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Ein inspirierender Blick in die Welt des Fußballs 11 Menschen, 11 Geschichten: Journalist Daniel Schneider reist mit uns quer durch Fußballdeutschland. Wir machen Station in Bundesligastadien, auf Dorfplätzen, Tribünen und in Kabinen. Er lässt Menschen zu Wort kommen, die ihre Liebe zum Fußball mit persönlicher Leidenschaft verbinden: der Torwart mit sozialem Engagement, der Sportmoderator mit seiner Berufung, die Mittelfeldspielerin mit ihrem Glauben an Gott, der Vorsänger mit seiner Haltung zum Leben. Ihre Geschichten zeigen, warum sie den Fußball lieben, geben Einsicht in ihre Überzeugungen und regen zum Weiterdenken an: Wer bin ich? Wie gehe ich mit Druck um? Welche Verantwortung habe ich in der Gesellschaft?
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Seitenzahl: 178
DANIEL SCHNEIDER
11
X WIR
WIE WIR LEBEN, WORAN WIRGLAUBEN, WAS UNS VERBINDET
SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7563-0 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6069-8 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2022 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]
Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Fotos:
© Lea Barnowsky: Seite 8, 9, 18, 20, 23, 25, 28, 31, 64, 67, 68, 71, 72, 75, 83, 88, 91, 93, 95, 97, 101, 194, 108, 110, 112, 113, 115, 116/117, 124, 127, 129, 131, 133, 135, 138, 141, 142, 144, 147, 148, 152, 161, 180, 190/191
© Erik Przybilla: Seite 34, 36, 38, 41, 42, 43, 48, 50, 52, 55, 58, 61, 81, 164, 167, 168, 171, 173, 177, 188/189, 194/195
Lektorat: Rebecca Schneebeli
Gesamtgestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de
Titelbild: Adobe Stock | #236242469 (Rawpixel.com)
Autorenfoto: © Lea Barnowsky
Über den Autor
#Einleitung
#1 Jonas Ermes – Wie geht Verantwortung übernehmen?
#2 Patrick Schirrmacher – Wie geht Nachhaltigkeit?
#3 Jasmina Čović – Wie geht Spielerinnenberatung?
#4 Tim Niedernolte – Wie geht Berichterstattung?
#Zwischenstand – Medien
#5 René Müller – Wie geht Coaching?
#6 Ann-Kathrin Wolfram – Wie geht Selbstwert?
#Zwischenstand – Zitate, die bleiben
#7 Dominic Peitz – Wie geht das Leben danach?
#8 Sven Körber – Wie geht Leidenschaft?
#9 Philipp – Wie geht Mentoring?
#10 René Müller – Wie geht Kritik am System trotz Liebe zum Spiel?
#11 Der Fußballfan – Wie geht Fanwissen?
#Outro
Endnotenverzeichnis
Dieses Buch widme ichmeiner Schwester Lydia Müller.
Die gemeinsamen Fußballabende vor demFernseher bei Oma Johanne und Opa Friedrichsind nur ein Beleg für unsere wunderbaregeschwisterliche Seelenverwandtschaft.
Die Sache mit dem Fußball – die wichtige Sache mit dem Fußball – ist, dass es nicht nur um Fußball geht.
TERRY PRATCHETT: DER CLUB DER UNSICHTBAREN GELEHRTEN1
Erst mal Gut Kick in die Runde!
KLAAS HEUFER-UMLAUF IN DER SENDUNG »DOPPELPASS« AUF SPORT 1 AM 28.02.2016
Es war ein bisschen Maradonas Kopf und ein bisschen die Hand Gottes!
DIEGO ARMANDO MARADONA ÜBER SEIN TOR IM WM-VIERTELFINALE 1986 GEGEN ENGLAND2
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DANIEL SCHNEIDER(Jg. 1979) ist Journalist und Theologe. Er arbeitet als Drehbuchautor für das WDR-Fernsehen, als Dozent für die IST-Hochschule für Management, als Redakteur für das Evangelische Rundfunkreferat NRW, schreibt Bücher und ist als Moderator und Referent unterwegs.
