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La Vecchia Signora, die Alte Dame, symbolisiert den Esprit des internationalen Fußballs wie niemand sonst. Einst geigte der heutige UEFA-Präsident Michel Platini im Angriff des italienischen Rekordmeisters auf, heute sind es Arturo Vidal und Mittelfeld-Maestro Andrea Pirlo. Juve gewann als erster Verein überhaupt alle Titel des Weltfußballs. Doch trotz aller Erfolge gibt es in der Historie auch dunkle Zeiten, kuriose Zufälle und amüsante Anekdoten. Von Millionen Menschen geliebt und ebenso vielen gehasst, hat sich jedoch eines nie geändert: Titel und Rekorde sind bis heute fest in der DNA verankert und so wusste schon Club-Ikone Giampiero Boniperti: Gewinnen ist für Juve nicht so wichtig. Es ist das Einzige, was zählt! 111 GRÜNDE, JUVENTUS TURIN ZU LIEBEN ist ein Blick hinter die schwarz-weißen Trikots des großartigsten Vereins der Welt, gefüllt mit Geschichten von den Anfängen im 19. Jahrhundert über die größten Erfolge bis hin zu aktuellen Superstars des norditalienischen Nobelclubs. EINIGE GRÜNDEWeil er als erster Verein der Welt alle Titel gewonnen hat. Weil la Vecchia Signora die einzig wahre Alte Dame ist. Weil 'Juventus' aus dem Lateinischen abgeleitet und der Name seit jeher Programm ist. Weil Juve gleichermaßen geliebt und gehasst wird. Weil Kavalier Alessandro Del Piero seine Dame nicht verlässt. Weil die schwarz-weißen Vereinstrikots auf einem Fehler basieren. Weil Trainer Antonio Conte selbst Andrea Pirlo mit Wasserflaschen abschießt. Weil das Sieger-Gen fest in der DNA verankert ist. Weil kein Duell der Welt so emotional ist wie das Derby d'Italia gegen Inter Mailand. Weil der wahre Walk of Fame an der Corso Gaetano Scirea ist. Weil es für keinen Verein schönere Beleidigungen gibt. Weil Fernando Llorente nicht nur schön ist. Weil Juve eigentlich viermaliger Fußballweltmeister ist. Weil die Alte Dame weit davon entfernt ist, am Stock zu gehen. Weil das Image glänzt wie ein Ferrari und er trotz allem auf die Kraft von Traktoren setzt. Weil er als einziger Verein Italiens ein eigenes Stadion besitzt. Weil Niederlagen nirgends so wehtun wie in Turin. Weil Prophet Andrea Pirlo neuen Schwung in die schwarz-weiße Religion gebracht hat.
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Seitenzahl: 279
Roman Mandelc
WIR SIND DER ZWÖLFTE MANN,
FUSSBALL IST UNSERE LIEBE!
Vorwort
Eigentlich müsste dieses Buch nicht 111, sondern nur 102 Gründe enthalten, Juventus Turin zu lieben. In der abgelaufenen Serie A-Saison schaffte Juve das Kunststück, diese stattliche Punktezahl zu erzielen und einen neuen Rekord aufzustellen. Bis zu diesem Zeitpunkt erkämpfte sich kein anderer Vertreter einer europäischen Top-Liga diese Bestmarke.
La Juve, i Bianconeri, la Vecchia Signora – der Nobelverein aus dem Piemont im Nordwesten Italiens hat viele Spitznamen und eine noch größere Anzahl an Erfolgen vorzuweisen. Titel und Prestige sind nicht alles im Leben, ohne Menschlichkeit und klare Identität wäre Juventus nur eine gut geölte, roboterhafte Maschine. Außenstehende werfen dem italienischen Rekordmeister nicht selten vor, seine Spieler genau nach diesem Muster zu verpflichten: Soldaten im Dienste der Agnelli-Dynastie und des Autoherstellers Fiat. Diese Verbindung ist nicht von der Hand zu weisen, doch die Reduktion des Clubs auf diese Komponenten ist ein großer Fehler. Juve ist viel mehr als Fußball. Juve ist Religion, eine große Familie, die Garantie für Erfolg. Leidenschaft, Kampfgeist, Siegeswille und Herzlichkeit stehen für das Vermächtnis eines der größten Vereine unserer Zeit.
111 Gründe, Juventus Turin zu lieben ist eine Ode an die ruhmreiche Historie des einzigen europäischen Teams, das alle offiziellen Wettbewerbe der UEFA und FIFA gewinnen konnte. Juventus ist die Geschichte einer großen Liebe, una storia di un grande amore, die mich seit rund 20 Jahren in ihren Bann zieht. In zwölf Kapiteln entschlüssle ich die Faszination für diesen Verein, angefangen bei der Gründung bis zur hoffentlich glorreichen Zukunft. Inhaltlich werden die wichtigsten Eckpunkte und Daten angesprochen, ohne auf die trockene Struktur eines simplen geschichtlichen Abrisses zu setzen. Die interessanten Geschichten schreibt der Fußball zwar immer noch auf dem Platz, abseits des Spielgeschehens gibt es jedoch mindestens ebenso spannende Anekdoten und mitunter abenteuerliche Kuriositäten. Den wichtigsten Stars und Trainern von Juve werden wohlverdiente Zeilen gewidmet. Ein ausführlicher Blick hinter die Kulissen und eine Analyse der DNA, der einzigartigen Spielkultur, schärft das Verständnis für die Frage: Wie wurde Juve zu einer Institution des Weltfußballs? Der unumstrittene kulturelle Einfluss auf das tägliche Leben der Italiener entstand über viele Jahrzehnte, menschliche Tragödien und Kontroversen sind eng mit Juventus Turin verbunden. Trotz aller Triumphe gibt es auch Skandale und dunkle Flecken in der Vereinschronik.
