18/4 - Die blinde Tochter - Zhou Haohui - E-Book

18/4 - Die blinde Tochter E-Book

Zhou Haohui

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Beschreibung

Er sorgt für blutige Gerechtigkeit. Er ist unaufhaltsam. Und er ist noch lange nicht fertig.

Deng Hua, der führende Gangsterboss von Chengdu, wird brutal ermordet. Sein Tod verändert die Machtverhältnisse in der Stadt, und ein Bandenkrieg um die neue Vorherrschaft entbrennt. Deng Huas Mörder ist kein geringerer als der berüchtigte Killer Eumenides, der nun im Gefängnis sitzt. Draußen spielt derweil die Polizei unter Führung von Hauptmann Pei Tao die verfeindeten Banden raffiniert gegeneinander aus. Als Eumenides aus dem Gefängnis ausbrechen kann, ändern sich die Spielregeln erneut. Nicht nur die Polizei und die Unterwelt von Chengdu wollen ihn zu Fall bringen, sondern auch eine junge blinde Frau, die den Tod ihres geliebten Vaters rächen will. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.

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Seitenzahl: 833

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Das Buch

Deng Hua, der führende Gangsterboss von Chengdu, wird brutal ermordet. Sein Tod verändert die Machtverhältnisse in der Stadt, und ein Bandenkrieg um die neue Vorherrschaft entbrennt. Deng Huas Mörder ist kein Geringerer als der berüchtigte Killer Eumenides, der nun im Gefängnis sitzt. Draußen spielt derweil die Polizei unter Führung von Hauptmann Pei Tao die verfeindeten Banden raffiniert gegeneinander aus. Als Eumenides aus dem Gefängnis ausbrechen kann, ändern sich die Spielregeln erneut. Nicht nur die Polizei und die Unterwelt von Chengdu wollen ihn zu Fall bringen, sondern auch eine junge blinde Frau, die den Tod ihres geliebten Vaters rächen will. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.

Der Autor

Zhou Haohui wurde 1977 geboren und lebt in Yangzhou in der Provinz Jiangsu. Seine 18 / 4-Trilogie ist die erfolgreichste chinesische Kriminalromanreihe aller Zeiten. Eine auf seinen Büchern basierende Webserie wurde mit über 2,4 Milliarden Aufrufen ihrerseits zu einer der erfolgreichsten chinesischen Online-Serien überhaupt.

Lieferbare Titel

978-3-453-43983-2 – 18 / 4 – Der Hauptmann und der Mörder

978-3-453-42552-1 – 18 / 4 – Der Pfad des Rächers

Zhou Haohui

18/4

DIE BLINDETOCHTER

Aus dem Englischen von Julian Haefs

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe SIWANGTONGZHIDAN: LIBIEQU erschien erstmals 2014 bei Beijing Times Chinese Press, Beijing.

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2014 by Zhou Haohui

German rights authorized by China Educational Publications Import & Export Corporation Ltd.

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO unter Verwendung von Shutterstock.com / matrioshka

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN: 978-3-641-28358-2V001

www.heyne.de

INHALTSVERZEICHNIS

PROLOG

KAPITELEINS

KAPITELZWEI

KAPITELDREI

KAPITELVIER

KAPITELFÜNF

KAPITELSECHS

KAPITELSIEBEN

KAPITELACHT

KAPITELNEUN

KAPITELZEHN

KAPITELELF

KAPITELZWÖLF

KAPITELDREIZEHN

KAPITELVIERZEHN

KAPITELFÜNFZEHN

EPILOG

PROLOG

Das Restaurant Grüner Frühling war für sein elegantes Ambiente und exzellentes Essen bekannt. Momentan rückte jedoch beides in den Hintergrund.

Das Mädchen ließ ihren Bogen sanft über die Saiten gleiten, und wie aus einem magischen Springbrunnen plätscherte die Melodie bis in den hintersten Winkel des Saals. Es war ein verträumter Rhythmus, durch den eine melancholische Unterströmung lief, wie durch das Herz der Interpretin.

Alle Gäste lauschten gebannt. Sie gaben sich Mühe, so leise wie möglich zu kauen, ihre Kiefer bewegten sich kaum. Derweil tanzten ihre Gedanken zwischen den schwebenden Noten umher, verloren im Dickicht aufkeimender Erinnerungen.

Es war pure Musik, eine wundersame Sprache, die jede Grenze zu überwinden vermag.

Die eine Person aber, die von dieser Sprache am meisten geliebt zu werden schien, war die Musikerin selbst. Zart biss sie sich auf die weiche Unterlippe, die Augen fest geschlossen, alle Sinne ganz auf die dünnen Saiten konzentriert.

Eine Elegie.

Dies war eine von Chopins feinsten Kompositionen, die sie in der Vergangenheit allerdings nur selten dargebracht hatte, aus Angst, das Klavierstück könnte bei der Transposition auf die Violine seinen Zauber verlieren.

Nun war ihr klar, dass sie sich geirrt hatte. Hatte man ein Musikstück wirklich verstanden, konnte einen die bloße Wahl eines anderen Instruments nicht daran hindern, dem Wesen des Stücks Ausdruck zu verleihen.

Als die letzte Note verklang, herrschte einen Moment lang vollkommene Stille, ehe der Applaus einsetzte – erst vereinzelt, dann stimmten mehr und mehr Gäste ein.

Das Klatschen wurde lauter, aber das Mädchen schien es gar nicht wahrzunehmen, saß nur reglos da, als sei sie in eine Trance verfallen oder warte auf etwas Bestimmtes.

In ihrer gegenwärtigen Stimmung konnte aller Applaus der Welt nicht mit dem schwachen Duft einer einzigen Lilie konkurrieren.

Bald schwoll der Applaus ab. Ein Kellner kam auf die Bühne, berührte das Mädchen sanft an der Schulter und flüsterte behutsam: »Gehen wir. Der Mann, auf den du wartest, ist heute nicht gekommen.«

Voll Verzweiflung riss das Mädchen die Augen auf. Ihre Pupillen waren groß und schwarz, aber gänzlich ohne Leben. Trotzdem hefteten sie sich an einen bestimmten Tisch im Restaurant, während Schmerz und Verwirrung in ihrer Miene miteinander rangen.

KAPITEL EINS:

GEFÄNGNIS

30. märz 2003randbezirke von chengdu

Langsam stiegen die Temperaturen wieder, die ersten Blumen blühten, gleißendes Sonnenlicht überspülte die Erde und hauchte allen Dingen neues Leben ein. Aber selbst unter einem wolkenlos blauen Himmel gibt es Orte, die die Sonne nicht erreichen kann.

Hier wurde das Sonnenlicht von einer hohen Mauer abgeblockt, einem kalten, abschreckenden Bauwerk aus Steinplatten, jede einen halben Meter breit. Über der Mauer schimmerte ein Elektrozaun, der die knospende Welle des Frühlings unerreichbar fernhielt, sodass der Innenbereich weiter kalt und isoliert dalag, als herrsche noch immer tiefster Winter.

Jenseits der Mauer lag die einsame Ebene außerhalb der Stadt. Endlos erstreckten sich Felder in alle Richtungen, nirgendwo ein Anzeichen menschlicher Besiedlung. Nur ein blau-weißer Polizeibus näherte sich auf der schmalen Straße zwischen den Feldern, um schließlich nahe der Südseite der Mauer zum Stehen zu kommen.

Ein bewaffneter Polizist sprang vom Beifahrersitz und ging auf die Mauer zu, einen Aktenordner unter den Arm geklemmt. Bald blieb er vor dem mächtigen Metalltor stehen, neben dem ein großes Schild in fetten schwarzen Lettern verkündete: Erstes Gefängnis Chengdu.

Der Beamte wurde durch eine Seitentür eingelassen. Rund zehn Minuten später öffnete sich langsam das Haupttor, und er marschierte hinaus. Als er wieder auf dem Beifahrersitz saß, sagte er: »Papierkram erledigt. Wir müssen zu Block Nummer 4, Hochsicherheitstrakt.«

Auf seinen Befehl hin lenkte der Fahrer den Bus durch das breite Tor, das sich dicht hinter ihnen mit dumpfem Aufprall schloss und abermals alles Sonnenlicht aussperrte.

