.«

Zärtlich küsst er mich, dann geht er zur Tür. Auf halbem Weg hält er inne und schaut auf meinen Koffer hinunter.

»Süße, wie willst du das alleine schaffen? Bist du sicher, dass du zurechtkommst?«, fragt er besorgt.

Ich erkläre ihm, dass ich vorhabe, wie sonst auch in Soho zur Arbeit zu gehen, später am Nachmittag zurückzukommen, mir meinen Koffer zu schnappen, ein Taxi nach Paddington zu nehmen und dort in den Flughafenexpress zu steigen.

»Hör mal, ich hab eine viel bessere Idee«, sagt er, kommt wieder rein und schließt die Tür. »Warum fährst du heute nicht einfach mit dem Taxi zur Arbeit? Dann kannst du den Koffer gleich mitnehmen und später einfach mit dem Taxi weiter nach Paddington fahren. Und ich kann dir jetzt deinen Koffer wenigstens noch die Treppe runterschleppen.«

»Ach James, das Taxi ist mir zu teuer. Ehrlich, ich schaff das schon.«

»Nein, das wird nicht zu teuer, ich bezahle dir das Taxi. Mach dir keine Sorgen. Komm schon, bist du so weit?«

Ich zögere, aber er schaut mich erwartungsvoll und voller Fürsorge an. Nach meiner gestrigen Einpackpanik hab ich die Wohnung nicht wieder aufgeräumt, aber anscheinend stört ihn das nicht.

»Na gut.« Ich lächle ihn dankbar an. »Danke.«

Sein Gesicht hellt sich auf, er nimmt meinen Koffer, und wir gehen zusammen die Treppe hinunter.

Ich drücke auf die Wahlwiederholung.

»Ja, hallo?«

»James!«

»Lucy! Hey, wo bist du denn?«, fragt er zärtlich.

»Wo hast du denn gesteckt? Ich versuche schon dauernd, dich anzurufen.«

»Ich war unter der Dusche.« Es hört sich ein bisschen irritiert an, so, als würde ihn die Panik in meiner Stimme wundern.

»Mit ihr?«

»Wie bitte?«

Auf einmal packt mich die Wut.

»Warst du vielleicht mit dieser verdammten Nutte unter der Dusche, mit der du gestern geschlafen hast und die den Nerv hat, mich von deinem Handy aus davon in Kenntnis zu setzen?«

Schweigen.

»JAMES?«

»Lucy, wovon redest du?«

»Das weißt du ganz genau.«

»Nein, Lucy, ich habe wirklich keine Ahnung, was du meinst.«

»Das Mädchen, James, die Frau, mit der du letzte Nacht gevögelt hast! Sie hat mir von DEINEM HANDY eine SMS geschickt!« Aber schon verliert meine Wut an Überzeugungskraft.

James dagegen ist genervt. »Lucy, was zum … ich schwöre dir, ich habe letzte Nacht mit niemandem gevögelt. Ich war mit den Jungs von der Arbeit im Pub, und danach bin ich heimgegangen.«

»Aber … «

»Und zwar allein!«

»Wer hat dann … «

»Ich weiß immer noch nicht, wovon du da redest. Was denn für eine SMS?«

»Ich hab sie gestern Abend um neun gekriegt, direkt bevor das Flugzeug gestartet ist. Da stand: ›Hi Lucy! Habe gerade mit James in deinem Bett geschlafen. Dachte, das interessiert dich vielleicht … 4mal diesen Monat … ‹«

»Diese Arschlöcher!«, unterbricht James mich wütend.

»Was?«

»Das müssen die Jungs gewesen sein, die dich ärgern wollten. Garantiert haben sie sich mein Handy unter den Nagel gerissen, als ich an der Bar war und Getränke geholt habe.«

Tränen schießen mir in die Augen, und ich hole tief Luft. Mir wird klar, dass er ja vielleicht doch nicht lügt.

»Lucy?«, fragt er leise. »Alles in Ordnung?«

»Nein! Natürlich nicht! Ich habe mich im Flugzeug übergeben!«

»O Gott! Lucy, das tut mir so leid.«

»Schon okay«, schniefe ich. »Ist ja nicht deine Schuld.«

Einen kurzen Augenblick herrscht Schweigen, dann sagt er: »Süße, du hättest doch wissen müssen, dass ich dich niemals betrügen würde. Als ich gestern Abend heimgekommen bin und du warst nicht da, hab ich dich so sehr vermisst. Ich kann gar nicht glauben, dass du denkst, ich könnte dir so was antun. Ehrlich gesagt macht mich das ziemlich traurig.«

»James, es tut mir leid. Ich hab’s einfach nicht verstanden.

Ich wusste nicht, was los war.«

»Hey, schon okay. Alles okay. Ich liebe dich.«

Inzwischen strömen Menschen an mir vorbei zum Gate, also wische ich mir die Tränen aus den Augen und spreche ganz leise. »Ich liebe dich auch. Und es tut mir leid, dass ich an dir gezweifelt habe. Aber ich war einfach total durcheinander.«

»Keine Sorge. Wenn einer von deinen Freunden das mit mir gemacht hätte, wäre ich auch an die Decke gegangen! Aber hör zu, Lucy: Versprich mir, dass du dir davon nicht deine Ferien verderben lässt. Die werden nämlich absolut großartig!«

Als wir schließlich auflegen, bin ich so erleichtert, dass ich laut auflache. Ein paar Leute, die am Gate Schlange stehen, drehen sich um und starren mich an. Mir wird klar, dass ich womöglich wirklich etwas fertig aussehe, also mache ich mich auf den Weg zum nächsten Damenklo.

Hier in Singapur ist dieser Samstagabend heiß und feucht, und ich habe mein Handgepäck in der festen Absicht gepackt, jede warme Minute auszukosten. Dafür kann ich mir jetzt in der engen Toilettenkabine meine Jeans ausziehen, in ein smaragdgrünes Sommerkleid schlüpfen und meine Turnschuhe gegen schwarze Riemchensandalen mit Keilabsatz austauschen. Dann gehe ich wieder hinaus, binde mir vor dem Spiegel über dem Waschbecken meine knapp schulterlangen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz und spritze mir Wasser ins Gesicht. Ich bin nicht geschminkt, aber ich trage ein bisschen Feuchtigkeitscreme und Lippenbalsam mit Kirschgeschmack auf.