Das vorliegende Buch ist ein Versuch, alle relevanten Facetten des Juve-Universums anzusprechen und sowohl den überwiegend positiven Attraktionen als auch den gelegentlichen Eskapaden Tribut zu zollen.
Abschließend möchte ich mich bei Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, herzlich bedanken. Ich hoffe, dass Ihnen mein Einblick in die Welt der Juventini als informative Lektüre dient und vielleicht sogar das ein oder andere Lächeln entlockt. Aber nun genug der langen Rede, viel Spaß beim Lesen, und um mit den engagierten Worten des Stadionsprechers im Juventus Stadium zu schließen: »FINO ALLA FINE! FORZA JUVENTUS!«*
Roman Mandelc
* Zu Deutsch: »Bis zum Ende! Vorwärts Juventus!«
1. KAPITEL
1. GRUND
Weil auch die Großen ganz klein anfangen
Eine unscheinbare Bank in der berühmten Straße Corso Re Umberto im Turiner Stadtzentrum ist der Geburtsort eines der größten Sportvereine unserer Zeit. An diesem geschichtsträchtigen Platz versammelte sich eine Gruppe Schüler, die gemeinsam das Gymnasium Massimo D’Azeglio besuchten, um einen lang gehegten Plan in die Tat umzusetzen. Sie alle teilten eine große Leidenschaft für eine Spezialität, die erst kürzlich aus England nach Italien importiert worden war. Am 1. November 1897, als die Freunde auf jener Bank über die Freizeitplanung diskutierten, war der heute alles überstrahlende Fußball nur wenigen ein Begriff. Erst viele Jahre später sollte sich der Calcio, zu Deutsch Fußball, in Italien und der ganzen Welt auch abseits Großbritanniens zur global dominierenden Sportart entwickeln.1
All diese Gedanken waren den Jungspunden egal, ökonomische Überlegungen oder die Vermarktung einer omnipräsenten Franchise spielten keine Rolle. In ihrer jugendlichen Sturm-und-Drang-Phase zählte nur eines: Spaß haben, Seite an Seite die magische Passion für das runde Leder ausleben und sich einfach dieser unwiderstehlichen Anziehungskraft hingeben. Und so kamen die Kinder auf die damals verblüffende Idee, einen Sportverein zu gründen, der auf den Tugenden des aus England stammenden Reglements fußt. Ohne die weitreichenden Konsequenzen ihrer Verabredung an jenem schicksalhaften Tag auch nur im Entferntesten zu erahnen, wurde damals der Grundstein für Juventus Turin gelegt.2
Heute ist Juventus Football Club Società per azioni3, so die vollständige Bezeichnung des Vereins, ein börsennotiertes Unternehmen, das auf der ganzen Welt bekannt ist. Noch bevor die großen Zeiten hereinbrachen, musste sich die Clubführung um Enrico Canfari, den Nachfolger des ersten Juve-Präsidenten Eugenio Canfari, in der nationalen Meisterschaft unter Beweis stellen. 1900 gab die Alte Dame ihr Debüt in einem offiziellen Wettbewerb und konnte in den Anfangsjahren durchaus beachtliche Erfolge feiern, hatte aber mit der Zeit mehr und mehr Schwierigkeiten, sich ganz oben in der Tabelle festzusetzen. Die Fußball-Großmächte dieser Ära, Pro Vercelli und Casale, waren einfach zu stark und beherrschten den Calcio noch bis zu einem Ereignis, das nicht nur das sportkulturelle Leben der Bevölkerung grundlegend verändern sollte: Der Erste Weltkrieg warf bereits lange vor dem Ausbruch seine Schatten voraus. Das Ende der Kampfhandlungen ermöglichte einen Neustart des Fußballs und gilt als Wendepunkt der Geschicke von Juventus, es ist der Anfang einer unvergleichlichen Erfolgsgeschichte.4
2. GRUND
Weil der Begriff »Juventus« aus dem Lateinischen abgeleitet und der Name seit jeher Programm ist
Die Washington Redskins sind eine Macht im American Football, der Name ist eine weltweit bekannte Marke. Die Rothäute aus Washington haben gegenwärtig massive Probleme, die seit Jahren etablierte Bezeichnung ist anstößig und rassistisch, Menschenrechtsbewegungen und amerikanische Indianerstämme treten lautstark für eine Abänderung ein.5 Aber der Club ist ja selbst schuld an der Misere, die Wahl einer unpassenderen Benennung für einen Vertreter der National Football League (NFL) ist kaum möglich. Aus Sicht der Washington-Fans wäre die geforderte Renovierung der unzeitgemäßen Titulierung ein Sakrileg, eine Entweihung der geheiligten Traditionen. Irgendwie ist es demnach verständlich, dass die Redskins immer noch die Redskins sind.
Die blutjungen Schüler des Gymnasiums Massimo D’Azeglio waren bei der Namensgebung von Juventus Turin glücklicherweise intelligenter und boten somit von Anfang an keinen Spielraum für derlei Diskussionen. Das lateinische Wort juventus hat viele Bedeutungen, insbesondere wird unter diesem Terminus das Lebensalter der Jugend verstanden. Juventus, oder auch iuventus und juventutis, ist ein Sammelbegriff für junge Personen und die Jugend im Allgemeinen. Gemäß Definition war Juventus Turin das Gedankenkonstrukt von Jugendlichen, die als heranwachsende Männer ritterlich auf dem grünen Rasen zur Tat schreiten und stolz gegen jeden Gegner in die Schlacht ziehen. Trotz dieser martialischen Formulierung blieben die kindliche Unbekümmertheit und der Spaß am neuartigen Sport Fußball sicherlich nicht auf der Strecke.678
Ungeachtet des ausgedehnten internationalen Scouting-Netzwerks hat der Club die Pflege von lokalen Talenten als wichtigen Vereinsgrundsatz konstituiert. Einen Beweisfür diese historische Tatsache zeigt das italienische Nationalteam. Vor allem während den 1970er- und 1980er-Jahre bestand die Squadra Azzurra hauptsächlich aus jungen Spielern von Juventus. Der Blocco Juve, der Juve-Block, war das Rückgrat des Teams. Viele Legenden wie Roberto Bettega und Paolo Rossi waren allesamt ehemalige Mitglieder der Turiner Nachwuchsabteilung.
