6,99 €
'Der HSV ist 'n reiner Weltverein, das sach ich dir!', wusste schon Imbissphilosoph Dittsche. Und er hat recht! Immer erste Liga, Urgestein, Meister, Pokalsieger, Europapokalgewinner - die Rothosen sind einer der erfolgreichsten Vereine in Deutschland. Anders als zum Beispiel die Bayern vermag es dieser Verein allerdings, seine Anhänger auch in tiefste Depression und Fassungslosigkeit zu versetzen. Das Auf und Ab des Clubs bringt seine Fans an den Rand des Wahnsinns. Zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt gibt es nichts beim Traditionsclub von der Alster. Apropos Tradition! Die wird hier großgeschrieben und ist neben der ruhmreichen Vergangenheit der große Halt für die nach Titeln dürstende Fanschar in der Medienstadt Hamburg, wo nach einem Sieg die Meisterschaft herbeigeredet und nach einer Niederlage der Untergang des Abendlandes prophezeit wird. Die Medien reden von einem schlafenden Riesen und liegen damit trefflich daneben, denn der HSV ist das Größte. Auf der ganzen Welt. Basta!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 308
Jörn von Ahn, Thorsten Eikmeier, Malte Laband, Philipp Markhardt
»Der HSV is’n Weltverein, ’n reiner Weltverein. Das sach’ ich dir«, wusste schon Imbissphilosoph Dittsche. Wenn der Arbeitslose am Sonntagabend zu Ingo und Schildkröte in die Eppendorfer Grillstation nahe der Hamburger Hoheluftchaussee gedackelt kommt, um sein Leergut abzugeben und die Themen der Wochen – wie Horst Hrubesch einst sagte – Paroli laufen zu lassen, dann ist der HSV ziemlich oft Thema. Und das, lieber Leser, in einer WDR-Produktion! Ist das nicht schon Beweis genug für die Größe und Schönheit des Vereins? Wir finden schon. Und wir schließen uns der Meinung des Mannes in Bademantel, Trainingshose und Adiletten an: Immer erste Liga, Urgestein, Meister, Pokalsieger, Europapokalgewinner – die Rothosen sind einer der erfolgreichsten Vereine in Deutschland und vor allem UNSER Verein und der von Millionen anderen Menschen in ganz Deutschland.
In ganz Deutschland? Ganz recht! Denn wenn die Rothosen unterwegs sind, dann reist ihnen nicht nur eine große Schar treuer Fans aus der Hansestadt hinterher. Nein, er wird auch an den jeweiligen Spielorten begrüßt von zahlreichen Fanclubs aus der jeweiligen Region. Ganz gleich, ob es sich um den Ruhrpott handelt, das Rheinland, Hessen, Baden, Württemberg, München oder die neuen Bundesländer, wo der Club von der Elbe bereits vor der Wende einer der beliebtesten Zweitclubs ostdeutscher Fanatiker von der Ostsee bis ins Erzgebirge war. Wer sind schon Bayern, Dortmund, Stuttgart oder Köln? Selbst in Bremen und auf St. Pauli gibt es sie, die Jünger der Raute, mitten im Feindesland also. Sie alle eint die bedingungslose Liebe zu einem ganz besonderen Verein und ihre Leidensfähigkeit.
Denn anders als zum Beispiel die Bayern vermag es dieser unser Verein, seine Anhänger auch in tiefste Depression und Fassungslosigkeit zu versetzen. Das Auf und Ab des Clubs bringt seine Fans an den Rand des Wahnsinns. Zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt gibt es keine Kompromisse beim Traditionsclub von der Alster. Apropos Tradition! Die wird hier großgeschrieben und ist neben der ruhmreichen Vergangenheit der große Halt für die nach Titeln dürstende Fanschar in der Medienstadt Hamburg, wo nach einem Sieg die Meisterschaft herbeigeschrieben und nach einer Niederlage der Untergang des Abendlandes prophezeit wird. Glaubte man ernsthaft, was Woche für Woche über den HSV erzählt wird, man müsste denken, hier ginge es um zwei verschiedene Clubs. Die Medien reden im Zusammenhang mit dem Bundesliga-Dino von einem schlafenden Riesen und liegen damit trefflich daneben, denn der HSV ist einfach das Größte. Auf der ganzen Welt. Mehr als 72.000 Mitglieder und über 820 offizielle Fanclubs können sich ganz einfach nicht irren. Basta!
Die Autoren
1. KAPITEL
125 Jahre Hamburger Sport-Verein! Dieses stolze Jubiläum feierte der HSV am 29. September 2012. Der große Tag fiel passenderweise auf einen Sonnabend und das bei der DFL zu diesem Anlass beantragte Heimspiel wurde gegen Hannover 96 mit 1:0 gewonnen. Zum Glück, angesichts der umfangreichen Festivitäten rund um dieses historische Ereignis! Natürlich hätten die HSV-Fans und Mitglieder ihren Verein auch bei einem anderen Spielausgang standesgemäß gefeiert, aber nicht wenige befürchteten hinter vorgehaltener Hand eine Niederlage und somit deutlich gedämpfte Stimmung.
Ein Selbstgänger waren diese drei Geburtstagspunkte nämlich keinesfalls. Ganz im Gegenteil. Der HSV war in diese doch so bedeutende Saison 2012/13 desaströs mit vier Niederlagen in Folge gestartet: 2:4 und damit das blamable Erstrundenaus im DFB-Pokal beim Drittligisten Karlsruher SC. Gefolgt von drei Bundesligapleiten: 0:1 zu Hause gegen Nürnberg, 0:2 in Bremen und 2:3 bei Eintracht Frankfurt. Damit stand man ohne Punkte bereits wieder am Tabellenende – und das ausgerechnet eine Woche vor dem großen Jubiläumswochenende. Es war also wirklich an der Zeit, das Ruder jetzt langsam einmal herumzureißen. Und zwar gegen keinen Geringeren als den Deutschen Meister Borussia Dortmund. Der amtierende Champion hatte aus seinen ersten drei Spielen zwei Siege und ein Unentschieden geholt und knüpfte damit fast nahtlos an die grandiosen Leistungen der beiden Vorjahre an. Doch nicht nur das. Der BVB war in der Bundesliga mittlerweile saisonübergreifend seit unglaublichen 31 Spielen in Folge unbesiegt – und damit verdammt nah dran, einen ausgerechnet vom HSV aufgestellten und eigentlich für die Ewigkeit geltenden Rekord zu brechen.
