#2 MondZauber: VERSUCHUNG - Mari März - E-Book

#2 MondZauber: VERSUCHUNG E-Book

Mari März

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Beschreibung

Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Niemand vermag, es aufzuhalten. Nicht einmal die Götter. MondZauber #2 Nach den verstörenden Ereignissen rund um ihre missglückte Verwandlung flieht Lyra nach Irland. Dort verbringt sie den Sommer unter Werwölfen, erfährt von einer mystischen Prophezeiung und von Cathán, der in Spitzbergen eine Armee untoter Gestaltwandler züchten will. In Venedig soll Lyra ihre Kräfte testen, denn für die magische Welt ist sie die einzige Hoffnung, einen Krieg zu verhindern. Doch die Versuchung ist groß, in der Lagunenstadt einfach das Leben und die Liebe zu genießen, dem Schicksal zu entfliehen, bis REDRUBI auftaucht ... Ein weiblicher Hybrid in der Gestalt eines Wertieres, geboren aus dem Wasser und dem Feuer, soll im Reich der Luft seine Kräfte messen und dem Reich der Erde endlich Frieden bringen. Lyras Schicksal wurde bereits vor langer Zeit besiegelt. Begleite sie auf ihrem fantastischen Weg, tauche ein in die magische Welt der Mythen und Märchen und löse mit ihr gemeinsam die Geheimnisse, welche nun nicht länger im Verborgenen liegen ... Die Basisstory REDRUBI ist einzeln erhältlich. Vergiss Rotkäppchen!

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MARI MÄRZ

VERSUCHUNG

Part #2 der MondZauber-Tetralogie

Handlungen und Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen werden in diesem Buch in einem ausschließlich fiktionalen Zusammenhang verwendet.

MondZauber 2 - VERSUCHUNG

Überarbeitete Auflage

Copyright © 2021

DIE TEXTWERKSTATT

www.korrekt-getippt.de

Korrektorat: Silvia Vogt

Cover-Grafiken: Pixabay

MARI MÄRZ

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

www.mari-märz.de

facebook.com/marimaerz

twitter.com/mari_maerz

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Lyra

Ein weiblicher Hybrid in der Gestalt eines Wertieres, geboren aus dem Wasser und dem Feuer, soll im Reich der Luft seine Kräfte messen und dem Reich der Erde endlich Frieden bringen. Lyras Schicksal wurde bereits vor langer Zeit besiegelt. Begleite sie auf ihrem fantastischen Weg, tauche ein in die magische Welt der Mythen und Märchen und löse mit ihr gemeinsam die Geheimnisse, welche nun nicht länger im Verborgenen liegen ...

#2MondZauber: Nach den verstörenden Ereignissen rund um ihre missglückte Verwandlung flieht Lyra nach Irland. Dort verbringt sie den Sommer unter Werwölfen, erfährt von einer mystischen Prophezeiung und von Cathán, der in Spitzbergen eine Armee untoter Gestaltwandler züchten will. In Venedig soll Lyra ihre Kräfte testen, denn für die magische Welt ist sie die einzige Hoffnung, einen Krieg zu verhindern. Doch die Versuchung ist groß, in der Lagunenstadt einfach das Leben und die Liebe zu genießen, dem Schicksal zu entfliehen, bis REDRUBI auftaucht ...

Das Schicksal nimmt seinen Lauf.

Niemand vermag, es aufzuhalten.

Nicht einmal die Götter.

Inhalt

Lyra

Was bisher geschah ...

Das erste Mal

Die Druidin

Das Ritual

Verwandlung

Hunger

Der Alpha

Die Prophezeiung

Hoffnung

Wahrheiten

Redrubi

Cathán

Das Versprechen

Heimweh

Fressfeinde

Ians Geheimnis

Instinkte

Abschied

Aufbruch

Venedig

La dolce Vita

Daris & Nina

Drugs

Neuigkeiten

Schwerelos

Lügen

Emily

Entscheidungen

Freiheit

Jagd

Offenbarung

Wiedersehen

Heimkehr

Wie geht es weiter?

MondZauber #1

REDRUBI

MM-Veröffentlichungen

MM-Hörbücher

MM-SHOP

Was bisher geschah ...

Lyra Hertzberg ist ein fast normaler Teenager. Sie liest gern Comics, trägt Klamotten mit Totenköpfen und Cupcake-Shirts, eine schwarz-blaue Manga-Frisur, schaut gern Fantasy- und Horrorfilme, hat sich mit siebzehn heimlich ein Tattoo stechen lassen und keinen Bock auf ihre Eltern, auf kommerzielle Happenings oder kollektiven Mädchenkram. Weil sie keine Lust hat, Mommy und Daddy an Silvester auf eine blöde Party zu begleiten und auch sonst wenig von der aufgesetzten Dekadenz ihrer Eltern hält, schert sie sich kurzerhand den Schädel kahl.

Als selbsternannte Außenseiterin hängt sie am liebsten mit ihrer besten und einzigen Freundin Emily ab ... bis zu jenem Tag, als Lyra plötzlich Dinge erlebt, die von normal meilenweit entfernt sind. Ihr Körper verändert sich, was auch Klassenschönling Niklas wahrnimmt, in den Lyra schon ewig unglücklich verknallt ist. Aus der übergewichtigen Emo-Fee wird auf magische Weise ein It-Girl im Mainstream-Look. Je mehr Lyra erkennt, dass sie anders ist, desto öfter versucht sie, dieses Anderssein durch Normalität zu kaschieren.