In der jüngsten Vergangenheit hat der Jugendsektor unzählige talentierte Spieler gefördert, die entweder für Juve spielen oder zumindest in der obersten italienischen Division engagiert sind. Für Borussia Dortmund in der deutschen Bundesliga stürmt Ciro Immobile, der in seinem Curriculum Vitae als Ausbildungsstätte auch den piemontesischen Rekordmeister stehen hat. Mit Antonio Nocerino, Claudio Marchisio und Sebastian Giovinco haben einige aktuelle Stars gar den Sprung in die nationale Auswahl geschafft.9
3. GRUND
Weil die schwarz-weißen Vereinstrikots auf einem Fehler basieren
Staunend saß ich als Kind vor dem Fernsehgerät und drückte jedes Mal aufs Neue Gregor die Daumen. Der kleine Junge mit viel Talent und unerschütterlicher Begeisterung für den Fußball stellte sich mit eisernem Willen seinen deutlich überlegenen Kontrahenten in den Weg. Er gab niemals auf und rang auch nach bitteren Niederlagen, dank seines sonnigen Gemüts, selbst dem mürrischsten Spielerkollegen ein Lächeln ab.
Wer sich noch an die gute alte Zeit des Schülerdaseins erinnern kann, weiß, wovon ich schreibe. Die Kickers, eine japanische Kult-Anime-Serie, war das Nonplusultra des täglichen TV-Konsums. Leider kann ich mich nur mehr an wenige Details erinnern, doch eines hat sich bis heute in mein Hirn gebrannt: Die knallroten Trikots der Teufel, einer übermächtigen Mannschaft mit den besten Spielern des Landes, signalisierten stets höchste Gefahr für Gregor und seine Klassenkameraden.
Auch als Erwachsener denke ich noch gerne an damals zurück, vor allem wenn ich mir reale Fußballspiele im Stadion oder im Heimkino ansehe. Speziell Manchester United, die wahren Red Devils mit ihren visuell bestechenden roten Dressen, zeigen sehr schön auf, welch visuelle Einprägsamkeit den Vereinsfarben zugrunde liegt und wie wichtig sie für die Image-Bildung der unterschiedlichen Fanlager sind. Man denke nur an das Weiße Ballett der Königlichen aus Madrid. Oder die bienenartige, stechend gelb-schwarze Kleidung der Borussia aus Dortmund.
Juve, von den Anhängen liebevoll Bianconeri genannt, gehört zu den wenigen erlesenen Mannschaften, die eine stilistisch unverkennbare Farbkombination prägt. Der Spitzname verweist auf die legendären weiß-schwarz gestreiften Shirts. Doch beinahe wäre es gar nicht so weit gekommen und die Alte Dame würde heute womöglich der Farbe Pink eine ganz neue Bedeutung geben. Einst wollten die kindlichen Vereinsgründer frisch und adrett auftreten, denn in den Anfangsjahren spielten alle Kicker noch mit rosafarbenem Spielequipment. In der Neuzeit mag diese Wahl eigentümlich erscheinen, doch bis in die 1920er-Jahre wurde dieser Farbton in erster Linie mit Jungen assoziiert und entsprach somit den damals gängigen Klischees einer farblich codierten Zuordnung nach dem entsprechendem Geschlecht.10
Einem besonderen Umstand ist es zu verdanken, dass alles ganz anders kam als gedacht. Ein englischer Fabrikant sandte 1903 eine für Notts County bestimmte Trikotlieferung versehentlich nicht nach Nottingham, sondern ins italienische Piemont. Angesichts der exorbitanten Kosten und der enormen Zeitverzögerung, die ein Rücktransport der Ware verursacht hätte, entschieden sich alle Beteiligten für eine ökonomisch sinnvolle Lösung: Die Ausrüstung blieb in Turin und fortan bestritt Juventus alle Spiele mit neuen Vereinsfarben.11
Eines haben Juventus, Manchester United und vergleichbare Teams desselben Kalibers jedoch alle gemein: Ihr Erfolg, ihr Wiedererkennungswert und ihr Prestige sind eng mit traditionsreichen Shirts verbunden. Es gibt viele Vereine mit schwarz-weißen Trikots, schließlich ist die Farbwahl nicht unbegrenzt, doch nur der Turiner Edelclub wird auf der ganzen Welt als Bianconeri erkannt.
Natürlich sagt eine Farbe nicht alles über einen Verein aus. So haben die Roten Teufel aus England zwar auch einige der besten Spieler und streben nach Erfolg, doch sind sie (vermutlich) gar nicht mal so böse wie die animierten Teufelin der Zeichentrickserie.
4. GRUND
Weil die erste Meisterschaft immer etwas Besonderes ist
Erfolg in der italienischen Meisterschaft ist für Juventus keine Anomalie, am gelungenen Ende einer Spielzeit feiern Fans wie Verein ausgelassen das obligatorische Saisonziel. Und es ist immer wieder schön, den Team-Bus durch die Straßen Turins gondeln zu sehen. Die Gelegenheit dazu hatten die Juventini schon einige Male, und glaubt man dem selbst diktierten Erfolgsanspruch, sind im voluminösen Trophäenschrank Plätze für weitere Titel aller Couleur vorreserviert.
