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Ein weiblicher Hybrid in der Gestalt eines Wertieres, geboren aus dem Wasser und dem Feuer, soll im Reich der Luft seine Kräfte messen und dem Reich der Erde endlich Frieden bringen. Lyras Schicksal wurde bereits vor langer Zeit besiegelt. Begleite sie auf ihrem fantastischen Weg, tauche ein in die magische Welt der Mythen und Märchen und löse mit ihr gemeinsam die Geheimnisse, welche nun nicht länger im Verborgenen liegen ... #1MondZauber: Lyra wohnt in einer kleinen Stadt am Rande Berlins und führt ein stinknormales Leben. In 191 Tagen ist ihr 18. Geburtstag und schon jetzt ist sie fest davon überzeugt, dass ab diesem Tag alles anders wird. Aber wie definiert man anders? Seltsame Dinge geschehen, die in Lyra ein Gefühl der Einsamkeit und Angst hinterlassen. Hilflos strebt sie ihrem Schicksal entgegen. Von ihrer Familie kann sie keine Unterstützung erwarten, sie alle sind wahre Meister der Verhüllung. Doch dann trifft Lyra auf magische Wesen, die von stinknormal meilenweit entfernt sind. REDRUBI - die Rotkäppchen-Adaption und Basisstory der MondZauber-Tetralogie jetzt einzeln erhältlich.
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Seitenzahl: 293
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VERWANDLUNG
Part #1 der MondZauber-Tetralogie
Handlungen und Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen werden in diesem Buch in einem ausschließlich fiktionalen Zusammenhang verwendet.
MondZauber 1 - VERWANDLUNG
Überarbeitete Auflage
Copyright © 2021 MARI MÄRZ
DIE TEXTWERKSTATT
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Korrektorat: Silvia Vogt
Cover-Grafiken: Pixabay
MARI MÄRZ
Alle Rechte vorbehalten.
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Ein weiblicher Hybrid in der Gestalt eines Wertieres, geboren aus dem Wasser und dem Feuer, soll im Reich der Luft seine Kräfte messen und dem Reich der Erde endlich Frieden bringen. Lyras Schicksal wurde bereits vor langer Zeit besiegelt. Begleite sie auf ihrem fantastischen Weg, tauche ein in die magische Welt der Mythen und Märchen und löse mit ihr gemeinsam die Geheimnisse, welche nun nicht länger im Verborgenen liegen ...
#1MondZauber: Lyra wohnt in einer kleinen Stadt am Rande Berlins und führt ein stinknormales Leben. In 191 Tagen ist ihr 18. Geburtstag und schon jetzt ist sie fest davon überzeugt, dass ab diesem Tag alles anders wird. Aber wie definiert man anders?
Seltsame Dinge geschehen, die in Lyra ein Gefühl der Einsamkeit und Angst hinterlassen. Hilflos strebt sie ihrem Schicksal entgegen. Von ihrer Familie kann sie keine Unterstützung erwarten, sie alle sind wahre Meister der Verhüllung. Doch dann trifft Lyra auf magische Wesen, die von stinknormal meilenweit entfernt sind.
Stellen wir uns dem, was wir sind … in all seiner Schönheit – auch wenn diese dunkel ist wie der sternenlose Himmel einer klaren Neumondnacht.
Lyra
Neujahrsblues
Fantasy & Feminismus
Die Familie
Lästerecke
Die Erkenntnis
Der Riss
Niklas
Die Drohung
Wut
Erinnerungen
Das Versteck
Kopfschmerzen
Das Rätsel der Liebe
Verschlossen
Herzklopfen
Fluchtversuch
Wahre Freundschaft
Das Geständnis
Abschied
Die Party
Reise ins Ungewisse
Wie geht es weiter?
REDRUBI
Backstage
DIE IDEE
DIE AUTORIN
Zur Autorin
MM-Veröffentlichungen
MM-Hörbücher
MM-SHOP
Der schrecklichste Tag im Jahr ist in jedem Fall der 1. Januar. Neujahr! Zeit der Ernüchterung, der Katerstimmung und der guten Vorsätze. Jetzt rennen wieder alle ins Fitnessstudio und machen Diät.
Das ist doch Bullshit!
Schlecht gelaunt lehnte sich Lyra ans Waschbecken und begutachtete einen Pickel, der sich über den Jahreswechsel gebildet hatte. Dann streckte sie ihrem Spiegelbild energisch die Zunge heraus. Sie war siebzehn, zu klein, zu dick, zu hässlich und ihre Eltern gingen ihr tierisch auf die Nerven.
Eigentlich hätte sie gestern mit Mommy and Daddy auf diese bescheuerte Firmenfeier gehen sollen. Mit Glitzerkleid und Hochsteckfrisur! Natürlich hatte es einen Riesenkrach gegeben, als Lyra in ihrer schlabbrigen Jogginghose verkündete, dass sie keine Lust auf solchen Mainstreamscheiß hätte und am sauteuren Buffet dieses kommerziellen Happenings gar nicht so viel essen könne, wie sie angesichts der angepassten Spießer kotzen müsse.
Ein Lächeln huschte nun über ihre Lippen, während sie an das knallrote Gesicht ihres Vaters dachte, der nach ihrer gestrigen Ansprache gepumpt hatte wie ein Maikäfer. Der Herr Chefarzt verlor tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde seine Fasson. Und seine holde Gattin verschluckte sich am Champagner, den sie sich zur Auflockerung gönnte. Als wenn das bei ihr etwas nützen würde. Miriam war so locker wie Wolframstahl. Lyra hatte ihre Mutter noch nie etwas Unüberlegtes tun sehen. Im Gegenteil! Immer brav nicken und machen, was von ihr erwartet wird. Dabei bestand sie ihr Medizinexamen mit summa cum laude und war in der Familie Hertzberg mit Abstand die Intelligenteste – wenn auch nur angeheiratet. Ihr Vater hingegen präsentierte sich stets als Gockel, der in seiner Klinik und von seiner Mama zum Tyrannen erzogen wurde. Ein Tyrann, der nicht etwa brüllte oder polterte, sondern sich eiskalt im Griff hatte, normgerecht in die Gesellschaft passte und diese Tugend selbstredend von all seinen Mitmenschen abverlangte.
