18/4 - Der Pfad des Rächers - Zhou Haohui - E-Book
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18/4 - Der Pfad des Rächers E-Book

Zhou Haohui

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Beschreibung

Wenn die Polizei versagt, ist er zur Stelle. Und für ihn gibt es nur eine gerechte Strafe: den Tod.

Chengdu, Provinz Sichuan: Der gefürchtete Killer Eumenides hat sich zusammen mit seinem letzten Opfer in die Luft gesprengt. Der Albtraum scheint endlich vorbei. Doch als zwei Studenten eine Todesankündigung wie die von Eumenides erhalten und kurze Zeit später ermordet werden, ahnt Hauptmann Pei Tao, dass der Serienmörder schon vor langer Zeit vorgesorgt hat. Offenbar gibt es einen zweiten Killer, der nun Eumenides‘ Mission unter dessen Namen unerbittlich fortführt. Pei Tao, Leiter des Sondereinsatzkommandos 18/4, und sein Team heften sich an die Fersen des neuen Eumenides, der seinem Meister in nichts nachsteht. Ein perfides Spiel beginnt, das weitere Opfer fordert und mehr als nur ein schmutziges Polizeigeheimnis ans Licht bringt …

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Seitenzahl: 640

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Das Buch

Chengdu, Provinz Sichuan: Der gefürchtete Killer Eumenides hat sich zusammen mit seinem letzten Opfer in die Luft gesprengt. Der Albtraum scheint endlich vorbei. Doch als zwei Studenten eine Todesankündigung wie die von Eumenides erhalten und kurze Zeit später ermordet werden, ahnt Hauptmann Pei Tao, dass der Serienmörder schon vor langer Zeit vorgesorgt hat. Offenbar gibt es einen zweiten Killer, der nun Eumenides‘ Mission unter dessen Namen unerbittlich fortführt. Pei Tao, Leiter des Sondereinsatzkommandos 18/4, und sein Team heften sich an die Fersen des neuen Eumenides, der seinem Meister in nichts nachsteht. Ein perfides Spiel beginnt, das weitere Opfer fordert und mehr als nur ein schmutziges Polizeigeheimnis ans Licht bringt …

Der Autor

Zhou Haohui wurde 1977 geboren und lebt in Yangzhou in der Provinz Jiangsu. Seine 18/4-Trilogie ist die erfolgreichste chinesische Kriminalromanreihe aller Zeiten. Eine auf seinen Büchern basierende Webserie wurde mit über 2,4 Milliarden Aufrufen ihrerseits zu einer der erfolgreichsten chinesischen Online-Serien überhaupt.

Lieferbare Titel

978-3-453-43983-2 – 18/4 Der Hauptmann und der Mörder

Zhou Haohui

18/4

Der Pfad des Rächers

Aus dem Englischen von Julian Haefs

THRILLER

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe SIWANGTONGZHIDAN: SUMING erschien erstmals 2014 bei Beijing Times Chinese Press, Beijing.

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Copyright © 2014 by Zhou Haohui

German rights authorized by China Educational Publications Import & Export Corporation Ltd.

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO unter Verwendung von Shutterstock.com / matrioshka

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN: 978-3-641-28359-9V001

www.heyne.de

ZUSAMMENFASSUNG DES ERSTEN BANDES:

Als Sergeant Zheng Haoming tot aufgefunden wird, schlägt der Fall in ganz Chengdu hohe Wellen. Hauptmann Pei Tao von der Kriminalpolizei Longzhou scheint auf rätselhafte Weise darin verstrickt. Außerdem wird am Tatort eine sogenannte »Todesanzeige« gefunden.

Pei Tao erfährt, dass der verstorbene Sergeant Mitglied der 1984 aufgelösten Sondereinsatzgruppe 18/4 gewesen war, die man aufgrund einer Mordserie an der Polizeiakademie von Sichuan ins Leben gerufen hatte – zu einer Zeit, als Pei Tao dort studierte. Hauptmann Han Hao reformiert das Sonderkommando, und die Untersuchung beginnt von Neuem. Zu Pei Tao stoßen Hans Assistent Yin Jian, die Psychologin Mu Jian sowie Zeng Rihua, der Leiter des digitalen Überwachungssystems von Chengdu. Das letzte Mitglied der Truppe, Xiong Yuan, Mitglied der Spezialeinheit der Polizei (SEP) von Chengdu, wird kurz darauf im Laufe der Ermittlungen getötet; seinen Platz nimmt Liu Song ein, ebenfalls SEP.

Zu allem Überfluss wird die bekannte Geschäftsfrau Ye Shaohong trotz Polizeischutzes in aller Öffentlichkeit ermordet. Die Einsatzgruppe macht Bekanntschaft mit einem selbst ernannten Rächer namens Eumenides (benannt nach den drei Rachegöttinnen der griechischen Mythologie), der einer ganzen Reihe korrupter Personen Todesanzeigen zukommen lässt und unaufhaltsam scheint. In der finalen Auseinandersetzung kann weder die Polizei noch der treue Leibwächter Bruder Hua den Tod des mächtigen Deng Hua verhindern – schlimmer noch, Hauptmann Han hat sich zuvor erpressbar gemacht und wird durch eine List dazu gebracht, den Mord persönlich zu verüben.

Schließlich wird klar, dass Pei Taos alter Kommilitone, Mitbewohner und enger Freund Yuan Zhibang – welcher lange Zeit als verstorben galt, aber unter falschem Namen untergetaucht war – Eumenides heimlich ausgebildet hat, um eine dunkle Macht ins Leben zu rufen, die abseits der Gesetze für Gerechtigkeit sorgen soll.

Da Han auf der Flucht ist und Drahtzieher Yuan Zhibang sich selbst gerichtet hat, braucht die Einsatzgruppe schleunigst einen neuen Hauptmann, um Eumenides endlich zu stellen, bevor noch mehr Menschen ums Leben kommen …

INHALTSVERZEICHNIS

PROLOG

KAPITELEINS: DERNEUEHAUPTMANN

KAPITELZWEI: UNTERTÖNE

KAPITELDREI: DIEDEMASKIERUNGDESEUMENIDES

KAPITELVIER: JAGDIMUNTERGRUND

KAPITELFÜNF: FALLENSTELLEN

KAPITELSECHS: VONANGESICHTZUANGESICHT

KAPITELSIEBEN: DERTODDESVATERS

KAPITELACHT: KÖDER

KAPITELNEUN: WIEDERVATER …

KAPITELZEHN: DIEVERGANGENHEIT ­WIEDERERWECKEN

KAPITELELF: DERTÜTENMANN

KAPITELZWÖLF: BLUTIMBÜRO

KAPITELDREIZEHN: DERTATORTWIRDUNTERSUCHT

KAPITELVIERZEHN: SEIÜBERLEBENSGROSS

KAPITELFÜNFZEHN: TÖDLICHERHINTERGRUND

KAPITELSECHZEHN: DERGEFALLENEKRIEGER

KAPITELSIEBZEHN: EINPAKTZWISCHENWÖLFENUNDTIGERN

KAPITELACHTZEHN: PORTRÄTEINESVERDÄCHTIGEN

KAPITELNEUNZEHN: DERTODDESSOHNES

KAPITELZWANZIG: DINGKE

KAPITELEINUNDZWANZIG: DIELETZTEEHRE

KAPITELZWEIUNDZWANZIG: SCHICKSAL

EPILOG

PROLOG

24. Oktober 2002, MitternachtStadtrand von Chengdu

Neben dem verlassenen Außenposten der Stadt spannte sich eine Brücke über einen schwärenden Tümpel voll Brackwasser. Berge von halb verrottetem, monatealtem Müll verströmten einen unerträglichen Gestank. Die emsige Großstadt hatte diesen fernen Ort, den nur die hoffnungslosesten Bettler aufzusuchen wagten, schon vor langer Zeit vergessen.

Und doch standen dort zwei Männer, ein jüngerer und ein älterer, die schon vor über zehn Jahren beschlossen hatten, sich ausschließlich an solcherlei Orten zu treffen. Wofür es nur einen Grund geben konnte: Sie wollten auf keinen Fall gestört werden. Dieses spezielle Treffen fühlte sich allerdings ungewöhnlich an, ganz anders als alle vorherigen.

Die Augen des jungen Mannes funkelten vor Erregung, der ältere hingegen wirkte alles andere als begeistert. »Du solltest dich auf den Weg machen!«, forderte er mit einem harten Krächzen. »Ich habe längst alles Nötige gesagt.«

Das Mondlicht spiegelte sich im fahlen Fluss und erhellte die Umrisse des Gesichts dessen, der gesprochen hatte. Es war entstellt und voller Narben.

Der junge Mann schwieg. Als er es nicht mehr länger aushielt, fragte er: »Wann treffen wir uns das nächste Mal?«

Der Ältere lachte. Ein knirschendes Geräusch, ebenso schauerlich wie sein zerstörtes Antlitz. »Warum musst du immer so viele unnötige Fragen stellen? Du weißt, dass es kein nächstes Mal gibt.«

Der junge Mann wandte den Blick ab. Obwohl er gewusst hatte, dass dieser Tag kommen würde, waren die Gewissheit darüber und die Unvermeidlichkeit, sich der Tatsache zu stellen, zwei völlig verschiedene Dinge.

»Pei Tao hat längst von meinem Aufenthaltsort Wind bekommen. Ich muss die Sache ein für alle Mal mit ihm klären.« Der vernarbte Mann sah dem Jüngeren fest in die Augen. »Hab keine Angst. Du bist längst stark genug, um diese Verantwortung allein zu tragen.«

»Ich kann kaum erkennen, wohin mein Weg mich führt«, sagte der junge Mann leise.

»Ich weiß, wie du dich fühlst. Trotzdem wirst du diesen Weg beschreiten. Es ist dein Schicksal. Es ist dir seit achtzehn Jahren vorherbestimmt.« Die zerklüfteten Lippen des Älteren teilten sich und gaben den Blick auf ein blütenweißes Gebiss frei.