Es gelingt ihr nicht.

Natürlich nicht!

Denn Lyra ist nicht einfach nur anders, sie ist ein Hybrid, der selbst für die magische Welt eine Seltenheit bedeutet.

Ihre biedere Familie will dieses Anderssein jedoch verbergen. Großmutter Regina greift zu drastischen Mitteln und sorgt dafür, dass ihre Enkelin in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie eingewiesen wird, nachdem Lyra ihren Schulschwarm Niklas fast gekillt hätte.

Ian, ein gutaussehender Werwolf, eilt ihr zu Hilfe und rettet sie mehrfach aus der Bredouille.

Aber ist Lyra eigentlich zu retten?

Lässt sich das Schicksal einfach so ignorieren, unter den gutbürgerlichen Teppich kehren?

An ihrem achtzehnten Geburtstag soll sich auch Lyra in einen Werwolf verwandeln, doch alles, was sie zustande bringt, ist Chaos, kreischende Mädchen und ein gigantisches Feuer während des Abiballs.

Die Flucht ist der einzige Ausweg.

Und was kommt danach ...?

Das erste Mal

»Komm, bring es endlich hinter dich! Der Vollmond währt nicht ewig.« Moira zwinkerte ihr aufmunternd zu und griff nach dem Knauf einer riesigen Eichenholztür. Lyra stand vor ebenjenem Portal und verschränkte unschlüssig die Arme.

Was, wenn es heute wieder schiefgeht?

Was, wenn ich gar kein Gestaltwandler bin?

Schließlich hätte sie sich an ihrem achtzehnten Geburtstag verwandeln müssen, also bereits vor zwei Wochen oder aber einer gefühlten Ewigkeit, in einem anderen Universum. Seit sie mit Ian die grüne Insel betreten hatte, war sie in eine komplett andere Welt eingetaucht. Hier, im wunderschönen Süden Irlands, sprach man nicht nur eine andere Sprache, hatte eine andere Mentalität. Nein! Mythen und Legenden gehörten hier zum Alltag wie in Deutschland das Sauerkraut zum Kassler.

»Jetzt kneif nicht schon wieder, Lyra! Irgendwann ist immer das erste Mal. Das wird schon. Komm!«

Moira hatte ja recht. Was nutzte es, noch ewig Ausreden zu erfinden und sich zu zieren wie eine Pubertierende. Lyra konnte Ian und seine Schwester nicht enttäuschen. Beide hatten ihr mit viel Geduld und bis ins kleinste Detail erklärt, was passieren würde. Lyra hatte den Erzählungen gelauscht und fand das alles fantastisch. Genau, fantastisch. Doch jetzt mutierte die Fantasy zur Realität.

Wie sollte sie Moira erklären, dass sie die letzten achtzehn Jahre quasi auf magischer Sparflamme gelebt und noch nie in ihrem Leben etwas gewagt hatte? Wie sollte sie diesem Mädchen, das in der magischen Welt aufgewachsen war, weismachen, dass sie all jene Dinge, die für Moira selbstverständlich waren, nur aus Büchern und Filmen kannte?

Moira. Allein der Name. Lyra musste zwangsläufig an Doktor Moira Kinross MacTaggert denken – die Expertin für Mutantenforschung in den Marvel-Comics. Passte irgendwie.

Auf Anhieb hatte sie dieses offenherzige und wunderschöne Mädchen ins Herz geschlossen. Moira war wilder als der Rest des Clans. Und das wollte etwas heißen, schließlich bestand dieser aus knapp fünfzig Werwölfen, die allesamt auf ihren Alpha hörten, den Anführer des Clans, dem Chef der McTires.

Jeder von ihnen hatte Lyra auf das Herzlichste begrüßt, vor zwei Wochen, bei ihrer Ankunft. Fast jeder. Der beste Freund von Ian, Kenneth, hatte sie auf seltsame Weise taxiert, als sie am ersten Abend zusammengesessen hatten. Irgendetwas in seinem Blick gefiel Lyra ganz und gar nicht. Doch sie konnte nicht einmal ansatzweise vermuten, was es war. Auch ihre magischen Fähigkeiten halfen ihr dabei nicht, zumal die Menschen in ihrem Umfeld davon reichlich besaßen.

Menschen. Dieses Wort sollte sie zukünftig wohl weniger benutzen. Viel wusste sie noch nicht über Gestaltwandler und Hexen, aber eines ganz gewiss: Sie waren nicht humanen Ursprungs. Jedenfalls nicht so wie Emily oder die Hertzbergs. Bis auf ihre Mutter natürlich. Die war auch irgendwie eine Hexe. Zumindest hatte das ihre Tante Miranda erzählt.

Das war doch alles irre!

Und Emily? Wie Lyra ihre beste Freundin vermisste! Mit ihr hatte sie seit Kindertagen alles geteilt: Freud und Leid, Liebeskummer, Eisbecher und Klamotten. Es schien Lyra, als würde diese Zeit schon ewig zurückliegen. Dabei war es gerade einmal ein halbes Jahr her, seit sie die ersten Anzeichen ihrer Verwandlung gespürt hatte. Damals, in der Dachkammer von Regina, die gar nicht ihre leibliche Großmutter war.