Umso mehr bereitete es Lyra immer wieder einen Höllenspaß, ihre Eltern aus der Reserve zu locken. Schließlich war es die einzige Möglichkeit, so etwas wie Aufmerksamkeit von ihnen zu erhalten. Gestern durfte Lyra sich nun mit der geschwollenen Halsschlagader ihres Vaters und dem Hustenanfall ihrer Mutter zufriedengeben. Mehr war nach ihrem Statement über die verachtenswerte Dekadenz der weißen Kittelträger nicht drin gewesen. Okay, es folgte natürlich ein Vortrag ihres Vaters über die Wichtigkeit dieses Berufes, weil ebenjener es schließlich ermögliche, dass Lyra ein Leben ohne Entbehrungen genießen könne. Eine Ohrfeige hätte ihr besser gefallen, wäre damit doch wenigstens ein winziger Millimeter des Eispalastes gebröckelt, in dem sie sich gefangen fühlte. Deshalb hatte es auch gestern wenig Sinn gehabt, den beiden zu erklären, dass ihr all das scheißegal sei und sie einfach keine Lust hätte auf dicke Hose und gute Laune, nur weil es Papa verlangte, Mutti es schön finden würde und es vor allem am Silvesterabend einfach so Usus sei.
Usus! Wie Lyra dieses Wort und die dazugehörigen eingetretenen Pfade verabscheute. Nur weil man etwas schon immer so gemacht hat, heißt das ja noch lange nicht, dass es auch so bleiben muss. Doch ihre Eltern sahen das komplett anders. Ganze zwölf Minuten brauchten die beiden, bis sie sich am gestrigen Abend wieder im Griff hatten. Aufgebrezelt, eine schwere Parfumwolke hinterlassend, waren sie gegangen … ohne die abtrünnige Tochter.
Während Lyra nun darüber sinnierte, warum die Menschen an Silvester regelmäßig ausflippten und ausgerechnet an diesem einen Abend im Jahr unbedingt in Partylaune verfielen, musterte sie sich weiter im Spiegel. Ihre Mutter lag ihr schon seit Wochen in den Ohren, dass sie diese Frisur ganz furchtbar fände. Dabei hatte Lyra ihr gesamtes Taschengeld einem namhaften Frisör in den Rachen geworfen, der ihr die langen und von Natur aus goldbraunen Haare rabenschwarz und an den Spitzen knallblau färbte. Er war jeden Cent wert. Zumindest glaubte Lyra das und natürlich ihre beste Freundin Emily.
Streng genommen ihre einzige Freundin.
Für kichernde Mädelsabende und kollektives Fußnägellackieren hatte Lyra nämlich nichts übrig. Sie war ein selbsternannter Outlaw und hörte lieber Marylin Manson oder Muse, las dabei Mangas und verschlang alles, was mit Fantasy und Horror zu tun hatte. Obwohl das mit den Comics tatsächlich aufhören sollte, schließlich würde sie in diesem Jahr volljährig werden und ihr Abi machen. Bei diesem Gedanken durchzuckte sie eine Idee.
Aufgeregt schaute sich Lyra im Badezimmer um, durchwühlte ein paar Schubladen und hielt schließlich eine Schere in der Hand. Nicht nur die Comics sollten ab sofort der Vergangenheit angehören, es musste sich grundlegend etwas ändern. Mit funkelnden Augen drehte Lyra das silberne Werkzeug zwischen den Fingern, griff dann mit der linken Hand die Spitze und ließ die Schere pendeln … wie ein Damoklesschwert. Nicht für den Höfling nach Cicero, sondern für den Tyrannen. Das Sinnbild der Gefahr in einer scheinbar komfortablen Welt.
»Euch werde ich es zeigen!«, murmelte sie zynisch, als der kalte Stahl durch die erste Strähne glitt. Radikal trennte die Schere (das Damoklesschwert) die Gegenwart von der Zukunft. Schnitt für Schnitt fielen Frust und Enttäuschung von ihr ab. Grinsend schaute sie dabei zu, wie ihre Vergangenheit nach und nach, Strähne für Strähne zu Boden fiel.
»Es wird sich etwas ändern, und zwar gewaltig!« Zufrieden bewunderte Lyra dreißig Minuten später ihr emanzipatorisches Werk. Kein einziges Haar schmückte mehr ihren Kopf. Für das Finish hatte Pappis Rasierapparat gesorgt.
»Vielleicht fällt so irgendjemandem mal auf, dass ich kein Püppchen bin, das man beliebig ankleiden, frisieren und zurück ins Regal stellen kann.«
Das süße Gefühl der Freiheit durchströmte sie wie der Geruch nach frischgebackenem Apfelkuchen. Lyra freute sich schon auf die verdatterte Miene ihrer Mutter und die verspannte Reaktion ihres Vaters ...
Der beste Tag im Jahr ist in jedem Fall der 1. Januar.
Zeit der Veränderung und des Neubeginns.
»Weißt du, was mich echt nervt?«
Emily stöhnte gereizt und vertiefte sich wieder in ihr Popcorn. »Dich nervt doch alle fünf Minuten was anderes. Was ist es denn diesmal?«
Lyra blieb stehen, stemmte ihre Fäuste in die Hüften und sah Emily entrüstet an. Diese blickte gerade traurig in ihre leere Popcorntüte, zerknüllte das bunte Papier und steckte es in die Tasche ihrer viel zu engen Jacke.