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Es gibt sie nicht – die EINE Geschichte über den Fußball. Es gibt auch nicht DAS eine Buch über den Fußball. Es gibt allerdings DAS eine Spiel oder DEN Titel. DEN ersten Stadionbesuch. Und zwar millionenfach. Es gibt die kleinen und die großen Geschichten. Und deshalb gibt es dieses Buch.
Wir alle sammeln sie. Unsere Geschichten mit dem Fußball, die auf oder neben dem Platz liegen. Die schönsten dieser Geschichten sind immer die, die zum Weitererzählen anregen. Weil sie aufregen. Weil sie berühren oder schmerzen. Weil sie sprachlos machen, beispielhaft sind. Und weil sie unser Zusammenleben unterstützen; uns entlarven; dafür sorgen, dass wir uns besser fühlen – oder schlechter. Und nicht zu vergessen – weil sie einfach unterhalten und trotzdem einen Mehrwert bieten. Es gibt diese Erlebnisse, die sich tief eingebrannt haben; die bleiben. Und je nach Tagesaktualität gibt es die Storys, die sich im Kurzzeitgedächtnis niederlassen und dann wieder verschwinden.
Welche Geschichte würdet ihr erzählen? Jetzt. Ohne groß nachzudenken.
Ich im Moment die Geschichte des Balljungen der Tottenham Hotspurs. Am 29. November 2019 lagen die Spurs im Champions-League-Spiel gegen Olympiakos Piräus mit 1:2 zurück. Der 15-jährige Balljunge Callum Hynes leitete in der 50. Minute blitzschnell einen Einwurf ein, der zum Ausgleich durch den Stürmer Harry Kane führte. Er hatte geistesgegenwärtig, kurz nachdem der Ball ins Aus gespielt wurde, einen Ball zum Einwurf weitergeleitet. Das bedeutete die Wende. Die Spurs gewannen 4:2 und qualifizierten sich für das Achtelfinale. Der damalige Trainer der englischen Mannschaft, Jose Mourinho, bedankte sich sofort per Handschlag beim Balljungen und sagte nach dem Spiel: »Um das zu tun, musst du ein wirklich guter Balljunge sein. Er versteht das Spiel, er liest das Spiel. Er ist Teil des Spiels und spielt es sehr gut.«3
Die Geschichte hat mich inspiriert, obwohl sie schon über zwei Jahre zurückliegt. Sie taugt als Small-Talk-Thema und als Einstieg für tiefe Debatten. Thema: Jeder ist wichtig!
Und dieses Buch ist für jeden! Egal, ob ihr Dauerkarteninhaber seid, jede freie Minute damit verbringt, den Liveticker zu aktualisieren, oder ob euch als Gelegenheitsgucker nur bei den großen Turnieren das Fußballfieber erwischt. Vielleicht habt ihr aber auch gar keinen Bock auf Fußball, möchtet aber verstehen, warum eure besten Freunde genervt die Augen verdrehen, wenn ihr den Spruch »Warum geben die nicht allen Spielern einen Ball?« bringt.
11 x WIR – darum geht es. In elf Kapiteln geht es um Geschichten, die Menschen mit dem Fußball erlebt haben oder erleben. Die unterhalten, aber auch übertragen werden können. Auf unser Leben. Denn Druck, Teamgeist, Siege und Niederlagen – die finden nicht nur in 90 oder 120 Minuten auf dem grünen Rasen statt.
Dieses Buch soll zum Geschichten-Erzählen und -Erleben inspirieren. Es vereinigt die großen Gefühle und die scheinbar kleinen Momente des Spiels. Es macht die Tür auf zum großen Ganzen. Zum Zusammenleben, zum Sinn des Lebens, zu persönlichen Glaubenssätzen.