Und nun? Jetzt stand sie vor diesem Portal einer in den Fels gehauenen Höhle, in der die Druidin des Clans auf sie wartete. Genau genommen seit zwei Tagen. Der Mond zeigte in dieser Nacht seine volle Größe. Das Zeitfenster war eng und Lyras Geduld langsam am Ende. Weitere vier Wochen müssten vergehen, bevor sie das Ritual wiederholen könnten.

Seltsam war das alles. Aber seltsam half ihr nicht weiter. Sie musste jetzt in diese blöde Höhle gehen und mithilfe irgendwelcher heidnischen Zauber versuchen, endlich die Verwandlung abzuschließen. Ian und auch Moira hatten ihr versichert, dass es nicht wehtun würde. Jedenfalls nicht so, wie es in den entsprechenden Filmen immer dargestellt wurde, in denen knackige Kerle zu zotteligen Werwölfen mutierten.

Lyra hatte da jedoch ihre Zweifel, obwohl sich diese mehr auf das Ergebnis bezogen. Sie dachte an den Abschlussball und an Jenny, die Schulschlampe. Die Erinnerung an die unzähligen Sticheleien während ihrer Zeit auf dem Gymnasium ließ Wut in Lyra aufsteigen. Und noch etwas anderes bahnte sich den Weg durch ihren Geist: Genugtuung. Schließlich war Jenny durchs Abitur gerauscht. Und sie, Lyra Hertzberg, war vom pummligen Mädchen zum schönen Schwan avanciert. Zu einem Schwan mit Superkräften!

Okay, dann bring ich es eben jetzt hinter mich. Irgendwann ist immer das erste Mal.

Die Druidin

Entschlossen nickte sie Moira zu, auf deren Gesicht ein triumphales Lächeln erschien. Sie drehte an dem gusseisernen Knauf und schob das schwere Holzportal auf. Lyra kannte die Intarsien der reichverzierten Tür auswendig. Efeu bedeckte die Hälfte des Eingangs zu dieser naturbelassenen Höhle, die wahrscheinlich schon vor Tausenden von Jahren den Gestaltwandlern als Tempel und mehreren Generationen von Druiden als Arbeitsstätte diente. Lyra war erstaunt gewesen, als sie erfuhr, dass hier tatsächlich eine Frau für die Spiritualität, die Gesundheit und das Bewahren des alten Glaubens zuständig war. Irland schien eben doch anders zu sein als der Rest der Welt. Trotz der massiven Einflüsse der katholischen Kirche wurde hier das Weibliche verehrt und neben der christlichen Religion in den Alltag einbezogen. Was in weiten Teilen der Welt für absurd erklärt wurde, war hier völlig normal.

Das laute Knarren der Tür riss Lyra aus ihren Gedanken. Jetzt wurde es also ernst.

In den Fels gehauene Stufen führten hinab in die Höhle. Sie hatte einen modrigen Geruch erwartet, stattdessen strömte ihr der salzige Duft des Meeres entgegen. Und noch etwas anderes kitzelte in ihrer Nase. Sie roch Feuer und das würzige Aroma dampfender Kräuter.

»Komm!«, flüsterte Moira, die eine lodernde Fackel aus einer Halterung nahm. Gemeinsam stiegen die beiden Mädchen mehrere Stufen hinab, bis sie in eine riesige Grotte gelangten.

Lyra war immer der Meinung gewesen, dass sie genügend Fantasie besäße, aber was sie hier sah, überstieg ihren kreativen Geist. Ein unterirdischer See glitzerte im Schein des Feuers, das am Fuße der Treppe in einem eigens dafür gehauenen riesigen Steinkreis flackerte. Im Dunkel dahinter konnte sie eine weitere Tür erkennen. Moira hatte ihr erzählt, dass dort die Druidin des Clans wohnte, die Beanna genannt wurde, was so viel wie Krähe bedeutete. Es hieß, dass sie über einhundertfünfzig Jahre alt sei und ihre Haut so weiß wäre wie Schnee, der sich in diesem Teil Irlands genauso selten zeigte wie der Papst.

Lyra beobachtete Moira, die jetzt in der alten irischen Sprache flüsterte und dabei etwas ins Feuer warf. Natürlich wusste Lyra, was ihre neue Freundin da tat. Die Gestaltwandler hatten ihre ganz eigene Religion, zu der es gehörte, die Druidin des Clans zu verehren und sich dankbar zu zeigen. Da Lyra noch nicht vollends in die Gemeinschaft aufgenommen war und darüber hinaus längst nicht alles wusste, hielt sie sich zurück und betrachtete indes die kunstfertigen Wandmalereien. Ian hatte ihr bereits einige Ornamente in einem alten Buch gezeigt, die sie nun auf der Felswand wiedererkannte. So viel Neues hatte sie erfahren, dass sie bisweilen das Gefühl hatte, ihr Kopf würde platzen. Doch Ian war ein geduldiger Lehrer und lächelte sein hübsches Lächeln, wenn Lyra wieder einmal irritiert darüber war, wie freundlich sie alle behandelten. Sie gehörte doch gar nicht zum Clan, nicht in diese Welt. Sie hatte im Grunde von nichts eine Ahnung und doch schenkte man ihr das Gefühl, als wäre sie eine von ihnen. Für Lyra war das vollkommen neu. Bisher war sie der selbsternannte Outlaw, eine Außenseiterin, die niemand leiden konnte. Und auf einmal sollte sie zu dieser Gemeinschaft gehören?