Von Januar 1982 bis Januar 1983 waren die Rothosen insgesamt 36 (!) Spiele in Folge ungeschlagen geblieben. Beendet wurde diese epische Serie dann – man möchte heute fast schon sagen »natürlich« – vom damals gerade wieder aufstrebenden Nordrivalen aus Bremen. Aber auch die knappe 2:3-Niederlage an der Weser konnte den HSV letztendlich nicht stoppen. Neben der Deutschen Meisterschaft holte das Team von Ernst Happel kurz vor dem Ende der Spielzeit 1982/83 auch noch den Europapokal der Landesmeister und sorgte somit für die erfolgreichste Saison der Vereinsgeschichte. Den Titel »Beste Mannschaft Europas« konnte man im Folgejahr nach einem überraschenden Ausscheiden gegen Dinamo Bukarest nicht verteidigen. Und Deutscher Meister wurde der HSV 1983 auch zum bisher letzten Mal. Der Glanz jener Meistermannschaft strahlt allerdings bis zum heutigen Tag und die »Helden von Athen« werden von den Fans nach wie vor fast schon andächtig verehrt und besungen.
Der einzige »Titel« aus jener glorreichen Ära jedoch, der nicht an einen anderen Verein abgetreten werden musste, war die 36-Spiele-Serie. Keinem anderen Club sollte es in der Folgezeit gelingen, diese Leistung zu wiederholen. Und je länger der Rekord Bestand hatte, desto offensichtlicher wurde, dass dem HSV damals etwas wirklich Sensationelles gelungen war. Etwas Einmaliges. Etwas, was wohl niemals zu wiederholen sein würde. Und vor allem etwas, was leidgeplagte HSV-Fans in Diskussionen mit anderen Anhängern in die Waagschale werfen konnten: »Seht her, wir haben zwar jahrzehntelang nichts mehr gewonnen, aber diese Serie kann und wird uns niemand nehmen.«
Die »36« hatte sich zu einer festen Konstante im Leben vieler HSVer entwickelt. Sie war nicht so fragil und immer mal wieder latent gefährdet wie der ebenso einmalige Status als ewiger Bundesligist und Urgestein der Liga. Eher würde der HSV wohl irgendwann einmal absteigen, als dass irgendein anderer Verein eine derartige Serie hinlegen würde, so die einhellige Überzeugung im Lager der Rothosen. »Mir persönlich ist dieser Rekord sehr wichtig. Ich erzähle seine Geschichte immer gern, wenn ich andere von der Beispiellosigkeit unseres Clubs überzeugen möchte. Ich setze den Rekord in eine Reihe mit dem Verzicht auf die Meisterschaft 1922, den Dino der Liga und die Raute als kräftiges, stolzes Symbol, das als einziges in der Bundesliga ohne Facelifting auskommt«, so HSV-Fan »8. Minute« im Nostalgiethread des Supporters Internetforums. Und damit war er sicherlich kaum allein.
Nicht wenigen HSV-Fans dürften daher am 22. September 2012 einige Gesteinsbrocken vom Herzen gefallen sein, als Doppeltorschütze Heung Min Son und Ivo Iličević mit ihren Treffern den BVB mit 3:2 in die Knie zwangen. Nicht nur, dass der HSV damit den befürchteten Katastrophenstart in die Jubiläumswoche abgewendet und mit einer guten Leistung zudem etwas für das eigene Selbstbewusstsein getan hatte. Die Mannschaft um Rafael van der Vaart hatte vor allem ein historisches Alleinstellungs- und Identifikationsmerkmal erhalten: Man hatte den BVB geschlagen und damit aus eigener Kraft das Erbe von Hrubesch, Magath und Co. gerettet. Selten war eine Mannschaft so dicht dran wie die Borussia. Aber 36 Spiele in Folge nicht zu verlieren kann eben doch nicht jeder. Das kann nur der HSV! Und zwar bis heute und in alle Ewigkeit!
Lautstarker Applaus brandete auf, als sich Ivica Olić beim Spiel gegen Bayern München zum Aufwärmen hinter das Tor vor der Nordtribüne begab. Der kroatische Stürmer galt in Hamburg als einer der absoluten Publikumslieblinge. Von daher waren derartige Sympathiebekundungen keine Seltenheit und eigentlich auch nichts Besonderes. In diesem Fall war das aber anders. Denn Olić trug das Trikot des HSV gar nicht mehr. In der Sommerpause war er zum FC Bayern gewechselt und kehrte nun zum ersten Mal mit seinem neuen Arbeitgeber an die alte Wirkungsstätte zurück.
Und Spieler des Rekordmeisters werden in Hamburg normalerweise eher unfreundlich empfangen, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Die Zeiten, in denen sich der HSV und die Münchner im Kampf um den Meistertitel auf Augenhöhe begegneten, sind schon lange vorbei. Dennoch ist der FCB für viele Fans nach wie vor ein rotes Tuch und ein Wechsel zu ebenjenem Verein ein absoluter Tabubruch. Daniel van Buyten, der ein Jahr zuvor den gleichen Weg gewählt hatte wie Olić, wurde seitdem bei jeder Rückkehr nach Hamburg gnadenlos ausgepfiffen und bepöbelt.
Es war also naheliegend, dass die HSV-Anhänger auch dem untreu gewordenen Torjäger die Hölle genauso heiß machen würden wie dem belgischen Abwehrrecken. Doch weit gefehlt. Stattdessen skandierten die HSV-Fans seinen Namen und feierten ihn wie einen verlorenen Sohn. Mit seinem unbändigen Siegeswillen und Kampfgeist verkörperte er Charaktereigenschaften, die der blutleer und leblos aufspielenden HSV-Mannschaft völlig abgingen. Für viele Hamburger war er nach wie vor ein Sympathieträger und eine Identifikationsfigur.