Aus heutiger Sicht lässt sich nur erahnen, welch einmaliges und erhabenes Gefühl der erstmalige Gewinn des nationalen Campionato im Jahre 1905 gewesen sein musste. Der Sieg kam ungewohnterweise wie aus heiterem Himmel, als Juve die harte Konkurrenz der abgeklärten Teams aus Genua und Mailand auf Distanz hielt. Die Rivalen waren erfahrener und viel besser organisiert – und trotzdem gelang der sensationelle Coup. Fürs Erste war es das mit der Herrlichkeit und dem bequemen Platz an der Sonne. Präsident Alfredo Dick aus der Schweiz verließ Juventus kurz danach, Beschwerden und die unüberwindbare Kluft in der Umkleidekabine trieben ihn zu einem folgenschweren Schritt. Er gründete den FC Turin und nahm auch gleich die besten ausländischen Spieler von Juventus mit. Heute pendelt Torino meist zwischen Serie A und B, damals hatte die Gründung schwierige und erfolglose Jahre für die Bianconeri zur Folge.
Auf den Shirts der europäischen Top-Clubs prangen oftmals viele prachtvoll glänzende Sterne oberhalb des Emblems. Sie stehen für eine Palette an Errungenschaften, die dem Prestige Rechnung tragen. Die Kriterien für die Erlaubnis eines weiteren Sterns auf der Brust sind nicht einheitlich. In Italiens oberster Spielklasse wird jedem Verein nach zehn gewonnenen Scudetti diese Ehre zuteil. 1958 war es Juventus vorbehalten, sich gegen die Fiorentina durchzusetzen und sich das Recht auf den ersten von bislang drei Sternen zu verdienen. Unter der Führung des Jugoslawen Ljubiša Broćić standen mit John Charles, Omar Sívori und Giampiero Boniperti heutige Legenden des Calcio in der Meisterelf. 1982 war es abermals Florenz, die in der Meisterschaft nach Juve nur den zweiten Platz belegten. Der 20. Meistertitel unter der Regie von Giovanni Trapattoni war kein Zufall, spielten doch einige der begnadetsten Kicker ihrer Zeit für die Alte Dame: Dino Zoff im Tor, Gaetano Scirea in der Verteidigung, Marco Tardelli im Mittelfeld, Roberto Bettega und Paolo Rossi im Sturm.
Den dritten Stern durfte sich Juventus offiziell 2014 auf die Spielkleidung nähen. In einer spannenden Saison wurde der spielstarke AS Rom in einem Zweikampf niedergerungen. Offiziell deswegen, weil die Turiner bewusst darauf verzichten. Die Reaktion ist eine logische Konsequenz auf die zwei annullierten Scudetti im Zuge des Calciopoli-Skandals vor einigen Jahren. Auf den Dressen der Fans waren bereits 2012, nach dem laut Statistik 28. Titel, drei Sterne aufgenäht. Eine gezielte Provokation des Fußballverbandes. Den Tifosi gefiel es, sind die Umstände der Ermittlungen doch auch nach vielen schmerzvollen Zeiten immer noch höchst umstritten. Juventus-Präsident Andrea Agnelli stellte nach dem jüngsten Erfolg unmissverständlich klar, die Trikots auch in absehbarer Zeit nicht zu ergänzen. »Es wird keinen dritten Stern geben, weil wir in unseren Augen 32 Scudetti gewonnen haben – auch wenn offizielle Belege uns nur 30 zugestehen. Von jetzt an entscheiden wir, wann wir den dritten Stern hinzufügen. Sobald andere Teams es schaffen, den zweiten Stern zu erreichen, werden wir den dritten hinzufügen um den Unterschied zwischen uns und den anderen zu zeigen.« 12–16
5. GRUND
Weil nach dem Ersten Weltkrieg das goldene Jahrfünft anbrach
Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 und sportliche Misserfolge in jener Zeit machten Juventus zu schaffen. Es dauerte einige Jahre, bis sich die guten Leistungen auch in der Tabelle zeigten. Unter Präsident Corrado Corradini, ein Gelehrter und Poet, wurde das Fundament für eine glorreiche Zukunft gelegt. Doch erst mit dem Engagement von Edoardo Agnelli begann ein Umschwung in den Reihen der nach Triumphen lechzenden Turiner. 1923 war der damalige Fiat-Chef eine Partnerschaft mit dem Fußballclub eingegangen und fungierte als Sponsor. Als erste Maßnahme nach der geglückten Kooperation wurde Juve in ein reines Profiteam umgewandelt und konnte unter professionellen Bedingungen zum Seriensieger avancieren.
Noch im selben Jahr der Agnelli-Beteiligung wechselte Virginio Rosetta für 50.000 Italienische Lire von der damaligen Übermacht US Pro Vercelli zu Juventus Turin. Die Verpflichtung von Rosetta stellt den historisch ersten professionell transferierten Spieler Italiens dar, obendrein bekam er Geld für seine Tätigkeiten und wurde zum ersten Profifußballer im Land. Als er noch bei Pro Vercelli spielte, musste er gänzlich ohne monetäre Entlohnung auskommen, denn der Vereinspräsident sah es als Ehre an, für den Club überhaupt auflaufen zu dürfen.
Mit dem Titelgewinn 1931 läutete Trainer Carlo Carcano eine bis heute unvergessene Ära ein. Im goldenen Jahrfünft, dem Quinquennio d’Oro, konnte die Mannschaft ihre Trophäe in den nachfolgenden Jahren vier Mal verteidigen – bis heute ist dieser Rekord unerreicht. 1933 spielte Juve erstmals im Stadio Comunale, das bis 1990 die Heimat bleiben sollte. Die Arena wurde eigens für die Universitäten-Weltspiele errichtet und entstand auf direkter Anweisung des damaligen Anführers des faschistischen Regimes, Benito Mussolini.