Warum muss sie eigentlich immer so viel essen?, dachte Lyra heimlich und bekam im selben Augenblick ein schlechtes Gewissen. Nicht nur, weil Emily ihre beste Freundin war. Auch Lyra hatte einige Pfunde zu viel auf den Rippen. Genau wie Emily war es ihr zu Beginn der Pubertät irgendwie nicht gelungen, das richtige Maß zu finden. Regina, ihre Oma väterlicherseits, lag Lyra seither in den Ohren, dass man mit zunehmendem Alter nicht mehr alles sinnlos in sich hineinstopfen könne, ohne dabei zu einem Walross zu mutieren. Insgeheim gab Lyra ihrer Oma sogar recht, dieser blöden Kuh. Jedoch würde sie es niemals zugeben. Sie konnte dieses keifende alte Ding einfach nicht ausstehen.
Wenn meine Klamotten an mir genauso beschissen aussehen wie an Emily, dann …
»Was geht dir denn nun auf die Nerven?«
Lyra schreckte aus ihren Gedanken und fand sich auf der Straße vor dem alten Kino wieder, aus dem sie gerade mit ihrer besten Freundin gekommen war. Sie hatten sich einen uralten Horrorstreifen angesehen. Aus den Siebzigern oder so. Noch komplett ohne Computerbearbeitung, mit langen Dialogen und schräger Kameraführung. Sie standen beide auf diese Old-School-Movies.
»Hallo? Jemand zu Hause? WAS! GEHT! DIR! AUF! DIE! NERVEN?«
Emily ballte nun ihrerseits die kleinen Hände zu Fäusten, stemmte sie in die plumpen Hüften und funkelte ihre Freundin aus blauen Augen an. Eine kleine Falte auf ihrer Stirn verriet Lyra, dass jetzt Gefahr im Verzug war und sie schleunigst antworten sollte.
»Sorry, ich war in Gedanken. Weißt du, was mich echt nervt?«
»Herrgott noch mal, nun sag’s doch endlich!!!«
»Haha, ich weiß. Aber was mich wirklich richtig nervt, ist …« Lyra machte eine weitere Pause, nur um Emily zu ärgern. Ihre Freundin stöhnte und lief ein Stück voraus.
»… dass es keine weiblichen Werwölfe gibt.«
Abrupt blieb Emily stehen und blickte interessiert über die Schulter. Die kleine Falte auf ihrer Stirn vertiefte sich. »Was zum Geier meinst du?«
Grinsend verschränkte Lyra die Hände auf dem Rücken und begann zu referieren: »Na, es gibt nur Kerle, die sich verwandeln. Keine Mädels. Was soll das?« Emily schüttelte entgeistert den Kopf, ließ ihre Freundin aber weiter lamentieren.
»Okay, im 18. Jahrhundert oder wann immer diese Stories um Werwölfe, Gestaltwandler und so entwickelt wurden, da kannte man noch keinen Feminismus, kein Gleichbehandlungsgesetz und vor allem keine Frauenquote. Aber genau deshalb könnte sich doch mal jemand finden, der diese Ungerechtigkeit aus dem Weg räumt. Wenigstens auf dem Papier. In der Twilight-Saga hat es doch auch geklappt, die alten Geschichten in die Neuzeit zu verlagern. Auch wenn man sich durch drei Bücher lesen musste, bevor Bella dann endlich zum Vampir wurde. Mir hat ja Rosalie und vor allem Victoria viel besser gefallen, als dieses ewige Gejammer um Schuld und so. Ich verstehe bis heute nicht, warum Bella ewig darauf warten musste, bis dieser versnobte Edward seine beschissenen Gewissensbisse im wahrsten Sinne überwunden hat. Dieser Schleimer!«
Emily verdrehte belustigt die Augen. »Du schweifst vom Thema ab, Lyra! Außerdem warst du selber ganz verknallt in Robert Pattinson.«
»Da war ich fünfzehn! Das ist doch ewig her. Aber du hast recht. Wir waren ja gerade bei der chauvinistischen Tatsache, dass es keine Werwölfinnen gibt. Okay in den neueren Büchern und Filmen gibt es schon ein paar Mädels, die sich gnädigerweise in pelzige Ungeheuer verwandeln dürfen. Aber allein schon die germanische Vorsilbe Wer deutet auf die rein maskuline Bedeutung hin. Im Althochdeutschen wurden die Lykantrophen auch Mannwolf genannt. Tja, da gibt es kaum Spielraum für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Ich staune, dass da noch keine Emanze drauf gekommen ist. Vielleicht heißt es aber zukünftig auch Werwolf*innen. Haha! Fantasy und Feminismus.«
Emily kramte in ihrer Tasche auf der Suche nach etwas Essbarem. Sie kannte die philosophischen Ausflüge ihrer Freundin. Das dauerte erfahrungsgemäß länger und machte sie immer hungrig. Dennoch hörte sie Lyra aufmerksam zu. Schließlich war auch sie ein großer Fan des Fantasy-Genres und fand den Denkansatz durchaus faszinierend. Deshalb ließ sie von ihrer Tasche ab und nickte zustimmend: »Genau, Lyra. Richtig! Und was soll eigentlich diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit, dass Vampire ausnahmslos superschön und wahnsinnig klug sind, während Werwölfe lediglich die stinkenden Köter sein dürfen?«
Beide Mädchen sahen sich an und begannen zu kichern. Sie kannten sich seit dem Kindergarten. Wenn jemand wusste, wie Lyra tickte, dann war es ebendieses Mädchen, das sie nun wissend anlächelte und in gespielter britischer Steifheit konstatierte: »Das ist tatsächlich eine unerhörte Angelegenheit. Was gedenken Sie zu tun, Miss Holmes?«
Theatralisch stolzierte Lyra die Straße entlang, die eine Hand hinter dem Rücken und den gekrümmten Zeigefinger der anderen unter ihrem Kinn: »Ich habe noch keine Ahnung, Fräulein Watson. Warten wir es ab. Meistens entwickeln sich die Dinge vielleicht nicht so, wie man es gern hätte. Aber manchmal geschieht ein Wunder … irgendetwas liegt da in der Luft. Das spüre ich ganz deutlich.«
»Kind, wie du wieder aussiehst? Kannst du nicht mal was Vernünftiges anziehen als immer nur dieses langweilige Schwarz? Und dein Gesicht, herrjemine? Ich habe dir doch einen Gutschein für die Kosmetikerin geschenkt. Hast du den immer noch nicht eingelöst? Miriam, du musst dich mal besser um deine Tochter kümmern! So geht das nicht. Das Mädchen sieht ja total verwahrlost aus. Und diese Brille! Kann man dem Kind nicht endlich mal Kontaktlinsen besorgen? Oh, und dann diese Figur! Also, ich in deinem Alter war rank und schlank. Das macht bestimmt dieses Fastfood. Das gab es ja zu meiner Zeit nicht. Ein Irrsinn ist das heutzutage.«
Lyra schlich an ihrer Großmutter vorbei, zog ihre Schuhe aus und stellte sie ordentlich in das kleine Regal im Flur der alten Villa. Wie immer roch es nach einer Mischung aus Möbelpolitur und irgendeinem scharfen Reinigungsmittel. Bei Regina war alles blitzblank und akkurat im rechten Winkel ausgerichtet. Deshalb achtete Lyra peinlich darauf, ihre klobigen Motorradstiefel auch besonders ordentlich neben die karierten Filzpantoffel ihres Großvaters zu stellen. Ihre Mutter tat es ihr gleich und grinste dabei verschwörerisch.