Hinten im Bus befanden sich zwei weitere bewaffnete Polizisten, die acht Sträflinge bewachten. Sie alle hatten die Köpfe kahl geschoren und saßen mit Hand- und Fußfesseln in zwei Sitzreihen. Beim Klang des Tores hob ein junger Mann mit Brille plötzlich den Kopf und versuchte, durchs Fenster zu schauen.

»Was guckst du da? Kopf runter!«, bellte einer der Wächter. Hastig senkte der junge Mann den Blick, einen Ausdruck nackter Angst im Gesicht.

Hinter der großen Mauer erstreckten sich lange Gebäude. Der Fahrer schien die Route zu kennen, und der Bus schlängelte sich durch die Gassen, bis er zwischen einem bestellten Feld und einer Reihe flacher, fabrikähnlicher Bauten entlangrollte. Er parkte schließlich neben einem separat stehenden, kastenförmigen Turm – oder genauer, einer luftdichten Metallkiste. Das gesamte Gebäude war in mattem Grauweiß gehalten, ein erbarmungslos nichtssagender Würfel, dessen Fassade lediglich von einigen wenigen sehr kleinen Fenstern durchbrochen wurde, die allesamt mit dicken Eisengittern gesichert waren, sogar in den obersten Etagen.

Drei Wachmänner näherten sich dem Bus, während einer der Polizisten hinten im Fahrzeug Anweisungen gab. »Fesseln entfernen, Sachen aufheben, in einer Reihe aussteigen.«

Der Sprecher öffnete die Hecktür des Busses, sprang heraus und warf den Sträflingen einen Schlüsselbund vor die Füße. Folgsam schlossen sie nacheinander die Handschellen auf, nahmen ihre Taschen und schlurften in einer Reihe aus dem Wagen.

Unsicher beäugte der Junge mit der Brille das abschreckende Gebäude. Zwischen den wuchtigen Mithäftlingen wirkte er dürr wie ein Schilfrohr. Die bewaffneten Polizisten, die ihre Fracht erfolgreich abgeliefert hatten, entfernten sich mit dem Bus, die Gefängniswärter nahmen die Neuankömmlinge in ihre Obhut.

Der mittlere der drei Wachleute schien eindeutig der Anführer zu sein. Er sah aus wie Mitte dreißig, war nicht sonderlich groß, dafür aber athletisch gebaut, und erweckte einen insgesamt professionellen Eindruck. Seine Tigeraugen fielen sofort auf: Leuchtende Pupillen und nach oben gewölbte Augenwinkel verliehen ihm ein intelligentes, fast würdevolles Aussehen. Als er den Blick über die Neuen schweifen ließ, senkten sie allesamt die Köpfe. Nicht einer von ihnen traute sich, seinen Blick zu erwidern.

Genau diese Reaktion hatte er erzielen wollen. Er sagte nicht mehr als: »In einer Reihe folgen.«

Niemand wagte Unruhe zu stiften. Die acht Verurteilten folgten den Wachleuten in einer geraden Linie in das Gebäude. Der Eingang befand sich im Südosten des Kastens hinter einem weiteren Eisentor. Zweimal kurz hintereinander knickte der schmale Gang scharf ab, ehe sie das eigentliche Gebäude betraten, das sich unerwartet großzügig öffnete.

Vor ihnen lag eine weite Halle, so lang wie drei Basketballplätze hintereinander. Um diesen zentralen Bereich herum waren auf vier Stockwerken die Zellen angeordnet, mit komplett umlaufenden Gängen auf jeder Ebene. Das Tageslicht aus den wenigen kleinen Fenstern war so spärlich, dass selbst mitten am Tag die Neonröhren brannten.

Überall tauchten Gesichter an den Zelltüren auf, die neugierig zwischen den Eisengittern hindurchstarrten. Sie alle saßen hier schon seit Jahren ein, Frischfleisch war eine seltene Abwechslung. Sie johlten und pfiffen, und irgendwer brüllte »Links, rechts, links, rechts«, während die Neuen in die Halle marschiert kamen.

Der Junge mit der Brille wurde instinktiv langsamer, überwältigt von dieser gänzlich fremden Welt.

»Schnauze!«, bellte der oberste Wachmann. Sobald der Tumult ein wenig nachgelassen hatte, befahl er den Neuankömmlingen, sich in einer Reihe in der Mitte der Halle aufzustellen. »Taschen offen auf den Boden stellen, Oberbekleidung ablegen.«

Die Sträflinge taten wie geheißen, auch wenn der Junge mit der Brille sich seiner Jacke und Hose nur zögerlich entledigte.

»Was dauert das so lange? Weitermachen«, rief ein jüngerer Aufseher und fuchtelte drohend mit seinem Elektroschocker.

Aus dem dritten Stock rieselte höhnisches Gelächter herab. »Ha, der kleine Scheißer ist schüchtern.«

Der Junge mit der Brille wurde rot vor Scham. Er sah die Männer links und rechts von ihm an, die bereits in Unterhose dastanden, leckte sich nervös über die Lippen und zog sich schließlich das Hemd und die lange Unterhose aus. So stand auch er fast nackt da und erduldete die anzüglichen Blicke.

Auf der Suche nach Schmuggelware klopfte der junge Wachmann die Kleiderhaufen mit dem Elektroschocker ab. Währenddessen kommentierten die Häftlinge aus den oberen Stockwerken eifrig die Körper der Neuankömmlinge.

»Krass, der Kleine mit den vier Augen ist so blass. Fast wie ein Weib!«

»Jo, durchsucht den besser richtig gründlich, nicht, dass der am Ende ’ne Transe ist.«

Der Junge mit der Brille sank in sich zusammen und wünschte nichts sehnlicher, als sich wie ein Igel einrollen zu können.

Das Publikum grölte und höhnte und wandte sich dem nächsten Opfer zu.

»Guckt euch den da mal an, den Zweiten von rechts. Schöne Tattoos!«

»Der Adler ist ganz cool.«

»Am Arsch, cool. Der Kopf is zu klein, genau wie sein Pimmel. Wenn ich den in die Finger krieg, tätowier ich ihm ’nen Käfig auf den Schwanz. Das hat er dann davon.«

Objekt dieser Rede war ein großer, breitschultriger Kerl mit einem jener verquollenen Gesichter, die deutlich machten, dass ihre Besitzer schon immer Problemfälle gewesen waren. Er gehörte eindeutig nicht zu einem Menschenschlag, der eine solche Erniedrigung auf sich sitzen ließ. Auf der Stelle fuhr er in Richtung des Sprechers herum und brüllte: »Du bist tot, Wichser!«

Sein Gegner stieß ein herablassendes Lachen aus, ließ sich aber ansonsten zu keiner Antwort herab, auch weil einige Kollegen mäßigende Zischlaute von sich gaben. Der Tätowierte beschloss, diese Runde für sich entschieden zu haben, reckte stolz den Kopf und ließ den Blick durch die oberen Etagen schweifen.

Irgendetwas Seltsames ging vor sich. Die diversen Geräusche verstummten, bis Totenstille in der Halle herrschte. Mit plötzlicher, unbestimmbarer Furcht im Herzen ließ der Tätowierte den Kopf hängen. Der oberste Wächter starrte ihn grimmig an. Rasch senkte der Tätowierte den Blick, obwohl er es kaum ertrug, auf diese Weise klein beigeben zu müssen. Die Adern an seinem breiten Hals blieben angespannt.

»Keine Ahnung, wer ich bin, was?« Obwohl die Augen des Wächters auf dem Tätowierten ruhten, schien er alle Neuen gleichzeitig zu adressieren.

Einige schüttelten den Kopf, aber niemand sagte ein Wort.