Doch in positiver Erinnerung geblieben ist Ivica Olić in Hamburg nicht nur wegen seiner kraftraubenden Spielweise und seiner schönen Tore. Er war auch direkt beteiligt, als am 20. Oktober 2007 ein historisches Kapitel in der Bundesligageschichte des Hamburger Sport-Vereins geschrieben wurde. Beim 4:1 gegen den VfB Stuttgart erzielte Olić in der 7., 23. und 35. Minute die Tore zum 1:0, 2:0 und 3:0 und damit einen lupenreinen Hattrick. Lupenrein bedeutet, dass die Tore alle von einem einzigen Spieler ohne Unterbrechung innerhalb einer Halbzeit erzielt werden. Statistisch gesehen passiert so etwas nur alle 300 Spiele und damit eher selten. Noch seltener war so etwas allerdings bis dato beim HSV vorgekommen: Nämlich noch gar nicht. Anfangs konnte und wollte es ja kaum jemand glauben, aber die Statistik log tatsächlich nicht. Keinem Uwe Seeler, keinem Kevin Keegan und auch keinem Horst Hrubesch war dieses Kunststück in der langen Bundesligageschichte des Vereins zuvor gelungen. Manche dieser HSV-Legenden hatte zwar drei Tore und somit einen »normalen« Hattrick erzielt, aber eben keinen lupenreinen. Unter all den Legenden und Stars, die schon für den HSV aufgelaufen waren, war Ivica Olić nach knapp 44 Jahren Ligazugehörigkeit damit der erste Spieler, der das geschafft hatte.
Ob und wie weit sich diese Information im breiten Fußballallgemeinwissen festgesetzt hat, erscheint dennoch fraglich. Ohne Ivica Olić jetzt zu nahe treten zu wollen, dürfte die Mehrzahl der Stammtischbundestrainer in den heimischen Eckkneipen wahrscheinlich weiterhin auf Seeler und Co. setzen, wenn die Frage auf dieses Thema gelenkt wird. Hier bietet sich die Chance, mit dieser Lektüre als Beweismittel das eine oder andere Freigetränk als Wettgewinn abzustauben. Ein weiterer Grund also, dem sympathischen Kroaten auch nach seinem Wechsel mit Respekt und Anerkennung zu begegnen.
Barça oder Real? Diese Frage stellt sich in Spanien alljährlich wenn es um die Ermittlung des Meisters in der Primera División geht. Mit wenigen Ausnahmen machen die beiden großen Erzrivalen den Titel auf der Iberischen Halbinsel seit Jahrzehnten quasi unter sich aus. Solche »spanischen Verhältnisse« befürchtet Uli Hoeneß nun auch für die Bundesliga. Mit dem FC Bayern und Borussia Dortmund haben sich aktuell zwei Vereine deutlich vom Rest der Liga abgesetzt. Das zeigte sich in der Tabelle und sicherlich auch beim ersten rein deutschen Champions-League-Finale zwischen den beiden Kontrahenten in London. Für den deutschen Fußball ist dieser Erfolg gerade auf internationaler Bühne ein absoluter Image- und Prestigegewinn. Mittelfristig gesehen könnte eine sich anbahnende Dominanz zweier Vereine auf Dauer allerdings zu Langeweile und rückläufigem Zuschauerinteresse führen und damit der Liga nachhaltig Schaden zufügen. Und tatsächlich lebt die Bundesliga wie keine andere der großen europäischen Topligen von ihrer Spannung und Ausgeglichenheit. Klar, der FC Bayern geht spätestens seit den 1970er-Jahren jedes Jahr als Meisterschaftskandidat in die Saison. In 50 Jahren Bundesliga gewann der FCB den Titel 22 Mal. Die restlichen Meistertitel teilten immerhin elf andere Vereine unter sich auf. Bisher schaffte es aber kein Verein, sich dauerhaft als Bayern-Konkurrent Nummer eins zu etablieren.
Der HSV lieferte sich von Ende der 1970er- bis Mitte der 1980er-Jahre Duelle auf Augenhöhe mit den Münchnern. Nach der Meisterschaft 1983 und der Vizemeisterschaft 1984 verabschiedete man sich aber leider dauerhaft aus dem Kreise der ernsthaften Titelanwärter. Auf einen Meistertitel warten die Anhänger des HSV seitdem bekanntlich vergebens und von der großen Ära unter Branko Zebec und Ernst Happel ist man mittlerweile meilenweit entfernt. Ganz zu schweigen von der Zeit, als der HSV die Liga wirklich nach Belieben dominierte. Das war allerdings noch vor der Einführung der Bundesliga, in der damals noch erstklassigen alten Oberliga Nord. Dort spielten von 1947 bis 1963 unter der Aufsicht des Norddeutschen Fußballverbandes die besten Mannschaften der Landesverbände Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Bremen. Der Oberliga- oder auch Nordmeister qualifizierte sich dann für die Endrundenspiele um die Deutsche Meisterschaft gegen Teams aus den anderen Oberligen Süd, West, Südwest und der Berliner Stadtliga.
Der HSV dominierte die Oberliga Nord fast nach Belieben. Für den Rest der Liga ging es höchstens darum, zumindest etwas am Thron des Abonnementmeisters zu kratzen. Aber ähnlich wie später bei den Bayern in der Bundesliga konnte sich auch in der Oberliga Nord keine Mannschaft dauerhaft als erster Herausforderer des HSV an der Spitze festsetzen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kristallisierte sich zunächst der braun-weiße Stadtteilverein vom Millerntor als Hauptrivale heraus. Und der war sogar durchaus ernst zu nehmen. Bei aller Dominanz des HSV waren insbesondere die ersten Spielzeiten noch sehr hart umkämpft und der punktgleiche Arbeiterverein zwang den HSV beide Male in ein Entscheidungsspiel. Diese gewannen die Rothosen dann aber jeweils standesgemäß mit 6:1 und 5:3.