Genau wie es sich Lyra vorgestellt hatte, erklang in diesem Moment die keifende Stimme ihrer Großmutter.
»Und was ist das eigentlich für eine Mütze, Lyra? Eine Dame darf einen Hut im Haus tragen, aber niemals einen solchen Lumpen. Nimm das sofort ab!«
Obwohl Lyra sich diese Szene in den letzten Tagen mehrfach und bis ins kleinste Detail ausgemalt hatte, machte sich nun doch Unsicherheit breit.
Jetzt platzt gleich die Bombe.
Regina stand immer noch im Türrahmen und hatte diesen Regentinnenblick. Lyra war sich im Klaren darüber, dass ihre Großmutter auch ohne ihre Überraschung gleich ausflippen würde. Das war schließlich immer so. Wenn nicht sofort das gemacht wurde, was die Herrscherin befahl, wurde diese ungeduldig. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb ließ Lyra sich Zeit und kostete jede Sekunde aus – auch wenn ihr Herz aufgeregt gegen ihre Eingeweide hämmerte.
»Junge Dame! Wird’s bald?« Jetzt war das Fass kurz vor dem Überlaufen … und der absolut richtige Zeitpunkt. Also ließ Lyra die Mütze ganz langsam über ihren kahlgeschorenen Schädel gleiten. Sie spürte, wie Wollfasern an den mittlerweile schon wieder nachgewachsenen Haarstoppeln hängenblieben. Und noch etwas anderes haftete wie ein Laserstrahl auf ihrem Haupt.
»Was … was … ist … das für eine gottverfluchte Scheiße?« Hatte ihre Oma gerade wirklich dieses Wort in den Mund genommen? Regina sah aus, als würde sie tatsächlich gleich platzen. Noch nie hatte Lyra diese Frau so wütend gesehen – geschweige denn in ketzerischer Fäkalsprache fluchtend. Herrlich! Am liebsten hätte sie lauthals gelacht. Der Anblick ihrer ansonsten so aufgeräumten und unerschütterlichen Großmutter war das Beste, was sie seit langem erlebt hatte. Andererseits wusste Lyra, dass ihre geschorene Birne nunmehr die nächste Eiszeit im Hause der Hertzbergs einläuten würde.
Bemüht, eine schuldbewusste Miene zu machen, knüllte sie die Mütze in ihre Jackentasche. Im Augenwinkel konnte sie ihre Mutter sehen, die ebenfalls um Fassung rang. Selbstverständlich hatte es auf dem Weg zur lieben Omi so einige Überlegungen gegeben, wie sie diesem »Problem« am besten begegnen könnten. Für Lyra war klar, dass Regina in Ohnmacht fallen würde. Warum bestand sie auch auf diesen bescheuerten Besuch? Sie war selber schuld.
Der Schatten, der sich nun bedrohlich über sie legte, war allerdings nicht unbedingt das, was Lyra sich ausgemalt hatte. Eine vom Schreck weggetretene alte Dame, der man mit Riechsalz theatralisch wieder ins Diesseits verhalf, war ihre ungefähre Vorstellung gewesen. Nun aber baute sich Regina vor ihr auf wie Godzilla. Ihre Augen waren eiskalt, die Wangen wechselten gerade die Farbe von knallrot in einen undefinierbaren Grauton.
Lyra konnte ihren Herzschlag hören.
Was?
Moment mal!
Das geht doch gar nicht.
Was …?
Lyra konnte tatsächlich das Herz ihrer Großmutter HÖREN. Es schlug schnell. Verdammt schnell!
»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Was hast du dir dabei gedacht? Deine fürchterlichen Outfits sind schon eine Schande für die Familie, aber das setzt nun allem die Krone auf. Was glaubst du kleiner Bastard eigentlich, was du uns noch alles antun kannst? Dein Vater hat das nicht verdient. Ich habe das nicht verdient. Bei allem, was wir für dich und deine Mutter getan haben. Wir sind Stadtgespräch. Unser guter Ruf ist für alle Zeit ruiniert. Ich … ich brauche einen Cognac. Miriam, hol mir sofort einen Cognac!«
Lyra hatte bereits auf Durchzug geschaltet. Auch wenn sie einen solchen Wutausbruch bei ihrer Großmutter noch nie erlebt hatte, kannte sie doch all die stets wiederholten Argumente. So richtig verstand sie die Keiferei nicht, aber sie hatte sich auch längst abgewöhnt, den Beschimpfungen dieser alten Schreckschraube zu folgen. Irgendetwas war schließlich immer. Lyra hatte es sich abgewöhnt, nach dem Grund zu fragen, warum ihre Großmutter sie zunehmend mit diesem angewiderten Naserümpfen betrachtete.