»Aber …«

»Ich weiß, was für ein Verlangen dich treibt«, unterbrach ihn der Ältere. »Die Gier danach, all die Aspekte des Lebens kennenzulernen, die ich dir vorenthalten habe. Sobald ich nicht mehr bin, gib dich ganz diesem Verlangen hin. Es kann dir viele Dinge offenbaren, die ich dich niemals hätte lehren können.«

Rasch wandte er sich ab, bevor der junge Mann die Tränen sehen konnte, die in seinen verwachsenen Augen schimmerten. Unter schmerzvollem Stöhnen setzte er sich in Bewegung und humpelte den Pfad am Fluss entlang.

Der Blick des Jüngeren klebte an der schrumpfenden Silhouette seines Mentors. Er wollte ihm nachlaufen, wusste aber, dass er nichts sagen konnte, was ihn umgestimmt hätte. So hinkte der Vernarbte davon, während der Junge ihm mit wehmütigem Verlangen hinterherschaute.

Wer ist er? Und wer bin ich?

Warum bin ich hier?

Die letzten achtzehn Jahre hatten ihn der Beantwortung dieser Fragen kein Stück nähergebracht.

Dennoch hatten die letzten Worte seines Mentors einen kleinen Funken Hoffnung entfacht. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, auszuziehen und die Antworten zu finden.

KAPITEL EINS

DER NEUE HAUPTMANN

26. Oktober,09:25 UhrDie Überreste des Jade-garten

Seit die Explosion das Restaurant zerfetzt hatte, war ein ganzer Tag vergangen. Dennoch hing noch immer eine Aura aus Rauch und Tod über der Ruine. Mehr als zwanzig Feuerwehrleute waren zwischen den Trümmerhaufen aktiv, wuchteten mit schwerem Gerät halbe Ziegelwände und große Betonbrocken beiseite. Zwischen den rot gewandeten Gestalten huschten einige wenige umher, die ganz in Weiß gekleidet waren. Sie arbeiteten paarweise und hatten große schwarze Plastiksäcke dabei. Dann und wann unterbrachen sie die Arbeit der Feuerwehrleute für einen kurzen Moment – die Männer in Weiß traten an die Rettungskräfte heran, sammelten mehrere Objekte aus den Trümmern auf und ließen sie in die Plastiksäcke gleiten. Ihre ernsten, feierlichen Mienen wirkten beinahe maskenhaft.

*

An den Kreuzungen entlang der Xingcheng-Straße ragten die Bürotürme in endlosen Reihen empor. Hoch oben in einem dieser Gebäude befand sich ein junger Mann, der das Szenario rund um die Ruine durch ein Teleskop betrachtete. Er konzentrierte sich auf jedes Detail, das sich vor seinen Augen entfaltete. So sah er auch, dass es sich bei den Objekten, welche die Männer in Weiß – Forensiker der Provinzpolizei – in ihren Plastiksäcken verstauten, um verstreute menschliche Körperteile handelte.

»Mentor«, murmelte er kaum hörbar. Heftige Emotionen zeichneten sich in seinem Gesicht ab. Trauer und Bitterkeit, überlagert von bodenloser Verwirrung.

Sein Mentor hatte ihn verlassen. Trotz all der Versprechungen, die ihm der vernarbte Mann zwei Nächte zuvor mit auf den Weg gegeben hatte, konnte er sich des Eindrucks kaum erwehren, dass sein ganzes Leben ebenso in Trümmern lag wie das Restaurant dort unten. Wer, so dachte er, außer dem Vernarbten, sollte all die Rätsel lösen, die an seinem Verstand nagten?

Du wirst diesen Weg beschreiten. Es ist dein Schicksal, hatte sein Mentor gesagt.

Er wusste, er würde seinen Weg nicht verlassen.

*

28. Oktober,15:17 UhrHotel tausend gipfel

Das luxuriöse Hotel lag in einem besonders lebhaften Viertel der Provinzhauptstadt. Als Fünfsternehotel war jeder Winkel der sechsunddreißig Stockwerke der Perfektion so nah wie irgend möglich.

Soeben betrat Wu Yinwu eine der Suiten im obersten Stock. Er war vollkommen überwältigt. Derartigen Luxus hatte er in seinen achtundfünfzig Lebensjahren noch nie erblickt. Als er sich auf dem weichen Sofa aus echtem Leder niederließ, fühlte er sich von der schieren Opulenz des Raums beinahe erschlagen. Er legte die Hände auf die Knie und setzte sich vorsichtig wieder auf, als fürchte er, das prachtvolle Sofa durch Fläzen zu beschädigen.

Zwei junge Männer und eine Frau im Highschoolalter befanden sich mit ihm im Raum. Ein Blick reichte aus, um sie als das zu klassifizieren, was die meisten Eltern wohl »Tunichtgute« genannt hätten. Auch sie begafften die ungewohnte Umgebung, zeigten dabei allerdings keine Spur von Wus Zurückhaltung. Wenn sie nicht gerade kreuz und quer durch die Suite rannten, sprangen sie über Möbelstücke oder spielten an dem gewaltigen Flachbildfernseher herum, der fast eine ganze Wand einnahm.

Einer der jungen Männer trug einen großen goldfarbenen Ohrring. Er schien des Herumtollens bereits etwas überdrüssig und ließ sich auf das Sofa gegenüber der Eingangstür fallen.

»Scheiße, fühlt sich das gut an«, sagte Goldohrring und kicherte boshaft.

»Seid bitte vorsichtig«, bat Wu leise.

Goldohrring nahm keine Notiz von ihm. Er sah den anderen jungen Mann an, der eine sportlich kurze Dauerwelle trug und gerade den kleinen Kühlschrank öffnete, der auf dem Beistelltisch der Sofaecke stand. Goldohrring zog mit einem Ruck die Augenbrauen hoch.

»He!«, bellte er. »Wehe, du hamsterst das ganze Essen!«

Der Lockenkopf zog die Nase aus dem Kühlschrank und präsentierte die beiden Bierflaschen in seiner Hand. Eine warf er Goldohrring zu, die andere öffnete er, setzte sie an die Lippen und nahm zufrieden einen tiefen Schluck.

»Verbraucht hier bitte nichts. Das kostet alles Geld«, sagte Wu. Seine Stimme war dünner als ein Bindfaden.

»Wir müssen das ja nicht blechen. Warum sich also Sorgen machen?«, sagte die junge Frau vom anderen Ende des Zimmers. Sie kam näher. Ihr Gesicht war rund und prall, ihr Haar größtenteils feuerrot gefärbt.

Lockenkopf hielt ihr das Bier hin. »Schlückchen?«

»Ist bestimmt schon zur Hälfte Sabber«, gab Rotschopf zurück und fischte sich stattdessen eine Coladose aus dem Kühlschrank. Mit einem Lächeln machte sie sie auf und sah den älteren Mann an. »Möchten Sie auch eine, Herr Wu?«

Der vollführte eine abwehrende Geste. »Nein, nein, schon gut.«

Goldohrring setzte sich gerade hin, packte mit der einen Hand Wus Schulter und hielt ihm mit der anderen das Bier an die Lippen. »Kommen Sie schon.« Er zwinkerte verschwörerisch. »Gönnen Sie sich einen Schluck.«

Wu schob die Hand des jungen Mannes weg. Ein Anflug von Ärger kroch in seine Stimme. »Schluss damit. Ich habe gesagt, ich möchte nicht.«

»Herr Wu sagt, er möchte nicht. Wir können ihn schlecht dazu zwingen«, sagte Lockenkopf mit einem breiten Grinsen. Die bösartige Andeutung ließ seine beiden Kumpane in schallendes Gelächter ausbrechen.

Wu rutschte unbehaglich auf dem Sofa herum. Wo bleibt er nur? Im Angesicht dieser drei Schüler fühlte er sich reichlich gedemütigt.

Sowie ihr Gelächter verklungen war, schienen sie sich allerdings die gleiche Frage zu stellen.

»Was ist los? Wo ist der Typ, der gesagt hat, er will uns hier treffen?«, fragte Goldohrring. »Der hat Sie doch nicht etwa versetzt, oder?«

Lockenkopf warf seinem Mitschüler einen ätzenden Blick zu. »Glaubst du ernsthaft, der Kerl mietet uns eine Luxussuite, um uns dann sitzen zu lassen? Schalt dein Hirn ein, Mann.« Er nahm einen tiefen Zug aus der Flasche.

»Trotzdem gibt es keinen Grund, warum er so viel Zeit verplempert«, sagte Rotschopf ungehalten. »Ich hab zwei Freunden aus dem Netz versprochen, dass wir später abhängen können. Sag ihm, er soll sich beeilen, ja?«

Nach einer kurzen Denkpause zückte Lockenkopf sein Handy und wählte eine Nummer. Kurz hielt er sich das Gerät ans Ohr. Dann rümpfte er die Nase.

»Was denn?« Die Rothaarige beugte sich über ihn.

Lockenkopf nahm einen Finger vom Flaschenhals und legte ihn an die Lippen. »Psst.« Sein Blick glitt zur Eingangstür.

In der folgenden Stille konnten die Leute im Raum das ferne Klimpern einer Melodie ausmachen.

Das Geräusch kam von der angelehnten Tür.

Die Melodie verstummte. Langsam öffnete sich die Tür. Alle sahen gebannt zu, wie ein sonderbarer Mann die Suite betrat.

Er überragte sie alle. Obwohl seine Kleidung durchaus gewöhnlich schien, gab es zwei Details, die ihnen nicht geheuer waren. Er trug schwarze Samthandschuhe und eine Skimaske, die sein ganzes Gesicht bis auf die Augen verdeckte. Und diese Augen glitzerten geradezu.

»Wer … wer sind Sie?«, fragte Wu, der sich halb erhoben hatte.