Auf nationaler Ebene sollte es aber zunächst nicht ganz so gut klappen. Der HSV scheiterte zumeist in der Vorrunde, eine Endspielteilnahme um die Deutsche Meisterschaft gelang einfach nicht. In der Saison 1953/54 gab es dann den einzigen wirklichen negativen Ausreißer. Aufgrund eines nicht ordnungsgemäßen Spielerwechsels wurden dem HSV zur Strafe vier Punkte abgezogen. Nach Streitigkeiten in der Mannschaft und einigen lustlosen Spielen beendete man die Saison nur auf dem elften Tabellenplatz. So bitter diese Spielzeit für die erfolgsverwöhnten Männer vom Rothenbaum auch verlaufen war, so stand sie auch für einen Neustart in eine noch erfolgreichere Zeit. In der Mannschaft wurde der heute noch so gerne zitierte Umbruch vollzogen. Mit Günter Mahlmann kam ein neuer Trainer. Und der setzte vor allem auf junge Spieler aus der eigenen Jugend. Darunter waren Klaus Stürmer sowie ein gewisser Uwe Seeler.
Bereits in der darauf folgenden Saison kehrte der HSV in die Erfolgsspur zurück und sollte diese auch nicht mehr verlassen. Dem hatten auch die zwischenzeitlichen Hauptkonkurrenten Holstein Kiel und später Werder Bremen nichts entgegenzusetzen. Die Nordmeisterschaft geriet für den HSV fast schon zu einer obligatorischen Pflichterfüllung. Ernsthaft gefordert wurden die Rothosen meistens erst bei den Endrundenspielen um die Deutsche Meisterschaft. Und auch dort stellten sich nun die gewünschten Erfolge mit den ersten Endspielteilnahmen ein. Nachdem es 1957 gegen Dortmund und 1958 gegen Schalke noch bittere Niederlagen zu verdauen gab, folgte 1960 dann endlich der lang ersehnte Triumph. Der HSV wurde durch ein 3:2 im Endspiel gegen den 1. FC Köln zum ersten Mal nach 1928 wieder Deutscher Meister. Er krönte damit seine Oberliga-Dominanz auch mit einem nationalen Titel.
1963 startete dann die neu gegründete Bundesliga in ihre erste Saison und löste die Oberligen als höchste Spielklassen ab. Die Oberliga Nord war in ihrer ursprünglichen Form damit Geschichte. In Erinnerung bleiben wird sie aber vor allem als die Liga, die vom HSV dominiert wurde. In unglaublichen 15 von 16 Spielzeiten hieß der Serienmeister Hamburger Sport-Verein. Von einer solchen unglaublichen Dominanz können selbst Barça oder Real bis heute nur träumen. Von Uli Hoeneß und den Bayern ganz zu schweigen …
»Rumgolzen«! Dieses Verb erfanden einige HSVer in den 1990er-Jahren. Unfreiwilliger Namensgeber dieser neuen Wortkreation war Torwart Richard Golz. Der lange »Richie« war zwar ein durchaus solider Bundesligatorwart, fiel aber auch immer wieder durch seine eher hölzerne Balltechnik auf. Golz’ Markenzeichen waren vor allem seine Abschläge: Gefühlt jeder zweite von ihnen ging knapp hinter der Mittellinie ins Seitenaus. Wirklich daran gestört hatte sich aber kaum jemand so richtig. Die HSV-Anhänger waren in diesen tristen Zeiten des Mittelmaßes einfach viel Kummer gewohnt.
Dann kam der 14. März 1997. Das Hamburger Lokalderby. St. Pauli gegen den Hamburger SV im Volksparkstadion. Als Sven Kmetsch in der 84. Minute das 1:2 für die Rothosen erzielt, scheint das Spiel gelaufen und der obligatorische Sieg gegen den braun-weißen Rivalen in trockenen Tüchern. In der 90. Minute fängt Golz eine Flanke ab und bringt zunächst Ruhe ins Spiel. Sein Versuch, den Ball nach vorne zu spielen, endet dann im Desaster. Völlig unbedrängt »golzt« er die Kugel dem einzigen Gegenspieler weit und breit in die Füße. Dieser braucht nur quer zu legen und das Spiel endet 2:2. Für viele HSVer kommt dieser Ausgleich einer Niederlage gleich. Hauptverantwortlicher für diese Demütigung ist Richard Golz. Wenig später leistet sich der Torwart beim Pokalhalbfinale in Stuttgart beim Herauslaufen einen weiteren »Klops« und der HSV scheidet aus. »Golz raus!«, heißt es daher wenig später auf einem viel diskutierten Fan-Plakat.
Dieser Wunsch erfüllt sich allerdings erst in der darauf folgenden Saison 1997/98. In der Sommerpause hatte der neue Cheftrainer Frank Pagelsdorf das Ruder übernommen. Und mit Pagelsdorf kam eine ganze Flut neuer Spieler nach Hamburg. Darunter war mit Hans-Jörg Butt vom VfB Oldenburg auch ein neuer Torwart. Der neue Trainer krempelte die Mannschaft ordentlich um und zur Freude vieler Fans machte er den jungen Butt zur neuen Nummer eins im Tor. Zunächst mit eher mäßigem Erfolg, denn der HSV fand sich zum Ende der Hinserie plötzlich am Tabellenende wieder. Das lag zwar nicht an Butt, aber im ersten Spiel nach der Winterpause beim FC Bayern holte Pagelsdorf den erfahreneren Golz zurück in den Kasten. Der erhoffte positive Effekt dieses Wechsels blieb allerdings aus. Ganz im Gegenteil, Golz kassierte das schnellste Tor der Bundesligageschichte. Der HSV lag nach elf Sekunden bereits hinten. Nach dem Spiel, das der FC Bayern klar mit 3:0 gewann, war der HSV auf einmal Tabellenletzter. Damit hatte sich das Golz-Experiment endgültig erledigt. Butt kehrte zurück und der HSV landete am Ende noch auf Rang neun. Richard Golz’ Zeit in Hamburg war abgelaufen. Er wechselte nach der Saison zum SC Freiburg.