Ich habe mich auf die Suche nach genau diesen Geschichten gemacht. Mitten in einer Zeit, in der Fußball – dank der aktuellen gesellschaftlichen Lage – wirklich zur absoluten Nebensache geworden ist und gerade deshalb relevanter ist als jemals zuvor. In einer Zeit, in der eine WM in Katar bevorsteht, die kritischer gesehen wird als jede andere vor ihr. Einer Zeit, in der immer mehr erwartet wird, dass sich Fußballerinnen und Fußballer politisch äußern. In der die Corona-Impfdiskussion am Beispiel von Fußballnationalspielern durchdekliniert wird, und in einer Zeit, in der Russland die Ukraine angreift und sich Fußballvereine wegen ihrer (Haupt-)Sponsoren hinterfragen müssen. In einer Zeit, in der Spielorte wie das Champions-League-Finale 2022, das eigentlich in St. Petersburg stattfinden sollte, aufgrund der aktuellen politischen Lage verlegt werden und sich Klubeigentümer – wie der russische Oligarch Roman Abramowitsch vom englischen FC Chelsea – aus politischen Gründen aus dem Geschäft zurückziehen.
Diese Entwicklung ist bedeutsam und herausfordernd. Der Spagat zwischen Leichtigkeit und knallhartem Business im Leistungssport Fußball war noch nie so schwierig.
Ist er überhaupt noch möglich?
Auch darum geht es in diesem Buch: Wie schaffen wir es, die Leichtigkeit und die Freude an dieser wunderbaren Sportart nicht zu verlieren und gleichzeitig kritisch zu hinterfragen, ob der Fußball seiner Gesellschaftsrelevanz mit all ihren Chancen und Grenzen gerecht wird?
Um das zu unterstreichen, präsentiere ich drei Aussagen aus der Welt des Fußballs, die ganz gut beweisen, wie der Zeitgeist den Fußball beeinflusst. Sie bestimmten das Tagesgeschäft, während ich diese Zeilen schreibe:
Wir müssen den Afrikanern Hoffnung geben, dass sie nicht über das Mittelmeer kommen müssen, um hier vielleicht ein besseres Leben vorzufinden – aber wahrscheinlich den Tod im Meer. Wir müssen ihnen Möglichkeiten und Würde geben. Nicht indem wir wohltätig sind, sondern indem wir alle teilhaben lassen.
GIANNI INFANTINO4
Als der Präsident des weltweit größten Fußballverbandes FIFA am Mittwoch, dem 26. Januar 2022, vor dem Europarat in Straßburg diese Sätze sprach, um seine Pläne von einer WM im Zweijahresrhythmus zu untermalen, schlackerten nicht nur den Fußballfachkräften unter den Zuhörenden die Ohren.
Im Rahmen des Kommissionsberichts Fußballverwaltung: Wirtschaft und Werte war es dem hochrangigen Funktionär gelungen, die Bedeutung des Fußballs innerhalb weniger Sekunden in einer so aberwitzigen Weise zu überhöhen und gleichzeitig eine der größten gesellschaftlichen Tragödien weltweit – die Migrationsbewegungen – kleinzureden.
Bis zur Drucklegung dieses Buches ist diese Rede Infantinos das wohl plakativste Beispiel dafür, wie sehr die Speerspitze des kommerziellen Fußballs an Realitätsverlust leidet. Der Aufschrei, der global erfolgte, konnte auch durch Infantinos Bemühungen, seine Rede als »missinterpretiert« darzustellen, nicht gedämpft werden.5
Ich will einfach raus, ich will mit Fußball nichts mehr zu tun haben.
MAX EBERL6
Am 28. Januar 2022 erklärt der Sportdirektor des Fußballbundesligisten Borussia Mönchengladbach in einer Pressekonferenz seinen sofortigen Rücktritt aus dem bezahlten Fußballgeschäft. Gesundheitliche Gründe veranlassen den damals 48-Jährigen zu diesem Schritt. Keine Machtspielchen, kein Vereinswechsel, nur die schlichte Erkenntnis: Wenn ich jetzt nicht die Notbremse ziehe, wird das kein gutes Ende nehmen.