Zum damaligen Zeitpunkt gab es nichts Besseres im italienischen Fußball, die internationalen Pokalturniere waren noch nicht so umfangreich und hochwertig organisiert wie in der Gegenwart. Auch das mit europäischen Titelgewinnen verbundene Prestige war nicht so ausgeprägt, wie es später der Meistercup und danach die Champions League suggerieren sollten. Juventus erzielte in dem Wettbewerb Achtungserfolge, kam viermal ins Halbfinale, das Glück war aber nicht aufseiten der Alten Dame, und so blieb es bei einer eher mageren Ausbeute.
National erlebten die Bianconeri nach dem nicht enden wollenden Aufschwung schwere Rückschläge. Edoardo Agnelli verlor bei einem tragischen Flugzeugabsturz sein Leben und der Zweite Weltkrieg (1939–1945) zog eine Spur der Verwüstung durch ganz Europa. An Fußball war nicht zu denken, trotz der Armut und des Leids unter der darbenden Bevölkerung wurden Meisterschaften ausgetragen. Wenn heutzutage ganze Saisons ausfallen, wie in der nordamerikanischen Eishockey-Liga NHL, ist meist die Gier nach mehr Geld die Triebfeder des für Zuschauer unverständlichen Streits zwischen Vereinen und Spielern. 1944 waren viel traurigere Gründe schuld an der nicht ausgetragenen Spielzeit. In den Kriegswirren wurde trotz allem der Ball über den Rasen getreten und der Gewinner im Rahmen einer Kriegsmeisterschaft ermittelt. Erst nach dem Ende der Kampfhandlungen nahm die italienische Liga wieder den regulären Betrieb auf.
Der AC Turin war in den Folgejahren die dominierende Mannschaft in der Stadt und in Italien. Mit der Übernahme des Präsidentenamtes durch Giovanni Agnelli änderte sich nach und nach das Bild an der Tabellenspitze der Serie A. Seine Verdienste werden retrospektiv nicht nur mit dem Gewinn der nächsten beiden Scudetti verbunden, sondern vielmehr mit der Verpflichtung von Giampiero Boniperti. Dieser geniale Schachzug sollte sich als Meilenstein in der Historie von Juventus Turin herausstellen.17–23
2. KAPITEL
6. GRUND
Weil Kampfgeist und Durchsetzungsvermögen die Mentalität ausmachen und das schöne Spiel trotzdem wichtig ist
»Juventus war ein Vorbild für mein Manchester-United-Team. Ich zeigte meinen Spielern Videos von [Marcello] Lippis Mannschaft und sagte ihnen: ›Achtet nicht auf Taktik oder Technik, das haben wir ebenfalls, ihr müsst einfach ihren absoluten Willen zum Sieg lernen.‹« Sir Alex Ferguson (Manchester United)24
Die Facetten von Juventus Turin auf ein simples Wort zu reduzieren ist nahezu unmöglich. Zu komplex sind die Kleider der Alten Dame, abseits der Umkleidekabine im Juventus Stadium gibt sie sich adrett und zuvorkommend, im Herzen der Arena manchmal auch aufbrausend und leger. Eine lang gehegte Spielkultur geht mit wirtschaftlich cleveren Deals einher. Präsidenten kommen und gehen, Spieler wechseln Vereine wie morgens die Unterwäsche und jeder Trainer verfolgt ein eigenes Konzept. Die sich stetig verändernde Konstellation dieser Schlüsselpersonen formt seit Ewigkeiten die ausschweifende Garderobe der Vecchia Signora. Jede Saison kommen neue Gewänder hinzu, Altes wird aussortiert und am Ende bleiben nur wenige zeitlose Utensilien übrig.
Als Antonio Conte die Zügel der Zebras in die Hand nahm, musste er als Chef-Konstrukteur viele Baustellen gleichzeitig schließen. Juventus hatte zwei lange Jahre den Pfad des Erfolges verlassen und Conte dirigierte seine Spieler umgehend auf den richtigen Weg. Als Exspieler und verbissener Kämpfer wusste er umgehend Bescheid. Das wertvollste Stück im Sortiment der Alten Dame war verschwunden, der Verlust des prächtigsten Kleides schwächte das Selbstvertrauen und störte das Wissen um die eigene Schönheit.
Im Zuge seiner Verpflichtung als Trainer war überall dann doch dieses eine Wort zu hören. Dieser eine Ausdruck, der seit jeher mit den großen Erfolgen auf den Bühnen dieser Erde einhergeht. La Grinta. Der Kampfgeist. Die Entschlossenheit, jedes Spiel gewinnen zu wollen. Das Durchsetzungsvermögen, auch in ausweglosen Situationen alles für die Wende zu tun. Hartnäckigkeit und harte Arbeit, Konzentration und Hingabe. Dieser Kern war immer schon das Trumpfass im Spiel der Weiß-Schwarzen.