»Die Person, die darum gebeten hat, Sie zu treffen.«

Der Mann schloss die Tür. Er sprach leise, artikulierte aber deutlich und scharf.

»Was ist denn mit dir los, Kollege? Kommst du frisch von ’ner Schönheits-OP?« Lockenkopf grinste immer noch breit. Goldohrring und Rotschopf lachten.

Der Mann zeigte keinerlei Reaktion auf den Spott. Er griff sich einen der Holzstühle neben dem Couchtisch, schleifte ihn zur Tür, klemmte ihn unter die Klinke und verbarrikadierte so den Ausgang. Dann ließ er sich auf dem Stuhl nieder. Langsam wanderte sein Blick von einem Teenager zum anderen. Es lag keinerlei Bosheit in seinem Blick, und doch schien eine unbegreifliche Kraft von ihm auszugehen. Die Macht seines Blicks ließ Lockenkopf und die anderen auf der Stelle verstummen.

»Setzen Sie sich bitte«, sagte der Mann.

Wu sank sofort auf das Sofa zurück. Obwohl die drei Teenager weniger unterwürfig wirkten, ließen auch sie Angst und Nervosität erkennen. Keiner von ihnen konnte sich erklären, weshalb die Stimme des Mannes diesen Einfluss auf sie hatte, aber etwas in seinem Tonfall ließ sie gehorchen.

Zögerlich sahen Goldohrring und Rotschopf zu Lockenkopf herüber. Allem Anschein nach war er der Anführer ihrer Gruppe.

Lockenkopf besann sich der Umstände, beschloss anscheinend, sich diese Erniedrigung nicht gefallen zu lassen, und schob den Unterkiefer vor. »Wir sind unter bestimmten Bedingungen hergekommen. Bevor wir irgendetwas anderes besprechen, müssen Sie erst mal liefern.«

Der Mann hob die rechte Hand. Drei scharlachrote Briefumschläge kamen zum Vorschein.

»Bitte sehr.«

Die Direktheit des Mannes ließ Lockenkopf abermals zögern. Dann trat er ein paar Schritte vor und nahm die Umschläge entgegen.

»Der erste ist für Sie. Den zweiten geben Sie dem Mädchen, und der dritte ist für Ihren Gefährten«, sagte der Mann.

Kurz darauf hatten alle Umschläge die Hände der ihnen zugedachten Rezipienten erreicht. Wu hingegen starrte verständnislos hin und her und versuchte sich zusammenzureimen, was vor sich ging. Irgendwie war er zu einem bloßen Beobachter geworden.

Goldohrring öffnete sein Kuvert als Erster. Darin befand sich ein hauchdünnes Blatt Papier – eindeutig nicht das, was er vorzufinden gehofft hatte. Nachdem er gelesen hatte, was dort geschrieben stand, konnte er sich nicht länger beherrschen.

»Was zum Teufel soll das sein?«

Lockenkopf öffnete seinen Umschlag. Auf dem Zettel standen mehrere Zeilen Text in makelloser Kalligrafie.

TODESANZEIGE

DERANGEKLAGTE: Xie GuanlongVERBRECHEN: Demütigung eines LehrersDATUMDERURTEILSVOLLSTRECKUNG: 28. OktoberHENKER: Eumenides

»Soll das ein Scheißwitz sein?«

Lockenkopf zerknüllte das Papier und warf es nach dem Mann.

»Das ist kein Spiel«, sagte der Fremde, dessen Stimme mit einem Mal eisig klang. »Ihr alle seid schuldig, verurteilt von euren Mitbürgern. Ich bin Eumenides, euer Henker.«

Lockenkopf schnaubte verächtlich. »Meine Fresse – du glaubst, du kannst dir ’ne Skimaske überziehen und bist direkt ein Superheld, oder was? Verpiss dich aus unserer Suite!«

Wu sprang vom Sofa auf. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. »Wa … was geht hier vor?« Er lief zu Rotschopf und überflog den Zettel in ihrer Hand. Die makellosen Schriftzeichen verschwammen vor seinen Augen, so sehr zitterte das Mädchen. Ihr Gesicht war aschfahl geworden.

»Das ist Eumenides! Wisst ihr nicht, was das heißt?«

Goldohrring und Lockenkopf sahen das Mädchen völlig entgeistert an.

Rotschopf packte Goldohrring an der Schulter. »Er ist ein Mörder. Ein echter Mörder. Letzte Woche hat er diese Frau umgebracht, die damals den Obsthändler mit ihrem BMW überfuhr. Das Netz ist voll davon!«

Ihre Panik war ansteckend. Jetzt bekamen es auch ihre beiden Freunde mit der Angst zu tun. Ein Mörder in ihrer Stadt, der Tod dieser Frau mit dem BMW – davon hatten sie in der Tat gehört. Konnte dieser Killer wirklich der Kerl sein, der da vor ihnen saß?

»Am Elften dieses Monats habt ihr euren Lehrer Wu Yinwu gedemütigt. Nicht nur das, ihr habt seine Demütigung auch noch gefilmt und ins Netz gestellt. Obwohl ihr dafür von allen Seiten verurteilt wurdet, habt ihr nicht die geringsten Anstalten gezeigt, euch dafür zu entschuldigen. Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen?«

Seine Stimme war von einem Murmeln zu einem mächtigen Schrei geworden. Goldohrring zitterte nun ebenfalls so stark, dass ihm der Zettel durch die Finger rutschte. Er kroch zu Lockenkopf rüber. »Was machen wir jetzt, zum Teufel?«

»Wir verduften«, sagte Lockenkopf und schnitt eine Grimasse. »Scheiß auf den Kerl, lasst uns abhauen.« Nur musste er sehr bald feststellen, dass sein Plan einen kleinen Haken hatte. Der Mann blieb auf dem Stuhl vor dem einzigen Ausgang der Suite sitzen. Wenn sie hier raus wollten, mussten sie sich um den Fremden kümmern.

»Aus dem Weg, verdammt!«, fauchte Lockenkopf.

»Komm zu mir.« Die ruhige, beinahe sanfte Stimme des Mannes jagte dem Jungen einen Schauer über den Rücken. Sein Mut schwand wie Herbstlaub im Wind.

»Nein«, sagte Wu und baute sich zwischen Lockenkopf und ihrem Gast auf. »Hört nicht auf ihn.« Er vermied es, dem Maskierten in die Augen zu schauen. »Sie haben sich bereits bei mir persönlich entschuldigt. Machen Sie ihnen nicht noch mehr Schwierigkeiten. Ich flehe Sie an.«

Ein emotionsloses Grinsen zeichnete sich unter der Maske ab. »Die haben sich schon entschuldigt, sagen Sie? Ich habe mit angesehen, wie Sie zu viert das Hotel betreten haben und hier heraufgefahren sind. Ich habe beobachtet, wie sie Sie behandeln. Können Sie mir mit Überzeugung versichern, dass diese Entschuldigungen etwas verändert haben?«

Wu verzog das Gesicht. Natürlich hatte der Mann recht. Sie würden ihn als Lehrer niemals respektieren. Das wusste er sehr wohl.

Was er hingegen nicht wusste, war, dass der maskierte Mann noch immer wie betäubt vom kürzlichen Tod seines eigenen Lehrers war.

Ein Blick wie Stahl glitt über die drei Teenager. »Für eure Verbrechen gibt es kein Verzeihen«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Alle drei schraken vor seinem bohrenden Blick zurück. Auch Wu schien zu schrumpfen, rang seine Angst jedoch nieder und versuchte erneut, in ihrem Namen zu verhandeln.

»Das ist alles längst nicht so ernst, wie Sie offenbar glauben! Das sind doch bloß Kinder! Die haben sich einfach einen Spaß daraus gemacht, das Video aufzunehmen. Bitte, überlegen Sie doch, was Sie hier tun. Ich bin ihr Lehrer – ich bin für sie verantwortlich!«

Der Blick des Mannes wanderte zum ältesten Insassen des Zimmers. Sein Tonfall hatte nichts von seiner Schärfe eingebüßt. »Halten Sie sich im Ernst immer noch für deren Lehrer? Warum haben Sie darüber nicht nachgedacht, als die Ihren Unterricht auseinandergenommen haben? Wissen Sie überhaupt, was es bedeutet, ein Lehrer zu sein?«

Wus Zunge hing nutzlos schlaff in seiner Mundhöhle.

»Ein Lehrer sollte Weisheit weitergeben, Wissen vermitteln und Zweifel beseitigen. Sehen Sie sich Ihre Schüler an. Was haben Sie für sie getan? Haben Sie ihnen etwas vermittelt? Auch nur das kleinste bisschen ihrer Zweifel beseitigt? Ihre Rolle bei Ihrer eigenen Erniedrigung ist unbestreitbar. Ich habe Sie heute mit eingeladen, damit Sie sehen, was passiert, wenn man die Pflicht den eigenen Schülern gegenüber vernachlässigt.«

Bei jedem Satz zuckte der Lehrer wie unter einem Peitschenhieb. Nachdem der letzte verbale Riemen geknallt hatte, ließ Wu voll Scham den Kopf hängen. Keine Antwort wollte ihm über die Lippen kommen.

Da wurde Lockenkopf plötzlich aktiv. Weniger von Mut als von Verzweiflung getrieben, zog er das kleine Beil aus der versteckten Innentasche seines Mantels. Es war das genaue Ebenbild jener Waffen, die sämtliche Finsterlinge in den bei seiner Generation so beliebten Actionfilmen aus Hongkong schwangen.

»Machst du jetzt Platz oder nicht? Wenn du dich nicht bewegst, solltest du dich besser auf Schmerzen gefasst machen!«

»Worauf wartest du dann?«, gab der Mann mit entsetzlicher Gelassenheit zurück.

Lockenkopf biss sich auf die Zähne und stürmte auf den Eindringling zu. Er hob die rechte Hand hoch über den Kopf und ließ das Beil auf den Hals seines Gegners hinabsausen.