Neben ihm sitzen ältere Herren aus der Geschäftsführung des Vereins und einer von ihnen, Rolf König, erklärt mit sauertöpfischer Miene: »Wir haben das respektiert, aber nicht akzeptiert.«7
Als 24 Stunden vorher bekannt wird, dass Eberl Gladbach verlässt, die konkreten Gründe aber noch unklar sind, gehen die Spekulationen los. Will Max Eberl den Verein wechseln? Womöglich noch des Geldes wegen? Mit 35 Jahren ist Eberl Sportdirektor geworden. Vorher war er Nachwuchskoordinator, davor Fußballprofi bei Mönchengladbach. 23 Jahre ein Verein – und was bleibt?
»Ich kann für diesen großartigen Klub nicht mehr arbeiten, weil ich krank bin. Ich bin erschöpft. Ich will einfach raus aus der Mühle«8, erklärt er zum Abschluss.
Die sollen nach vorne spielen!
STEFFEN BAUMGART, BRÜLLEND9
Corona-Quarantäne für den Trainer des 1. FC Köln. Das Spiel gegen den SC Freiburg am 5. Februar 2022 verfolgt Steffen Baumgart aus dem heimischen Wohnzimmer. Aber Coaching-Zone bleibt Coaching-Zone. Mit der Schieber-Mütze tobt der Trainer vor dem TV hin und her und wird dabei von seiner Tochter gefilmt. Es ist ein wahrer Augen- und Ohrenschmaus.
Vor allem, weil es sich der Rest der Familie Baumgart auf der Couch bequem gemacht hat und scheinbar nur der Familienhund von der Aufregung angesteckt wird und Baumgart von hinten anspringt. Und … ach, was erzähle ich: Durchforstet das Netz und seht es euch an!
Es zeigt wunderbar, wie die Mixtur aus Pandemie und Social-Media-Skills der Menschen zusammen eine neue Normalität geschaffen hat.
Doch was ist schon normal im Fußball? Während ihr diese Zeilen lest, ist Steffen Baumgart hoffentlich noch immer Trainer des 1. FC Köln, Max Eberls Geschichte hat hoffentlich dazu beigetragen, dass Offenheit und Verletzlichkeit nicht nur ein paar Tage nach solchen Ereignissen unterstützt werden und Gianni Infantino, … ach, lassen wir das.
Vielleicht ist Steffen Baumgart aber auch neuer Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, Max Eberl schreibt einen Bestseller über seine Reise auf dem Jakobsweg und Gianni Infantino hat einen Hilfsfonds zur Seenotrettung geflüchteter Menschen gegründet, den er aus eigener Tasche mit Geld bestückt.
Wunder gibt es immer wieder.
Das gilt auch für dieses Buch. Denn auf meiner Suche habe ich tolle Menschen gefunden, die mit mir gesucht haben und durch die ich Antworten gefunden habe. Menschen, die in dem schnelllebigen und flüchtigen Geschäft Fußball nachhaltig wirken, auf ihre Art aktuell bleiben und zeitlos ihre Geschichte erzählen.
Ich starte im Sauerland.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Schon in der dritten Minute bewahrt Jonas Ermes seine Jungs vor dem Rückstand. Durch einen sensationellen Reflex pariert der Torwart eine hundertprozentige Torchance des Essener Mittelfeldspielers Tim Hermes. Und das vor ausverkauftem Haus. Über 30 000 Zuschauerinnen und Zuschauer sehen am 7. Februar 2015 das Spitzenspiel zwischen Alemannia Aachen und Rot-Weiss Essen.
Ein Schmankerl für Fußballromantiker und Anhänger von Traditionsvereinen. Denn es ist eher die glorreiche Vergangenheit als die Gegenwart, die beide Teams strahlen lässt. Auf dem Papier und dem Platz ist es das Spitzenspiel der Regionalliga West. Vierte Liga. Aber die Rekordkulisse und damit die Stimmung auf dem Rasen hat internationales Niveau.