Mit einem wesentlich normaleren Gefühl mache ich mich schließlich auf den Weg zum Flughafen-Swimmingpool, von dem mir Gemma, eine meiner Kolleginnen, erzählt hat. Zwar habe ich keine Lust zu schwimmen, aber es gibt da draußen auch eine Bar, und ich brauche eindeutig einen Drink. Vor dem Flug nach Sydney habe ich noch anderthalb Stunden totzuschlagen.

Sobald ich durch die elektrische Tür am Ende des Terminals trete, trifft mich die schwüle Luft wie ein Hammer. Ich suche mir einen Platz an der Bar und bestelle mir einen Cocktail, während ich mich bemühe, die entsetzliche Popmusik auszublenden, die aus der Anlage dröhnt. Auf einmal überfällt mich eine unglaubliche Aufregung. Ich bin auf dem Weg zurück nach Australien!

Als ich Molly und Sam das letzte Mal gesehen habe, waren wir alle sechzehn und noch auf der Highschool. Kaum zu glauben, dass das schon neun Jahre her ist! Damals war die Beziehung von Molly und Sam ein dauerndes Hin und Her: Mal waren sie zusammen, dann wieder nicht, und das bedeutete für mich jede Menge Herzschmerz. Ich war nämlich total in Sam verknallt, und jedes Mal, wenn er sich wieder mit Molly aussöhnte, war ich am Boden zerstört, während ich mir unweigerlich neue Hoffnung machte, wenn sich das Verhältnis zwischen ihnen abkühlte.

Ich bin froh, dass keiner von beiden je erfahren hat, was ich empfand. Das Leben geht weiter, und heute freue ich mich ehrlich und von Herzen darüber, dass meine beiden Freunde den Bund fürs Leben schließen wollen.

Jedenfalls glaube ich das. Wer weiß – womöglich wird alles anders, wenn ich Sam wiedersehe. Hoffentlich nicht. Wie ist das mit der ersten Liebe, die man angeblich nie vergisst?

Als Molly mich mit der Neuigkeit anrief, dass sie sich mit Sam verlobt hatte, wusste ich sofort, dass ich sie besuchen musste. Ich hatte Australien verlassen, als meine Mutter, die ursprünglich aus England stammte, zum zweiten Mal heiratete. Irgendwie ist die Geschichte ja ein wenig albern: Meine Mum hat meinen Vater, einen Alkoholiker, in Irland verlassen und mich nach Australien geschleppt, als ich gerade mal vier Jahre alt war, nur um dort einen Engländer kennenzulernen und zwölf Jahre später nach England zurückzukehren. Damals habe ich nur noch geheult, denn es zerriss mir fast das Herz, Australien verlassen zu müssen. Erstaunlich, wie schnell man sich anpasst: Heute liebe ich England. Ich liebe London, die Stadt, in der ich lebe und arbeite, und ich liebe es, Mum und ihren Mann Terry in ihrem Haus in Somerset zu besuchen. Ich liebe auch meine beiden Brüder – genau genommen natürlich meine Stiefbrüder: Tom ist inzwischen einundzwanzig, Nick gerade achtzehn. Für mich war es ein bisschen einsam, allein mit Mum aufzuwachsen.

Im Pool planschen hauptsächlich Kinder mit Schwimmflügeln. Oben an der Treppe erscheint ein junges Paar. Beide tragen Jeans und einen Rucksack auf dem Rücken, und als sie ins Freie treten, wischen sie sich sofort den Schweiß von der Stirn. Ich bin heilfroh, dass ich mein Kleid eingepackt habe.

Ich glaube, ich will noch einen Cocktail. »Entschuldigen Sie, wie heißt der Drink nochmal, den ich gerade hatte?«

»Singapore Sling, Madam.«

Wie passend. »Ich hätte gern noch einen, bitte.« Der Barkeeper nickt und macht sich ans Werk. Was ist da wohl drin, frage ich mich und greife nach der Getränkekarte. Aha: Grenadine, Gin, Sweet and Sour Mix, Kirschbrandy … Lecker.

Die Musik in Singapur ist richtig gut. James würde lachen, wenn er mich jetzt sehen könnte – Cocktails trinkend und mit dem Fuß wippend.

Vielleicht hat James meine Kirschlikörpralinen ja wirklich zum Spaß versteckt. Denn die Geschichte mit dem Bettler kann ich immer noch nicht glauben.

Okay, mein Freund neigt zu gelegentlichen Flunkereien. Aber ich glaube, dass er ehrlich keinem damit wehtun will. Beispielsweise hat er mir bei der Party, auf der wir uns kennengelernt haben, erzählt, dass man seiner Mutter einmal zehntausend Pfund dafür geboten habe, damit sie dem Chef von »Mr.Kipling Cakes« ihr Schokoladenkuchenrezept verkauft. Bestimmt hat er gedacht, dass ich die Geschichte sofort wieder vergesse, aber ein paar Monate später war ich nachmittags zum Tee bei seinen Eltern, und seine Mum, eine winzige, zarte Frau, servierte zufällig Schokoladenkuchen.

»Ist das etwa Ihr grandioses Rezept?«, fragte ich sie wissend, und sie antwortete: »Oh, nein, Liebes, den Kuchen hab ich bei Marks and Spencer gekauft. Ich kann überhaupt nicht backen, mir verbrennt einfach alles.«

Als ich James deswegen später zur Rede stellte, konnte er sich vor Lachen kaum noch halten und fragte mich, wie ich denn auf diese absurde Idee gekommen wäre. Ich erklärte es ihm, aber er stritt alles ab und bestand lachend darauf, dass ich das sicher nur geträumt hätte. Ich weiß nicht, vielleicht hat er ja recht.