Der Mann streckte eine Hand aus und packte das Handgelenk des Angreifers mitten im Schwung. Eine kurze Drehung, und Lockenkopf krümmte sich vor Schmerz. Das Beil fiel harmlos zu Boden. Der Fremde legte Zeigefinger und Mittelfinger aneinander und fuhr damit sanft über den Hals des Teenagers. Lockenkopf verstummte. Seine Augen weiteten sich, die Lippen zuckten leicht.

Ein langer, tiefer Schnitt verlief quer durch seine Kehle. Blut wallte auf und bespritzte den sündhaft teuren Teppich. Der Mann schien kein Blut auf seine Kleidung bekommen zu wollen, streckte die Linke zur Seite aus und ließ Lockenkopf auf den Boden sinken. Der Teenager zuckte noch ein paarmal, dann lag er reglos da.

Der Schrei des Mädchens war ohrenbetäubend. Dem Mann allerdings schien der Lärm keine Sorgen zu bereiten. Schließlich hatte er diese Suite wegen der dicken, schalldichten Wände gewählt.

Wu war erstarrt. Jetzt schüttelte er sich, als erwachte er aus einem Traum. »Sie haben ihn getötet. Wie können Sie nur? Warum?«

Je länger er jammerte, desto dünner wurde seine Stimme.

Während das Mädchen in die hinterste Ecke des Zimmers zurückgewichen war, sah Goldohrring seine Chance und rannte auf die Tür zu. Auf den Fremden wirkten seine Bewegungen allerdings lächerlich langsam.

Ehe irgendjemand begriff, was geschehen war, hatte der Mann blitzschnell den linken Arm ausgefahren und sich Goldohrring hilflos wie ein Kleinkind eng an die Brust gepresst. Langsam reckte er den rechten Arm.

Wu brach zusammen, fiel auf die Knie und begann einen Kotau nach dem anderen zu vollführen. Wieder und wieder klatschte seine Stirn mit einem widerwärtigen Schmatzen auf den Boden. »Bitte, ich flehe Sie an! Töten Sie nicht noch jemanden!«

Die Rechte des Mannes verharrte mitten in der Luft. »Sie wollen nicht, dass ich ihn bestrafe?«

Wu krabbelte auf Händen und Füßen vorwärts. Seine Stimme war halb erstickt von Tränen. »Bitte, bestrafen Sie meine Schüler nicht! Das ist alles meine Schuld. Ich habe meine Pflichten als Lehrer vernachlässigt.« Tränen liefen ihm die Wangen hinab.

Der Mann schwieg einen Moment lang. »Sind Sie bereit, für Ihre Fehler geradezustehen?«

»Ja, ja! Lassen Sie nur meine Schüler gehen!«

Der Mann wischte mit dem Fuß über den Teppich. Das Beil rutschte über den Boden und blieb keinen halben Meter vor Wus Knien liegen. »Schneiden Sie sich die linke Hand ab«, sagte der Mann ruhig und beinahe gleichgültig.

Wu blickte auf. Die Augen traten ihm fast aus dem Kopf. »Was?«

»Amputieren Sie sich die linke Hand. Wenn Sie das tun, lasse ich sie gehen.«

»Aber …« Wu stotterte, ein Knie gab nach, er schlug bäuchlings auf den Boden.

Der Mann zeigte mit einem Finger auf ihn. »Es ist Ihre Entscheidung. Ich werde Sie zu nichts zwingen.«

Goldohrring sah die feine Rasierklinge zwischen seinen Fingern aufblitzen. Namenlose Furcht kroch durch seinen Leib. Er wollte sich losreißen, aber sein Körper reagierte nicht. Er warf Wu einen flehenden Blick zu und versuchte, ein Wort am Arm des Mannes vorbeizupressen, der wie ein Schraubstock um seinen Hals lag.

»Bitte …«

»Geben Sie mir eine Sekunde.« Wu hob die Hand, um seinen Schüler zum Schweigen zu bringen. Er stählte sich mit ein paar abgehackten Atemzügen, dann hob er das Beil auf. Die Schneide wirkte so scharf wie ein Fleischermesser.

Die Augen des Fremden leuchteten vor plötzlicher Erwartung.

Der Lehrer stieß einen wortlosen, bestialischen Schrei aus. Er riss das Beil hoch und drehte die Schneide so, dass sie auf sein linkes Handgelenk wies. Seine Stimme erstarb zu einem gebrochenen Keuchen. Dann schnappte er nach Luft und ließ das Beil wie in Zeitlupe sinken. Sein Handgelenk blieb unversehrt.

Der Fremde schüttelte enttäuscht den Kopf. Seine Rechte glitt über Goldohrrings Hals, dem dadurch das gleiche Schicksal wie Lockenkopf zuteilwurde. Als sein Körper zu Boden sackte, starrte er Wu mit leeren, weit aufgerissenen Augen an. Der ältere Mann fiel rücklings auf den Teppich, als hätte ihm jemand eins über den Schädel gezogen.

Ein paar Sekunden später riss Rotschopfs Schrei ihn abermals aus seiner albtraumhaften Trance. Da sah er, dass der Mann sich langsam dem Mädchen näherte.

Die linke Hand schoss vor. Das Mädchen wurde an ihrer flammenden Haarmähne hochgerissen. Sie brachte kaum noch den Mut auf, sich zu wehren. Ihre Stimme war zwischen den Schluchzern kaum zu verstehen. »Bitte, Herr Wu. Helfen Sie mir.«

Wu stieß einen weiteren wilden Schrei aus. Diesmal klang er allerdings ernstlich verstört. Das Beil flog empor und sauste sofort mit unglaublicher Geschwindigkeit wieder herab. Wus Schlag war wuchtig und präzise; er trennte sich die Hand mit einem sauberen Hieb ab.

Der Mann ließ das Mädchen los und machte einen Schritt zur Seite. Sie stürzte zu ihrem Lehrer. Ihre Tränen waren versiegt – der Schock saß zu tief, als dass sie noch hätte weinen können.

Wu schlang sich den Ärmel eng um den Stumpf und versuchte, die Blutung zu stoppen. Wimmernd kämpfte er gegen die Schmerzen an. Sein Blick wich nicht von dem Fremden. Seltsamerweise lag eiserne Entschlossenheit darin.

»Herr Wu, Herr Wu«, schluchzte das Mädchen nun. Sie hob die abgeschlagene Hand ihres Lehrers auf und drückte sie sich an die Brust.

Wu spürte ein Gefühl in sich aufsteigen, das ihm gänzlich fremd war, das er nie zuvor erlebt hatte. Es musste sich, dachte er, um Stolz handeln.

Der Mann schenkte ihm ein anerkennendes Nicken. Dann betrachtete er das Beil und verweilte mit dem Blick auf der blutverschmierten Schneide. Er holte tief Luft und musterte das Mädchen kritisch.

»Ich habe alle Urteile vollstreckt. Obwohl du noch lebst, bist du heute in gewisser Hinsicht gestorben. Von jetzt an solltest du ein gänzlich neues Verständnis davon haben, was es bedeutet, am Leben zu sein.« Er richtete seinen durchdringenden Blick auf Wu. »Und was Sie angeht, haben Sie endlich den Mut und das Pflichtgefühl in sich entdeckt, die einen wahren Lehrer auszeichnen.«

*

19:35 UhrHauptbahnhof Chengdu

Die Stimme einer Nachrichtensprecherin schnarrte aus dem Fernseher: »Infolge der anfänglichen Untersuchung der Explosion, die sich vergangenen Freitag in der Xingcheng-Straße ereignete, haben wir bereits eine grundsätzliche Vorstellung davon, was dort vorgefallen ist.

Es handelt sich um einen Terroranschlag. Die Explosion hat zwei Menschen getötet, jedoch keine weiteren Opfer gefordert. Eine der getöteten Personen war Guo Meiran, die Besitzerin des Restaurants Jade-Garten. Bei der anderen Person handelte es sich um Yuan Zhibang, den für die Explosion verantwortlichen Täter. Wie die Polizei bekannt gab, hat Yuan bereits vor achtzehn Jahren eine Explosion in dieser Stadt verursacht, bei der ebenfalls zwei Personen ums Leben kamen. Die Polizei ist der Ansicht, dass es sich bei Yuan um den Serienmörder namens Eumenides handelt, der in jüngster Zeit mehrere Morde in Chengdu begangen hat, darunter den Mord an Ye Shaohong, dessen Tod sowohl im Netz als auch in den Medien für heftige Diskussionen gesorgt hat.«

Pei Tao stieß einen tiefen Seufzer aus. Er schüttelte den Kopf, setzte sich von der Menge ab, die den Bildschirm umringte, und steuerte auf die Fahrkartenkontrolle zu. Gerade als er die Hand auf der Suche nach dem Ticket in die Jacke steckte, hörte er hinter sich eine Frauenstimme.

»Einen Moment bitte, Hauptmann Pei.«

Pei drehte sich um und war überrascht, in das überaus attraktive Gesicht der Psychologin Mu Jianyun zu blicken. Sie war noch ein paar Meter entfernt, näherte sich aber zügig und hatte zwei Polizisten im Schlepptau. Links von ihr lief, mit Brille und sorgfältig zerzausten Haaren, Zeng Rihua, der oberste Computerexperte der Polizei von Chengdu. Yin Jian zu ihrer Rechten war durchschnittlich groß und schleppte die Aura eines Bücherwurms mit sich herum. Bis gestern war er noch der Assistent des Leiters ihrer Abteilung gewesen.

Pei und die drei Neuankömmlinge waren allesamt Mitglieder der Einsatzgruppe 18/4, von der städtischen Polizei mit dem expliziten Ziel neu gegründet, Eumenides das Handwerk zu legen.

»Pei«, sagte Mu jetzt, »Sie können nicht verschwinden.«

»Wieso nicht?«, gab er patzig zurück.