»Sei gegrüßt, Lyra! Willkommen in meinem Sídhe!«

Wie durch ein Wunder verstand Lyra jedes Wort, was die Beanna sprach. In einer ihr fremden Sprache antwortete sie nun, als hätte sie es schon tausend Mal getan: »Sei gegrüßt, Nathair! Es ist mir eine Ehre, dass du die Zeit für mich findest und mich bei meiner Verwandlung begleitest.« Wie ihr Ian und Moira es gezeigt hatten, verbeugte sich Lyra und verharrte in dieser Position. Die Druidin kam ihr entgegen und hob Lyras Gesicht in den Schein des Feuers. »Du hast die Augen deines Vaters. Ich danke den Göttern, dass du endlich den Weg zu uns gefunden hast. Schon lange vor deiner Geburt bist du mir im Traum erschienen. Jetzt soll sich die Prophezeiung also erfüllen.«

Lyra starrte mit klopfendem Herzen in die weißen Augen der Druidin. Niemand hatte ihr gesagt, dass die Beanna blind war. Alle sprachen von der Seherin, wie hätte sie da auf die Idee kommen sollen …?

Die Berührung der alten Frau fühlte sich trotz der Hitze des Feuers kühl an. Kühl und trocken, was zu dem Wesen passte, in das sich die Druidin verwandeln konnte. Beanna war keine Wölfin, sondern eine Krähe und stammte vom Volk der Danu. Nur diesen äußerst seltenen Gestaltwandlern war es bestimmt, sich als Druiden ausbilden zu lassen und als ebensolche tätig zu sein. Denn nur sie verfügten über weit mehr magische Fähigkeiten als der Rest ihrer Art. Sanft wie eine Feder strich die Beanna nun über Lyras Gesicht und fragte: »Bist du bereit?«

Lyra nickte und überlegte im selben Moment, ob ein solches Nicken gegenüber einer Blinden unhöflich sei. Doch die Druidin sah nicht mit ihren Augen, sondern mit ihrem Geist.

»Dann lass uns keine weitere Zeit verschwenden. Große Herausforderungen liegen vor uns. Es ist auch für mich das erste Mal.«

Lyra verstand nicht, erhielt aber prompt eine Antwort. »Du bist die erste Hybridin. Nicht einmal ich weiß, welche Fähigkeiten in dir stecken. Deine Angst ist also begründet, zumal es in der Geschichte dieses Clans noch nie vorgekommen ist, dass sich ein Gestaltwandler an seinem achtzehnten Geburtstag nicht verwandelt hat. Aber die Gewissheit ist stärker als die Furcht. Außerdem brauchen wir dich, so sagt es die Prophezeiung. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, und dann folge mir zum See.«

Lyras Herz schlug laut in ihrer Brust. Die Ungewissheit war das eine. Das, was die Alte sagte, machte ihr jedoch weitaus mehr Angst. Welche Prophezeiung? Niemand hatte bisher davon gesprochen. Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen und schaute die steinerne Treppe hinauf. Ab liebsten würde sie jetzt einfach fortlaufen. Doch wohin? Das Schicksal schien genau diesen Weg für sie vorherbestimmt zu haben. Sonst wäre sie wohl nicht hier. Also hieß es jetzt: Augen zu und durch!

Das Ritual

Die Beanna ging voraus zum Ufer des unterirdischen Sees. Lyra wusste genau, was sie tun musste, und doch kam sie sich vor wie in einem Traum, in dem sie die Matheklausur vergeigte.

Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. Moira stand neben ihr und zwinkerte Lyra aufmunternd zu. Als die kleine Wölfin ihre Hand in die ihre legte, spürte Lyra die Kraft des Mädchens, welche nun langsam in sie überging.

Feuer!, schlich ihr ein Gedanke in den Kopf. Was hatte ihre Mutter gesagt? Das Feuer gibt dir Kraft.

Also schaute Lyra in die Flammen und schloss dann für einen Moment die Augen. Zu Moiras Kraft gesellte sich jetzt etwas weitaus Größeres. Pure Energie schien in Lyra zu strömen. Sie atmete tief den würzigen Duft des Feuers ein und machte sich bereit für das Ritual und die Aufnahme in die magische Welt.

Warm breitete sich Zuversicht in ihr aus. Ja, jetzt war sie bereit. Sie öffnete die Augen und nickte Moira zu, die immer noch ihre Hand hielt. Dann folgten sie der Druidin, die am Fuße des Sees auf sie wartete.