Als Lyra klein war, fand ihre Oma sie noch süß, kniff ihr bei den wöchentlichen Besuchen in die Wange und sagte jedes Mal denselben Satz: Was bist du doch groß geworden, mein liebes Kind. Gewiss nicht das Gelbe der Banane, aber immer noch besser als dieses ewige Gezeter, das ihre Großmutter von sich gab, seit Lyra aus dem Hello-Kitty-Alter herausgewachsen war. Regina! Diese dämliche alte Fregatte, die alle weiblichen Verwandten neben sich kaum wahrnahm – geschweige denn ertragen konnte.
Regina war eine narzisstische Perfektionistin in Reinkultur und die selbstgerechteste Person, die Lyra kannte. Alle übrigen Mitglieder der Familie – inklusive ihres Ehegatten Matthias – waren in Reginas Augen Versager. Bis auf Malthe natürlich, ihren Sohn und Lyras Vater. Bei jeder Gelegenheit rühmte sie den Spross ihrer Lenden und erzählte jedem (ob er es nun wissen wollte oder nicht), dass der Name Malthe aus dem Althochdeutschen entlehnt wurde und so viel wie der Herrscher bedeute. Selbstverständlich konnte der Junge nur so genannt werden, schließlich ist Regina aus nichts Geringerem als der Königin oder Regentin abgeleitet und darüber hinaus wird dieser wirklich ätzende Name im Altnordischen als die Entscheidung der Götter bezeichnet.
Schon allein deshalb war die Einzige, die in dieser Familie herrschte, Regina – die Matriarchin der Hertzbergs. Gleich danach kam ihr Kronprinz Malthe … dann eine Weile gar nichts und dann vielleicht der Bundespräsident. Und weil das so war, hatte Lyras Mutter Miriam in diesem Theater eigentlich überhaupt nichts zu melden, denn Regina war ein eiskalter Drache und eine blöde Kuh dazu. Eigentlich gab es niemanden, der sich ihr gegenüber durchzusetzen vermochte. Lyra kannte jedenfalls niemanden, der es je gewagt hätte. Oder doch? Genau ein einziges Mal wurde die Macht erschüttert, als Lyras Mutter sich in einem Punkt vehement durchgesetzt hatte: beim Vornamen ihrer Tochter.
Lyra hieß mit vollständigem Namen Lyra Tjara Hertzberg. Die Vornamen kamen aus dem Isländischen und bedeuteten so viel wie die Mutige und Engel der Zukunft. Als kleines Mädchen fand Lyra das blöd und wollte viel lieber so heißen wie ihre Freundinnen im Kindergarten: Emily, Amelie, Emma oder Frieda. Aber heute, mit knapp achtzehn, war sie superfroh, dass in ihrem weiteren Umfeld niemand so einen krass individuellen Namen hatte wie sie. Tjara wurde sie eigentlich nur von ihrer Mutter genannt, allerdings sehr selten und ausschließlich, wenn sie allein waren. Miriam hatte dann immer ein seltsames Funkeln in den Augen und blickte ihre Tochter so andächtig an, als würde sie erwarten, dass gleich der liebe Gott höchstpersönlich erschien oder zumindest ein Wunder geschah. Lyra fand das sehr eigenartig, hatte sich aber mittlerweile auch daran gewöhnt.
Sie verstand sowieso nicht, woher ihre Mutter dieses Faible für isländische Vornamen hatte. Okay, Miriam war als junges Mädchen einmal dort gewesen. Umso verwunderlicher war allerdings, dass niemals darüber gesprochen wurde. Im Gegenteil! Das Thema Island wurde immer dann, wenn Lyra es gelegentlich auf den Hertzberg-Tisch packte, sofort wieder von ebenjenem abgeräumt. Diese Geheimniskrämerei machte sie echt fertig, doch so sehr sie sich auch bemühte, konnte Lyra aus ihrer Mutter nichts herausbekommen. Aus ihren Großeltern sowieso nicht. Diese stocksteife Mentalität, nur weil der Name Hertzberg irgendwie seit dem 14. Jahrhundert pommerscher Uradel war und Siebzehnhundertirgendwann in den preußischen Grafenstand erhoben wurde. Wahrscheinlich galt das sowieso nicht für ihren Strang der Familie. Und letztlich war es Lyra auch völlig egal, ob vor einer halben Ewigkeit irgendein Kerl mit demselben Nachnamen eine Burg in Nordost-Germanien besessen hatte.
Wer sie allerdings am meisten aufregte, war ihr Vater. Grundsätzlich liebte sie ihn. Klar, er war ihr Papa. Der einzige Mensch auf der weiten Welt, der Lyra das Fahrradfahren beigebracht hatte … und das Schwimmen, das Schleifenbinden und natürlich Mathe … und dass sie im Dunkeln keine Angst zu haben brauchte. Ja, dafür liebte sie ihren Vater. Dennoch verging kein Tag, an dem sie nicht auch seine Kehrseite erkannte. Mit zunehmendem Alter verachtete Lyra ihren Vater jeden Tag ein Stückchen mehr. Nach ihrer Meinung war Malthe der eigentliche Versager der Familie – mit ausgeprägtem Mutterkomplex. Okay, bei DER Mutter war das wohl auch kein Wunder. Die Menschheit konnte insofern echt froh sein, dass Regina nur einen Sohn zur Welt gebracht hatte.