Das ist auch der Hauptgrund für die jüngste Renaissance, fast so als hätten sich die Fußballer an den Worten Fergusons orientiert, der sich seinerzeit Juventus als Vorbild nahm. Technik und Taktik waren nur kleine Problemfelder, die sich vergleichsweise mühelos verbessern ließen. Schön spielen und das Publikum begeistern ist der neuen alten Juve zwar wichtig, viel imposanter ist indes die Fertigkeit Contes, den Spielern la Grinta in kürzester Zeit einzuimpfen. Die Annäherung an das Spielverständnis – niemals und unter keinen Umständen zu verzweifeln – ist der Grund, weswegen andere Teams Juve in der Vergangenheit fürchteten. Dieser Teamgeist ist wieder allgegenwärtig: keine mentale Fragilität mehr, keine Panik nach Gegentoren. Die Zeiten, in denen die Spieler Blei in den Beinen hatten, sind vorbei. Die Alte Dame ist zurück und hübscher denn je.25
7. GRUND
Weil das Sieger-Gen fest in der DNA verankert ist
»Juventus wird immer Juventus sein. Es gibt Teams, die den Sieg in ihrer DNA haben, und Juventus gehört dazu.«
Emilio Butragueño (Real Madrid)26
Juventus Turin propagiert sich als elegante Weltmarke mit uneingeschränktem Erfolgsanspruch. Tradition verpflichtet und ein zweiter Platz widerspricht dem Leitsatz als Italiens Vorzeigeclub und mondäner Lebensstil für die leidenschaftlichen Tifosi und Mitarbeiter auf der ganzen Welt. Ein zweiter Platz ist ein unerwarteter Fehler in der Matrix, Rang drei gar vollständig inakzeptabel und alle weiteren Positionen abseits des Podiums kommen einem Weltuntergang gleich. Niederlagen werden nicht in Betracht gezogen. Niemals und unter gar keinen Umständen. Wie bei allen Teams kommen sportliche Rückschläge vor, doch unmittelbar danach reckt die Alte Dame ihr Haupt empor und konzentriert alle Anstrengungen auf den nächsten Coup. »Juventus ist wie ein Drache mit sieben Köpfen: Wird einer abgeschlagen, taucht unmittelbar ein weiterer auf. Sie geben niemals auf und ziehen ihre Stärke aus der mannschaftlichen Geschlossenheit«, beschreibt Italo-Ikone Giovanni Trapattoni die magisch anmutende Fähigkeit, sich stets an der Spitze zu halten.27
Die eigentliche Zielsetzung von Juventus ist es, den Anhängern durch die Weiterführung der glorreichen Historie die höchste Stufe des Genusses zu ermöglichen. Dieses Vorhaben wird durch ein präzise formuliertes Set an Regeln umgesetzt, die im Verhaltenskodex des Vereines niedergeschrieben sind. Alle Angestellten und Berater haben dieser Richtlinie zu folgen. Bei Zuwiderhandlung agiert Juve streng nach der selbst auferlegten moralischen Verpflichtung, die ethischen Ansprüche und der Drang nach weiteren Triumphen lassen gar keinen Spielraum. Der Manipulationsskandal Calciopoli hat das Selbstbild des Clubs hart getroffen, ein angekratztes Image steht gewiss nicht auf der Agenda. Umso befriedigender ist die Auferstehung der Bianconeri wie der viel zitierte Phoenix aus der Asche.28
Ex-Capitano und Neo-Coach Antonio Conte ist sich der Tradition bewusst und will unter allen Umständen sicherstellen, dass die Juventus zugrunde liegende Erbinformation korrekt in die Köpfe der neuen Spielergeneration übertragen wird: »Das Wichtigste ist, zur Einstellung zurückzufinden, die Juve seit jeher ausgemacht hat: Wir sind Juventus und müssen die schwarz-weiße DNA zurückgewinnen.« Wer wenn nicht der ehemalige Leitwolf im Mittelfeld der Juve, mit der er auf Vereinsebene Champions League, den Weltpokal und zahllose Meisterschaften errang, ist sich der Bedeutung des schweren Erbes seiner glücklosen Vorgänger bewusst. Niemand anderem glaubt man ohne einen Funken Restzweifel, wie Conte bekräftigt, dass allein sein Atem die Juve-DNA versprüht.29 30
8. GRUND
Weil bei Nacht alle Katzen weiß-schwarz sind
Ein Zebra ist das offizielle Vereinsmaskottchen von Juventus Turin. Flora und Fauna eröffnen bei der Wahl von Glücksbringern und Motivatoren nicht viele Alternativen, bauen Vereine aller Herren Länder doch traditionell auf niedliche oder kampflustige Tierchen. Juve ist weiß-schwarz, welch anderes entzückende Wesen hätte da schon infrage kommen können? Sie sind durch die typische Streifenzeichnung charakterisiert, unterscheiden sich in ihrem Äußeren jedoch deutlich. Für die evolutionäre Entwicklung der Streifen gibt es unterschiedliche Erklärungsversuche. Es wird vermutet, die farbliche Gestaltung wirke im hohen Gras oder bei heißer, flimmernder Luft als Tarnung. Genau wie im Stadion: Die Spieler sehen alle anders aus, tragen das gleiche Muster und können sich nach Niederlagen leichter im grünen Rasen verstecken als die Gegner. Das klingt plausibel.3132
Andere Hypothesen besagen, die Streifen dienen der Thermoregulation oder der Identifizierung der einzelnen Tiere untereinander und so dem Gruppenzusammenhalt. Auch das klingt nachvollziehbar. Zwar ist diese Erkenntnis nicht nur auf Juve bezogen, aber man stelle sich einmal bildlich vor, es gäbe keine einheitliche Kleidung auf dem Spielfeld. Franck Ribéry passt zu Cristiano Ronaldo und Andrea Pirlo spielt mit Lionel Messi Tiqui-taca. Die Harmonie im Team geht flöten und Heißspornen wie Marco Materazzi und Luis Suárez platzt endgültig der Kragen.