Aber es gab noch andere Lügengeschichten, die ich garantiert nicht geträumt haben kann – manche davon waren sogar ziemlich originell. Wie die Geschichte von seinem Großvater, der angeblich mit Marilyn Monroe geknutscht hatte, als sie für die Truppen in Korea sang. Von James’ Vater erfuhr ich später, dass der alte Kerl überhaupt nicht im Koreakrieg gekämpft und dass Marilyn zu dem Zeitpunkt gerade Joe DiMaggio geheiratet hatte. Das hatte ich gegoogelt.

Aber dass seine Mum ihr Rezept an Mr.Kipling verkaufen sollte … Das ist meine Lieblingsgeschichte. Dieser kleine Scheißkerl. Manchmal denke ich, James sollte Schauspieler werden. Aber nein, er ist als Anwalt viel zu gut.

Und das ist er wirklich. Vor sechs Monaten ist er befördert worden und hat eine ordentliche Lohnerhöhung bekommen. Deshalb konnte er sich auch diese Ohrringe zu meinem Geburtstag leisten. Aber James hätte sie mir auch ohne die Beförderung geschenkt und einfach sechs Monate dafür gespart. Er tut einfach alles für mich. Mindestens einmal im Monat bringt er mir Blumen mit, er lädt mich dauernd zum Essen ein und kauft mir Geschenke. Meine Freundinnen beneiden mich alle um James und finden, dass ich das große Los gezogen habe.

Auf einmal höre ich ein durchdringendes Dröhnen, und ein Flugzeug rollt ganz in der Nähe vorüber. Ein Lärm, als ob man durch die Autowaschanlage fährt. Ich beobachte, wie ein Mann um die vierzig, mit schütterem Haar, die Treppen in den Swimmingpool hinuntersteigt. Bei jedem Schritt wackelt sein Bierbauch. An einem Tisch auf der anderen Seite der Bar sitzen drei junge Typen und trinken Bier. Einer schaut zu mir herüber, wendet sich dann seinen Kumpels zu und sagt irgendwas. Daraufhin drehen sich alle drei zu mir um und grinsen blöd.

Es geht mir schon so viel besser als vorhin. Verdammt, ich hab Lust auf noch einen Cocktail.

»Singapore Sling?«

»Ja bitte.«

Allmählich fühlte ich mich etwas beschwipst. Ich weiß, man sollte lieber nicht allein trinken, aber scheiß drauf, ich habe Ferien. Und ich habe einiges durchgemacht in den letzten – wie lange hat dieser entsetzliche Zustand eigentlich angedauert? Fünfzehn Stunden? Ob ich irgendwann mal darüber lachen werde? Schon jetzt kommt es mir ziemlich komisch vor. Aber vermutlich sind daran auch die drei Singapore Slings schuld.

Der Gedanke an den armen James, der abends in unsere leere Wohnung heimkehrt, allein im großen Bett schläft und mich vermisst … Ich wünschte, er hätte mit nach Australien kommen können. Wenn er die Beförderung nicht gekriegt hätte, hätte er vielleicht freinehmen können, aber als ich den Flug gebucht habe, fand er, dass es noch zu früh dafür war, nach Urlaub zu fragen. Wenn Molly und Sam ihn doch bloß kennenlernen könnten.

Jetzt ist ein Pärchen im Wasser. Sie küssen sich. Der Mann um die vierzig mit der Halbglatze verrenkt sich beim Vorbeischwimmen jedes Mal fast den Hals. Ein Brustschwimmer, das sieht man nicht oft, oder? Irgendwie wünsche ich mir jetzt doch, ich hätte einen Badeanzug dabei, aber dann säße ich nicht hier auf diesem hübschen Barhocker und könnte meine Füße in den Plateauschuhen nicht so lässig baumeln lassen.

»Noch einer, Madam?«

Flirtet er etwa mit mir? Das war doch grade ein zwinkerndes Grinsen, ganz eindeutig. Gibt es das überhaupt, ein zwinkerndes Grinsen? Nein, ich glaube, es gibt nur ein Augenzwinkern oder ein verführerisches Grinsen. Nein, ein Augenzwinkern und ein verführerisches Lächeln und ein anzügliches Grinsen. Mann, bin ich blau.

Das ist ganz bestimmt mein letzter Singapore Sling. Holla!

Da wäre ich doch fast von meinem Hocker gekippt. Wann ging nochmal mein Flug? Hinter der Bar ist ein Bildschirm mit den Abflugzeiten, und ich muss mich anstrengen, um die Zahlen zu erkennen. Wo ist denn mein Flug? Sydney, Sydney, Sydney – ah, da ist er. »Last Call«.

Verdammt, steht da wirklich Last Call?

Mist! Ich rutsche von meinem Stuhl – um ein Haar wäre ich gekippt! –, stürze in Richtung Ausgang, stolpere über meine Keilabsätze. Dann fällt mir plötzlich ein, dass ich noch nicht bezahlt habe. Also renne ich zurück, sehe die Erleichterung im Gesicht des Barkeepers, der vermutlich gedacht hat, ich wollte einfach abhauen. Ich schleudere meine Kreditkarte vor ihn auf den Tresen, bringe ihn mit all meiner Willenskraft dazu, sich zu beeilen, drehe mich dann um und renne los. Aber wo um Himmels willen ist denn bloß Gate 22C?

Von Singapur nach Sydney

Samstag: Abflug von Singapur 20 Uhr Sonntag: Ankunft Sydney 6.50 Uhr Flugdauer: 7 Stunden 50 Minuten

O je, die Flugbegleiterinnen sehen gar nicht glücklich aus. In den letzten zehn Minuten haben sie Lucy McCarthy zweimal über Lautsprecher ausrufen lassen, während ich im Slalom zum Gate gerast bin. Ich entschuldige mich überschwänglich, aber das »Sorry« kommt raus wie »Schorry«, und die Tatsache, dass ich ziemlich torkelig über die Planke schwanke, macht die Sache nicht besser.

Hab ich grade Planke gesagt? Uuups. Ich meine natürlich Gang.