»Wir haben unser Einsatzziel noch nicht erreicht«, sagte Zeng mit einer frostigen Grimasse. »Yuan ist tot, aber sein Schützling rennt da draußen frei herum. Und dieser neue Eumenides wird das Töten nicht einfach sein lassen. Ich bin gespannt, was die Nachrichtensprecher daraus machen wollen, sobald der nächste Mord ans Licht kommt.«

Pei dachte einen Augenblick nach und schüttelte den Kopf. »Das weiß ich alles, aber ich kann hier nicht bleiben. Ich muss zurück nach Longzhou. Ich hatte bloß um eine Woche Auszeit gebeten, bevor ich hergekommen bin, und bei mir stapelt sich die Arbeit.«

Zeng kicherte böse. »Keine Sorge, längst erledigt.«

Yin öffnete seine Kuriertasche und zog ein Blatt Papier hervor, das fein säuberlich doppelt gefaltet war. Mit feierlicher Miene händigte er es Pei aus.

Ganz oben stand ein einziges fettes schwarzes Schriftzeichen: Versetzungsbescheid. Pei las weiter.

»Aufgrund eines dringenden Vorschlags der Führung der Kriminalpolizei Chengdu und mit Genehmigung der Provinzabteilung für Öffentliche Sicherheit hat die Polizei von Longzhou eingewilligt, Hauptmann Pei Tao zur Kriminalpolizei von Chengdu zu versetzen, um dort bis auf Weiteres die Stelle als Hauptmann der Kriminalpolizei und hauptamtlicher Leiter der Einsatzgruppe 18/4 zu bekleiden. Die Provinzabteilung für Öffentliche Sicherheit von Sichuan wird einen geeigneten Kandidaten aus der Provinz benennen, der den Posten des oben genannten Beamten vorübergehend besetzen wird.«

Peis Augen waren immer größer geworden. Yin hingegen stand vor ihm und salutierte.

»Hauptmann!«

Nachdem er den Versetzungsbescheid wieder sorgfältig zusammengefaltet hatte, rieb Pei sich nachdenklich das Kinn. »Das ist … Das kommt schon ein bisschen unerwartet, oder?«

»Dieser Befehl wäre längst nicht so schnell erfolgt, hätte Polizeichef Song sich nicht dahintergeklemmt«, sagte Yin. »Der Chef will Sie so schnell wie möglich sehen. Er will die Ermittlung dringend vorantreiben.«

*

20:47 UhrVerhörraum, Hauptquartier der ­Kriminalpolizei Chengdu

Sowie Yin das Vernehmungszimmer betrat, wallte Übelkeit in ihm auf. Dies würde zweifellos das schwierigste Verhör seiner Karriere werden.

Der diensthabende Beamte trat auf ihn zu.

»Wurde auch Zeit«, flüsterte der Mann. »Übernehmen Sie bitte für mich. Ich bin für dergleichen nicht gemacht.«

Auch Yin senkte die Stimme. »Wie meinen Sie das?«

»Er weigert sich zu reden, abgesehen davon, dass er angeblich auf Sie wartet.«

Yin nickte. »Verstehe. Betrachten Sie sich als abgelöst.«

Der Beamte atmete erleichtert auf. Sobald er den Raum verlassen hatte, setzte Yin sich auf den Stuhl, den der Mann Sekunden zuvor geräumt hatte.

Sein Gegenüber betrachtete ihn über den Tisch hinweg aus blutunterlaufenen Augen.

»Hauptmann«, sagte Yin und stockte sofort. Wie sollte er die Sache in Angriff nehmen?

Der ehemalige Hauptmann Han Hao grinste verächtlich. »Warum nennen Sie mich immer noch Hauptmann? Haben Sie vergessen, was ich Ihnen beigebracht habe? Wenn Sie ein Verhör führen, tun Sie alles dafür, die zu verhörende Person davon zu überzeugen, dass Sie allein alle Macht und Autorität besitzen. Andernfalls können Sie brauchbare Resultate direkt vergessen!«

»Hauptmann … Han …« So sehr er es auch versuchte – Yin konnte sich einfach nicht dazu durchringen, seinen ehemaligen Vorgesetzten irgendwie anders zu nennen. Also ließ er alle vorgespielte Autorität fahren und sagte flehentlich: »Hören Sie doch auf, es uns so schwer zu machen. Sagen Sie uns einfach die Wahrheit über das, was passiert ist!«

Han hatte sich bei der plötzlichen Veränderung in Yins Verhalten versteift. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Wieso kommen Sie erst jetzt?«

»Es gab ein paar interne Umstrukturierungen«, sagte Yin. Er überlegte einen Moment, beschloss aber, es könne nicht schaden, die Wahrheit auszusprechen. »Einen Personalwechsel. Pei Tao wird kommissarischer Hauptmann der Kriminalpolizei und Leiter der Einsatzgruppe.«

Hans Herz begann schneller zu schlagen. Noch vor wenigen Tagen war Pei Tao einer seiner Hauptverdächtigen gewesen. Jetzt hatte Pei seinen alten Job bekommen, und er saß hinter Gittern. Falls das kosmische Ironie sein sollte, so fand er sie ganz und gar nicht witzig.

Aber schnell spürte er seine Tatkraft zurückkehren. Er lächelte bitter. »Wann wird das offiziell?«

»Der Versetzungsbescheid ist schon raus. Wahrscheinlich wird er morgen offiziell eingesetzt.«

»Hervorragend.« Han schloss die Augen und seufzte. »Gerade rechtzeitig für ihn, um mich verhören zu können. Und bestimmt wird er seinem Unmut Luft machen, nicht wahr?«

»Zögern Sie das nicht bis zu seiner Ankunft hinaus, Hauptmann. Sagen Sie uns, was wir wissen müssen. Sie sind immer noch Polizist, egal auf welcher Seite des Tischs Sie sitzen. Am Ende wollen wir alle dasselbe.«

Stille senkte sich über den Raum. Schließlich schüttelte Han den Kopf. »Nicht heute. Ich bin zu erschöpft. Ich muss mich ausruhen.«

»Na schön.« Yin sah die beiden Beamten an, die ihn flankierten. »Bringen Sie Hauptmann Han in seine Zelle zurück.«

Während der jüngere der beiden Männer Han die Handschellen anlegte, hielt er plötzlich inne.

»Wir müssen Sie noch, äh, nach persönlichen Gegenständen durchsuchen.«

Han stand auf, hob die Arme und ließ zu, dass ihm die Beamten Schlüssel, Ausweis, Brieftasche, Handy und diverse andere Dinge abnahmen. Als einer die Hand nach seiner Halskette ausstreckte, schüttelte er jedoch den Kopf.

»Mir wäre lieber, Sie würden das nicht an sich nehmen. Darin ist ein Bild von meinem Sohn.«

Der Beamte warf Yin einen fragenden Blick zu.

»Aufmachen«, sagte Yin und betrachtete den kupferfarbenen Anhänger.

Der Beamte tat, wie ihm geheißen. Weder Optik noch Gewicht des Anhängers schienen ungewöhnlich. Aufgeklappt kam ein Foto zum Vorschein, eingerahmt hinter einer dünnen Scheibe aus Plexiglas. Es war das grinsende Gesicht eines kleinen Jungen von vielleicht sieben oder acht Jahren. Yin spürte einen Anfall von Anteilnahme für Han. Es war ein Gesicht, das jeden Vater zum Lächeln bringen würde.

»Er soll es behalten«, sagte Yin.

Han widerstand dem Drang, verschlagen zu grinsen.

*

21:03 UhrRestaurant grüner frühling

Er saß allein da, die Gesichtszüge im Schatten einer tief sitzenden Schirmmütze verborgen.

Jedes Mal, wenn er eine seiner Todesanzeigen vollstreckt hatte, gönnte er sich ein vorzügliches Mahl. Es war eine Tradition, die er erst letzten Monat begonnen hatte, aber definitiv weiterführen wollte. In letzter Zeit war er sehr von der Huaiyang-Küche angetan, die mit ihren diversen östlichen Spezialitäten eine der vier großen Traditionen der chinesischen Küche ausmachte.

Das Grüner Frühling hatte die beste Huaiyang-Küche in ganz Chengdu zu bieten. Es war ein gehobenes Restaurant, wo die Speisen so viel kosteten wie die feinen Kunstwerke, die seine Wände bedeckten. Die Gäste gehörten zur Spitze der hiesigen Hautevolee und dinierten mit formvollendet zur Schau gestellter Etikette.

Wann immer er hier aß, setzte er sich stets an den abgelegensten Tisch, den das Restaurant zu bieten hatte. Es verschaffte ihm möglichst freie Sicht auf die Umgebung. Unabhängig davon, wo er sich befand, war seine oberste Priorität schon immer gewesen, die strategisch günstigste Position zu erkennen und einzunehmen.

Ein angenehm indirektes Leuchten umgab die Ecke mit seinem Tisch und betonte die eleganten Bambuszeichnungen auf der Tapete. Er warf einen flüchtigen Blick auf das Besteck und nahm das elegante, formvollendete Design jedes einzelnen Stücks zur Kenntnis. Seine Lippen zuckten und bildeten ein schattenhaftes Lächeln. Hier kam sein Geist zur Ruhe.

Es gab nur einen Aspekt am Grüner Frühling, den er noch mehr genoss als die exquisite Küche, und das war die Musik. In der Mitte des Restaurants befand sich ein rundes Wasserbecken von sechs Metern Durchmesser, umgeben von einer zart gezeichneten Landschaftskulisse. In der Mitte des Beckens gab es eine kleine Bühne.

Er plante jeden Besuch in diesem Restaurant so, dass er mit dem Violinkonzert um neun Uhr abends zusammenfiel, und ein schneller Blick auf die Uhr sagte ihm, dass die Zeit gekommen war.