* * *
Während Lyra über ihre Familie grübelte, zog sie sich in die alte Dachkammer der schönen Stadtvilla im Berliner Bezirk Frohnau zurück. Das kleine Zimmer am höchsten Punkt des Hauses gehörte früher Malthe. Lyra hatte es irgendwann annektiert und nach und nach ihrem Geschmack angepasst sowie die Sachen ihres Vaters in den anliegenden Abstellraum geschafft.
Da sie fast jedes Wochenende zum Mittagessen hier war sowie die kurzen Ferien als auch die meisten Feiertage bei ihren Großeltern verbringen musste, war dieser kleine Raum mit seinen schrägen Wänden und dem knarrenden Dachfenster Lyras zweites Zuhause geworden. Als sie vierzehn war, hatte sie heimlich ein neues Schloss eingebaut und seither die Tür zu ihrem Reich fest verschlossen gehalten. Eine reine Vorsichtmaßnahme, wusste sie doch, dass ihre Oma sonst täglich putzen und Lyras penibel angestaute Unordnung in ein penetrant sortiertes Chaos verwandeln würde. Abgesehen davon war es Reginas Lieblingsbeschäftigung, in fremden Sachen und Angelegenheiten zu schnüffeln. Entsprechend sauer war die alte Krähe auch gewesen, als sie seinerzeit feststellen musste, dass nur ihre Enkelin einen Schlüssel besaß. Obwohl Lyra natürlich ziemlich sicher war, dass Regina längst einen Zweitschlüssel besorgt hatte. Dennoch war es der Alten kaum möglich, offensichtlich in Lyras Sachen zu wühlen, ohne dabei ihr Gesicht zu verlieren.
Ein trotziges Grinsen verirrte sich auf Lyras Lippen. Vergnügt ließ sie sich in den schwarzlackierten Schaukelstuhl fallen, der unter dem Dachfenster stand. Ihrem Lieblingsplatz. Kaum hatte sie es sich dort bequem gemacht, begann ihr Handy Claire de Lune von Claude Debussy zu spielen. Das konnte nur Emily sein. Ungeduldig fummelte Lyra den silbernen Kasten aus ihrer Jacke und begrüßte ihre Freundin.
»Emily, hallo! Na, was geht auf der Piste?«
Jedes Jahr in den Februarferien fuhr Emily mit ihrer Familie nach Österreich in den Skiurlaub. Und wie jedes Jahr würde sie sich gleich wieder über die Unsinnigkeit des Wintersports beschweren und natürlich darüber, wie bekloppt sich die Aprés-Ski-Touristen benahmen.
»Hi, Lyra! Alles schön bei dir?«
»Von schön kann hier wohl kaum die Rede sein. Alles wie immer bei meiner Oma. Ich habe mich verbarrikadiert, gleich wird es irgendeinen Grünkernscheiß zum Mittag geben … und das dann eine Woche lang. Ich bin so froh, wenn die Schule wieder losgeht.«
Emily lachte am anderen Ende. Etwas knisterte, dann dröhnte ein berstendes Geräusch durch das Telefon. Lyra riss sich ihr Smartphone vom Ohr und brüllte: »Emily, lass das sein! Was machst du da?«
Vorsichtig drückte Lyra das Telefon wieder ans Ohr und lauschte. »Emily? Bist du noch da?«
»Ja, man. Was ist denn los mit dir? Sonst stört es dich doch auch nicht, wenn ich beim Telefonieren esse?«
Lyra nickte stumm. Doch irgendetwas war heute anders. Sie schloss die Augen und horchte in sich hinein. Irgendetwas … war … in … ihr … Da! Wie ein ICE mit Höchstgeschwindigkeit, der zwar noch meilenweit entfernt war, aber dennoch stetig näherkam, begann in ihrem Körper … etwas … wie im Takt der Kolben eines Motors … erst ganz leise und langsam, nun immer schneller und kraftvoller … überkam Lyra eine Welle der … der … es hämmerte in ihrer Brust, das Atmen fiel ihr schwer. Sie keuchte und schnappte nach Luft. Ihr Herz trommelte ein Stakkato. In ihren Ohren rauschte das Blut so laut, dass sie für einen Augenblick nichts anderes hörte als ihren rasenden Puls …
Dann war alles vorüber. Lyra saß immer noch in ihrem Schaukelstuhl. Die Sonne schien immer noch durch die kahlen Äste der alten Eiche vor dem Haus. Und Emily war immer noch am anderen Ende der Leitung.
»Lyra? Was hast du? Bist du ohnmächtig oder so? Hey!!!«
Mit dem Ärmel ihrer Jacke wischte sich Lyra Schweißperlen von der Stirn. Warum war es auf einmal so heiß? War das ein Anfall? Wurde sie krank? Nur mühsam fand sie in die Realität zurück und antwortete endlich: »Ja, alles in Ordnung. Mir geht es gut. Irgendwie ist mir nur gerade schwindlig geworden. Geht wieder. Aber was ist bei euch los? Warum hockst du in deinem Zimmer und wieso zum Geier seid ihr noch nicht bei den Fans von DJ-Blödmann im zusammengekratzten Kunstschnee?«
Am anderen Ende herrschte Stille. Dann fragte eine verstört klingende Emily: »Woher weißt du … ähm … kannst du hellsehen oder so?«
»Emily, das ist doch eindeutig. Nirgendwo auf der Welt spielt jemand so schlecht Klavier wie der kleine Scheißer, der im Haus bei euch gegenüber wohnt.«
Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, stutzte Lyra. Noch eben erschien ihr das Gesagte vollkommen logisch, jetzt aber schüttelte sie verwirrt den Kopf und lauschte ins Telefon.