Mit erhobenen Armen sang die Alte ein uraltes Lied. Lyra hörte eine Harfe, obwohl sie nirgendwo ein solches Instrument erkennen konnte. Das Wasser zu ihren Füßen schimmerte grün und spiegelte sich im grandiosen Gewölbe der Höhle. Eine magische Anziehungskraft ging von dem See aus – der Quelle, wo die Tore zur Anderswelt zu finden waren. Lyra wusste, dass es nur sehr wenigen vergönnt war, lebend hinabzutauchen und vor allem lebend wieder herauszukommen. Die Iren glaubten wie viele Kelten an verschiedene Reiche, die jenseits der menschlichen Welt lagen. So auch an die Túatha Dé Dannan, das Volk der Danu. Obwohl sie keine Menschen waren, hatten auch die Gestaltwandler nur dann Zutritt, wenn jemand vom Volk der Danu ihnen ebendiesen gewährte. Umso größer war Lyras Angst, dass sie es wieder versauen würde. Doch nun, als sie nach und nach ihre weltlichen Kleider ablegte und dem Gesang der Druidin lauschte, fürchtete sie sich nicht mehr davor, zu versagen. Das hier war keine Abiturprüfung, wenngleich sie die Details des Rituals genauso einstudiert hatte. Zumindest für die Theorie würde sie eine glatte Eins bekommen.

Als Erstes würde sie alles Irdische ablegen müssen, um äußerlich rein in die Quelle zu tauchen. Das Wasser würde sie reinwaschen. Für einen Augenblick dachte sie an Jenny und die völlig absurde Idee, dass Weihwasser ihr etwas antun könnte. Als Lyra auf ein Zeichen der Druidin in das Wasser des Sees stieg, kam ihr der christliche Glaube mit seinen Götzenbildern und Artefakten seltsam kindlich vor. In keiner Kirche hatte sie jemals diese Form der Spiritualität gespürt. Zugegeben, die Beanna hatte mit ihren weißen Augäpfeln, den zahlreichen Tätowierungen auf der hellen furchigen Haut und dem langen grauen Haar sehr wenig mit Pastor Meier zu tun, der in Lyras Heimatort jeden Sonntag den Gottesdienst abhielt.

»Bist du bereit, deinen Körper reinzuwaschen?«

Lyra nickte. War sie es? War sie wirklich bereit, ihr gesamtes Leben hinter sich zu lassen? Dies hier war nicht irgendein Selbstfindungskurs für gestresste Workaholics, sondern ihr Leben.

Als das Wasser ihre Knie erreichte, ließ sie sich endlich fallen. Ihre Vergangenheit zog vor ihrem inneren Auge vorbei wie ein Film. Fühlte sich so der Tod an? Vielleicht war das hier so etwas Ähnliches. Sterben, um in einem neuen Leben wiedergeboren zu werden.

Etwas riss an ihren Haaren, dann tauchte Lyra unter. Das Wasser der Quelle umströmte ihren Körper, es war kühl und doch angenehm. Friedlich irgendwie. Sie bekam keine Luft, aber diese Tatsache machte ihr keine Angst. Fühlte sich so ein Embryo im Mutterleib?

Um sie herum war endloses Grün. Eine wunderbar friedliche grüne Stille. Lyra hörte nicht mal mehr ihren Herzschlag oder ein Rauschen in ihren Ohren. Nein, da war nichts. Es war so wunderbar still, als wäre die Zeit stehengeblieben. Sie schloss die Augen und genoss den Moment. Ein Lächeln bildete sich auf ihren Lippen, von denen kleine Luftbläschen perlten.

Und dann schlug die Stimmung plötzlich um. Irgendetwas hatte sich verändert. Das Wasser war auf einmal eiskalt, ihre Lunge gierte nach Sauerstoff. Was störte den Frieden?

Ruckartig öffnete sie die Augen. War da nicht gerade …? In der tiefen Weite des Sees lauerte etwas Dunkles. Schwarze Schatten zuckten durch das Grün des Wassers. Ängstlich drückte sie sich zurück an die Oberfläche und tauchte prustend auf. Seltsamerweise reichte ihr das Wasser wieder nur bis zu den Knien. Die Beanna stand hinter ihr. »Hast du sie gesehen?«

Lyra nickte wieder und schaute die Druidin fragend an. Diese nahm einen Mistelzweig von einem kleinen Tisch neben sich und strich damit über Lyras nassen Körper. »Das sind die Wächter. Sie bewachen die Grenze zwischen den Welten. Du hast noch viel zu lernen, Mädchen. Nutze die Zeit, die du bei uns bist, und gehe sorgsam mit deinem Wissen um.«

Erstaunt sah Lyra in die weißen Augen der Druidin. Sie zitterte, als der Mistelzweig ein weiteres Mal über ihren Körper wanderte. Endlose Minuten verstrichen, in denen die Druidin die Waschung vollzog und dabei in der uralten Sprache der Geister murmelte. Dann endlich legte sie den Mistelzweig beiseite und stattdessen ihre kühle Hand auf Lyras Stirn. »Dein Körper ist nun bereit. Jetzt reinige deinen Geist! Nichts wird mehr sein, wie es war. Alles wird sein, wie vorherbestimmt.«

Ein weiteres Mal schloss Lyra die Augen. Mit Moira hatte sie diese spezielle Technik geübt, ihren Geist freizumachen von allen Gedanken, Sorgen, Ängsten. Deshalb atmete sie nun tief ein und spülte Stück für Stück den geistigen Ballast aus ihrem Kopf. Mit jedem Atemzug sog sie Energie in sich auf und ließ ihre Gedanken ziehen. Schon bald stellte sich das Gefühl von Freiheit ein, als würde sie schweben in einem luftleeren Raum. Ihr Geist breitete sich über die körperlichen Grenzen aus. Lyra sah sich selbst aus der Vogelperspektive. Und obwohl sie von dort sehr gut erkennen konnte, dass die Beanna direkt neben ihr stand, nahm sie gleichzeitig den Gesang der Druidin wie aus der Ferne wahr. Die Alte legte ihr wieder die Hand auf die Stirn und führte Lyra auf diese Weise Stück für Stück ins Diesseits zurück.