Und für Jonas Ermes ist es das Spiel seines Lebens. Denn er bestreitet in diesen 90 Minuten sein vorletztes Spiel als Fußballprofi. Mit 22 Jahren. Und dieses Mal läuft wirklich alles nach Plan. Nach seiner Rettungstat am Anfang des Spiels gehen die Aachener kurz vor der Halbzeit in Führung und geben diese auch für den Rest des Spiels nicht mehr her. Zu null. Gewonnen. Dank Torwart Jonas Ermes. Nach dem Abpfiff feiern die eigenen Fans ihn und seine Mannschaft. »Für dieses Spiel hätte mir niemand auch nur einen Euro Gehalt geben müssen«, sagt er knapp sieben Jahre später.
Warum es sein vorletztes Spiel war, erzählt er mir im Sportlertreff des TV Rönkhausen 1892 e. V. Vor der Tür: ein Kunstrasenplatz mit malerischer Kulisse. Innen: Pokale, Zapfhahn, ganz viel Amateurfußballliebe.
Hier ist Jonas mittlerweile selten anzutreffen. Sein Elternhaus steht unweit des Vereins und Jonas hat große Teile seiner Kindheit auf und neben diesem Fußballplatz verbracht. Sein Vater engagiert sich immer noch im Verein.
Mit 17 Jahren hat Jonas Angebote vom FC Schalke, den Bayern und dem VfL Bochum.
Mit vier Jahren tritt Jonas dem Verein bei. Er stellt sich ins Tor. Und da bleibt er. Er fliegt unter dem Radar der Profi-Scouts durch den Strafraum verschiedener Sauerländer Vereine. Bis zur U16. Da gelingt ihm der Satz aus der Bezirksliga in die Junioren-Bundesliga. Der VfL Bochum erkennt sein Talent. Mit 17 Jahren hat er Angebote vom FC Schalke, den Bayern und dem VfL Bochum.
Trotz der familiären Fanliebe zu einem bestimmten Ruhrgebietsklub üben die Eltern keinerlei Druck auf ihn aus:
Mein Vater, meine Schwester und ich waren große Schalke-Fans. Aber mein Vater und auch meine Mutter haben mich überhaupt nicht beeinflusst. Sie haben gesagt: Wenn du unsere Meinung hören willst, dann sagen wir die. Entscheiden musst du ganz allein. Wir unterstützen dich.
Ein Bilderbucheltern-Moment. Apropos: Jonas‘ Vater versorgt uns während des Gesprächs mit Kaffee und Keksen. Auch nicht selbstverständlich. Jonas entscheidet sich damals schließlich für den VfL Bochum:
Ich wollte nicht weg von zu Hause. So konnte ich weiterhin bei meinen Eltern wohnen und musste auch nicht die Schule wechseln. Ich brauchte das geschützte Umfeld.
Und doch steht er jetzt deutlicher im Fokus. Der DFB wird auf ihn aufmerksam. Gemeinsam mit dem Finaltorschützen der WM 2014 Mario Götze und den Torhüterkollegen Marc-André ter Stegen und Bernd Leno fliegt er als dritter Nationaltorhüter mit zur U17-WM nach Nigeria. Ein tolles Erlebnis. Aber schon bei diesem Turnier merkt er, dass der Performancezwang eines Leistungssportlers ihn stark einschränkt.
Denn Jonas interessiert sich nicht nur für Fußball, sondern ebenfalls für die Kultur des Landes und für die Leute. Er guckt mal links und rechts am Platz vorbei. Auch im übertragenen Sinn:
Wer hat mit 17 Jahren schon die Möglichkeit, solche Reisen zu unternehmen? Aber wir durften nicht mit den Menschen in Nigeria in Kontakt treten, sondern blieben in unserer Blase. Das hat mich schon gestört.
Er sieht trotzdem, wie anders die Kultur in Afrika ist, und das beeindruckt den Teenager nachhaltig. Es ist eben nicht selbstverständlich, behütet im Sauerland aufzuwachsen und sich keine Sorgen machen zu müssen, ob und wann eine warme Mahlzeit auf dem Tisch steht.