»Lyra? Was soll das? Hier ist Totenstille …«
Ein Quietschen war zu hören, dann ein Rumpeln. Emily schien von ihrem Bett aufgestanden zu sein und öffnete wohl gerade das Fenster.
»Sag mal, wie machst du das? Wenn nicht mal ich den Stinker gegenüber höre, wie sollst du ihn dann durchs Telefon hören. Das geht doch gar nicht.«
Die schrägen Laute einer schlecht gespielten Tonleiter kreischten in Lyras Ohren. Sie konnte kaum ihren eigenen Gedanken verstehen, so laut waren das Klavier und die Stimme ihrer Freundin. Das konnte nicht sein, richtig. Aber es war verdammt noch mal so!
»Emily, ich muss jetzt auflegen.« Lyra konzentrierte sich, nicht gegen den vermeintlichen Lärm anzubrüllen, sondern ruhig zu sprechen. »Ich hab nur geraten. Natürlich kann ich das Klavier nicht durch das Telefon UND ein geschlossenes Fenster hören. Das wäre ja …«
»Lyra, ist wirklich alles in Ordnung bei dir? Du klingst so komisch.«
»Ja, Sweety. Alles super. Lass uns morgen wieder telefonieren. Meine Oma ruft, ich muss jetzt schleimige Vollwertkost essen. Mach’s gut, Süße!«
Mit einem Tastendruck knipste Lyra ihre Freundin vorerst aus ihrem Universum. Sie musste nachdenken. Was zum Teufel passierte hier?
»Eigentlich wollte ich nie mehr mit dir reden, du doofe Kuh.« Sie saßen nebeneinander im Biologieunterricht. Frau Mohrenstein war wohl krank. An ihrer Stelle stand die Vertretung am Lehrertisch und erklärte gerade den Ablauf der Mitose. Dabei zeichnete sie irgendwelche Zellen an die Tafel. Lyra war ein bisschen traurig darüber, dass ihre »richtige« Biologielehrerin nicht da war. Sie hatte Frau Mohrenstein sehr gern. Dennoch freute sie sich, wieder in der Schule zu sein … weit weg von ihrer schrecklichen Großmutter, dem langweiligen Kulturprogramm und dem ätzenden Essen.
Emily rammte ihr den Ellenbogen in die Seite. »Hey, ich rede mit dir!«
Lyra schaute zur Seite und verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. Sonst wirkte das immer, um Emily zum Lachen zu bewegen. Heute nicht. Sie schien tatsächlich sauer zu sein. Na ja, eigentlich war das auch kein Wunder. Lyra hatte nicht ein einziges Mal zurückgerufen, obwohl Emily mehrmals täglich eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen hatte. Nur wie sollte sie ihrer besten Freundin erklären, was gerade mit ihr passierte? Sie konnte sich selbst kaum einen Reim darauf machen, warum sie in der letzten Woche nicht nur das Nachbarklavier durch ein Telefon gehört hatte, sondern mittlerweile auch ihre Eltern belauschen konnte, die sich zwei Stockwerke tiefer flüsternd zankten.
Solange die Unterrichtsstunde nicht vorbei war, hatte Lyra noch etwas Zeit, sich eine passende Antwort einfallen zu lassen. Allerdings hegte sie wenig Hoffnung, denn genau darüber grübelte sie schließlich schon die letzten acht Tage. Emily schob ihr einen Zettel über die Schulbank.
Hast du eine andere?
Lyra hatte sowieso keine Nerven für die Zellteilung, die gerade an der Tafel stattfand. Deshalb spielte sie das Spiel mit und strich die Frage durch. Emily faltete das A4-Blatt so, dass die eben gestellte Frage nicht mehr zu sehen war. Stattdessen schrieb sie auf das blanke Stück Papier:
Hast du deine Sprache verloren?
Auch diese Frage verneinte Lyra mit einem dicken Strich ihres Kugelschreibers. Ihre Freundin setzte ein drittes Mal an zu schreiben, als es klingelte. Die Stunde war vorbei. Und nun?
»Lästerecke!«, war das Einzige, was Lyra spontan einfiel. Emily nickte. Bei diesem Ort handelte es sich um die Mädchentoilette hinter dem Bio-Vorbereitungsraum. Sie lag in entgegengesetzter Richtung zum Treppenhaus und wurde darum nur selten von den übrigen Schülerinnen genutzt. Lehrer verirrten sich schon gar nicht in diesen verwahrlosten Winkel des Schulgebäudes. Deshalb war hier der ideale Ort, um über ihre ätzenden Klassenkameraden oder aber Gott und die Welt zu lästern. Kurz nachdem Emily und Lyra auf dieses Gymnasium gewechselt waren, hatten sie dieses Kleinod entdeckt und sofort für sich in Beschlag genommen. Seither nutzten sie ihre Lästerecke, wenn in irgendeiner Form Klärungsbedarf bestand.
Lyra war als Erste im weiß gekachelten Heiligtum angekommen. Resigniert stemmte sie die Hände auf das alte Waschbecken und sah in den Spiegel. Was ihre Großmutter nur an ihrer Brille auszusetzen hatte? Die Frau hatte echt keine Ahnung. Das große schwarze Designerteil war verdammt teuer gewesen. Jetzt schob Lyra mithilfe ihres Zeigefingers das stylische Gerät zurück auf ihre Nasenwurzel und grinste ihrem Spiegelbild zu, als …
Nein!
Nicht schon wieder!
Der imaginäre ICE raste durch ihr Hirn. Da war es wieder, das Gefühl, als würde ein Vulkan in ihrem Innern explodieren. Ihr wurde heiß und sie bekam kaum Luft beim rasant ansteigenden Takt ihres Herzschlags. Hektisch schleppte sie sich zum Fenster, tastete nach dem Griff und riss daran. In tiefen Zügen pumpte sie die klare Winterluft in ihre Lungen wie eine Ertrinkende.