Dann löste sich ihre Hand von Lyras Stirn.

»Jetzt bist du bereit für die Verwandlung.«

Die Druidin trat ein Stück zurück und winkte Moira herbei, die sich bisher ehrfürchtig im Hintergrund gehalten hatte. Die kleine Wölfin stellte sich jetzt neben Lyra. Aufregung war in ihren Augen zu sehen, auch wenn sie sich bemühte, ganz ruhig zu sein. Die Beanna hingegen war verschwunden, nur ihre Stimme hallte durch die Höhle: »Nun ist es an dir, unserer Hybridin ihre wahre Gestalt zu offenbaren.«

Verwandlung

Lyra sah eine Krähe, die über den See flog. In der Ferne meinte sie, etwas aus dem Wasser steigen zu sehen. Eine Gänsehaut überzog ihren Rücken. Die Kälte war nicht nur dem Umstand geschuldet, dass sie nackt war.

»Du frierst, Lyra. Komm, zieh das hier über und dann lass uns diesen Ort verlassen.« Moira reichte ihr ein langes weißes Hemd, das Lyra dankbar überstreifte.

»Das war alles? Und jetzt setzen wir uns ins Mondlicht und machen aus mir eine richtige Wölfin?«

Moira hatte ihr Lächeln wiedergefunden. Grinsend zwinkerte sie Lyra zu. »Los jetzt! Das hier war unheimlich genug.«

Ohne ein weiteres Wort zog sie Lyra hinter sich her, die steinernen Stufen hinauf und öffnete die schwere Eichentür. Das klare Licht des Mondes empfing sie. Lyra atmete erleichtert auf, als sich das Portal hinter ihr schloss. Sie spürte die behagliche Wärme der Sommernacht auf ihrer Haut. Moira war vorgelaufen und stand nun erwartungsvoll unter dem großen Apfelbaum. Lyra gesellte sich zu ihr. Den schlimmsten Teil des Rituals hatte sie wohl hinter sich, hoffte sie zumindest. Jetzt musste sich ihr blöder Körper nur noch in einen Wolf verwandeln. Das konnte doch nicht so schwer sein, verdammt noch mal!

Auch darüber hatte Lyra mit Ian und Moira mehrfach gesprochen. Immer wieder hatten die beiden ihr erläutert, wie es sich anfühlte, wenn die Verwandlung vollzogen wurde. Trotzdem erklärte Moira ihr jetzt noch einmal, was sie tun sollte.

»Auch wenn wir alles schon durchgekaut haben, hier noch mal die Kurzanleitung: Nutze die Atemtechnik, befreie deinen Geist und dann stell dir dein Krafttier vor. Also einen Wolf. Das ist echt easy. Los jetzt!«

Das mit dem Atmen hatte Lyra in der Höhle gerade eben schon richtig gut hinbekommen. Deshalb konzentrierte sie sich jetzt darauf, tief einzuatmen und die Luft kontrolliert aus ihrem Körper strömen zu lassen. Nach und nach fühlte sie sich leichter. Und wieder stieg ihr Geist aus seinem menschlichen Gefäß und kreiste nun zwischen den Zweigen des Apfelbaums. Wie schön die Welt von hier oben war. Doch Lyra wusste, dass sie nicht endlos ihren Körper verlassen durfte. Deshalb konzentrierte sie sich nunmehr auf das Abbild eines Wolfes, wie sie es sich in den letzten Tagen unzählige Male vorgestellt hatte.

Nichts!

Ihr Körper lag im Schatten des Baumes. Immer noch menschlich. Kein einziges Wolfshaar hatte sich gebildet.

Schöne Scheiße!

Lyra sah von oben, wie Moira sie anstupste. Dann beugte sich die kleine Wölfin über sie und rief: »Komm zurück, Lyra! Das wird irgendwie nichts. Fuck!«

Kaum hatte Lyra ihren Körper erreicht, stieg die altbekannte Wut in ihr auf. »Verdammt! Wie blöd muss man eigentlich sein?«

* * *

»Wie schön du doch fluchen kannst. Und ich dachte, die Beanna hätte deinen Geist gereinigt?«

Miranda?! Lyra schaute sich um und glaubte für einen Moment, sie hätte Halluzinationen. Doch dann sah sie ihre Tante in voller Größe, wie sie gerade einen rosafarbenen Kaugummi um ihren Finger wickelte. Grinsend schob sich Miranda das süße Etwas zurück in den Mund und stakste auf Lyra zu. »Dieser Boden hier ist nichts für meine High Heels. Ich bin und bleibe ein Mädchen aus der Stadt.«