Meine Mitreisenden glotzen mich mehr oder minder mitfühlend an. Ja, ja, schon gut, ich hab ein bisschen was getrunken, aber bin ich deshalb gleich ein totaler Freak? Ah, hier ist mein Platz. Wieder am Fenster, super. Jawohl, Sie müssen leider aufstehen. Und ich bin nicht so betrunken, dass ich nicht mitkriege, wie Sie die Augenbrauen hochziehen und vielsagende Blicke mit Ihrer Nachbarin wechseln. Wahrscheinlich haben Sie gedacht, Sie haben einen netten freien Sitz neben sich – so ein Pech aber auch! Diesmal nehme ich meine Tasche lieber mit auf meinen Platz.

Ich lasse mich in meinen Sitz plumpsen und versuche, unter meinem Hintern den Sicherheitsgurt zu finden. Decke … Nein. Kissen … Nein. Wo ist das doofe Ding denn bloß? Ah, hier ist der Gurt! Ich zerre daran, zerre und zerre. Warum bewegt der sich denn nicht? Oh, okay, der Gurt gehört meinem Nachbarn. Sorry, Kumpel. Aber jetzt hab ich meinen auch gefunden. Klick. Mir ist ganz schön schwummrig.

»Ladies und Gentlemen, bitte schnallen Sie sich an, klappen Sie den Tisch vor Ihnen hoch und bringen Sie die Lehne Ihres Sitzes in aufrechte Position … «

Ja, ja, das kenn ich alles. In- und auswendig. Blablabla.

» … Handys dürfen erst wieder benutzt werden, wenn wir sicher am Sydney International Airport gelandet sind, denn Mobiltelefone können die Navigationssysteme der Maschine stören … «

Ja, das kenne ich auch. Hab ich alles schon mal gehört. Uuups, nur ausgeschaltet hab ich mein Handy leider nicht.

Ich komm … nicht … ganz … an die … Tasche …

Der Gurt … ist … zu … eng …

Schließlich löse ich den Verschluss, schnappe mir meine Tasche und fische das Handy heraus. Keine Nachrichten, Gott sei Dank. Ich schalte das Gerät aus und stopfe es in die Tasche zurück. Dann schnalle ich mich wieder an und stoße ein paar tiefe Singapore-Sling-Seufzer der Erleichterung aus.

Unter meinem Kleid schauen meine gebräunten Beine hervor, und ich betrachte sie freudig. Ich mag diese falsche Bräune – sie sieht so hübsch natürlich aus. Aber es ist so nervig, dass man die erste Nacht, nachdem man das Zeug aufgetragen hat, immer in alter Bettwäsche schlafen muss, weil man sonst alles einsaut. Danach muss man sie erst mal waschen, und dann kann man wieder die gute rausholen … also hat man zwei Ladungen Wäsche in zwei Tagen. Na ja, diesmal muss James das Waschen übernehmen. Selbst schuld, er hat mich ja so schnell aus der Wohnung gescheucht.

Hübsche Bettwäsche!

Kaum ist die Bedeutung der Worte in meinem Hirn angekommen, geht mein Magen schon in den freien Fall, und ich frage mich: Woher zum Teufel wussten James’ Kumpels von meiner eingesauten Bettwäsche?

O nein … Sie wussten gar nichts! Weil sie diese SMS nämlich gar nicht geschrieben haben.

Eilig löse ich den Sicherheitsgurt und greife nach meiner Tasche, wobei ich der Rückenlehne sowie der Person im Sitz vor mir einen ordentlichen Tritt versetze. Ich krame das Telefon raus und schalte es ein.

Hi Lucy! Habe gerade mit James in deinem Bett geschlafen. Dachte, das interessiert dich vielleicht. 4mal diesen Monat. Hübsche Bettwäsche. Xxx

»Miss, Sie müssen Ihr Handy jetzt bitte ausschalten.«

Was denn, haben diese Stewardessen etwa Augen im Hinterkopf?

»Ich kann nicht! Ich muss erst noch einen dringenden Anruf erledigen!«

»Miss, Sie haben die anderen Passagiere schon lange genug aufgehalten, finden Sie nicht auch?« Sie schaut mich vielsagend an. »Sie sollten Ihr Telefon jetzt lieber ausschalten. Und zwar schnell.«

»Gibt es ein Problem?« Eine weitere zickige Flugbegleiterin kommt dazu und mischt sich ein.

»Nein, Franny, alles klar hier. Die junge Dame hier schaltet gerade ihr Handy aus.«

Innerlich koche ich vor Wut, aber ich gehorche. Nachdem ihr gemeinsamer Einsatz erfolgreich beendet ist, stolzieren die beiden blasierten Tussen davon, den Gang hinunter. Am liebsten würde ich dieser blöden Franny mein Handy an den Kopf werfen.

Dieser verlogene, hinterhältige Mistkerl. Ich werde ihn umbringen.

Das Flugzeug startet, aber ich bin so wütend, dass ich es kaum bemerke. Der Mann um die vierzig und seine Frau/ Freundin/Geliebte (Letzteres ist am wahrscheinlichsten) neben mir wirken extrem angespannt. Eigentlich habe ich immer gedacht, dass ich ein hohes Maß an Selbstkontrolle besitze, aber jetzt bin ich mir da gar nicht mehr so sicher. Gut, dass ich einen Fensterplatz habe, sonst würde ich wahrscheinlich wie eine Furie schreiend durch den Gang toben. Wie soll ich das bloß nochmal acht Stunden aushalten?

Draußen geht gerade die Sonne unter, und wir beginnen unsere Reise durch die Nacht. Das beruhigt mich etwas, und mir fällt ein, dass ich seit der Abreise von London gestern Abend nichts mehr gegessen habe. Vier Cocktails auf leeren Magen – mein Gott. Auf einmal muss ich dringend auf Toilette. Die Leute neben mir sind nur zu gern bereit, meiner Bitte nachzukommen und mich durchzulassen. Sie beäugen mich äußerst misstrauisch, als ich mich an ihnen vorbeiquetsche.

Das fiese Neonlicht in der Toilette geht flackernd an. Als mir an meinem Spiegelbild die Diamantohrringe ins Auge springen, spiele ich ernsthaft mit der Idee, sie runterzureißen, in die Toilette zu werfen und sie runterzuspülen. Ha! Vermutlich sind sie nicht mal echt! Wenn man bedenkt, wie dieser Dreckskerl mich dreist angelogen hat … Wahrscheinlich ist das nur bescheuertes, viereckiges Glas. Das würde doch gut passen.