»Ich heiße Zhang. Zhang Haifeng. Ich bin der Kommandant von Zellenblock 4, aber ihr dürft mich einfach Wächter Zhang nennen.«

Zhang Haifeng senkte den Kopf und fuhr mit den Fingern über seinen Elektroschocker. »Wo sind wir hier?«

Die Frage hätte kaum einfacher sein können, dennoch traute sich abermals niemand zu antworten.

Zhang machte ein paar Schritte nach vorn, bis er beinahe mit dem Tätowierten zusammenstieß. Er formte beide Hände zu einer Muschel um dessen rechtes Ohr und fragte abermals: »Wo sind wir hier?«

Zhang war so viel kleiner als der Tätowierte, dass er sich dafür auf die Zehenspitzen stellen musste. Der Tätowierte war trotzdem eingeschüchtert. Er trat nervös einen Schritt zurück und sagte: »Im Gefängnis.«

Ein seltsames Kichern drang aus Zhangs Kehle – unmöglich zu sagen, ob es Verärgerung oder Amüsement signalisieren sollte. Der Tätowierte verstand nicht, was vor sich ging, stimmte also folgsam mit einem zaghaften Lachen ein. Nur passierte etwas mit diesem Lachen, sowie es seinen Mund verließ, eine leichte tonale Änderung, die es in einen Schrei verwandelte, in ein fast besessenes Heulen.

Dieses seltsame Geräusch erschreckte die anderen Neuankömmlinge, allen voran den Jungen mit der Brille, der sichtlich mitgenommen war. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass Zhang Haifeng blitzschnell die Hand vorgestreckt hatte, sodass der Elektroschocker fest eingeklemmt unter der Achsel des Tätowierten saß. Er zuckte wie unter einem Schlaganfall, brach seitlich zusammen und krümmte sich wie eine Garnele auf dem Boden.

»Gefängnis? Du glaubst, das hier ist ein Gefängnis?« Zhang starrte ihn kalt an. »Kein Wunder, dass du dich so schlecht benimmst.«

Der Tätowierte rang nach Atem und brachte kein Wort heraus. Der Stromschlag hatte seine Muskeln gelähmt, selbst die Lunge war betroffen.

Zhang trat ihm in den Brustkorb und schrie. »Auf die Beine!«

Der Tätowierte wagte nicht, zu protestieren. Mit großer Mühe rappelte er sich auf, das Gesicht kreidebleich.

Zhang beachtete ihn nicht weiter, sondern fing an, vor der Reihe der Neuankömmlinge auf- und abzumarschieren. »Ich will euch verraten, wo wir sind. In Zellblock 4, dem Hochsicherheitstrakt! Die Tatsache, dass ihr hier seid, bedeutet, dass ihr allesamt Schwerverbrecher seid. Ich freue mich schon außerordentlich darauf, dass ihr Abschaum mir einen Grund gebt, euch die härtesten Strafen anzutun.«

Obwohl er nicht sehr laut sprach, lag große Kraft in seiner Stimme. Noch immer hielt er den Elektroschocker hocherhoben, von dessen Spitze ein leises Summen ausging. Jeder Sträfling, an dem er vorbeiging, erbleichte bei der Vorstellung, der Wächter könne die Hand ausstrecken und ihn in eine Welt voller Schmerzen stürzen.

Zhang blieb vor dem Jungen mit der Brille stehen und starrte ihn eine Weile wortlos an. Der Junge biss sich auf die Lippe und wagte kaum zu atmen. Seine offensichtliche Furcht schien Zhangs Laune zu bessern. Er schaltete den Elektroschocker aus und sprach ein wenig sanfter weiter. »Natürlich hat die Regierung euch nicht hierhergeschickt, damit ich euch bestrafe. Nein, meine Aufgabe ist, euch zu retten, euch dem Abgrund zu entreißen und einen neuen Weg zu zeigen. Ich will, dass ihr während eures Aufenthalts vor allem ein Wort immer im Kopf habt: Gehorsam! Ganz egal, was ich euch sage, ihr tut es. Und wenn ich euch sage, dass ihr etwas nicht tun sollt, zieht ihr brav den Schwanz ein. Verstanden?«

»Verstanden!«, riefen alle schnell im Chor, bis auf den Tätowierten, der sich noch immer von dem Schock erholte. Seine Lippen bebten, aber kein Laut kam heraus.

Zhang rümpfte die Nase und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Wie es aussieht, funktioniert sein Hirn noch nicht schnell genug. Wecken Sie ihn auf.« Ein anderer Wachmann trat heran und drückte dem Tätowierten seinen Elektroschocker in die Magengegend. Der Tätowierte heulte auf und klappte abermals zusammen.

Der Wächter beugte sich zu ihm herab und näherte sich dem zuckenden Leib mit dem Elektroschocker. Der Tätowierte versuchte vergeblich, sich seiner Berührung zu entziehen, und kreischte in einer seltsam unnatürlichen Stimme immer wieder: »Verstanden! Verstanden!«

Zhang Haifeng stand da, hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und sah zu, wie sich die markerschütternden Schreie in die Trommelfelle der Neuankömmlinge fraßen. Eine ganze halbe Minute verging, bis er dem Wachmann endlich Einhalt gebot.

Der Tätowierte lag mit grotesk verzogenen Mundwinkeln da und weinte, restlos gebrochen. Er wartete nicht auf die nächste Aufforderung, sondern kam unter Qualen auf die Beine und versuchte, sich wieder gerade in die Reihe zu stellen. Der Adler auf seinem Rücken war mit Dreck verschmiert und sah nun eher aus wie ein gewöhnlicher, schmuddeliger Spatz.

Zhang hingegen wirkte hochzufrieden. Er rief einen weiteren Untergebenen zu sich. »Na gut, bringen Sie sie in ihre Zellen.«

Die verstörten Neuankömmlinge zogen sich die Hemden über, rafften den Rest ihrer Klamotten zusammen, hoben ihre Taschen auf und folgten dem Wachmann in einer halb nackten Linie die Treppe hinauf. Als der Junge mit der Brille an Zhang Haifeng vorbeiging, rief dieser ihm plötzlich zu: »Wie heißt du?«

»Hang Wenzhi«, sagte der Junge mit der Brille und stand stramm.

»Hmmmh …« Zhang hielt kurz inne. »Ich weiß alles über dich – aber da du jetzt hier bist, musst du dich an unsere Regeln halten. Du bist jetzt ein Häftling unter vielen. Keinerlei Sonderrechte. Verstanden?«

»Verstanden«, murmelte Hang Wenzhi, aber eine Welle der Bitterkeit kroch über sein Herz.

»Gut.« Zhang entließ ihn mit einer Handbewegung. »Ab zu den anderen.«

Ihre Reihe schlurfte die Gänge entlang. Bei jedem Halt verschwand einer von ihnen in seiner Zelle, bis nur noch Hang Wenzhi übrig blieb. Sie gingen bis hinauf in den vierten Stock, wo die Wächter in der südöstlichen Ecke des Blocks stehen blieben. Einer von ihnen öffnete die schlichte Metalltür und nickte. »Rein da.«

Hang Wenzhi starrte die Nummer auf der Tür an – 424. In stummer Verzweiflung trat er ein. Die Zelle war so spärlich beleuchtet, dass sich seine Augen erst an das Dämmerlicht gewöhnen mussten.

Während sich die Tür hinter ihm schloss, rief einer der Wächter: »Der Kleine wirkt ziemlich zerbrechlich – macht’s ihm nicht zu schwer.«

»Keine Sorge, Wächter Zhou«, kicherte jemand. »Wir würden es nicht wagen, uns mit der Regierung anzulegen.«

Hang Wenzhi nahm die neue Umgebung in Augenschein. Die Zelle maß kaum mehr als zehn Quadratmeter. Links neben der Tür befand sich eine niedrige Toilette, die einen grauenvollen Gestank verbreitete, rechts stand ein Etagenbett aus grobem Metall. Das obere Bett war belegt, das untere frei. Hinten im Raum standen noch zwei weitere Doppelbetten.