Hans-Jörg Butt hingegen entwickelte sich in Hamburg schnell zum neuen Publikumsliebling. Mit sehr guten Leistungen hatte er maßgeblichen Anteil daran, dass dem HSV eine erneute Zittersaison erspart blieb und die Mannschaft auf einem stabilen siebten Platz ins Ziel ging. Doch der ambitionierte Torhüter zeigte noch ein ganz anderes Talent: Er hielt nicht nur hinten seinen Kasten immer öfter sauber, sondern er sorgte auch vor dem gegnerischen Tor zunehmend für Gefahr. Und zwar als Elfmeterschütze. Am 12. September 1998 trat Butt im Bundesligaspiel gegen den VfL Wolfsburg zu seinem ersten Elfmeter für den HSV an und traf zum zwischenzeitlichen 1:0. Doch was wie eine einmalige Aktion aussah, wurde in der Folgezeit zu einem festen Ritual. Jedes Mal, wenn die Schiedsrichter einen Elfmeter für den HSV gaben und der Torwart sich auf den langen Weg in den gegnerischen Strafraum machte, brandeten ohrenbetäubend laute »Buuutt, Buuutt, Buuutt, Buuutt«-Rufe durch das Stadion. Dieser langgezogene Schlachtruf wurde für Butt zu einem richtigen Markenzeichen und bescherte ihm landesweit einen hohen Bekanntheitsgrad.
Und die Formkurve zeigte sowohl bei Butt als auch seiner Mannschaft weiterhin nach oben. In der Saison 1999/2000 qualifizierte sich der HSV als Tabellendritter erstmals für die Champions League. Hans-Jörg Butt hatte an diesem Erfolg maßgeblichen Anteil. Dem »Torwarttorjäger« gelangen in dieser Saison unglaubliche neun Tore – allesamt vom Elfmeterpunkt und allesamt natürlich begleitet und gefeiert von den Rufen der Fans. Damit hatte Butt genauso viele Treffer erzielt wie seine beiden nominellen Stürmerkollegen Roy Präger und Anthony Yeboah. Platz eins in der internen Torschützenliste für einen Torwart, so etwas hatte es noch nie gegeben. Hans-Jörg Butt war damit sein Eintrag in die Geschichtsbücher des HSV sicher. In seiner vier Jahre dauernden Zeit als Spieler der Rothosen sollte er insgesamt 21 Mal vom Punkt antreten und davon 19 Mal treffen. Einen der lediglich zwei Fehlschüsse leistete er sich ausgerechnet beim ersten Aufeinandertreffen mit Richard Golz in Freiburg. Beim Stande von 0:0 parierte Golz den Strafstoß seines Nachfolgers Butt.
Ja, Sie haben das schon richtig gelesen! Unser HSV könnte tatsächlich etwas schaffen, was diesen Weltvereinen vorenthalten bleiben wird. Und zwar für immer. Der HSV hat nämlich nach wie vor die Chance, als einer der ganz wenigen Vereine in seiner Geschichte alle drei Europapokalwettbewerbe mindestens einmal zu gewinnen. Vorausgesetzt man holt irgendwann endlich einmal den UEFA-Pokal. Beziehungsweise die Europa League, denn so heißt dieser Wettbewerb ja seit 2009.
Die beiden anderen europäischen Trophäen können bekanntlich schon in der Schatzkammer des HSV-Museums bewundert werden. 1983 gewann der HSV den Europapokal der Landesmeister und 1977 den Europapokal der Pokalsieger.
Letzterer wurde 1999 zum letzten Mal ausgespielt und danach abgeschafft. Seither nehmen die nationalen Pokalsieger im UEFA-Pokal beziehungsweise der Europa League teil. Und genau hier liegt dann auch des Rätsels Lösung. Denn sowohl Real Madrid als auch Liverpool, Inter Mailand, der FC Porto, Feyenoord Rotterdam und zu guter Letzt PSV Eindhoven fehlt genau dieser Europapokal der Pokalsieger noch in ihrer Sammlung. Sie alle haben bisher »nur« den Europapokal der Landesmeister/Champions League und den UEFA-Pokal/Europa League gewonnen. Und dabei wird es auch bleiben, denn die Chance, auch den dritten fehlenden Pott noch zu holen, ist seit 1999 unwiederbringlich verstrichen. Bisher ist dieses Kunststück ohnehin erst sehr wenigen Vereinen gelungen: Juventus Turin, Ajax Amsterdam, Bayern München, dem FC Barcelona (wenn man den Messepokal dazurechnet) und gerade erst kürzlich Chelsea FC.
Der HSV hätte sich bereits 1983 mit dem Triumph von Athen in diese namhafte Liste einreihen können. Dafür hätte man allerdings ein Jahr zuvor den UEFA Cup gewinnen müssen. Und diese Chance wurde 1982 in den beiden Finalspielen gegen den schwedischen Underdog IFK Göteborg leider leichtfertig verspielt.
Nach dem 0:1 im Hinspiel in Göteborg schien die Welt beim HSV sogar noch in allerbester Ordnung zu sein. Schatzmeister Kallmann jubilierte sogar. Schließlich würde den Zuschauern jetzt im Rückspiel im Volksparkstadion sogar noch ein bisschen Spannung geboten. Auch Trainer Ernst Happel ließ sich zu einigen überheblichen Äußerungen hinreißen: »Der Pokal bleibt hier. Die Schweden waren ja schon im Hinspiel kaputt.« Aber Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Und so sollte das Rückspiel in Hamburg für den HSV zu einem einzigen Desaster werden. 0:3 hieß es am Ende gegen die souverän aufspielenden Skandinavier. Tausende mitgereiste Anhänger der »Änglarna« kamen aus dem Jubeln gar nicht mehr heraus, während die enttäuschten HSV-Anhänger ihre Mannschaft mit Pfiffen verabschiedeten.
Die Chance, diese Schmach vergessen zu machen, hat sich dem HSV bis heute noch nicht wieder geboten. Zumindest blieb den Hanseaten bisher ein erneuter Einzug in das Finale verwehrt. Zweimal schaffte es der HSV seitdem wieder in das Halbfinale. Beide Male musste man sich knapp geschlagen geben. Und beide Niederlagen sind bis heute für jeden HSV-Fan mit äußerst schmerzhaften Erinnerungen verbunden. 2009 scheiterte man ausgerechnet am ewigen Nordrivalen Werder Bremen. Und das, nachdem man sich durch einen 1:0-Sieg an der Weser eigentlich eine hervorragende Ausgangsposition verschafft hatte. Auch im Rückspiel lag der HSV bereits mit 1:0 in Führung und gab das Spiel dennoch aus der Hand. Am Ende stand ein 2:3 und die HSV-Gemeinde trauerte über das verpasste Endspiel in Istanbul.