Lyra konnte es kaum fassen. »Was machst du hier? Und wie geht es Mama?«

Miranda schlenderte auf sie zu und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »›Hallo, Miranda! Schön, dich zu sehen.‹ Das wäre so ungefähr die Begrüßung, die ich erwartet habe. Na ja, schlechter Zeitpunkt für Ego-Theater. Und auch ein schlechter Zeitpunkt für das langweilige Geplänkel von zu Hause. Deiner Mutter geht es so weit gut, genau wie Emily. Das muss vorerst reichen. Ich denke, wir haben hier eine härtere Nuss zu knacken. Wo ist dein Amulett?«

Das Amulett? Lyra hatte keine Ahnung, wo sie den Anhänger mit dem hellen Stein auf der einen Seite und der Sonne auf der anderen gelassen hatte. Und sie konnte sich auch nicht erklären, warum das jetzt wichtig sein sollte. Im Augenwinkel sah sie, wie Moira ihre Tante aufmerksam musterte. Auch Miranda entging dies natürlich nicht, deshalb wendete sie sich jetzt an die kleine Wölfin: »Hallo, Moira! Wie ich sehe, hat meine Nichte nach wie vor Schwierigkeiten bei der Verwandlung. Was meinst du, woran es liegt?«

Moira zuckte resigniert die Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Die Beanna war sehr zuversichtlich, dass es heute klappen würde. Also ... ähm ... soweit man nachvollziehen kann, was die Druidin meint.« Noch einmal zuckte sie ratlos die Schultern und schaute Miranda fragend an. Diese setzte ein verschmitztes Grinsen auf und konstatierte: »Tja, dann muss wohl eine Hexe ran und die vermaledeite Situation lösen. Ich habe auch schon eine Idee. Wo, sagtest du, ist dein Amulett?«

Miranda schaute zu Lyra, die ein imaginäres Fragezeichen über dem Kopf trug.

»Keine Ahnung, ist das wichtig?«

»Natürlich ist das wichtig, Schätzchen. Ich hatte Ian gebeten, dir das Amulett zu geben und dir zu sagen, dass du es immer tragen sollst. Nun, wo ist es?«

Lyra zog ratlos die Augenbrauen nach oben. Der energische Blick ihrer Tante ruhte auf ihr, während sie sich zu erinnern versuchte, wo die Kette abgeblieben war. Auf dem Abiball hatte Lyra sie noch getragen und dann?

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich habe ich sie bei Ian im Haus gelassen, als ich mich nach dem Abiball in Windeseile umziehen und nach Irland fliehen musste.«

Miranda sagte nichts, runzelte nur die Stirn, ging zurück zum Apfelbaum und setzte sich in seinen Schatten. Beide Mädchen sahen sie an und warteten ungeduldig auf das, was die Hexe nun hoffentlich preisgeben würde.

Miranda biss genüsslich in einen Apfel, den sie sich im Vorbeigehen gepflückt hatte, und schaute in den Wipfel des Baumes. »Toll! So etwas gibt es wahrscheinlich nur hier bei euch. Mitten im Juli wachsen die saftigsten Äpfel und neue Blüten treiben auch. Das sollte kein Biologe sehen, der würde sofort mit einem Team pickliger Labor-Nerds kommen, die das gute alte Stück hier sezieren.«

Noch einmal biss sie in den Apfel und machte es sich am Stamm des Baumes bequem. »Aber nun zu deinem Problem, Schätzchen. Die Druidin hat die Reinigung vollzogen?«

Beide Mädchen nickten unisono. Miranda tat es ihnen gleich. »Okay. Dann hast du deinen Geist befreit und dir einen Wolf vorgestellt?«

Wieder nickten die Mädchen zustimmend.

»Interessant. Und passiert ist – wie man sieht – nichts. Richtig?«

Ohne ein weiteres Nicken der Mädchen abzuwarten, sprach die Hexe weiter: »Ja, dann ist doch alles klar. Lyra, was soll ich sagen? Du bist kein Wolf. Fertig!«

Moira schaute verblüfft zu Lyra, dann zu Miranda und wieder zurück. »Was soll das heißen, Lyra ist kein Wolf? Was soll sie denn dann sein? Schließlich trägt sie das Blut eines Gestaltwandlers in sich. Und die Tochter eines Wolfes wird eine Wölfin, so war es schon immer.«

Grinsend nagte Miranda an ihrem Apfel. »Und weil das schon immer so war, muss es auch zukünftig so sein, ja? Was hat die Beanna gesagt, wird sich Lyra in einen Wolf verwandeln?«

Jetzt war es Lyra, die fragend in die Runde schaute. Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht. »Nein. Sie sagte, meine wahre Gestalt würde sich nun offenbaren. Aber …«

»Aha! Dann vertrau mal deiner Tante. Als du dich an deinem Geburtstag nicht verwandelt hast, kam mir so ein Gedanke, der sich jetzt bestätigen könnte. Deshalb bin ich hier. Dein Amulett würde die Sache wahrscheinlich einfacher machen, aber es müsste auch so gehen.«

Sichtlich daran interessiert, die Spannung auf ihren Höhepunkt zu treiben, lutschte sich Miranda in aller Ruhe den süßen Saft des Apfels von den Fingern und warf den Kriebsch in die Höhe. Kurz darauf flatterte ein gelber Schmetterling aus dem Wipfel des Baumes und verschwand in der Nacht.