Ihm wird seine privilegierte Situation immer mehr bewusst. Nicht nur, dass er qua Geburt in Deutschland einfach ein sozial gesichertes Leben führen darf, sondern auch, dass Gleichaltrige ansonsten nicht auf Kosten des Fußballbundes durch die Welt reisen dürfen.
Er liebt seinen Sport, quält sich täglich im Training und bringt gute Leistungen. Der Traum vom Profifußballer rückt immer näher. Im letzten U19-Jahr darf er bereits bei den Profis mittrainieren. In der Nachwuchsmannschaft ist er Führungsspieler und Ruhepol der Mannschaft.
Ich bin nicht der talentierteste Torwart, aber sehr ganzheitlich und ausgeglichen. Ich habe Sicherheit ausgestrahlt und während des Spiels unheimlich viel geredet. Diese Kombination haben meine Mitspieler sehr geschätzt.
»Ich habe immer auf diesen Moment hingearbeitet, und als es so weit war, war es irgendwie doch nicht so geil. Auf dem Platz und in der Kabine habe ich das Gefühl gehabt, dass ich hier nicht sein möchte.«
2011 unterschreibt er mit 19 Jahren seinen ersten Profivertrag beim VfL Bochum. Zweite Bundesliga. Er ist Fußballprofi. Doch mit der Unterschrift kommen die Zweifel. Jonas beschreibt das so:
Ich habe immer auf diesen Moment hingearbeitet, und als es so weit war, war es irgendwie doch nicht so geil. Auf dem Platz und in der Kabine habe ich das Gefühl gehabt, dass ich hier nicht sein möchte.
Die Gründe dafür kann er nicht so genau benennen. Ob es daran liegt, dass Jonas mit seiner Rolle als Profifußballer nicht klarkommt?
Als mir ein Vater bei einer Autogrammstunde sein kleines Kind in die Hand drückte, dachte ich: Wow, Moment mal! Warum ist das, was ich mache, so außergewöhnlich?
Oder ist es eher das Gefühl, dass der reine Fußball – der Grund, warum Jonas das alles so sehr wollte – im Profibereich gar nicht mehr so sehr im Mittelpunkt steht, sondern es viel mehr um materielle Dinge geht? Oder ist es die Rolle, die Jonas als Jungprofi im Profikader einnehmen muss? Eben einer unter vielen zu sein? Egal, Jonas kann seine Zweifel irgendwann nicht mehr ausblenden und bittet um ein Gespräch mit dem Management. Er sagt offen und ehrlich, dass er gerade nicht weiß, ob er in der Mannschaft am richtigen Platz ist.
»Wir haben dann gemeinsam entschieden, dass ich erst mal in die zweite Mannschaft wechsle. Danach ist eine Last von mir abgefallen.« Einige Wochen später verletzt sich Jonas Ermes am Knie. So schwer, dass eine neunmonatige Pause nötig wird – eine Ewigkeit im Profisport. Der Rehaprozess bringt ihn ins Nachdenken. Interessanterweise bekommt er wieder mehr Lust auf das Profigeschäft und hängt sich wieder voll rein.
Die Verletzung zwingt ihn jedoch in die zweite Reihe. Als Torwart ist das ein großes Problem. In der Mannschaft gibt es nur einen Platz zu vergeben. Die Chance zu spielen ist gering. Einige Wochen später wieder eine Verletzung. Wieder einige Monate Pause. Wieder Nachdenken. Will ich das wirklich? Reicht es, um in der Bundesliga mitzuhalten? Hält die Motivation? Hält das Knie?
»Das war der Moment, in dem ich gemerkt habe: Das war’s! Ich werde meine aktive Karriere beenden.«
Jonas Ermes verlässt den VfL Bochum. Er wechselt zu Alemannia Aachen, will sich beim Viertligisten durchsetzen und dann noch mal angreifen. Einen Tag nach der Vertragsunterzeichnung verletzt er sich bei einem Spiel erneut am Knie.