Das enorme Lebensgebiet von Zebra-Gruppen ist eine der umfangreichsten bekannten Reviergrößen aller Pflanzenfresser. Mit einer imposanten Dimension an globalen Fanansammlungen zählt Juventus zu nur einer Handvoll Teams mit weltweiter Tragweite. Zebras leben in Herden und erschweren es Räubern – und somit den feindlichen Teams –, sich ein einzelnes Beutetier herauszupicken. Schon wieder eine Parallele: Juventus verliert so gut wie nie, weil sich die anderen Mannschaften nicht entscheiden können ob sie sich zuerst um Paul Pogba oder doch lieber Arturo Vidal kümmern sollen.33
Vor einigen Jahren wurde die Dominanz des Zebras als Galionsfigur der Alten Dame von einer wagemutigen Kreatur infrage gestellt. Ein zugelaufener Kater war kurzzeitig das – freilich inoffizielle – Maskottchen des Rekordchampions. Irgendein Widerling hat den süßen Fratz vor dem Trainingsgelände in Vinovo ausgesetzt, und die Mannschaft entschloss sich kurzerhand dazu, das arme Ding zu adoptieren. Der Kater beobachtete begierig das Training und schaute als willkommener Gast auch das eine oder andere Mal auf Pressekonferenzen vorbei. Das getigerte Fellknäuel erwies sich auch ratzfatz als Glücksbringer und sorgte durch seine Präsenz für einen 2:1-Sieg beim verhassten Tabellenführer Inter Mailand.34
9. GRUND
Weil Stanley Kubrick nicht die beste Inspirationsquelle für Ultra-Bewegungen ist
Wenn am Himmel die Sonne untergeht, beginnt für die Droogs der Tag. In kleinen Banden sammeln sie sich, gehen gemeinsam auf die Jagd. Auf dem Kreuzzug gegen die Ordnung und die scheinbar heile Welt, zelebrieren sie die Zerstörung, Gewalt und Brutalität. Erst wenn sie ihre Opfer leiden sehen, spüren sie Befriedigung. Es gibt nichts mehr, was sie jetzt aufhält, in ihrer gnadenlosen Wut.35
Die Droogs, das sind Mitglieder einer Jugendbande. Angeführt von Alexander DeLarge, dreht sich ihr aller Leben um Gewalt und Schlägereien mit anderen Gangs. Ein Droog ist ein Kumpel und ein Freund, der stets zu einem hält. Nur ist es so eine Sache mit diesen Droogs. Sie gibt es nämlich nicht. Sie sind eine Kreation des britischen Literaten Anthony Burgess, der in seiner Novelle Uhrwerk Orange von 1962 die fiktiven Erlebnisse einer Clique unter der strengen Regentschaft des Soziopathen Alex erzählt. 1971 schuf Regielegende Stanley Kubrick eine Verfilmung, die bis heute Kultstatus genießt. Popkulturelle Referenzen auf beide Werke finden sich in allen Kunstformen wieder, nicht anders verhält es sich mit dem eingangs bemühten Zitat aus einem Song der deutschen Punk-Band Die Toten Hosen. So konstatiert Sänger Campino, dass die Problematik, um die es in Uhrwerk Orange geht, heute aktuell ist wie eh und je.3637
Die Angehörigen der Drughi sind hingegen voll und ganz real. Drughi ist die selbst ernannte Bezeichnung für eine bedeutende Ultra-Gruppierung im Umfeld von Juventus Turin. Die Inspiration für diese Namensgebung stammt – wenig überraschend – aus Uhrwerk Orange. Die Geschichte der Drughi ist eine kuriose Episode für sich: Der Ursprung dieser Formation liegt im Jahr 1987, Differenzen innerhalb eines anderen Ultra-Lagers führten zu einer klaren Trennung. Anfang der 1990er schaffte es die kleine Gruppe, sich zur größten Anhängerschaft des italienischen Rekordmeisters zu mausern. Phasenweise hatten die Drughi über 10.000 Mitglieder, die einen beachtlichen Teil der Südkurve im Stadio delle Alpi als ihr Territorium ausriefen.38
Die Parallelen zu ihren Film-Helden gingen anfangs noch einen Schritt weiter. Die Gründer benannten die Formation Arancia meccanica, also direkt nach Uhrwerk Orange in der italienischen Übersetzung. Der Film ist von überbordender Aggressivität und Willkür geprägt, ein Umstand, der bei den Turiner Behörden alle Alarmglocken aktivierte. Die Verbrüderung von Hooligans unter dieser Prämisse hielt dem Druck nicht stand. Arancia meccanica als Symbolisierung von Gewalt und Anarchie wurde von der Juve-Führungsriege regelrecht verabscheut. Der Name wurde verworfen und durch Drughi ersetzt. Dass die neue Bezeichnung nur eine leichte Abweichung von der ursprünglichen Botschaft darstellte, wurde von offizieller Seite einfach viel zu spät erkannt.3940
Neben den Drughi gibt es noch weitere organisierte Fangruppen: Viking Juve, Arditi, Nucleo 1985, 06 Clan, Noi Soli, Gruppo Marche 1993, Bruxelles Bionconera, Gruppo Homer, Assiduo Sostegno und Bravi Ragazzi. Heute nicht mehr im Geschäft, aber die ersten richtigen Fans von Juventus, die sich als Gefüge verstanden, waren Mitte der 1970er die Venceremos und Autonomia Bianconera. Beide sahen sich am extrem linken Rand des politischen Spektrums und waren schlecht organisiert. Erst 1977 gründete Beppe Rossi die Gruppo Storico Fighters. Er war eine der einflussreichsten Personen unter den jungen Ultras in Turin. In den 1980ern entstanden mit Viking und Nucleo Armato Bianconero zwei extreme Ultra-Bewegungen, die sich innerhalb und außerhalb des Stadions Respekt verschafften und die einzigen zwei Organisationen darstellten, die an richtige Hooligans erinnern. Der Grund dafür war, dass sie sich nie vor einem Kampf gegen Anhänger anderer Clubs fürchteten. 4142
Die Fangruppen der Alten Dame sind heute gemäßigter denn je. In den Straßen von Turin ist es meist ruhig, auch vor und im Stadion herrscht seit dem Neubau eine angenehme, familiäre Atmosphäre. Auch die Drughi machen im Stadion Stimmung und fallen weniger durch Gewaltexzesse auf. Gemäßigter heißt aber nicht gemäßigt, ein Außenstehender sucht beim Zusammenprall zweier verfeindeter Fanlager besser das Weite. Nach exzessiven Kämpfen zwischen Fans der Fiorentina und Juventus in den 1980ern, der Heysel-Katastrophe in Belgien und anderen Fehden veränderte sich die Erscheinung der Hardcore-Juve-Ultras drastisch. Vereinigungen wurden aufgelöst, zusammengeführt und alte wiederbelebt.