»Also, wenn du jetzt immer noch behauptest, dass mit dir alles in Ordnung ist, dann flipp ich aus!«
Emily knallte die Toilettentür mit dem Absatz ihres Stiefels ins Schloss und trat näher. Die Wut, die eben noch in ihren Augen zu lesen war, machte nun Platz für die Furcht, welche ihr jetzt deutlich im Gesicht stand.
»Ganz ruhig atmen, Lyra! Alles wird gut. Ganz ruhig atmen!«
Lyra hatte den Eindruck, als hätte sie vergessen, wie das ging: ATMEN. Energisch gab sie ihrem Gehirn die Anweisung, den Brustkorb zu dehnen, um das lebenswichtige Gasgemisch in ihren Körper zu lassen. Sie konzentrierte sich so sehr, als säße sie in einer Matheklausur. Und es wirkte. Erschöpft ließ sie sich auf den Boden sinken und hockte nun vor dem geöffneten Fenster. Der Heizkörper wärmte ihren Rücken. Langsam entspannten sich ihre Muskeln. Sie hatte keine Kraft mehr, danach zu fragen, was gerade geschehen war.
»Süße, du solltest wirklich mal zum Arzt gehen. Das geht so nicht weiter, verdammt!« Mütterlich legte Emily ihre Hand auf Lyras Stirn.
Daran hatte sie auch schon gedacht. Bei der Sache gab es allerdings einen riesengroßen Haken: Lyra hasste Ärzte. Schließlich waren sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater und insbesondere ihre Großmutter Mediziner. Wenn sie auch nur ansatzweise zu Hause ihre »Anfälle« schildern würde, käme vor allem Regina höchstwahrscheinlich auf die Idee, Lyra direkt auf die Intensivstation oder gleich in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Doch das ging nicht. In den nächsten Tagen wurden die letzten Klausuren vor den Abi-Prüfungen geschrieben. Lyra konnte es sich schlichtweg nicht leisten, jetzt krank zu werden.
Mit zusammengekniffenen Lippen, die eigentlich ein Lächeln formen sollten, schaute sie hoch zu ihrer Freundin. Die wiederum stand kalkweiß vor ihr und streichelte unbeholfen über ihre Haarstoppel. Dann sah Lyra etwas in den Augen ihrer Freundin, das nun auch ihr Angst machte: ENTSETZEN.
»Lyra, … was … was … was ist mit deinen Augen?«, wimmerte Emily.
Entgeistert starrte Lyra ihre Freundin an und fragte zögerlich: »Was soll damit sein?«
Emily glotzte sie an, als würde der Leibhaftige vor ihr hocken. Dann stammelte sie unverständliches Zeug. Tränen bildeten kleine Rinnsale, die nun über ihre bleichen Wangen liefen.
Ungeduld stieg in Lyra auf. »Was … ist … mit … meinen … Augen?«
»Schau doch in den Spiegel! Ich kann es dir nicht beschreiben. Das musst du selber sehen«, schrie Emily ängstlich und half Lyra beim Aufstehen.
Nur mühsam kam sie auf die Beine und stellte sich wieder vor das Waschbecken. Erst jetzt bemerkte sie, dass die dunklen Risse, die sich sonst scharf vom hellen Porzellan des Waschbeckens abhoben, nun verschwommen waren. Auch der Wasserhahn glänzte wie auf einem überbelichteten Foto. Langsam hob sie ihren Kopf und machte sich bereit, ihrem Spiegelbild zu begegnen. Sie rechnete damit, dass der übermäßig verwendete Maskara verwischt war oder sich dicke rote Adern durch das Weiß ihres Augapfels gezogen hatten. Vielleicht litt sie an spontanem Bluthochdruck oder so. Wie zur Bestätigung spürte sie den immer noch viel zu hohen Puls in ihren Ohren rauschen.
Lyras Gesicht war nun parallel zum Spiegel vor ihr ausgerichtet. Hier hatte eine unsichtbare Hand inflationär Weichzeichner verwendet. Warum war alles so verschwommen? Langsam zog Lyra mit dem Zeigefinger die Brille von der Nase. Der obere Teil ihres Blickfeldes wurde klar. »Was ist das für eine verdammte Scheiße?«
»Siehst du? Ist das nicht unglaublich?« Emily war dicht hinter sie getreten. Aufmerksam verfolgte sie, wie Lyra die Brille nun gänzlich von der Nase schob. Beide Mädchen schauten gebannt in den Spiegel.
»Ich kann sehen! Ich kann wieder SEHEN!«
Hinter ihr schnaufte Emily wie ein Dampfkessel, aus dem gerade jeglicher Druck entwich. »Schätzchen, konzentrier dich! Dass du sehen kannst, weiß ich. Aber WAS siehst du?«
Neugierig starrte Lyra in den Spiegel und bewunderte die scharfen Konturen des Waschraums, die im Glas vor ihr reflektiert wurden. »Du verstehst das nicht, Emily. Ich kann OHNE meine Brille sehen. Das konnte ich das letzte Mal mit fünf oder so.«
Ihre Freundin stand jetzt neben dem Waschbecken, lehnte sich an die Wand und zeigte auf den Spiegel. »Kann ja sein, Süße. Aber das ist nicht das Gruseligste an der Sache. Schau genau hin! WAS siehst du?«
Lyra hatte Mühe, sich auf ihr zweites Ich zu konzentrieren, das sie aus dem Spiegel anstarrte. Um Emily einen Gefallen zu tun, schluckte sie ihre Freude über die neu gewonnene Sehkraft hinunter und räusperte sich. »Ich sehe mich. Klar und deutlich. Ohne Brille. Wofür habe ich eigentlich über hundert Euro ausgegeben? Gibt es so was wie Spontanheilung bei Kurzsichtigkeit?«
»LYRA!!! Schau hin, sonst knall ich dir eine!«