»Das war der Moment, in dem ich gemerkt habe: Das war’s! Ich werde meine aktive Karriere beenden.« Ende des Jahres 2014 soll Schluss sein. Doch dann sieht der Stammtorhüter der Aachener im letzten Spiel der Hinrunde die Gelb-Rote Karte. Jonas wird eingewechselt.
Auch im ersten Spiel der Rückrunde steht Jonas zwischen den Pfosten. Es ist das eben erwähnte Kultspiel mit einem Viertliga-Zuschauerrekord. Damit erfüllt sich sein Traum vom voll besetzten Stadion. Noch bis zum Saisonende bleibt Jonas Ersatztorwart bei den Aachenern. Dann beginnt für ihn ein neuer Lebensabschnitt.
Ich frage Jonas, ob der Ausstieg aus dem Profifußball ihn im Nachhinein noch beschäftigt. Die Frage nach dem »Was wäre, wenn …?«. Was wäre, wenn das Knie gehalten hätte? Was wäre, wenn er nicht so viel nachgedacht und hinterfragt hätte?
»Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass mich das nicht interessiert«, antwortet Jonas und fügt dann hinzu:
Ich bin total happy mit meinem jetzigen Leben, aber ich blicke schon mit einem weinenden und einem lachenden Auge zurück. Mein Traum war es immer, an der Anfield Road, dem Stadion des FC Liverpool, zu spielen. Wer weiß, … Ich meine, meine damaligen U17-Torhüterkollegen spielen beim FC Barcelona (ter Stegen) und bei Arsenal London (Leno).
Er macht eine Pause, dann fährt er fort:
Aber: Wäre ich glücklicher? Ich weiß es nicht! Ich habe eine Menge in den Fußball investiert und habe auch eine Menge vom Fußball bekommen. Das war schon das Beste, was mir passieren konnte. Und es war ja auch zum Teil meine Entscheidung, dass es nicht weitergegangen ist. Aber ab einem gewissen Zeitpunkt wollte ich es einfach nicht mehr.
Mit Anfang zwanzig ist seine Karriere als Fußballprofi vorbei. Glücklicherweise hatte Jonas sich – neben seiner Vertragsunterschrift beim VfL Bochum im Jahr 2011 – an der Ruhruniversität Bochum eingeschrieben. Die Entscheidung, neben dem Fußballtraining auch noch BWL-Bücher zu wälzen und den Master in Management and Economics zu machen, erweist sich als goldrichtig, denn bereits im September 2015 verweben sich Jonas’ Fußballaffinität, seine betriebswirtschaftliche Expertise und die Bereitschaft, in einer ganz besonderen Form Verantwortung zu übernehmen: Jonas gründet das Projekt In safe hands e. V.
Es ist die Zeit, in der die Bundeskanzlerin Angela Merkel drei historische Worte spricht: »Wir schaffen das.« Im August 2015 ordnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an, Asylsuchende aus Syrien, die nach Deutschland einreisen wollen, nicht mehr abzuweisen, selbst wenn sie in dem EU-Land, in dem sie zuvor waren, nicht registriert wurden.10 Diese durchaus sinnvolle Regelung, um geflüchtete Menschen zu unterstützen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, wurde und wird öffentlich oft so verstanden, als hätte Deutschland ungeprüft alle geflüchteten Menschen ins Land gelassen.11
Dabei zeigen Studien, dass die starke Zuwanderung im Jahr 2015 nicht nur auf die Politik von Angela Merkel zurückzuführen ist, sondern durch einen bereits 2010 beginnenden Aufwärtstrend ausgelöst wurde und nach 2015 wieder stark zurückgegangen ist.12 Dennoch, die Kanzlerin und der Sommer 2015 bleiben im Gedächtnis der Deutschen mit einer Welle von geflüchteten Menschen verbunden. Die BILD-Zeitung setzt sich damals für eine massive Unterstützung der Geflüchteten ein, Fußballerinnen und Fußballer laufen mit dem Logo und Hashtag #refugeeswelcome auf.