Doch es sollte noch schlimmer kommen. In der darauffolgenden Saison 2009/10 firmierte der Wettbewerb zum ersten Mal als Europa League. Als Endspielort hatte die UEFA das Hamburger Volksparkstadion gewählt. Die gesamte Europapokalsaison stand daher unter dem Motto »Eine Stadt, ein Verein, ein Finale«. Der große Traum vom Finale im eigenen Stadion endete jedoch erneut im Halbfinale gegen Fulham FC. Nach einem torlosen Unentschieden zu Hause ging der HSV in London durch ein fulminantes Freistoßtor von Mladen Petrić mit 1:0 in Führung. Wie schon gegen Bremen hatte man alle Trümpfe in der Hand und wieder verspielte man diese große Chance. Fulham gelang in den letzten zehn Minuten zwei Tore und aus dem großen Traum war ein einziger Albtraum geworden.
Es war zugleich das bisher letzte Europapokalspiel des HSV, denn seither konnte man sich nicht mehr für einen internationalen Wettbewerb qualifizieren. Sehr zum Leidwesen der HSV-Fans. Aber so trostlos die aktuelle Lage auch sein mag, die Chance auf den dritten noch fehlenden Europacup besteht ja weiterhin. Was würden Fans von Real Madrid bloß dafür geben?
Es war der 26. April 2012, als die Jubiläumschoreografie zum 125. Geburtstag des HSV konkret wurde: »Wir schenken unserem Verein und der Fan-Szene zum Geburtstag einfach einen Weltrekord«, so die Idee der Choreografiegruppe der Ultras von Chosen Few. Die besondere Herausforderung war, dass die Aktion nur gemeinsam mit der gesamten Fan-Szene umsetzbar sein würde, sowohl was den Arbeitsaufwand als auch die Kostendeckung anging. 45.000 Doppelhalter sollten das ganze Stadion in blau-weiß-schwarz tauchen, dabei auch noch durch die Motive den Verein HSV darstellen und mithilfe ein gigantisches Spruchband abrunden. Das Problem waren die Kosten von 70.000 Euro. Sie mussten durch Spenden finanziert werden. Bei der Verwaltung der Spenden und des gesamten Geldverkehrs half der Club, was die Verhandlungsposition mit Lieferanten stärkte sowie größtmögliche Transparenz gegenüber den Spendern schuf und ihnen eine bequeme Online-Überweisung ermöglichte.
Die Dimensionen dieser Choreografie waren gigantisch. Lieferanten fragten ungläubig nach, ob man sie auf den Arm nehmen wollte. Wollte man nicht, und so lieferte ein Hersteller von Sprühlack eine komplette Wochenproduktion an Sprühdosen, andere Quellen wurden angezapft, um 36.000 Quadratmeter Stoff zu beschaffen. Nicht ganz einfach und sehr zeitintensiv, da die Ware teilweise aus Asien verschifft wurde. Aus dem Stoff selbst entstanden 45.000 Doppelhalter mit insgesamt rund 400 unterschiedlichen Motiven, die durch Schablonen aufgesprüht werden sollten.
Einziges Problem hierbei: Das Schiff mit den Stoffen, den Doppelhalter-Rohlingen, konnte nicht ablegen. Ein Unwetter zwang die Aktivisten, den Container wieder ausladen zu lassen und die Ware in kleineren Verpackungseinheiten per Luftfracht liefern zu lassen. Es war immerhin schon fast Ende August und nicht ein Doppelhalter war fertig. Doch auch hier kam die Ware, die eigentlich vor dem ersten Septemberwochenende in Hamburg sein sollte, zu spät. Dazu kam die bittere Erkenntnis, dass acht geplante Basteltermine nicht ausreichen würden. Am Ende wurde fast vier Wochen von zehn bis 20.00 Uhr in der Ü-Wagen-Halle des Stadions gebastelt.
Und alle halfen mit: Spieler, Spielerfrauen, Vorstände, Aufsichtsräte, Ultras, Hooligans, Kutten, Amateursportler und Mitarbeiter. Am Ende wurde die Choreografie fertig: »just in time«, wie man so schön sagt. Zwei Tage vor dem 125-jährigen Jubiläum war der letzte Doppelhalter beendet. Nun mussten »nur noch« in zwei Tagen die 90.000 Stangen in die 45.000 Doppelhalter gesteckt und mit dem Aufbau des Spruchbandes begonnen werden. Dieses war 380 Meter lang und zwischen fünf und acht Meter hoch. Es beinhaltete den Satz: »Ob Titel, Triumphe und Legenden, ob Zafirov, Autowachs und rosa Hemden, unsere Geschichte ist einmalig und wird niemals enden! 125 Jahre Hamburger Sport-Verein e. V.«. Danach mussten sämtliche Doppelhalter im Stadion verteilt werden. Rund 300 Leute halfen hierbei teilweise ab acht Uhr am Morgen mit. Am Ende standen rund 17.000 Arbeitsstunden zwei Minuten entgegen, die das Spektakel dauern sollte, allerdings waren es zwei Minuten für die Ewigkeit. Als Lotto King Karl seine Hymne anstimmte, knisterte die Luft. Erste Doppelhalter wurden hochgereckt und als schließlich die Mannschaften einliefen und wirklich jeder verteilte Doppelhalter in die Höhe gehalten wurde, erlebten wohl fast alle Anwesenden eine Gänsehaut. Selbst die Ersatzspieler des HSV beteiligten sich an der Aktion. Eine Weltrekordaktion übrigens – niemals vorher kamen derart viele Doppelhalter zum Einsatz – für einen reinen Weltverein!