Er sah die junge Violinistin die Bühne betreten. Ihre ed­­len Gesichtszüge waren aufs Äußerste konzentriert, während sie ihr Instrument bediente. Rabenschwarzes Haar floss in großen Wellen über ihre Schultern. Die weiße Bluse schmiegte sich eng an ihre zierliche Figur, darunter floss der smaragdfarbene Rock bis auf den Boden. Sie wiegte sich auf der Bühne wie eine helle Lotosblüte über einem weiten Teich.

Er wusste nicht genau, weshalb er ihre Musik derart genoss, aber er wusste, was sie in ihm hervorrief. Diese Musik trug ihn weit, weit fort von der Stadt, fort über ein Meer aus betörend unbekannten Gefühlen.

Nachdem das Mädchen ihr erstes Stück beendet hatte, winkte er einen Kellner herbei.

»Schicken Sie dem Mädchen ein Bouquet Ihrer besten Lilien. Sie können sie auf meine Rechnung setzen.«

Der Kellner verbeugte sich vornehm. »Sehr wohl, der Herr. Wünschen Sie noch eine Nachricht hinzuzufügen?«

Er schüttelte den Kopf. »Überreichen Sie ihr die Blumen anonym.«

»Selbstverständlich, der Herr.«

Als die Violinistin das zweite Stück beendet hatte, näherte sich ein Mitarbeiter des Restaurants mit einem Lilienstrauß der Bühne. Die junge Frau erhob sich und nahm die Blumen entgegen, hob sie dicht vor ihr Gesicht, schnupperte und verbeugte sich tief vor dem Publikum.

Bei der Verbeugung schlug sie die Augen auf. Ihre Blicke schienen sich zu treffen, und aller antrainierten Disziplin zum Trotz wollte er, dass sie ihn sah. Obwohl er wusste, dass sie ihn nicht entdecken würde. Ihre blinden Augen konnten nicht einmal die Blumen sehen, die sie in der Hand hielt.

*

29. Oktober,08:00 UhrKonferenzraum, Hauptquartier der ­Kriminalpolizei Chengdu

Einmal mehr hatten sich die Mitglieder der Einsatzgruppe 18/4 im Konferenzraum eingefunden. Ihre kollektive Aufmerksamkeit galt einem Video, das vom Projektor unter der Decke an die Leinwand geworfen wurde.

Das Video schien mit einem kleinen Camcorder gedreht worden zu sein. Das Bild war von dürftiger Qualität und stark verwackelt, außerdem waren die Aufnahmen mit einer Lauflänge von vier Minuten und fünfundfünfzig Sekunden recht kurz.

»Scheiße, Mann, das nenn’ ich mal Geografie«, sagte ein Schüler in die Kamera. Eins seiner Ohren zierte ein goldener Ring.

Die Kamera zoomte heraus, und die Mitglieder der Einsatzgruppe fanden sich in einem Klassenzimmer wieder. Ein älterer Lehrer mit weißer Schirmmütze stand an der Stirnseite des Raums auf einer leicht erhöhten Plattform, ganz in den Vortrag vertieft, den er für seine rund zwei Dutzend Schüler hielt. Die allerdings taten alles, außer ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Manche schliefen mit dem Kopf auf der Tischplatte, andere unterhielten sich lautstark. Ein paar von ihnen gestikulierten in Richtung Kamera.

Einige Sekunden später stieß ein junger Mann mit platinblonder Dauerwelle einen Freudenschrei aus. »Und nun«, proklamierte er, »begrüßen wir Xie Guanlong auf der Bühne!«

Der Schüler mit dem goldenen Ohrring sprang von seinem Stuhl und rannte auf den Lehrer zu. Mit einer schnellen Bewegung fischte er ihm die Schirmmütze vom Kopf. Wortlos starrte der Lehrer seinen Schüler an, während sich sein Gesicht langsam mit Schamesröte füllte. Der Schüler ließ die Mütze zweimal um den erhobenen Zeigefinger kreisen, ehe er sie zurück auf den Kopf des Lehrers beförderte. Dann kehrte er an seinen Platz zurück, wobei er mit breitem Lächeln in die Kamera winkte.

Der Lehrer stand auf seiner Plattform und schien vor Scham fast zu vergehen. Trotzdem nahm er sehr bald seinen Vortrag wieder auf.

Sofort ging seine Stimme in Beleidigungen und Klamauk unter. Die Kamera folgte dem Jungen mit dem goldenen Ohrring, der kreuz und quer durch den Raum lief. Weitere Jungen und Mädchen erhoben sich von ihren Stühlen und stimmten ins Chaos ein. Binnen Sekunden ergoss sich ein wahrer Sturm von Gelächter und Kraftausdrücken aus den Lautsprechern des Konferenzraums.

Etwa eine Minute später kehrte der Junge mit dem goldenen Ohrring zur Plattform zurück. Er versuchte dem Lehrer mit dem Finger gegen die Wange zu schnipsen, aber diesmal machte der ältere Herr einen Schritt zur Seite.

»Stör bitte deine Mitschüler nicht«, sagte der Lehrer fast leblos.

Die Kamera wurde herumgerissen, der Junge mit dem Lockenkopf füllte das ganze Bild aus. »Der Typ ist echt ein Idiot. Beispiel gefällig?« Er lehnte sich zurück und warf eine halbvolle Wasserflasche nach vorn. Sie segelte auf die Plattform zu, traf den Tisch mit einem lauten Knall und verteilte die Notizblätter des Lehrers auf dem Boden.

»Benehmt euch doch«, flehte der Lehrer, doch seine Stimme war kaum mehr als ein furchtsames Quieken.

Wieder fuhr die Kamera herum und zeigte das Gesicht eines untersetzten Mädchens. »Seht ihr das? Das ist unsere Klasse. Wir haben hier das Sagen.«

Das Video endete in einer Schwarzblende. Die Mitglieder der Einsatzgruppe schüttelten stumm die Köpfe.

Obwohl Pei das Video zur Vorbereitung dieses Treffens bereits gesehen hatte, kochte er vor Wut. Diese Sorte Schüler kannte er nur zu gut – Jahr für Jahr hatte er neben ihnen sitzen müssen. Und obwohl er wusste, was Eumenides ihnen angetan hatte, machte sich am Rand seines Bewusstseins ein verstörender Gedanke bemerkbar. Sie haben es nicht anders verdient.

»Yin, bringen Sie bitte die Gruppe auf den neuesten Stand«, wies er seinen Assistenten an.

Der jüngere Beamte nickte und nahm mehrere säuberlich gestapelte Haufen Papier zur Hand.

»Zunächst ein paar Worte zu den genauen Umständen, unter denen dieses Video entstanden ist. Es wurde am elften September aufgenommen, also vor etwas über einem Monat, und zwar an einer Fachoberschule. Die Schüler sind alle im Abschlussjahr. Das Mädchen, das dieses Video aufgenommen hat – und am Ende auch in die Kamera spricht – , hat es zwei Tage später auf einem ihrer Social-Media-Kanäle hochgeladen. Es ist sehr schnell viral gegangen. Die meisten Zuschauer waren außer sich über das, was sie da gesehen haben; viele haben in den Kommentaren verlangt, dass diese drei Schüler für ihr Verhalten dem Lehrer gegenüber bestraft werden müssen. Es hat nicht lange gedauert, bis diese Geschichte den Weg vom Internet in die wirkliche Welt gefunden hat. Eine ganze Reihe Fernseh- und Radiosender haben darüber berichtet, dass sich tatsächlich neulich eine größere Menschenmenge vor dem Eingang der Schule versammelt hat, um diese Schüler daran zu hindern, das Gebäude zu betreten. Schließlich hat das Trio dem öffentlichen Druck nachgegeben und sich beim Lehrer entschuldigt. Wu wollte keine Anzeige erstatten, sondern bloß dafür sorgen, dass dieser Skandal so schnell wie möglich vergessen wird. Seine Dienstherren sahen das allerdings anders. Zwei Wochen später wurde er nämlich von der Schule gezwungen, seine Stelle zu räumen.«

Am Ende dieses Berichts zog Mu die Augenbrauen hoch. »Sie haben den Lehrer bestraft, statt die eigenen Schüler zu maßregeln?«

Yin zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Viele Fachschulen sind zuallererst daran interessiert, Geld zu verdienen. Da die Eltern diese Schulen am Laufen halten, können die Schüler oft machen, was sie wollen. Und die Lehrer? Sind austauschbar.«

»Und das nennt sich Bildung?« Mu war stinksauer.

Pei war verblüfft von ihrer Reaktion und fragte sich, weshalb sie die Sache derart persönlich zu nehmen schien. Dann fiel ihm ein, dass sie vor ihrem Eintritt in die Einsatzgruppe 18/4 als Dozentin an der Polizeiakademie von Sichuan gelehrt hatte.

»Wenn die Schule schon keinen Respekt vor den Lehrern hat«, sagte Pei, »warum sollten die Schüler dann welchen aufbringen? Kein Wunder, dass die sich derart aufführen.«

Yin nickte. »Die Allgemeinheit ist genauso aufgebracht wie ihr. Am Tag, nachdem das Video viral gegangen ist, haben sich fast fünfzig Demonstranten vor dem Schuleingang versammelt, um diese drei Schüler am Betreten zu hindern. Die Schüler haben die Demonstranten verspottet und weiter lautstark ihren Lehrer beschimpft. Als Eumenides angefangen hat, im Netz um Namen für seine möglichen Opfer zu bitten, standen die drei relativ weit oben auf der Liste.«

»Wenn die in dem Forum so häufig genannt wurden, warum höre ich dann jetzt erst von ihnen, da zwei der drei schon tot sind?«

Yin schluckte und betrachtete die Tischplatte.

»Wir hatten angefangen, die Antworten auf Eumenides’ Manifest zu überwachen, um vielleicht weitere Hinweise zu erhalten. Aber nachdem er Ye Shaohong umgebracht hat, ist die Anzahl der Views und Beiträge durch die Decke gegangen. Unter dem Eintrag gibt es mehr als 40.000 Antworten. Selbst wenn wir sie nach den Namen sortieren würden, die am häufigsten genannt werden, blieben uns Hunderte von Leuten, die wir zu überwachen hätten. Dafür fehlen uns schlicht die Ressourcen«, erklärte Zeng.