Inzwischen haben die Flugbegleiterinnen angefangen, vorn im Gang Getränke anzubieten. Ich denke, dass sie bestimmt kurz in die Business Class ausweichen können, um mich zu meinem Platz durchzulassen, und gehe auf sie zu. Die ältere, Franny, nickt der jüngeren zu, die dreht sich um, entdeckt mich und wendet sich mit einem fast unsichtbaren Schütteln ihres perfekt frisierten Kopfs flugs wieder Franny zu. Dann lassen die beiden Zicken mich vor der Toilette warten, während sie in aller Ruhe weitermachen und mit ihrem frostigen, falschen Lächeln ihre Getränke ausschenken, bis sie schließlich bei mir angekommen sind und ich endlich an ihnen vorbeigehen kann. Inzwischen bin ich außer mir vor Wut, aber ich lasse mir nichts anmerken. Ich kehre an meinen Platz zurück, wo ich feststelle, dass ich noch nicht mal etwas zu trinken bekommen habe.

Jetzt servieren Franny und ihre bösartige Kollegin das Essen. Das Hühnchen ist schleimig und unappetitlich, aber ich bin halb verhungert und esse alles auf. Sogar das Törtchen mit Sahneimitat kriege ich gut runter. Allmählich beginnt die Wirkung des Alkohols nachzulassen, und ich fühle mich erschöpft, obwohl ich immer noch so sauer auf James bin, dass ich kaum Luft kriege, wenn ich an ihn denke.

Er hat mich also angelogen. Ich kann nicht glauben, dass ich mich tatsächlich bei ihm für mein Misstrauen entschuldigt habe. Wie kann er es wagen? Das Bild von ihm mit einer anderen Frau im Bett taucht erneut in meinem Kopf auf, aber schnell besinne ich mich auf meine maßlose Wut. Mit Wut kann ich viel besser umgehen als mit Übelkeit.

Ich muss schon wieder aufs Klo. Die Flugbegleiterinnen haben unsere Essenstabletts schon weggeräumt, aber sie sind noch mit den Reihen hinter uns beschäftigt. Der Vorhang, der die billigen Plätze von der Business Class trennt, ist zurückgebunden, und die Business-Class-Toiletten reizvoll nah. Was soll’s, denke ich und gehe den Gang hinauf.

Hier drin ist es auch viel hübscher. Es gibt sogar Handcreme und Blumen.

Es klopft an der Tür. Was nun? Ich pinkle so schnell ich kann, während das Klopfen immer drängender und lauter wird. Als ich fertig bin, schließe ich sofort die Tür auf. Überraschung! Vor mir steht Frannys frostige Freundin. Wahrscheinlich hat sie mich reingehen sehen. Ich hatte noch nicht mal Zeit, die Handcreme zu benutzen. Verdammt.

»Miss, das sind Business-Class-Toiletten. Die Economy-Class-Toiletten befinden sich am anderen Ende«, erklärt sie mir herablassend.

Ich mache eine Handbewegung zu den Leuten in der Business Class und erwidere: »Ich glaube nicht, dass irgendjemand hier etwas – Moment mal! Sind das Telefone?«

Da sitzt doch tatsächlich ein asiatischer Geschäftsmann und telefoniert, und sein Telefon ist durch ein Kabel mit der Rückenlehne des Sitzes vor ihm verbunden.

»Sieht ganz danach aus, oder?«

Ich sehe die Frau verzweifelt an. »Ich muss telefonieren.«

»Ich fürchte, das geht nicht. Dieser Service ist nur für Passagiere der Business Class vorgesehen.«

»Nein, Sie verstehen mich nicht. Ich muss unbedingt telefonieren.«

»Tut mir leid, aber ich kann wirklich nichts machen. Gehen Sie jetzt bitte wieder an Ihren Platz zurück.«

Ich hätte es besser wissen müssen. Man sollte sich nie mit einer Flugbegleiterin anlegen.

Entschlossen führt sie mich an meinen Platz zurück, während ich mich verzweifelt nach den Telefonen umschaue. Mir ist es vollkommen gleichgültig, dass der Flug nur noch ein paar Stunden dauert. Ich möchte diesen Dreckskerl anrufen und ihn anschreien, und zwar JETZT. Ich werde dieses Telefon benutzen.

Eine Stunde später, als alle anderen Passagiere entweder schlafen oder Fernsehen gucken, hieve ich mich aus meinem Sitz und klettere vorsichtig über die Armlehnen meiner dösenden Nachbarn hinweg, um sie nicht zu wecken. Leise schiebe ich den Vorhang zur Business Class zurück und gehe hinein. Der Asiate schläft friedlich, also schleiche ich zu ihm hinüber, hebe das Telefon ab und inspiziere es. Nein! Wie es aussieht, braucht man eine Kreditkarte, um es zu benutzen.

»Miss, was tun Sie da?«

Beim schrillen Klang der Flugbegleiterinnenstimme fährt der Asiate hoch und starrt mich erschrocken an. Dann ruft er etwas, was ich nicht verstehe, und bevor ich weiß, wie mir geschieht, wird mir das Telefon aus der Hand gerissen, und Franny führt mich ab.

Im Küchenbereich hält sie an, mustert mich mit hartem, eiskaltem Blick und zischt: »Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Erstens sind Sie zu spät und sturzbetrunken an Bord gekommen. Sie hatten Glück, dass wir Ihnen den Zutritt zu diesem Flugzeug nicht verweigert haben … «

»Ich war doch gar nicht so betrunken«, unterbreche ich sie.