»He, Brille, das ist deins«, sagte der Mann, der eben schon gesprochen hatte, und zeigte auf das leere Bett. Er fläzte sich auf der unteren Ebene des nächsten Etagenbetts. Ihm gegenüber saßen drei weitere Sträflinge.

Hang Wenzhi lächelte liebenswürdig und überschlug im Kopf die Lage: Drei Etagenbetten und sechs Leute. Voll belegt. Er stellte die Tasche ab, setzte sich auf sein Bett und zog sich die lange Unterhose wieder an.

»Fick dich, haben wir gesagt, dass du dich anziehen darfst?«, brüllte einer der drei Sträflinge vom hinteren Bett. Er sah sehr jung aus, vielleicht nicht einmal zwanzig. Trotz des zarten Alters war sein Gesicht zu einer aggressiven Fratze verzogen. Ein richtiger kleiner Ganove.

Hang Wenzhi erstarrte mit halb hochgezogener Hose und war unsicher, ob er weitermachen sollte oder nicht.

»Komm mal her«, sagte der erste Mann und winkte. Er hatte seine laszive Haltung nicht geändert – offensichtlich hatte er in dieser Zelle das Sagen.

Hang legte die Unterhose aufs Bett und ging halb nackt zu ihm. Der Mann musste um die vierzig sein, war klein und stämmig und hatte eine lange Messernarbe auf der linken Wange, die ihm ein wildes Aussehen verlieh.

Narbengesicht musterte Hang von Kopf bis Fuß, als wollte er ihn mit Blicken sezieren. Hang stand hilflos da und ließ den Kopf hängen.

»Bist du verfickt noch mal taub?« Ganove sprang plötzlich auf und schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. »Warum hast du Bruder Ping noch nicht begrüßt?«

Hang fuhr herum. Seine Augen blitzten zornig. Ganove starrte zurück. »Was? Willst du Ärger machen?«

»Ha, ganz schön streitlustig für so ein kleines Würmchen. Der hat wohl vergessen, wo er ist?«

Dies war der zweite Mann vom hinteren Bett – seiner Stimme nach zu urteilen derselbe, der vorhin den Tätowierten provoziert hatte. Hang begriff, dass er den Mund halten musste, schluckte also seinen Zorn herunter und sagte nur: »Hallo, Großer Bruder Ping.«

Bruder Ping antwortete mit einem Grunzen. Anschließend fragte er: »Wie heißt du?«

»Hang Wenzhi.«

»Wow, stilvoller Name für ’nen stilvollen Typen.« Wieder musterte Bruder Ping ihn kritisch. »Warum so unzivilisiert? Absolut kein Benehmen. Wenn du ein fremdes Haus betrittst, begrüßt du dann nicht den Hausherrn?«

»Doch, Großer Bruder Ping.« Hang nickte und drehte sich halb zu den drei Männern auf dem Bett gegenüber um. »Ich bin gerade erst angekommen und kannte die Regeln noch nicht. Ich hoffe, ihr alle könnt mir verzeihen.«

Bruder Ping deutete auf das Trio und stellte die Männer nacheinander vor. »Das da ist Blackie, das ist Ah Shan und das ist Shun.« Hang begrüßte auch sie der Reihe nach als »Großer Bruder«. Blackie und Ah Shan waren Mitte dreißig – Blackie groß und stattlich, Ah Shan ein wenig schmaler. Hang hatte kein Problem damit, die beiden als »Großer Bruder« anzureden, aber Shun der Ganove war quasi noch ein Teenager. Bei ihm blieben ihm die Worte fast im Hals stecken.

Der Mann im oberen Bett beim Eingang hatte sich immer noch nicht gerührt. Hang zögerte und wusste nicht recht, ob er ihn ebenfalls zu begrüßen hatte. Bruder Ping schien seine Gedanken zu erraten. »Der schläft, mach dir um ihn keinen Kopf.« Blackie schnaufte, als sei er auf den Schlafenden nicht gut zu sprechen.

»Oha, schon fast Zeit fürs Essen.« Bruder Ping schnüffelte demonstrativ und setzte sich aufrecht hin.

Nachdem er das gesagt hatte, konnten auch die anderen das schwache Aroma von gekochtem Reis ausmachen. Blackie rieb sich enthusiastisch die Hände. »Ich krieg doch heute ’ne Extraportion, oder?«

»Keine Sorge, ganz bestimmt«, sagte Ah Shan und lachte. »Der alte Zhang ist zwar ein mieser Schuft, aber sein Wort hält er. Nach der Aktion, die du heute gebracht hast, kriegst du bestimmt ein Stück Fleisch.«

»Der hat echt gesessen, Blackie«, sagte der kleine Shun. »Ein Gefängnistattoo für seinen Schwanz. Ich schmeiß mich immer noch weg.«

Blackie plusterte sich auf. »Es geht nicht nur um die Worte, man muss auch die Augen offen halten. Die Neulinge von heute sind dermaßen jämmerlich, mir war sofort klar, dass sich nur der tätowierte Kerl als Zielscheibe lohnt. Und siehe da? Jackpot.«

So langsam begriff Hang Wenzhi, was vor sich ging: Die Erniedrigung bei der Ankunft war von Zhang Haifeng angeleiert worden. Offensichtlich hatte die Aktion zum Ziel gehabt, den potenziell größten Unruhestifter unter den Neuen auszumachen und ihn als Warnung für die anderen auf der Stelle zu zermürben.

Da seine Mitbewohner jetzt in ein eifriges Gespräch vertieft waren, ging Hang vorsichtig zu seinem Bett zurück und zog sich rasch an. Plötzlich ertönte ein Rascheln von oben, und mit einer schattenhaften Bewegung stand eine Gestalt vor ihm – der Mann aus dem oberen Bett war heruntergesprungen. Hang kam hastig auf die Beine und hatte das Gefühl, ihn begrüßen zu müssen, kannte seinen Namen aber nicht.

»Neu hier?«, fragte der Mann. Er sah aus wie Mitte zwanzig, war knapp über eins achtzig, hatte eine markante Nase und große Augen. Mit seinen ebenmäßigen Gesichtszügen und der hohen Stirn gehörte er einer seltenen Spezies an: den schönen Galgenvögeln.

Hang nickte. »Ich bin Hang Wenzhi.«

Der gut aussehende Mann rekelte sich herzhaft. »Du Mingqiang.«

»In Ordnung, Großer Bruder Qiang …«

»Was soll die Nummer mit dem ›Großen Bruder‹ – findest du etwa, ich sehe so alt aus?«, unterbrach ihn Du und lachte. Er griff in sein Bett und zog ein Tablett hervor. »Der Essenswagen ist gleich hier, seid ihr noch nicht bereit?«

Bruder Ping grinste. »Du bist echt unmöglich. Ein gesegneter Appetit und keinerlei Schlafprobleme. Als wärst du nicht im Gefängnis, sondern im Pflegeheim.«

»Er ist im Jahr des Schweins geboren worden«, höhnte Blackie und grinste böse.

Du schüttelte den Kopf und lächelte. »Was ist verkehrt daran, ein Schwein zu sein? Wie viele Leute kennt ihr, die zufriedener als Schweine sind? Was sagst du dazu, Großer Bruder Zhi?«

Hang Wenzhi verkrampfte sich einen Moment, bis er begriff, dass es ein Scherz war, dann stimmte er in das Gelächter ein.

»Was ist so toll daran? Nur auf den Schlachter zu warten?«, fauchte Blackie.

Sein scharfer Unterton war eindeutig als Herausforderung zu verstehen. Du Mingqiang aber lächelte noch immer, als hätte er ihn nicht gehört, und spazierte in die abgetrennte Waschecke. Kurz darauf ertönte der sprudelnde Klang seiner Pisse im Wasser, begleitet von einem langen, lauten Seufzer. »Aah, viel besser.«

Blackie beschloss, das als persönliche Beleidigung zu werten. Mit hochrotem Kopf sprang er auf.

Bruder Ping starrte ihn an, bis er schließlich ebenfalls seufzte und sich mit finsterer Miene setzte.