»Okay, dann mal Tacheles. Du bist zur Hälfte Hexe und zur anderen Gestaltwandler. So weit, so gut. Aber du kannst dich nicht in einen Wolf verwandeln. Also ist es wohl naheliegend, dass du die Gestalt eines anderen Wertieres annehmen kannst. Die Auswahl ist da ja recht übersichtlich. Wer logisch denkt und sich nicht blindlings auf das fokussiert, was schon immer so war …« Bei den letzten Worten musterte sie Moira, die ein kleines bisschen in sich zusammenschrumpfte. »Also, wenn wir das Althergebrachte mal außen vorlassen und unserer Fantasie oder auch Logik eine Chance geben, dann kommen wir zwangsläufig zu dem Schluss, dass Lyra sich höchstwahrscheinlich in eine Katze verwandelt.«

Miranda stützte die Hände auf die Knie und grinste triumphierend in die fassungslosen Gesichter der Mädchen. Moira starrte still auf die Hexe, die es sichtlich genoss, eine Klugscheißerin zu sein. In Lyras Hirn ratterte es hingegen. Je mehr sie über Mirandas Idee nachdachte, desto logischer schien ihr diese. Na klar! Hexen konnten sich in Katzen verwandeln, und Hexen mit dem Blut eines Gestaltwandlers möglicherweise in große Katzen. Aufgeregt schaute sie in den Himmel. Der Mond würde nicht ewig sein volles Antlitz zur Verfügung stellen und damit die optimalen Bedingungen schaffen. Sie musste handeln, und zwar jetzt.

Ihre Tante wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, doch Lyra machte eine abweisende Geste und murmelte: »Halte mal für einen Augenblick die Klappe, Tantchen! Ich weiß jetzt, was ich machen muss.« Kaum hatte sie das letzte Wort ausgesprochen, sammelte sie ihre Gedanken und vollzog nunmehr das dritte Mal in dieser Nacht die einstudierte Atemtechnik. Sie schloss die Augen und atmete ruhig und tief. Dabei entging ihr das grinsende Gesicht ihrer Tante und Moiras neugierige Blicke.

Als ihr Geist ein weiteres Mal über dem Apfelbaum schwebte, stellte sie sich ein anderes Tier vor. Und … sauste in ihren Körper zurück. Ein unglaubliches Gefühl empfing sie dort. Hitze durchströmte jede Kapillare. Knochen knackten. Aus ihrer Haut wuchs Fell. Ihre Eckzähne wurden spitz. Dann war alles vorbei. Ein lautes Fauchen durchbrach die Stille. Lyra sah ihre Tante, die aufgesprungen war. Moira hatte sich beide Hände vor den Mund gepresst und starrte sie entsetzt an. Ihre Gedanken kamen nur mühsam in Schwung, als würde sie wieder unter dem Einfluss von Diazepam oder einer anderen pharmazeutischen Droge stehen. Aber ihre Sinne waren hellwach. Gelbe Augen leuchteten in der Dunkelheit. Als würde der Mond wissen, dass sein Job für heute erledigt war, verschanzte er sich hinter einer dicken Wolke.

Hunger

»Lyra, kannst du mich hören? Alles gut mit dir?«

Es war Miranda, die jetzt direkt vor ihr stand. Irgendwie stimmten die Proportionen nicht mehr.

Ein weiteres Fauchen durchbrach die Stille.

Jetzt endlich begriff Lyra, dass sie auf vier Pfoten stand und die tierischen Laute aus ihrer eigenen Kehle kamen.

Das Fauchen einer Katze.

Einer großen Katze.

»Ach du Heiliger Bimbam! Ich hatte recht. Ich hatte tatsächlich recht. Was für ein großartiges Gefühl!«

Miranda schien ihr vorlautes Mundwerk und ihr unerschöpfliches Selbstbewusstsein wiedergefunden zu haben. Ihr Lachen drang laut in Lyras Ohren, die nunmehr um ein Vielfaches sensibler waren als in menschlicher Gestalt. Ihre gelben Katzenaugen fixierten Miranda. Instinkte regierten jetzt Lyras Geist, und der erste davon hieß: Hunger.

»Lyra? Warum schaust du mich so an? Lyra! Feines Miezekätzchen. Du willst mich nicht fressen. Nein! Pfui! Aus! Ich bin schließlich deine Tante. Also konzentriere dich! Hexen stehen nicht auf deinem Speiseplan.«

Wie durch eine dicke Watteschicht hört Lyra, was Miranda sagte. Doch kein überflüssiger Gedanke belästigte ihren Geist. Sie hatte einfach nur wahnsinnigen Hunger. In der Ferne hörte sie, wie ein Hase aus seinem Bau schlüpfte. Und noch bevor Miranda weiterquasseln konnte, sprang sie davon. In der Gestalt eines riesigen Luchses verschwand Lyra im naheliegenden Wald.

* * *

»Und, wie war’s?« Miranda empfing sie mit einem warmen Lächeln auf den Lippen. Verschlafen schaute sie ihre Nichte an und streckte sich müde gegen den Stamm des Apfelbaums, unter dem sie die letzten Stunden gelegen hatte. Der Morgen war längst angebrochen, die Sonne schickte ihre Strahlen durch das Blätterdach, in dem unzählige Äpfel hingen. Schwerfällig stand Miranda auf und begutachtete Lyra, die jetzt nackt und offensichtlich glücklich vor ihr stand und sich etwas aus den Zähnen polkte.