»Das reicht! Ich sage Ihnen das jetzt nur einmal. Wenn Sie nicht augenblicklich auf Ihren Platz zurückgehen und dort bis zur Landung ruhig sitzen bleiben, werde ich dafür sorgen, dass Sie nie wieder mit dieser Fluggesellschaft fliegen können. Haben wir uns verstanden?«

Ich nicke mit puterrotem Gesicht und mache mich gehorsam und hochgradig verlegen auf den Weg zu meinem Sitz zurück. Franny lässt mich keine Sekunde aus den Augen, während ich über meine schlafenden Nachbarn hinwegklettere. Als sie sich vergewissert hat, dass sie mich erfolgreich auf den mir zustehenden Platz zurückverwiesen hat und die Aussicht besteht, dass ich fürs Erste sitzen bleibe, dreht sie sich um und geht mit einem angewiderten Kopfschütteln davon.

Ein paar Minuten sitze ich mit glühend heißem Gesicht da, dann beschließe ich, dass es besser ist, wenn ich einen Film anschaue oder so – irgendetwas, womit ich mich ablenken kann. Jedenfalls werde ich mich nicht mehr von der Stelle rühren.

Eine Stunde später, als sie mit dem Frühstückswagen vorbeikommen, sehe ich kaum auf, und als wir endlich landen, verlasse ich mit gesenktem Blick die Maschine. Auch die Flugbegleiterinnen sagen nichts, denn sie wollen vor den anderen Passagieren bestimmt keine Szene machen. Aber ich gehe jede Wette ein, dass sie heilfroh sind, mich von hinten zu sehen, und ich hoffe sehr, dass ich nicht mit ihnen zurückfliegen muss. Andererseits habe ich im Moment wirklich andere Sorgen.

Sydney

Kapitel 1

Ehe ich James anrufen kann, muss ich erst mal durch die Passkontrolle, aber sobald ich da fertig bin und zur Gepäckausgabe laufe, wähle ich seine Nummer.

Fast sofort hebt er ab. »Hallo?«, ruft er. Lachend.

»James?«

»Lucy! Wie geht es dir? Wie war der Flug?«

»Verlogener, hinterhältiger Scheißkerl.«

»Lucy?«

»Du hast mich genau verstanden, du Arsch.«

»Wie bitte?« Seine Verwirrung ist deutlich zu hören.

»Die Bettwäsche, James, die Bettwäsche! Woher wussten deine Freunde, dass ich die alte ausgediente Bettwäsche benutze, wenn ich mich mit Bräunungscreme eingerieben habe? Das können die nämlich überhaupt nicht wissen, du Arschloch … «

»Lucy«, fällt er mir ins Wort, aber ich lasse mich nicht bremsen.

»Sie können es nicht wissen, weil sie die Bettwäsche nicht gesehen haben. Aber wer immer die Frau war, die du gevögelt hast, sie weiß es – oh, sie weiß es nur allzu gut.«

»Lucy!«

»Halt den Mund, James, ich will deine blöden Ausflüchte nicht hören! Diesmal hast du es echt versaut – ich werde dir nie verzeihen, niemals!«

»Lucy!«

»Nein! Halt einfach den Mund!«

»Ägyptische Baumwolle!«

»Was?«

»Ägyptische Baumwolle.«

»Was soll das denn jetzt heißen?«

Er klingt panisch. »Ich hab meinen Kumpels von der sündhaft teuren Bettwäsche erzählt, die du vor ein paar Wochen bei Selfridges gekauft hast. Das ist gerade erst ein paar Tage her, da hab ich mich bei den Leuten auf der Arbeit darüber ausgelassen.«

»Warum solltest du bei der Arbeit über unsere Bettwäsche reden, James, warum? Ich glaube dir kein Wort.« Meine Stimme ist tonlos.

»Tja, du kannst es mir ruhig glauben, es stimmt nämlich. Jeremy hat irgendwas davon gelabert, dass ich meine Beförderung doch bestimmt genieße und jetzt einen auf Highlife mache, und ich hab geantwortet, dass mit dem Highlife bald Schluss sein wird, wenn du weiterhin das Geld für lächerliche Bettwäsche aus ägyptischer Baumwolle raushaust.«

»Oh.«

»Ja. Oh. Das ist alles der reinste Irrsinn!«

»Ich dachte, ›hübsche Bettwäsche‹ wäre sarkastisch gemeint.«

»Na, dann hast du dich geirrt. Schon wieder.«

Wir schweigen beide. James hat mir komplett den Wind aus den Segeln genommen, und ich stelle mir vor, wie er jetzt ganz aufgeregt auf der anderen Seite der Welt steht und vor lauter Entrüstung schnauft wie nach einem Hundertmeterlauf. Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Ich bin immer noch schrecklich wütend. Es ist, wie wenn man etwas träumt, was einen ärgert, und dann wacht man auf, und es dauert erst mal eine Weile, bis man nicht mehr sauer ist. Natürlich kann James das nicht verstehen, wenn er tatsächlich nichts Schlimmes gemacht hat. Trotzdem wünsche ich mir, dass er sich entschuldigt. Ich fühle mich nämlich echt nicht in der Lage, noch einmal zu beteuern, dass es mir leidtut.

»Lucy?«

Ich kriege kein Wort heraus.

»Sag doch was.«

»Ich weiß aber nichts.«

»Na ja, ›tut mir leid‹ wäre eine Möglichkeit.«

»Tut mir leid.«

»Klingt nicht so, als würdest du es ernst meinen.«

»James, ich habe gerade die schlimmsten vierundzwanzig Stunden meines Lebens hinter mir! Ich dachte, du hättest mich betrogen. Ich dachte, ich verliere dich und muss aus unserer Wohnung ausziehen, unsere CDs aufteilen – alles, was dazugehört. Das habe ich jetzt zwei Mal durchgemacht! Alles nur, weil deine bescheuerten Kumpels mir diese bescheuerte SMS geschickt haben. Verstehst du das denn nicht?«

Jetzt schweigt er mich an.

»Bitte finde raus, wer die SMS geschickt hat. Ich möchte Namen, James. Namen, keine Dramen.«

»Wusste gar nicht, dass du so schön dichten kannst!«, ruft er und lacht.