In dem Moment erreichte der Essenswagen Zelle 424, geschoben von zwei alten Lebenslänglichen in Begleitung eines Wächters.

Der Wächter schloss die Tür auf, und Shun drückte sich mit mehreren Tabletts auf dem Arm an Hang Wenzhi vorbei. Bruder Ping, Ah Shan und Blackie rührten sich nicht. Wie es aussah, war Shun ihr Laufbursche.

Der Servierer ließ eine Portion Reis auf jedes Tablett klatschen, gefolgt von einer Kelle Gemüse. Shun rannte hin und her und überreichte die Portionen. Beim letzten Tablett sagte er mit Nachdruck: »Herr, das ist Blackies.«

»Schweinebraten in Chilikruste«, sagte der Wächter und sah Blackie an. »Mit freundlichen Grüßen von Kommandant Zhang.«

»Danke, lieber Herr! Danke, liebe Regierung!« Blackie vollführte einen kleinen Freudentanz, während Shun mit seinem Tablett zurückkam.

»Wow, das riecht ja köstlich!« Du streckte den Kopf aus der Klo-Nische, als zöge das Aroma an seiner Nase. Hastig machte er sich die Hose zu, das Tablett unter den Arm geklemmt.

»Das ist Schweinebraten, natürlich riecht das köstlich.« Ob er wollte oder nicht, Blackie redete schon wieder über Schweine. Er reichte sein Spezialtablett weiter. »Du zuerst, Bruder Ping.«

Bruder Ping tat nicht einmal so, als wollte er protestieren, sondern schaufelte sich die Hälfte des Fleischs auf sein Tablett. Dann winkte er huldvoll. »Der Rest ist für euch.«

Blackie, Ah Shan und Shun teilten sich die übrigen Stücke. Natürlich bekam Blackie den Löwenanteil. Shun war als Letzter dran und musste sich mit ein paar Fetzen begnügen.

»Wer hat noch nichts? Beeilung!«, brüllte der Wächter von draußen. Hang trat beiseite und sah Du an. »Bitte.«

Du lächelte. »Warum so höflich? Ist ja nicht so, als ob wir Fleisch bekämen.« Er gab sein Tablett ab, bekam seine Portion und setzte sich auf Hangs Bett. Dann war Hang an der Reihe. Auf sein Tablett klatschten eine Kelle grauer Reis und ein Klumpen Gemüse, der aus nichts als Kohl und Süßkartoffel-Nudeln bestand. Keine Spur von Fleisch.

Du hatte seine Portion nach wenigen Minuten verschlungen. Als er sah, dass Hang niedergeschlagen dasaß und sein Tablett anstarrte, als bereite es ihm großen Kummer, lehnte er sich rüber und fragte: »Was ist los? Kannst du das nicht essen?«

Hang seufzte. »Ich habe keinen Hunger.«

»So ist das, wenn man frisch hier ankommt. In ein paar Tagen hast du dich daran gewöhnt«, sagte Du mit der Stimme großer Erfahrung. Er hielt ihm sein Tablett hin. »Dann gib mir, was du nicht schaffst. Hat keinen Sinn, es schlecht werden zu lassen.«

Hang schob den Großteil seiner Portion auf Dus Tablett, der sich mit Eifer darüber hermachte. Du schien sich nichts daraus zu machen, dass Hang darin herumgestochert hatte, auch wirkte er überhaupt sehr entspannt. Nachdem er die zweite Portion vertilgt hatte, ging er abermals ins Bad, spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht und kletterte wieder in sein Bett.

»Hey, Brille!« Das war Shun. Die anderen waren fast fertig mit ihrer Mahlzeit.

Hang ging zu ihnen, und Shun deutete auf die leeren Tabletts. »Abwaschen.«

Hang biss sich auf die Zähne, schluckte seinen Zorn herunter, griff sich die Tabletts und ging stumm in die Nasszelle. Shuns gehässiges Gelächter begleitete ihn auf seinem Weg. »Haha, jetzt, wo der Kleine da ist, kann ich endlich auch die Beine hochlegen.«

Du hatte sein Tablett einfach im Waschbecken abgelegt, also wusch Hang auch dieses mit. Dann trocknete er es ab und legte es ins obere Bett, aber Du bekam davon nichts mit – er war bereits weggedöst und schnarchte leise.

Shuns Blicke folgten Hang überallhin, während er mit einem fiesen Grinsen zusah, wie der Neue die Pflichten erledigte, die bis jetzt seine gewesen waren. Irgendwann wandte er sich dem Bett gegenüber zu und fragte eifrig: »Bruder Ping – sollen wir anfangen?«

Bruder Ping beugte sich vor und gab ihm einen harten Klaps auf die Stirn. »Was soll die Eile? Ich verdaue noch.«

Shun rieb sich missmutig den Kopf. Bruder Ping rülpste. »Dreh dich zur Wand.«

Hang blinzelte verständnislos. Shun machte einen Satz durch den Raum und schlug ihn. »Bist du taub? Verstehst du die menschliche Sprache nicht? Setz dich aufs Bett, dreh dich zur Wand und denk über deine Sünden nach. Deine Verhandlung steht bevor.«

Hang murmelte etwas Unverständliches, zog sich die Schuhe aus und setzte sich aufs Bett. Shun erteilte ihm pausenlos genaue Anweisungen: Setz dich direkt vor die Wand, die Beine über Kreuz wie ein meditierender Mönch, Bauch einziehen, Brust raus, Kopf hoch, Augen geradeaus.

Nach zwei oder drei Stunden in dieser Position brannte sein ganzer Rücken. Aber trotz der Qualen wagte Hang nicht, sich zu entspannen. Bruder Ping und die anderen hatten unterdessen eine Partie Poker eröffnet. Als um etwa neun Uhr eine Glocke klingelte, legten sie endlich die Karten weg und gingen einer nach dem anderen in die Nasszelle, um zu pinkeln und sich notdürftig zu waschen. Ihren Gesprächen war zu entnehmen, dass demnächst Bettruhe anstand.

Zwanzig Minuten später gingen die Lichter aus. Die Zelle wurde jetzt nur noch von wässrigem Mondlicht erhellt, das durch ein schmales Fenster in zwei Metern Höhe fiel und den Raum in schemenhafte Umrisse hüllte.

»Alles klar, fangen wir mit der Verhandlung an«, durchschnitt Bruder Pings Stimme die Dunkelheit. »Schluss mit Rumsitzen, Brille. Steh auf und komm her.«

Hang erhob sich und humpelte zu den beiden hinteren Betten. Nach so langer Zeit im Schneidersitz konnte er seine Waden kaum noch spüren.

»Auf die Knie.« Shun deutete auf den Boden. Als Hang nicht sofort reagierte, trat ihm jemand von hinten in die rechte Kniekehle, sodass er stolperte und beinahe hingefallen wäre. Er drehte sich um und sah, dass es Ah Shan gewesen war, der schlanke Kerl, der die ganze Zeit derart unheilvoll dreinschaute, dass es einem bei seinem bloßen Anblick kalt den Rücken herablief.

Hang biss die Zähne zusammen und kniete sich hin. Gerade erst war etwas Leben in seine Beine zurückgekehrt, und sofort wallten neue Schmerzen auf.

Bruder Ping saß allein und breitbeinig auf seinem Bett. »Wie lange hast du gekriegt?«, fragte er fast beiläufig.

»Lebenslänglich«, antwortete Hang heiser, seine Stimme voller Wut und Verzweiflung.

»Beeindruckend!« Bruder Ping spitzte die Ohren. »Na los, was hast du angestellt?«

Diesmal schwieg Hang Wenzhi.

»Rede!«, fauchte Blackie und starrte ihn böse an.