Doch am Ende liegt der Mehrwert im geschaffenen Wir-Gefühl und der Gewissheit, dass man zusammen alles schaffen kann. Nur rund 150 Doppelhalter blieben nach dem Spiel zurück. Alle anderen wurden wie geplant mit nach Hause genommen. Alexander Laux, Sportchef beim Hamburger Abendblatt, schrieb am 1. Oktober 2012: »Wenn etwas von diesen Feierlichkeiten zum 125. Geburtstag hängen bleiben sollte, dann dass als Stars des HSV längst nicht mehr die Spieler dienen, sondern die vielen Fans, die den HSV noch immer zu einer besonderen Gemeinschaft machen und die dafür stehen, dass der Club etwas Einzigartiges ist. Ohne sie wäre der HSV nichts.«
Ernst Kuzorra, Fritz Szepan, Sergej Barbarez. So oder ähnlich hätte die Ahnengalerie der Spieler lauten können, die Schalke 04 nach dem Zweiten Weltkrieg einmal zum Deutschen Meistertitel geschossen haben. Aber der Name Barbarez taucht dort bis heute ebenso wenig auf wie ein weiterer Meistertitel. Seit 1958 warten die »Knappen« nun schon vergeblich auf die »Schale«. So dicht dran wie am letzten Spieltag der Saison 2000/01 waren sie allerdings nie wieder. Mit 5:3 hatten die Schalker im letzten Spiel im alten Parkstadion gegen Unterhaching gewonnen. Bei einer zeitgleichen Niederlage des FC Bayern in Hamburg würde das den lange ersehnten Titel für Königsblau bedeuten. Doch in Hamburg läuft alles auf ein Unentschieden hinaus, die Bayern scheinen das 0:0 beim HSV über die Zeit zu bringen. Bis in der 89. Minute Marek Heinz nach innen flankt und Sergej Barbarez den Ball per Kopf im Gehäuse von Oliver Kahn versenkt. Der Rest ist Geschichte. Während in Gelsenkirchen bereits gefeiert wird, nimmt HSV-Keeper Schober einen vermeintlichen Rückpass mit der Hand, Patrick Andersson versenkt den Freistoß zum 1:1 und den Dolch in das Herz des FC Schalke 04.
Unabhängig von diesem Ergebnis und dem späten Ausgleich verläuft diese Saison für den HSV völlig enttäuschend. Die Mannschaft quält sich mehr schlecht als recht durch die Spielzeit und landet am Ende auf dem 13. Tabellenplatz. Einer der ganz wenigen Lichtblicke in dieser Ansammlung geballten Mittelmaßes ist Sergej »Barbie« Barbarez. Auch wenn sein Treffer gegen die Bayern letztendlich kein »Meistermachertor« war, so sichert er sich persönlich damit zumindest einen anderen Titel. Ganz kurz vor Toresschluss gelingt es ihm noch, in der Torjägerliste mit dem Schalker Stürmer Ebbe Sand gleichzuziehen. Gemeinsam mit dem Dänen teilt sich Barbarez nach 34 Spieltagen den Titel des Bundesligatorschützenkönigs. Beide Spieler haben jeweils 22 Tore erzielt. Damit ist Barberez zugleich etwas gelungen, was vor ihm erst zwei HSV-Legenden erreicht hatten. In der Bundesligageschichte des Hamburger Sport-Vereins war es bis dato nur Uwe Seeler und Horst Hrubesch gelungen, die Torjägerkanone nach Hamburg zu holen. Seeler schaffte das gleich in der Premierensaison 1963/64 mit 30 Treffern, Hrubesch netzte 1981/82 immerhin 27 Mal ein.
Vielen Fans des HSV dürfte das allerdings wahrscheinlich erst beim Blick in die Statistikbücher bewusst geworden sein. Etwas unheimlich war ihnen Barbarez’ Treffsicherheit wohl trotzdem. Schließlich haben die klassischen Knipser in den Jahren davor und auch danach lange Zeit einen großen Bogen um die Elbe gemacht. Keinem Spieler ist es in der jüngeren Vergangenheit gelungen, auch nur annähernd so viele Tore in einer Saison für den HSV zu schießen, wie dem bosnischen Nationalspieler. 1990/91 bejubelte der Pole Jan Furtok im Zusammenspiel mit Thomas Doll einmal 20 Tore. Ansonsten herrschte vor dem Tor oftmals Flaute.
Wie außergewöhnlich die Leistung von Sergej Barbarez war, zeigt sich bei einem Blick auf die internen Torschützenlisten des HSV in den letzten Jahren. Bernardo Romeo in der Saison 2002/03 und Ivica Olić in der Saison 2007/08 können mit 14 Treffern noch die beste Einzelbilanz vorweisen. Absoluter Tiefpunkt waren die sieben Saisontore von Mladen Petrić 2011/12. Mit so wenigen Treffern war es vereinsintern zuletzt Peter Wulf 1964/65 gelungen, treffsicherster Schütze beim HSV zu werden.
Sergej Barbarez hing in seiner gesamten Karriere immer der Ruf einer launischen Diva an. Auch in Hamburg war er nie ganz unumstritten und polarisierte die Anhänger aufgrund seiner zum Teil aufreizend lässigen Spielweise und zahlreichen und zudem unnötigen Verwarnungen wegen Meckerns. Seine Bilanz vor dem gegnerischen Tor lässt hingegen kaum Spielraum für Kritik zu. 65 Tore in 174 Bundesligaspielen für den HSV sprechen eine deutliche Sprache. Der Mann war einer der besten HSV-Spieler der letzten Jahre. Und einer, der Bundesligageschichte geschrieben hat. Denn jener Treffer in der 89. Minute gegen die Bayern bleibt bis heute nicht nur in Hamburg, sondern vor allem auch in München und ganz besonders in Gelsenkirchen unvergessen.
In Hamburg nennt man ihn den »Kleinen Engel«. Und bringt damit nur ansatzweise zum Ausdruck, was man für ihn empfindet. Rafael van der Vaart verzückt eine ganze Region. In einem Club, mit dem man in den vergangenen Jahren eher selten Zauberfußball, Traumtore und Superstars assoziierte, ist er der personifizierte Superlativ der jüngeren Vergangenheit. Der holländische Nationalspieler hat nicht nur für zahlreiche zuckersüße Spielzüge und auszeichnungsverdächtige Tore, sondern auch dafür gesorgt, dass die Kids auf Hamburgs Schulhöfen und Bolzplätzen wieder stolz mit einem Trikot herumlaufen. Mit dem des HSV. Rückennummer 23. Endlich gibt es wieder einen begnadeten Spieler, der die Raute auf der Brust trägt. Einen, dessen Name über die Grenzen der Stadt und sogar des Landes hinaus bekannt dafür ist, einer der besten Spieler Europas zu sein.