»Das ist kein Witz. Ich will Namen!«

»Nein, ich werde nicht nachfragen, wer die SMS geschrieben hat, das ist doch albern.« Plötzlich ist er wieder ernst. »Wenn die Jungs erfahren, was sie damit angerichtet haben, finden sie das wahrscheinlich noch toll. Aber wenn wir es einfach ignorieren, kriegen sie wenigstens diese Genugtuung nicht.«

Ich finde das Argument nicht sonderlich überzeugend, ich will ihre Köpfe rollen sehen und mit Steinen nach ihnen werfen, aber ich weiß trotzdem, was er meint. Kindische kleine Arschlöcher.

»Alles wieder gut zwischen uns, Lucy?«

»Nein, überhaupt nicht«, antworte ich barsch, obwohl sein Ton mich schon ein wenig besänftigt.

Das Handy piept. Bestimmt ist der Akku fast leer. Gutes Timing, denn ich sehe grade, dass mein Koffer auf dem Band vorüberfährt. »Ich leg jetzt auf, mein Akku gibt gleich den Geist auf, und mein Koffer kommt gerade.«

»Süße, bitte. Ruf mich an, wenn du das Handy wieder aufgeladen hast. Ich liebe dich, okay? Ich würde dich niemals betrügen.«

Plötzlich fällt mir noch etwas ein. »Warum hast du vorhin gelacht?«

»Was meinst du?«

»Als du ans Telefon gegangen bist. Da hast du gelacht.«

»Oh! Ich hab grade was im Fernsehen angeschaut.«

»Was denn?«

»Lucy, hör endlich auf, so misstrauisch zu sein! Ich hab nichts Böses getan.«

»Was für eine Sendung war es, James?«

Nach kurzem Zögern sagt er: »Wenn du mir nicht vertrauen willst … «

»Sag es mir.«

»Ich hab mir auf UK Gold Little Britain angesehen.«

»Ich wusste nicht mal, dass wir auf unseren Fernseher UK

Gold kriegen.«

»Tja, kriegen wir aber.«

Ich sage nichts dazu.

»Lucy?«

»Ich muss Schluss machen. Bis später dann.« Ich lege auf, schnappe mir meinen Koffer vom Fließband, ziehe den Griff heraus und mache mich, immer noch ziemlich aufgewühlt, auf den Weg durch den Zoll.

Sobald ich Molly und Sam entdecke, wird mir warm ums Herz, Freude durchströmt mich und verjagt die ganze Negativität der letzten vierundzwanzig Stunden. Die beiden stehen am Ende des Gangs, und ich renne zu ihnen, die Augen voller Tränen.

»Ich kann’s nicht glauben, dass ihr da seid!«

Auf einmal werde ich fast erdrückt in einer Dreifachumarmung. Es tut so gut, meine Freunde zu sehen. Molly ist schlanker geworden – ein dünnes blasses Ding, das mich mit einem roten Wuschelkopf weit überragt. Immer schon hat sie ihren »Wischmopp«, wie sie ihre Haare nannte, aus tiefstem Herzen gehasst, aber ich kann sie mir gar nicht anders vorstellen. Auch Sam hat sich verändert. Im Gegensatz zu Molly ist er breiter geworden und sieht jetzt aus wie, na ja, wie ein Mann. Sein Gesicht ist etwas runder, seine braunen Haare kürzer. Er scheint sich sehr zu freuen, mich zu sehen, und ich überprüfe gewissenhaft meine Gefühle für ihn. Nein, nichts. Gott sei Dank.

»Wir haben dir was mitgebracht«, strahlt Molly und zieht ein Päckchen aus der Tasche.

»TimTams!« In der Highschool war das mein Lieblingssnack: ein Keks-Schokoladen-Riegel, ein bisschen wie die Penguin-Bars in England. Man tunkt das eine Ende in den Tee, beißt es ab, tunkt das andere Ende ein und saugt dann das Innenleben so schnell man kann heraus, ehe man sich komplett vollkleckert. »Jetzt fehlt nur noch eine Tasse Tee«, lache ich.

Sam nimmt mir den Koffer ab, und wir gehen zum Parkplatz. Um acht Uhr morgens ist es noch nicht sehr warm, aber ich gehe davon aus, dass uns ein wunderschöner Sonnentag bevorsteht. Ein großes Glücksgefühl durchströmt mich.

»Wie war der Flug?«, erkundigt sich Sam.

Ich stöhne. »Nicht so toll. Aber das erzähle ich euch später.«

»Hör dir bloß mal ihren englischen Akzent an!«, kreischt Molly plötzlich. »Unglaublich! Du klingst richtig britisch!«

»Ach Quatsch.«

»Kein Quatsch! Es stimmt, oder Sam?«

»Allerdings.« Sam lächelt mich voller Zuneigung an. »Da wären wir«, sagt er dann zufrieden, hievt meinen Koffer auf die Ladefläche eines weißen Trucks und legt ihn flach neben ein halbes Dutzend Minipalmen.

»Musst du heute arbeiten?«, frage ich ihn.

»Nein, ich tu nur einem Freund einen Gefallen. Erst mal setze ich euch Mädels zu Hause ab, trink schnell einen Tee mit euch, und dann mach ich ein bisschen Gartenarbeit.«

Sam arbeitet als Gartenbauexperte in den Royal Botanic Gardens von Sydney, wo er Molly übrigens auch seinen Antrag gemacht hat, hoch oben auf einer Plattform im großen pyramidenförmigen Gewächshaus. Den Truck benutzt er für die Arbeit, und ich habe Glück, dass es nicht regnet, sonst würden meine Sachen jetzt nass.

Wir fahren auf den Expressway. Sam wechselt die Spur wie ein Irrer und hupt hemmungslos, wenn ihm ein anderes Auto in die Quere kommt. »Es ist so seltsam, dich fahren zu sehen«, stelle ich fest. »Ich hätte nie gedacht, dass du hinter dem Steuer zum Wahnsinnigen mutierst.«

»Ach was, die anderen müssen mir doch nur ausweichen, dann ist alles klar«, grinst er.

Ich werfe Molly einen vielsagenden Blick zu.

Sie verdreht die Augen. »Das ist noch gar nichts. Du müsstest ihn mal in der Rushhour erleben.«

Wir fahren in einen Tunnel, und als wir auf der anderen Seite wieder herauskommen, liegt die Stadt plötzlich vor uns, eine gezackte Skyline am klaren blauen Himmel. Die goldene Spitze des Sydney Tower glitzert im Licht der Morgensonne.