Hang schüttelte den Kopf und sagte mit hörbarer Unsicherheit: »Ich habe nichts getan.«

»Blödsinn!« Blackies Bein zuckte vor und trat ihm in den Hintern. »Wenn du nichts getan hast, wie zur Hölle bist du dann hier gelandet?«

Hang stählte sich für einen weiteren Tritt, drehte sich dann aber um und schaute Blackie in die Augen. Der fühlte sich dadurch sogleich provoziert. Er trat vor und tippte Hang gegen die Nase. »Was? Willst du Stress?«

Hangs Blick glitt zur Seite, trotzdem weigerte er sich, klein beizugeben. »Im Ernst. Da war nichts. Man hat mir was angehängt.«

»Was angehängt?« Blackie schnaubte und sah sich um. »Bruder Ping, der sagt, man hat ihm was angehängt.«

Bruder Ping kicherte kalt. Die Messernarbe auf seiner Wange zitterte im Mondschein. »Dann sollten wir wohl mit denen reden und schauen, ob wir die Sache nicht richtigstellen können.«

»Großer Bruder Ping, deinem ergebenen Diener ist ebenfalls Unrecht widerfahren, Euer Ehren müssen mir mitteilen, was zu tun ist«, deklamierte Shun in hellem Tonfall, als wollte er eine Operette anstimmen. Blackie drohte ihm mit der Faust. »Du kleiner Bastard.«

»Schluss mit dem Quatsch«, sagte Ah Shan. »Wir wollen hören, was Bruder Ping zu sagen hat.« Sofort verstummten die beiden. Obwohl Ah Shan nur selten etwas sagte, schienen seine Worte einiges Gewicht zu besitzen.

Bruder Ping verschränkte die Stummelfinger und schien eine Denkpause einzulegen. »Wo du schon mal hier bist, warum dein Schicksal nicht einfach akzeptieren?«, fragte er dann. »Wen juckt’s, ob man dir was angehängt hat oder nicht? So was will doch keiner hören. Scheiße, du bist keine Minute da und jammerst schon, dass man dir übel mitgespielt hat. Was hast du vorher getan? Warst mutig genug, um die Tat zu begehen, willst die Strafe aber nicht hinnehmen? Ich frage dich noch einmal: Was hast du getan, dass sie dich hierhergebracht haben?«

Wenn Bruder Ping so sprach, hatte Hang nichts davon, sich dumm zu stellen. Er konnte nur versuchen, sie zu überzeugen. »Man hat mir wirklich was in die Schuhe geschoben. Eine Frau, um genau zu sein.«

»Fuck«, sagte Bruder Ping, plötzlich mit sanfterer Miene. »Eine Frau? Es war aber kein Blumenverbrechen, oder, Kleiner?«

»Blumenverbrechen« stand umgangssprachlich für Vergewaltigung, was selbst an diesem Ort als das schamloseste und schändlichste aller Verbrechen galt. Als er das hörte, sprang Blackie auf und trat Hang Wenzhi so hart, dass er zu Boden ging. »Er stottert und weigert sich, die Wahrheit zu sagen. Ich wette, es war ein Blumenverbrechen!«

»Nein, nein …«, stammelte Hang hastig.

»Bist du überhaupt ein Mensch?«, fragte Blackie, der sich immer mehr in Rage redete. Seine Füße schlossen innige Bekanntschaft mit Hangs Körper. Hang wand sich auf dem Boden und versuchte, sich so gut wie möglich zu schützen. »Nein … das ist keine Lüge. Ich habe nichts getan …« Bald mischten auch Shun und Ah Shan mit, und Hang war nicht mehr in der Lage, auch nur einen Ton herauszubringen.

Instinktiv rollte er sich zu einem Ball ein und schirmte seine empfindlichsten Stellen mit den Armen ab. Irgendein Bein durchbrach den Sperrgürtel seiner Arme, gerade als ihn ein schwerer Schlag am Hinterkopf traf. Wahnsinnig vor Schmerz warf er seinen Körper herum, hebelte das Bein vom Boden und warf dessen Besitzer aus dem Bett.

»Du wagst es, dich zu wehren?« Das war Shun. Er kämpfte verbissen, aber Hang packte auch sein anderes Bein und drückte ihn zu Boden.

»Du hast es so gewollt«, knurrte Bruder Ping. Er holte aus und versenkte seinen Fuß in Hangs Solarplexus. Hang krümmte sich, verkrampfte die Hände unter den Achseln und rührte sich nicht mehr.

Shun kroch herbei und verschaffte seinem Ärger mit weiteren Tritten Luft. Hang stöhnte leise, konnte sich aber nicht länger wehren.

»Der Kleine ist zäher, als er aussieht«, sagte Blackie und steuerte selbst noch einige Tritte bei. »Was jetzt, Bruder Ping?«

Bruder Ping lehnte sich auf dem Bett zurück und betrachtete Hang. »Da es wohl ein Blumenverbrechen war – waschen wir ihn rein.«

»Na los«, sagte Blackie. Ah Shan und Shun hatten keine Einwände. Zu dritt hoben sie Hang auf und trugen ihn zur Nasszelle.

Nach dem Tritt von Bruder Ping dauerte es lange, bis Hang wieder richtig atmen konnte. Als er endlich die Augen öffnete, hatte man ihn auf die kalten Kacheln im Bad geworfen. Blackie und Ah Shan hielten ihn fest, während Shun ihm die Hose aufknöpfte.

»Was soll das?«, schrie Hang entgeistert und warf sich verzweifelt herum. Shun packte ihn an der Taille und zog Hose und Unterhose gleichzeitig herunter.

Hang fühlte seinen Unterleib von kalter Luft umspült und begriff, dass sein Intimbereich entblößt war. Alles andere schien in den Hintergrund zu rücken, und er schrie aus Leibeskräften: »Ihr Schweine! Ihr Wichser!«

Vor der Nasszelle stand Bruder Ping und rümpfte die Nase. »Still, sonst kommen die Wächter.«

Ah Shan stopfte Hang einen dreckigen Lappen in den Mund. Die Flüche erstarben zu undeutlichem Röcheln.

»Du warst unartig! Heute werden wir dich reinwaschen, damit du einen Neuanfang starten kannst.« Während Shun sprach, schnappte er sich das Waschmittel vom Becken und schmierte Hang den Schritt ein. Das Brennen an seinem Penis versetzte ihn in derart wütendes Entsetzen, dass er die Beine wie Windmühlenflügel kreisen ließ. Shun war unvorbereitet und wurde zur Seite gefegt.

»Halt seine Beine fest«, rief Blackie Ah Shan zu, verhakte die Arme unter Hangs Achseln und riss seine Arme nach hinten. Als Hang kurz aufhörte, um sich zu treten, nutzte Ah Shan die Gelegenheit und umfasste seine Beine mit beiden Armen.

Ohne Zögern rannte Shun zum Waschbecken und suchte etwas.

»Nimm meine – die ist noch neu, die Borsten sind schön steif«, sagte Blackie und lachte bösartig.

»Perfekt«, sagte Shun. Als er sich umdrehte, hielt er eine Zahnbürste in der Hand, und Hang konnte sich ausmalen, was folgen würde. Von Grauen gepackt riss er die Augen auf und stieß einen gedämpften Schrei aus.

Shun kniete sich neben ihn, reckte die Zahnbürste in die Höhe und verkündete: »Drauf geschissen, wollen wir das verdorbene Fleisch von dem Kleinen mal richtig behandeln.« Mit der Linken goss er etwas Wasser über Hangs Genitalien, bis das Waschmittel schäumte, mit der Rechten schrubbte er grob mit der Zahnbürste.

Stechende Schmerzen fuhren ihm durch den Unterleib, gefolgt von einem derart intensiven Gefühl der Erniedrigung, dass er glaubte, den Verstand verlieren zu müssen. Mit aller Kraft biss er in den schmutzigen Lappen in seinem Mund, während ihm Tränen die Wangen hinabliefen.

Während Körper und Geist gleichzeitig gefoltert wurden, verlor er jedes Zeitgefühl. Er mochte ein ganzes Jahrhundert gelitten haben, als endlich eine Stimme von außerhalb der Nasszelle ertönte. »Hey, was ist das für ein Lärm?«

Shun hielt inne und sah sich um. Du Mingqiang stand verschlafen da, offenbar gerade erst aufgewacht.