Mu drehte sich zu ihm. »Wir wissen alle, wie wichtig Yuan Zhibang für Eumenides war. So kalt und berechnend er auch erscheinen mag, muss der Tod seines Mentors ihn trotzdem sehr getroffen haben. Diese drei Schüler haben sich offenbar als die besten Kandidaten für seine nächsten Todesanzeigen präsentiert.«

Zeng verzog das Gesicht. »Okay, sehe ich ein. Das mag ich übersehen haben. Ich weiß Ihre Detailgenauigkeit zu schätzen.«

Mu nickte und richtete den Blick wieder auf die Leinwand.

»Da ist was dran, Mu«, sagte Pei. »Gut, reden wir über das, was im Hotel passiert ist.«

Yin stand auf und nestelte am Projektor herum. Ein blutrünstiger Anblick erfüllte die Leinwand: Zwei Leichen lagen auf dem Boden der Luxussuite. Der grüne Teppich ringsum war von dunklen, klebrigen Flecken bedeckt, die wie grausige Schatten wirkten.

»Diese Morde haben sich im Hotel Tausend Gipfel zugetragen. Die Opfer, Xie Guanlong und Yan Wang, waren ebenjene zwei Schüler, die in dem Video im Vordergrund standen. Todesursache ist identisch mit der von Ye Shaohong, ein feiner Schnitt durch die Kehle. Am Tatort wurden drei Todesanzeigen gefunden. Format und Handschrift entsprechen exakt denen, die Eumenides bisher hinterlassen hat«, ratterte Yin runter.

»Drei Todesanzeigen«, sagte Zeng langsam. »Aber nur zwei Opfer?«

»Die junge Frau hat ebenfalls eine Todesanzeige erhalten, die Begegnung aber überlebt. Der Mörder hat Wu Yinwu dazu gezwungen, sich im Tausch für ihr Leben eine Hand abzutrennen.«

Zeng griff sich in die zerzausten Haare. »Das klingt aber gar nicht nach Eumenides.«

»Exakt. Wir versuchen noch herauszufinden, warum er diese Entscheidung getroffen hat. Leider sind die beiden überlebenden Zeugen momentan nicht in der Verfassung, sich einem polizeilichen Verhör zu unterziehen. Das Mädchen ist psychisch äußerst labil. Nur verständlich nach dem Schock, den sie im Hotel erlitten hat. Und was Wu angeht, der ist letzte Nacht operiert worden, befindet sich aber noch unter ärztlicher Beobachtung.«

»Erzählen Sie dem Team bitte, was wir über Eumenides’ Vorgehen bei diesen Morden wissen«, sagte Pei.

Alles lauschte aufmerksam, als Yin fortfuhr.

»Eumenides hat sich als Reporter ausgegeben und die drei Schüler sowie Wu Yinwu unter dem Vorwand kontaktiert, ein gemeinsames Interview mit allen vier Beteiligten führen zu wollen. Als Lockmittel hat er jedem von ihnen eine stolze Summe für ihre Einwilligung versprochen. Darüber hinaus hat er Wu zugesichert, er könne seine Kontakte spielen lassen, um ihm seine alte Stelle als Lehrer wiederzubeschaffen. Dass alle vier zugesagt haben, steht wohl außer Frage.

Nachdem er zweitausend Yuan auf Wus Konto überwiesen hatte, bat Eumenides den Mann, ihnen für den 28. Oktober eine Suite im Tausend Gipfel zu buchen. Wu tat wie geheißen und tauchte an diesem Tag mit seinen drei Schülern im Hotel auf. Kurz darauf klopfte Eumenides an.«

»Klingt nach einem wasserdichten Plan«, sagte Zeng mit leichtem Achselzucken. »Das muss man ihm wirklich lassen, er plant immer im Voraus. Hat er irgendwelches Spurenmaterial im Hotel hinterlassen?«

»Nichts«, gab Yin hörbar genervt zurück. »Wir haben den Raum genauestens untersucht, aber weder Fingerabdrücke noch Haare oder sonst irgendwas gefunden. Die Hotelangestellten konnten uns nicht mal beschreiben, wie er ausgesehen hat. Er betrat den Raum in Handschuhen, Schuhüberziehern und Skimaske. Und es ist ihm gelungen, sämtlichen Überwachungskameras des Hotels auszuweichen. Auf dem Bildmaterial ist maximal sein Rücken zu sehen.«

Zeng schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Einfach fabelhaft!«

Mu blickte von einem zum anderen. Sie war überrascht, bei allen Kollegen pessimistische Mienen zu sehen.

»Aber wir haben zwei Augenzeugen, die bei den Morden dabei waren. Sie haben Eumenides direkt angeschaut«, sagte sie mit Nachdruck.

Peis Miene klarte ein wenig auf. »Und genau darauf sollten wir unser Hauptaugenmerk lenken! Mu, dafür sind Sie zuständig.«

»Für das Mädchen, meinen Sie?«

Pei nickte. »Ich möchte ein psychologisches Gutachten. Sollte sie stabil genug sein, fragen Sie sie nach allen Einzelheiten, die sie beobachtet hat. Sie sind die Expertin, also überlasse ich Ihnen die Feinheiten. Ich will bloß Ihren Bericht haben, sowie er fertig ist.«

»Selbstverständlich, Chef«, sagte Mu zuversichtlich.

Pei wandte sich an Yin.

»Was Herrn Wu angeht, setzen Sie sich bitte mit dem Krankenhaus in Verbindung. Sofern seine körperliche Verfassung es zulässt, arrangieren Sie mir so schnell wie möglich ein Treffen mit ihm.«

»Jawohl, Sir!«

Zeng räkelte sich genüsslich. »Und ich bleibe einfach hier und drehe Däumchen, stimmt’s?«

»Natürlich nicht. Ich habe auch für Sie eine wichtige Aufgabe. Durchforsten Sie sämtliche verfügbaren Datenbanken nach allen Unterlagen über vermisste, verwaiste oder obdachlose Kinder zwischen sieben und dreizehn Jahren. Engen Sie die Suche auf ein Fenster von 1985 bis 1992 ein. Es ist mir egal, wie Sie sie finden, ich will nur Ihren Bericht lesen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Zengs Gesichtsausdruck war plötzlich wach und aufmerksam. »Sie wollen, dass ich Eumenides finde.«

»So ist es. Als Yuan Zhibang seinen Nachfolger auserkoren hat, muss er nach einem Kind gesucht haben, das die Gesellschaft längst vergessen hatte. Das Kind kann nicht allzu alt gewesen sein, sonst wäre es Yuan unmöglich gewesen, dessen gesamte Denkweise zu formen. Es muss aber alt genug gewesen sein, um zu überleben, ohne dass Yuan permanent an seiner Seite war. Also halte ich den Bereich zwischen sieben und dreizehn Jahren für realistisch.

Yuan ist im Januar 1985 aus dem Krankenhaus entlassen worden. Wir müssen davon ausgehen, dass er direkt mit der Suche nach einem Nachfolger begonnen hat. In Anbetracht der Fähigkeiten, die Eumenides bislang an den Tag gelegt hat, muss er mindestens ein Jahrzehnt hart trainiert haben, was bedeutet, dass Yuan seinen Zögling kaum nach 1992 gefunden haben kann.«

Zeng klatschte sachte Beifall. »Bestechende Logik, Hauptmann. Aber es wird ein bisschen dauern, solch eine Zeitspanne abzugrasen. Sie wollen, dass ich mich durch fast ein Jahrzehnt an Daten wühle. Im Ernst, am Ende komme ich glatt ins Schwitzen.«

»Ich will Ergebnisse, Zeng, keine Ausflüchte. So, irgendwer noch Fragen?« Pei ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Als niemand reagierte, stand er auf. »Damit ist die Besprechung beendet. Sie haben Ihre Anweisungen.«

Yin erhob sich ebenfalls. »Hauptmann, was Han angeht …«

»Darüber wollte ich sowieso noch mit Ihnen sprechen«, sagte Pei mit einem Blick auf seine Uhr. »Um Punkt zehn werden wir ihn gemeinsam verhören.«

KAPITEL ZWEI

UNTERTÖNE

29. Oktober,08:30 UhrLongyu-Komplex

Im Hauptquartier der Longyu-Gesellschaft fand ein wichtiges Meeting statt. Alle zwölf Teilnehmer trugen Trauertracht, und ihre Mienen waren sogar noch verdrießlicher als ihre Kleidung.

Die Frau mittleren Alters, die den Sitz am Kopfende eingenommen hatte, hielt den Kopf gesenkt und wischte sich die Tränen ab. Ein kleiner Junge hatte sich eng an sie geschmiegt.

Sein Blick war erfüllt von Entsetzen und Verständnislosigkeit.

Deng Hua war tot, aber sein Geist schien übermächtig im Raum zu hängen.

Die ehemaligen Leibwächter des ermordeten Geschäftsmanns standen um die Witwe und ihren Sohn.

Ihr gegenüber saßen zwei Herren mittleren Alters. Der eine war übergewichtig, der andere hager. Der Übergewichtige gab sich Mühe, Dengs Witwe mit freundlichen Worten voller Optimismus zu trösten. Seine Wangen hatten so viel überschüssige Haut zu tragen, dass er aussah wie ein chronisch depressiver Dachshund.

Bald hörte die Frau zu weinen auf und sah den schweren Mann direkt an. »Das reicht, Lin. Ich habe gehört, was Sie zu sagen haben. Was auch passiert, irgendwann wird alles besser. Falls Sie irgendetwas Relevantes mitzuteilen haben, raus damit.«

Der hagere Mann, dessen Stimme so kalt wirkte wie seine Miene, schaltete sich ein. »Wenn Sie erlauben, Herr Lin. Durch den verfrühten Tod von Herrn Deng sind Sie nun im Besitz der Aktienmehrheit der Longyu-Gesellschaft. Wir haben aus einem sehr wichtigen Grund um diese Vorstandssitzung gebeten. Wir müssen über die möglichen Kandidaten für den Konzernvorsitz diskutieren.«

Die Frau schien überrascht. »Aber Herr Meng, geht das nicht … sehr schnell?«, murmelte sie.