»Möchtest du über die Brücke fahren, Lucy? Oder durch den Tunnel?«, fragt Sam eine Minute später.

»Über die Brücke! Unbedingt!«, platze ich begeistert heraus.

Sam und Molly wohnen in Manly, einem nördlichen Vorort von Sydney. Man erreicht Manly auch mit der Fähre von der Circular Bay aus, aber jetzt sind wir unterwegs zur Sydney Harbour Bridge.

Bald ragt der riesige Stahlbogen der Brücke vor uns auf. Ganz oben hängen zwei australische Flaggen, und ich kann die kleinen Gestalten ausmachen, die sich wie emsige Ameisen den Brückenbogen emporquälen. Über Sams Schulter hinweg spähe ich nach hinten und erhasche einen Blick auf den Ozean. Wie ein weißes Signalfeuer strahlt uns das Sydney Opera House entgegen, und das Wasser im Hafen funkelt und glitzert, als bestünde es aus Millionen winziger Kristalle.

Auf der anderen Seite der Brücke biegen wir rechts in Richtung Mosman und Manly ab. Autohäuser, Geschäfte, Apotheken, Restaurants, Zeitungsläden, Beerdigungsinstitute und Cafés ziehen an uns vorüber, und bald nähern wir uns der Spit Bridge, neben der sich Hunderte verschiedenfarbiger Wohnblocks an der Klippe über der Bucht emporziehen. Palmen und Pinien säumen das Ufer, das Gras ist gelb und trocken.

»Heißer Sommer?«, erkundige ich mich.

»Sehr heiß«, antwortet Sam. »Gar nicht gut für den Garten.«

Nicht gut für den Garten, aber gut für mich, denke ich. Hoffentlich bleibt es die nächsten Wochen so – und natürlich auch für die Hochzeit.

Molly kurbelt ihr Fenster herunter, und ich atme tief die Meeresluft ein. Mit jeder Minute fühle ich mich mehr wie ich selbst.

»Und wie geht’s James?«, fragt Molly, während Sam einem silbernen Suzuki fast auf die Stoßstange fährt.

»Oooch«, mache ich nur und erzähle dann in Kurzform meine unschöne Geschichte.

»Ach du Schande«, sagt Molly, als ich fertig bin. »Glaubst du ihm denn?«

»Ich weiß nicht. Ich denke schon. Aber ich bin mir einfach nicht sicher.«

Und in diesem Moment treffe ich die Entscheidung, mich von dem, was mit James passiert ist, nicht unterkriegen zu lassen. Monatelang habe ich für diese Reise gespart, es ist das erste Mal seit fast zehn Jahren, dass ich wieder in Australien bin, und ich werde mir diese Ferien auf absolut gar keinen Fall von ihm verderben lassen. Sonst bereue ich es nämlich für den Rest meines Lebens.

»Beweg dich, Frau!«, durchbricht Sam unser Schweigen und drückt auf die Hupe.

Ein paar Minuten später biegen wir nach links auf eine hübsche, von Bäumen gesäumte Straße mit rot gedeckten Häusern ein und parken kurz darauf vor einem einstöckigen, mit Holz verkleideten, grün und cremefarben gestrichenen Haus. Auf der Veranda entdecke ich eine Hängematte, im Vorgarten steht ein Jasminbaum in voller Blüte.

Ich war oft hier, damals, als Sams Familie noch hier gewohnt hat. Kurz nachdem ich Australien verlassen habe, sind Joan und Michael, seine Eltern, bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen. Ihre Leichen wurden nie gefunden. Sam und sein jüngerer Bruder Nathan hatten die Behörden verständigt, als ihre Eltern nach einem Segelausflug bis spät in die Nacht nicht zurückgekommen waren, und ein paar Tage später fand man das verlassene Boot weit draußen auf dem Pazifik. Die einleuchtendste Theorie war, das Joan ins Wasser gefallen war und Michael sie zu retten versucht, aber in der Aufregung vergessen hatte, den Anker zu werfen. Das Boot war abgetrieben, und die beiden waren entweder ertrunken oder von Haifischen angefallen worden. Manche Leute spekulierten, die beiden wären durchgebrannt oder gekidnappt worden, und hinter vorgehaltener Hand wurde sogar gemunkelt, Michael hätte seine Frau ermordet und sich dann selbst das Leben genommen. Aber jeder, der die beiden gekannt hatte, wusste, dass das nicht stimmte. Sie waren ein wundervolles Paar gewesen, voller Herzenswärme, und Joans ansteckendes Lachen hatte das Haus erfüllt. Als ich von ihrem Tod erfuhr, war ich am Boden zerstört. Sams Eltern hatten sich immer gern zu uns »Kids« gesellt, und wir hatten uns mit ihnen auch immer wohlgefühlt. Michael war ein sehr attraktiver Mann gewesen, der seine dunklen Haare für sein Alter etwas zu lang trug und immer leicht unrasiert wirkte, Joan eine große, schlanke und sehr elegante Frau mit kurzen blonden Haaren. Ich wollte immer so werden wie sie. Aber da ich mit meinen eins siebzig nicht gerade groß und außerdem brünett bin, kann ich bestenfalls ihrem Sinn für Humor nacheifern.

Nach dem Verschwinden ihrer Eltern zogen die beiden Jungs zu ihrer Tante Katherine nach Sydney. Als schließlich klar war, dass Joan und Michael nicht zurückkommen würden, erklärte Katherine – Joans Schwester – sich bereit, sie dauerhaft zu sich zu nehmen, statt sie noch mehr zu verunsichern und sie nach Perth in Westaustralien zu schicken, wo die Großeltern wohnten. Mit knapp achtzehn würde Sam sowieso bald ausziehen und zur Uni gehen, also lohnte es sich auch gar nicht, ihn und seinen Bruder umzutopfen. Da Michael ein erfolgreicher Architekt gewesen war und zusammen mit Joan eine eigene Baufirma betrieben hatte, konnten die beiden Brüder es sich leisten, das Haus zu behalten und zu vermieten.