»Geht dich nichts an. Scher dich raus«, knurrte Blackie und klang noch aggressiver als sonst, obwohl er so leise sprach.

»Wie kann mich das nichts angehen?«, protestierte Du stur. »Wir müssen alle früh aufstehen, um zu arbeiten, aber ihr haltet mich wach.«

»Dein Ernst, du blöder Wichser?« Da Du offenbar nicht von selbst gehen wollte, trat Blackie ein paar schnelle Schritte auf ihn zu und schubste ihn mit Nachdruck.

Du stolperte rückwärts und musste sich an der Wand festhalten, um nicht umzufallen. »He«, rief er, »du kannst Leute nicht einfach so angreifen.«

Blackie war scharf darauf, die Auseinandersetzung zu vertiefen, aber da rief Bruder Ping: »Okay, es reicht, Zeit fürs Bett.«

Blackie wagte nicht, sich ihm zu widersetzen. In diesem Moment erklang lautes Getöse aus der Waschecke, dann schob sich jemand an Blackie vorbei. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Hang sich befreit hatte und zur Zellentür lief.

»Halt ihn auf!« Bruder Ping war vom Bett aufgesprungen und brachte Blackie schlagartig zur Besinnung, aber es war zu spät. Hang stand bereits an der Tür, hatte sich des Lappens entledigt, klammerte sich an die Gitterstäbe, drückte den Kopf so weit wie möglich in den Gang hinaus und schrie aus voller Kehle: »Hilfe! Hilfe!«

Dem verzweifelten Schrei wohnte ein Schluchzen inne, ein geisterhaft klagendes Wimmern in der Nacht. Die Sträflinge ringsum, so schnell nach dem Einschlafen wieder aus den Betten geholt, fluchten und meckerten. Manche stimmten in Hangs Geschrei ein, und sehr bald herrschte völliges Chaos.

»Verdammt, komm zurück!« Blackie rannte zu ihm, legte Hang den Arm um den Hals und versuchte, ihn von der Tür wegzuziehen. Obwohl seine Stimme damit abgewürgt war, hielt Hang sich mit der Kraft einer Schraubzwinge an den Gitterstäben fest und ließ sich einfach nicht entfernen.

Shun und Ah Shan kamen aus der Waschecke gelaufen. Ah Shan sah sich um und sagte leise: »Lass ihn, schnell ins Bett!« Shun reagierte sofort und lief zu seiner Koje.

Blackie sah ein, dass er Hang so schnell nicht würde loseisen können, gab also auf und lief ebenfalls zu dem Bett, dass er sich mit Ah Shan teilte – Ah Shan oben, Blackie auf der weicheren Matratze unten.

Hang hatte jede Hemmung verloren und schrie immer noch, als ob sein Leben davon abhinge. Du Mingqiang schüttelte reumütig den Kopf und kletterte ebenfalls in sein Bett zurück. Im selben Augenblick gingen sämtliche Leuchtstoffröhren im Gebäude an. Sofort war es blendender Tag. Bruder Ping und die anderen setzten sich in ihren Betten auf und stellten für die Überwachungskamera über der Tür mustergültig unschuldige Verblüffung zur Schau.

Das Licht schien selbst Hang aus seiner Panik zu reißen. Er hörte zu schreien auf, stellte fest, dass er vom Bauchnabel abwärts noch immer splitternackt war, und zog sich die Hose hoch.

»Was ist los, Zelle 424?« Verwirrt blickte Hang auf, bis er begriff, dass neben der Lüftungsklappe ein Lautsprecher in die Wand eingelassen war, aus dem die Stimme des Wächters drang.

Die Gegensprechanlage befand sich neben Shuns Bett. Der sprang auf und sagte geistesgegenwärtig: »Herr, der neue Häftling ist mit der Regierung unzufrieden und will nicht geläutert werden. Er sagt, er sei unschuldig. Deshalb ruft er um Hilfe.«

»Nein … nein!« Aber Hangs Stimme war zu leise, und er stand zu weit vom Mikrofon entfernt.

Es kam keine Antwort, und die Gegensprechanlage war offenbar wieder abgeschaltet, obwohl die Lichter weiter brannten, was eine neue Protestwelle seitens der übrigen Häftlinge auslöste.

»Ruhe!«, ertönte die Stimme abermals, nur war der Wächter diesmal draußen im Gang, begleitet vom Scheppern seines Elektroschockers auf den Gitterstäben einer Zellentür – ein bedrohliches Geräusch, das die Häftlinge auf der Stelle verstummen ließ.

»Siehst du? Da sind sie«, sagte Shun gehässig zu Hang. Blackie zeigte mit dem Finger auf Du, der oben in seinem Bett lag, und sagte grimmig: »Und du sagst bloß nix Falsches.«

Du reagierte überhaupt nicht, als wäre er plötzlich taubstumm.

Die Schritte kamen näher, eilig und ungehalten. Kurz darauf tauchte das Gesicht des Nachtwächters vor der Tür zu Zelle 424 auf, begleitet von zwei stämmigen Kollegen, die sich hinter ihm aufstellten.

Dieser Wächter war nicht dabei gewesen, als die Neuankömmlinge am Nachmittag eingetroffen waren. Beim Anblick des unbekannten Gesichts lautete seine erste Frage an Hang Wenzhi: »Bist du gerade erst angekommen?«

Hang nickte eifrig, als hätte er soeben seinen Erlöser kennengelernt.

Der Wächter verzog das Gesicht. »Warst du das, der um Hilfe gebrüllt hat?«

»Ja!« Hang deutete hinter sich in die Zelle. »Die … die haben mich schikaniert.«

Sofort protestierten Blackie und die anderen lautstark. »Hey! Was soll das? Was haben wir dir getan?«

»Schnauze alle miteinander.« Der Wächter ließ seinen finsteren Blick durch die Zelle schweifen. Die Insassen verstummten. Schnell hatte er eine Lösung für das Dilemma ausgemacht und zeigte mit dem Elektroschocker auf Du Mingqiang, der mit dem ganzen Vorfall offenbar nichts zu tun gehabt hatte. »Du redest. Was ist passiert?«

Du rümpfte die Nase, als hätte man ihn gerade erst aus dem Schlaf gerissen. »Woher soll ich das wissen? Ich habe die ganze Zeit gepennt.«

Hang war entgeistert von seiner Antwort und rief: »Am Anfang ja, aber du hast doch genau gesehen, was dann passiert ist.«

»Okay, okay«, unterbrach ihn der Wächter, der an einer derart einseitigen Zeugenaussage eindeutig kein Interesse hatte. »Dann erzähl mal. Wie haben die dich schikaniert?« Er musterte Hang von Kopf bis Fuß, konnte aber keine sichtbaren Verletzungen erkennen.

»Sie … sie …« Der Vorfall war derart entsetzlich gewesen, dass Hang die Worte kaum herausbringen konnte.

Bruder Ping hielt dies für den richtigen Moment, um aufzustehen. »Wächter, Herr, unser Neuer hier war mit dem Schuldspruch der Regierung nicht zufrieden. Er hat immer wieder behauptet, ihm sei übel mitgespielt worden, und sich geweigert, schlafen zu gehen, auch als das Licht längst aus war. Blackie hat ein paar Sachen gesagt, um ihn einzuschüchtern, ihm aber kein Haar gekrümmt.«

Blackie stand ebenfalls auf. »Stimmt genau, Herr. Ich hätte ihm nicht drohen sollen, das sehe ich ein. Aber der Kerl hat hier mitten in der Nacht rumgeschrien und gezetert, die Regierung beleidigt und alle um den Schlaf gebracht. Das musste ich unterbinden.«

»Ach so?« Der kalte Blick des Wächters fiel wieder auf Hang Wenzhi. »Du glaubst, man hat dich zu Unrecht verurteilt?«

Hang biss sich auf die Lippe. Hier ging es um seine persönliche Integrität, daher konnte er nicht lügen. »Ja, ich bin zu Unrecht verurteilt worden. Jemand hatte es auf mich abgesehen.« Seine Stimme war heiser, aber er klang vollkommen von seiner Sache überzeugt.