Bis heute sind etwa 40.000 Trikots mit dem Schriftzug »van der Vaart« verkauft worden. Mal so zum Vergleich: Zur Nichtabstiegsfeier der TSG Hoffenheim kamen 3500 Leute. Und da gab es Freibier. 40.000, das sind mehr als zehn Mal so viele verkaufte Trikots, wie der SC Freiburg Vereinsmitglieder hat. Und mehr Leute als beim ach so tollen Lokalrivalen im Schnitt zu den Heimspielen gehen.
In den Verkaufsstatistiken folgt auf van der Vaart erst mal lange Zeit gar nichts. Auf dem zweiten Platz landet mit Ruud van Nistelrooy ein weiterer Holländer. Der brachte es immerhin auf 15.000 verkaufte Trikots. Der kroatische Stürmer Mladen Petrić schafft es mit 10.000 Trikots, die sein Name zierte, immerhin auf den dritten Platz. All das sind zwar beeindruckende Zahlen. Allerdings muss man anerkennen, dass sich der HSV diesbezüglich in anderen Sphären bewegt als die europäischen Spitzenclubs. So wird geschätzt, dass Manchester United und Real Madrid pro Jahr etwa 1,4 Trikots absetzen. Jeweils, versteht sich.
Doch diese Zahlen sollen die Euphorie um Hamburgs unangefochtenen Superstar nicht schmälern. Neidvolle Blicke sucht man vergebens. Die verbietet schon das hanseatische Understatement. Stattdessen hofft man, dass die 23 noch häufig in den Torschützenlisten und auf verkauften Trikots auftaucht. Und dass er den Vereinsrekord bricht, den er (gemeinsam mit Uwe Seeler) selbst innehat: Er traf in sieben aufeinanderfolgenden Partien für den HSV. Und dass er auch in der kommenden Saison seine eigene Loge im Volkspark mietet, um seine Freunde und Verwandten einzuladen. Und dass er auch mit seiner neuen Lebensgefährtin Sabia Boulahrouz ein lauschiges Plätzchen in Hamburg finden wird.
Mit seiner vorherigen Frau Sylvie hatte er sich nach seiner Rückkehr an die Elbe eine 400 Quadratmeter große Wohnung in feinster Lage gegönnt. Sylvie brachte es damals schon bescheiden auf den Punkt: »Wir wollten es schön gemütlich haben. Wie eine ganz normale Familie.« Hanseatisches Understatement eben.
Es gibt Dinge, die kann man nicht für Geld kaufen. Es gibt sogar Dinge, um die der HSV vom FC Bayern München beneidet wird. Dinge, die sich heute nicht mehr ändern lassen. Egal, wie erfolgreich andere Vereine der Bundesliga sein mögen, unabhängig davon, welch grandiose Erfolge sie in den kommenden Jahren noch erzielen werden.
Die Bundesliga feiert ihr 50-jähriges Bestehen. Am 24. August 1963 fand das erste Bundesligaspiel überhaupt statt. Seither hat es nur ein Verein geschafft, die gesamte Zeit in Deutschlands höchstem Fußballhaus dabei zu sein. 50 Spielzeiten, ohne eine einzige Unterbrechung. Der HSV ist das Urgestein der Liga. Sämtliche andere Clubs stießen erst später hinzu oder mussten nach Abstiegen zumindest zwischenzeitlich in der zweithöchsten Spielklasse antreten. Der SV Werder (49 Spielzeiten), Bayern München und der VfB Stuttgart (je 48 Spielzeiten) folgen direkt hinter den Hamburgern, überholen können sie den HSV allerdings (vorerst) nicht. Wenn die Rivalen behaupten, der Sonderstatus der Hanseaten würde sie nicht stören, dann ist das fast immer gelogen. Nicht umsonst spielen die gegnerischen Anhängerschaften immer auf das vermeintliche Ende des Bundesliga-Dinos an, wenn es um den HSV schlecht steht und ein Abstieg nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Doch bei aller sportlichen Tristesse, die der Verein seiner Gefolgschaft zumutete: Dem Abstieg konnte man bisher immer entkommen. Der Dino, der mittlerweile auch ganz offiziell das Maskottchen des Vereins ist, stirbt einfach nicht aus.
Und obgleich auch innerhalb des Hamburger Sport-Vereins immer wieder Stimmen laut werden, die darauf hinweisen, dass sich der Club verstärkt auf die Gegenwart und Zukunft konzentrieren müsse, anstatt den Blick immer wieder in die Vergangenheit schweifen zu lassen, bleibt die Dino-Mania fest in den Köpfen verankert. Sinnbildlich und trotzig tickt seit Jahren die Bundesliga-Uhr auf der Tribüne des Hamburger Stadions. Unbeirrt von Höhen und Tiefen des Vereins zählt sie die Jahre, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden der Hamburger Bundesligazugehörigkeit und treibt damit manchen Gegner in den Wahnsinn. Als der alten Uhr im Jahr 2013 die Puste ausging, mutmaßte mancher, dass auch die Zeit des Dinos abgelaufen sein könnte – und irrte. Der HSV überstand auch diese Saison in der höchsten Liga des Landes. Und die Fans des HSV entschieden im Rahmen einer Umfrage schnell und unmissverständlich, dass der Verein eine neue Uhr installieren solle. Am 20. April 2013 wurde das neue Modell im Rahmen des Heimspieles gegen Fortuna Düsseldorf feierlich in der Nord-West-Ecke des Stadions eingeweiht. Die Elemente der alten Uhr fanden ihren Weg ins Museum des HSV und in die Hände spendabler Liebhaber. Für insgesamt fast 20.000 Euro wurden die von berühmten HSVern signierten Teile versteigert, der Erlös floss in ein Hamburger Kinderhospiz.
2. KAPITEL