Die Drughi sind nach wie vor die Leader der Curva Sud, der Südkurve, von der einstigen Ausrichtung ist nicht viel geblieben. Aber eine Sache wird sich wohl nie ändern: die Abneigung gegenüber englischen Anhängern des FC Liverpool und Engländern im Allgemeinen. Diese Abscheu entwickelte sich nach dem Angriff der Liverpool-Hooligans auf Juventini im Brüsseler Heysel-Stadion, der zahllose Todesopfer nach sich zog. Das Gebaren der Drughi ist kein Schauspiel, das Juve-exklusiv ist, die Ultra-Szene ist ein Nährboden für rational nicht erklärbare Phänomene. Die Drughi mögen keine Engländer, doch ihr Name geht aus einem höchst englisch geprägten Vorbild hervor. Das muss man nicht unbedingt verstehen.4344
10. GRUND
Weil Juve gleichermaßen geliebt und gehasst wird
Im Caffè Torino an der bekannten Piazza San Carlo gibt es den besten Bicerin* (*Das Wort »Bicerin« stammt aus der Piemontesischen Sprache und bedeutet »Kleines Glas«) der Stadt. Das traditionelle Heißgetränk aus dem Piemont ist ein Mix aus Espresso, Trinkschokolade und Milch.45 Eine kleine Geschmackssensation. Der erste Schluck versprüht das Aroma feinsten italienischen Kaffees, herb im Abgang, nur um den Gaumen mit einer süßen Endnote zu überraschen. Nicht minder unerwartet ist das Gespräch mit dem redefreudigen Barista. »Halten Sie zu Lissabon oder Sevilla?«
Es ist der Tag des Europa-League-Finalspiels, Benfica hatte erst wenige Wochen zuvor Juventus eliminiert und ein Finale in casa, das Endspiel dahoam sozusagen, verhindert und ganz Turin in einen iberischen Albtraum verwandelt.
»Sono Juventino!« – »Ich bin Juve-Anhänger!«
Wie aus dem Nichts vergisst er seine höflich-distanzierte Art und diskutiert mit mir leidenschaftlich über die verpasste Chance auf das so wichtige Heimspiel im eigenen Stadion. Ich hatte also Glück. Über ein cholerisches Schnaufen oder verächtliches Abwinken als Reaktion auf meine Aussage hätte ich mich nicht wundern dürfen. Selbst in der Juve-Bastion Turin hätte der Kellner ein passionierter Tifoso des Lokalrivalen AC Torino sein können. Mittlerweile ist in der Stadt das Kräfteverhältnis unter den Fans der beiden Clubs ausgeglichen. Trotz langjähriger Tristesse in der Tabelle liebte Turin den erfolglosen Bruder des reichen Nobelvereins immer ein bisschen mehr.
Geht es nach regelmäßigen Umfragen der Tageszeitung La Repubblica, wirkt diese Beschreibung nahezu grotesk. Juventus stellt ein Drittel aller italienischen Calcio-Liebhaber, in mehr als der Hälfte aller 20 Regionen des Landes ist der Verein unangefochten auf Platz eins.46 Umso mehr wird Juve vom Rest gehasst. Keine Statistik kann belegen, wie sehr diese Ambivalenz in der Realität zum Vorschein kommt. Zwei Anekdoten, hautnah erlebt und in bleibender Erinnerung geblieben, zeigen das Leben eines ausländischen Juve-Fans auf italienischem Territorium.
Tarvis im nordöstlichen Teil der Region Friaul Julisch Venetien, an der Grenze zu Österreich, war früher berühmt für das ausschweifende Markttreiben. Händler boten Designerware und lokale Köstlichkeiten feil, Menschen aus Slowenien, Kärnten und Teilen Italiens strömten in Massen herbei. Als Juve die Meisterschaft holte und gerade die Champions League gewann, waren mein Vater und ich in feinsten Del Piero-Trikots unterwegs, um das Flair einzusaugen und durch die engen Gassen der Verkaufsstände zu stromern. Wir blickten gerade auf eine schicke Lederjacke, als plötzlich ein Händler auf uns zustürmte und die Vorzüge des Kleidungsstückes anpries. Wir verneinten höflich, konnten jedoch unsere österreichische Herkunft nicht verbergen. »Warten Sie!«, sagte er in gebrochenem Deutsch und sprintete wie von der Tarantel gestochen um die nächste Ecke. Dann kam er genauso schnell wieder, wie er verschwunden war, und präsentierte uns stolz ein Foto mit sich und den Juve-Kickern Alessandro Del Piero und Angelo Di Livio. »Diese Kopie ist für Sie«, sagte er sichtlich stolz und mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »Forza Juve!«
Dass Weiß-Schwarz nicht gleich Weiß-Schwarz ist, musste ich Jahre später vor dem Stadion in Udine, ebenfalls im Nordosten des Landes, erfahren. Udinese Calcio empfing die verhassten Turiner und ich war natürlich live dabei. In Italien ziehe ich mich zu Fußballspielen immer neutral an, in diesem Fall vermied ich weiß-schwarze Kleidung, da beide Vereine bianconero als Clubfarben repräsentieren. Diese Paranoia mag übertrieben erscheinen, doch mein Fan-Dasein möchte ich lieber ohne Messer im Rücken ausleben.
So weit, so gut. Mein guter Kumpel und ich gehen also zum Verkaufsstand vor den Eingangstoren des geheiligten, leider ziemlich hässlichen, Prunkstücks der »falschen« Bianconeri. Ich brauchte unbedingt einen Schal als Erinnerung an die anstehende Partie. 20 Euro später hielt ich das weiß-schwarze Juve-Utensil in Händen und machte meinem Freund unmissverständlich klar, dass ich das gute Ding im Kofferraum verstauen wollte. Er verdrehte die Augen ob meiner übertriebenen Vorsicht und folgte mir. Das sollte sich als großer Fehler entpuppen.