Lin schüttelte seine Hängebacken und seufzte. »Wir haben Herrn Deng noch nicht einmal zu Grabe getragen. Ich gebe zu, es fühlt sich sehr unanständig an, dieses Thema jetzt schon anzuschneiden. Aber leider kann die Longyu-Gesellschaft auf keinen Fall weiterhin operieren, solange niemand den leeren Platz des Vorsitzenden einnimmt. Die Ausschreibung für das Songhua-Grundstück startet noch heute.«

»Wenn nur mein Mann noch hier wäre«, brachte die Witwe zwischen zwei Schluchzern heraus.

»Allerdings«, sagte Lin. »Wenn Herr Deng noch das Sa­gen hätte, stünde der Sieg unserer Firma von vorneherein fest. Eine solche Gelegenheit können wir uns unmöglich entgehen lassen. Aber ich fürchte, sofern nicht eine fähige Person auf der Stelle die Führung übernimmt, sieht es eher schlecht für uns aus.«

»Dann stimmen Sie zu, Herr Lin?« Meng richtete seinen Blick auf die Frau. »Madame Deng, gibt es noch etwas, das Sie in dieser Angelegenheit bemerken möchten?«

»Ich …« Sie wandte sich Hua zu, dem persönlichen Leibwächter ihres verblichenen Gemahls, und sah ihn flehentlich an. Hua starrte ausdruckslos ins Leere und sagte kein Wort.

Aller Optionen beraubt, rang sich die Frau ein Lächeln ab. »Ich bin keine Geschäftsperson. Ich habe lediglich eine geheiratet. Welche Hilfe könnte ich schon sein?«

»Nun gut.« Endlich gestattete Meng sich ein schmales Lächeln, das die straffe Haut um seine Mundwinkel kräuselte. Er nahm einen Aktenordner zur Hand und legte ihn in die Mitte des Tischs. »Wir haben bereits alle Dokumente vorbereitet, die zur Bestätigung eines neuen Firmenvorsitzenden nötig sind. Sobald alle Anteilseigner unterzeichnet haben, tritt die Änderung automatisch in Kraft.«

Sheng, der Leibwächter zur Linken von Frau Deng, bedachte den Mann mit einem finsteren Blick. »Mir machen Sie nichts vor, Meng. Sie alle haben sich offensichtlich zusammengetan, um dieses Dokument aufzusetzen. Unterzeichnen Sie das nicht, Madame!«

Meng verzog das Gesicht und starrte den Leibwächter an. Sheng leckte sich die Lippen und schien unter seinem Blick zurückzuweichen.

»Vergessen Sie Ihre Stellung in unserer Firma nicht, Sheng«, sagte Hua, der dienstälteste Leibwächter. »Glauben Sie, Sie hätten in der Sache etwas zu sagen?«

Wie ein gescholtener Hund ließ Sheng folgsam den Kopf hängen.

Lin sah Hua an und kicherte. »Nach all den Jahren an Dengs Seite bedeutet Ihnen die Firma sicherlich viel. Nur zu, machen Sie Ihren Gedanken Luft!«

»Das interessiert mich alles nicht«, sagte Hua leise. »Ich will nur diesen Mann finden.«

Stille.

»Was immer heute passiert«, fuhr er schließlich fort, »ich will nicht mit ansehen, wie sich die Longyu-Gesellschaft selbst zerfleischt. Jetzt ist nicht die Zeit für Ränke und Machtspielchen. Wenn wir in solch einer Situation nicht zusammenhalten können, verspreche ich Ihnen, dass die Firma nächstes Jahr zur selben Zeit nicht mehr existiert.«

Lin und Meng fröstelte unwillkürlich.

*

09:30 UhrHauptquartier der Kriminalpolizei

Yin stand vor der Tür von Hans Arrestzelle. »Holen Sie ihn raus«, rief er dem diensthabenden Beamten zu.

Der Kollege sperrte die dicke Eisentür auf und ging zu Han Haos Pritsche.

»Han …«

Aber noch ehe er ein Wort sagen konnte, sprang Han auf und kam mit todernster Miene zu Yin herüber.

Fast schien er Yin zum Verhörraum zu führen, nicht umgekehrt. Immerhin hatte er selbst zahllose Verbrecher auf diesem Weg begleitet. Sobald sie im Bürobereich angekommen waren, blieb er stehen und drehte sich zu Yin um.

»Mein Magen spielt verrückt. Ich muss erst mal kurz ins Bad.«

Yin musterte ihn kritisch. »Warum haben Sie nicht die Toilette in Ihrer Zelle benutzt?«

»Erwarten Sie im Ernst, dass ich mich wie ein gemeiner Verbrecher erleichtere? Ich bin für einen Tag genug gedemütigt worden, Yin.«

Han starrte ihn an, bis der junge Beamte schließlich nachgab.

Flankiert von einem dritten Kollegen begaben sie sich zu den Toiletten im ersten Gang links hinter der Lobby. Nachdem Han eine der Kabinen betreten hatte, löste der Beamte die rechte Handschelle und schloss sie um ein Leitungsrohr unter der Decke. Dann verließ er zusammen mit Yin die Toilette. Sie postierten sich vor der Tür.

Han kannte dieses Gebäude wie seine Westentasche. Natürlich war ihm bewusst, dass es über ihm in der Decke eine Öffnung von etwa achtzig mal achtzig Zentimetern gab, die zur Inspektion der Rohrleitungen in der Zwischendecke diente. Außerdem wusste er, dass man durch diese Öffnung direkt zum Abwasserkanal jenseits der Südwand des Hauptquartiers gelangen konnte.

Er klappte den Anhänger auf und zog hinter dem Foto seines Sohns einen dünnen Eisendraht hervor. Schon nach wenigen Sekunden hatte er sich der Handschelle entledigt.

*

Einige Minuten später

Yin klopfte an die Kabinentür. »Hauptmann? Hauptmann Han?«

Keine Antwort.

Er riss die Augen auf, warf sich auf den Boden und spähte unter der Tür hindurch. Da sah er – nichts, bis auf den Fuß der Toilette.

Er sprang auf und trat die Tür ein. Die Kabine war leer, nur die Handschellen baumelten vom Leitungsrohr und wiegten sich sanft im Luftzug.

Minuten später war auch Pei vor Ort. Er warf einen Blick in die Kabine und fuhr zu Yin herum, ein zorniges Funkeln in den Augen.

»Wie konnte er die Handschellen öffnen?«

»Ich … Ich weiß es nicht«, stammelte Yin.

»Hatte er irgendwas bei sich? Haben Sie ihn überhaupt durchsucht?«

»Nur eine Kette mit Anhänger«, sagte Yin. Er musste jedes einzelne Wort aus der tiefen Grube locken, zu der sein Magen geworden war. »Mit einem Foto von seinem Sohn.«

Pei schüttelte den Kopf und fluchte kaum hörbar. Er ging in die Hocke und hob unter der Tür der Nebenkabine hindurch etwas auf.

»Diese hier?« Er hielt Yin den Gegenstand vor die Nase. Es war ein kleines Foto von Hans lächelndem Sohn.

Yin erbleichte und nickte.

Statt ihn weiter zurechtzuweisen, fing Pei sofort an, Befehle zu erteilen. »Wir müssen so schnell wie möglich handeln. Alarmieren Sie sämtliche Haltestellen, Bahnhöfe und Häfen in einem Radius von zehn Kilometern und überwachen Sie seine Freunde und Angehörigen. Han hat weder Geld noch Telefon bei sich. Er kann nicht weit gekommen sein!«

Yin starrte ihn wortlos an.

»Yin!«, bellte Pei und schlug ihm auf die Schulter.

Der junge Beamte zuckte zusammen. »Ich, Sir?«, fragte er und nahm Haltung an.

»Wer denn sonst?«, fragte Pei ungläubig.

»Jawohl, Sir!«, schrie Yin mit schamrotem Kopf. Er salutierte zackig und marschierte davon.

*

14:26 Uhr

Als Mu zum Hauptquartier zurückkehrte, ging sie schnurstracks in Peis Büro, um Bericht zu erstatten.

»Der Geisteszustand des Mädchens hat sich bereits merklich stabilisiert«, erzählte sie ihrem Vorgesetzten. »Leider weist ihre Erinnerung an die Morde einige Lücken auf. Was nicht ungewöhnlich ist für jemanden, der ein derart nervenaufreibendes Erlebnis verarbeiten muss.«

Pei glaubte, leises Bedauern in ihrer Stimme zu hören. »Frei heraus, bitte«, sagte er. »Was haben Sie erfahren?«

Die Dozentin grinste humorlos. »Bei unserer Besprechung heute Morgen herrschte ein wenig Verwirrung dar­über, dass die junge Frau trotz Todesanzeige überlebt hat. Ich weiß jetzt, warum Eumenides sie verschont hat. Vor Verlassen des Hotels hat er zu ihr gesagt, dass sie in gewisser Hinsicht bereits gestorben sei.«

»Eine Metapher, nehme ich an?«

»Sie müssen sich klarmachen, was sie gerade mit angesehen hatte, Hauptmann. Ihre beiden engsten Freunde wurden vor ihren Augen abgeschlachtet. Ihr Lehrer hat sich selbst die Hand abgehackt, um sie zu retten. Aus Eumenides’ Sicht hat sie ihre gerechte Strafe durchaus bekommen. Nur eben auf alternative Weise.«

Pei wägte ihre Schlussfolgerung mit Bedacht ab. »Es klingt trotzdem nicht wirklich nach ihm«, sagte er schließlich.