Der Wächter stieß ein harsches Lachen aus. »Du findest also, die Regierung liegt falsch, die Gesetze liegen falsch?« Er zückte seinen Schlüsselbund, schloss die Tür auf, trat ein und baute sich vor Hang auf.

Hang spürte, wie bedrohlich die Lage war, und versuchte sich hastig zu erklären. »Es lag nicht an der Regierung, es war diese Frau …« Ehe er den Satz beenden konnte, breitete sich Taubheit in seinem Leib aus, und er fing unkontrolliert zu zucken an.

Der Elektroschocker des Wächters drückte sich in seinen Bauch und jagte Strom durch seinen Körper. Hang brach zusammen.

»Du hattest die Chance, ein anständiger Mensch zu sein, und hast dich stattdessen zu so etwas entschieden«, wütete der Wächter. »Glaubst du etwa, ich hätte noch nicht alles gesehen? Wir haben hier die bösesten, verdorbensten Sträflinge bei uns. Und du weigerst dich schon am ersten Tag, dich resozialisieren zu lassen. Willst du sterben?«

Hang lag schlaff und hilflos vor ihm auf dem Boden, sein Blick voller Verzweiflung. Trotzdem biss er sich entschlossen auf die Zähne und quetschte ein paar Worte hervor. »Verleumdung … man hat mich verleumdet!«

»Wenn dir das Urteil nicht gefallen hat, hättest du in Berufung gehen können. Was versprichst du dir davon, jetzt darauf zu beharren, wo du längst hier bist?«, grummelte der Wächter ungeduldig. Er hatte sichtlich keine Lust mehr, weiter mit dieser unvernünftigen Person zu diskutieren, und wandte sich stattdessen an Bruder Ping. »Behaltet ihn im Auge.«

»Keine Sorge.« Bruder Ping schlug sich vor die Brust. »Mein Versprechen an die Regierung: Keine Störungen mehr aus Zelle 424.«

Der Wächter nickte zufrieden. Mit einem letzten Blick auf Hang marschierte er aus der Zelle. Hang wuchtete sich aufrecht, eine verlorene Gestalt, wortlos erschöpft. Er wusste, dass nichts, was er noch sagen konnte, ihm irgendetwas nützen würde.

Die Tür wurde abgeschlossen, die Schritte der Wächter verhallten in der Ferne. Bald darauf gingen die Lichter aus. Der Zellblock lag wieder im Dunkeln. Hang Wenzhi stand stumm da und wünschte, die endlose Nacht würde ihn verschlucken. Nach langer Zeit erst setzte er sich auf sein Bett. Aus seiner Richtung ertönte leises Schluchzen.

Bruder Ping und die anderen waren längst wieder zufrieden eingeschlafen. Nur Du Mingqiang lag auf seinem oberen Bett und seufzte leise. Aber selbst er drehte sich schließlich um und schloss die Augen.

Die Zeit verging. Es mochte schon früh am nächsten Morgen sein, denn die Dunkelheit war vollkommen und kein Ton im ganzen Zellblock zu hören.

Shun wurde von seiner prallen Blase geweckt, die sich nicht ignorieren ließ. Widerstrebend kletterte er aus dem Bett und taumelte in die Waschecke.

Das fahle Mondlicht vom Fenster wurde durch die Zwischenwand aufgehalten, in der Waschecke war es stockfinster. Shun kannte den Raum wie seine Westentasche. Er gähnte gewaltig, schloss die Augen und tastete sich vorwärts.

Dann stolperte er – über etwas, das dort nicht sein sollte. Bei genauem Hinsehen konnte er gerade eben eine menschliche Gestalt ausmachen, die neben dem Klo lag. Sofort war er hellwach.

»Wer ist da? Warum liegst du da rum?«, fragte er unsicher.

Bruder Ping war wach geworden, als Shun aus dem Bett kletterte. »Was ist los?«, rief er.

»Hier liegt jemand auf dem Boden.« Shun tastete sich zurück in die Zelle, sah sich um und entdeckte das leere untere Bett gegenüber. »Ich glaube, das ist Brille.«

»He! Steh auf!« Shun ging zurück und trat die schlaffe Gestalt ein paar Male, aber sie rührte sich nicht. Das war nicht gut. Mit leiser Panik rief er: »Bruder Ping, komm mal her. Da stimmt was nicht!«

Auch Bruder Ping war jetzt endgültig wach. Mit mürrischem Murmeln machte er sich auf den Weg in die Waschecke. Die Gestalt, die dort neben dem stinkenden Loch auf dem Boden lag, sah wirklich aus wie der Neue. Da lag er, eine Hand im Klo versenkt, und rührte sich nicht.

Shun beugte sich vor und untersuchte den Körper genauer. Mit weit aufgerissenen Augen konnte er mühsam erkennen, dass eine dunkle Flüssigkeit an Hangs Handgelenk hinab in die Toilette lief.

Er streckte die Hand aus und berührte die Flüssigkeit. Sie war klebrig und roch nach … »Scheiße! Das ist Blut!«

»Wovor hast du solche Angst?«, fragte Bruder Ping, obwohl er sich schnell aus der Waschecke zurückzog. Shun folgte ihm und spürte, dass Unheil drohte.

»Was ist los, Bruder Ping?« Blackie hatte sich im Bett aufgesetzt und blinzelte verschlafen. Auch Ah Shan und Du Mingqiang regten sich in ihren Hochbetten.

»Scheiße, der ist tot!«, platzte Shun heraus. Blackie und Ah Shan starrten ihn an.

Bruder Ping bewahrte Ruhe und wischte den Gedanken beiseite. »Keine Panik, wir hatten nichts damit zu tun. Shun, schnell die Wächter alarmieren.«

Shun kletterte zurück ins Bett und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. Kurz darauf knisterte die Stimme des Wächters aus dem Lautsprecher. »Zelle 424 – was ist denn jetzt schon wieder los?«

»Herr, jemand ist gestorben! Der Neue, er ist tot!«, sagte Shun. Seine Stimme zitterte. Sobald er den Satz beendet hatte, gingen abermals alle Lichter im Gebäude an.

Bruder Ping und die anderen hatten sich wieder in ihre Betten verzogen, aber nun sprang Du Mingqiang zu Boden und rannte ins Bad. Einen Moment später ertönte seine Stimme. »Er ist nicht tot! Schnell, hilf mir mal jemand.«

»Nicht tot?« Shun atmete bebend aus und kehrte in die Waschecke zurück. Du hatte Hangs blutigen Arm bereits aus der Toilette entfernt und drückte sein Handgelenk zusammen. Hang hatte die Augen geschlossen und war kreidebleich. Er schien bewusstlos zu sein.

Sowie Du Shun sah, winkte er ihn zu sich. »Schnell, irgendein Stück Stoff.«

Shun klaubte einen Lappen vom Boden auf und warf ihn rüber – es war der, den sie Hang zuvor bei der Folter in den Mund gestopft hatten.

Du riss Streifen aus dem Lappen und verknotete sie fest oberhalb von Hangs Ellbogen, bis die Blutung aus dem tiefen Schnitt am Handgelenk nachließ.

Die Zellentür schepperte auf. Mit ein paar schnellen Schritten stand der Nachtwächter in der Waschecke.

»Was ist passiert?« Er hatte die Stirn derart stark gerunzelt, dass sie fast nur noch aus Falten bestand.

»Selbstmord. Er hat sich mit der Brille die Pulsader aufgeschnitten.« Du zeigte auf die zersplitterten, blutigen Gläser neben der Toilette. »Das Blut ist ins Klo geflossen, also wissen wir nicht, wie viel er verloren hat. Aber da ist noch ein Rest Farbe in seiner Haut. Ich glaube, er wird überleben.«

Der Wächter winkte seine Begleiter herein. »Bringen Sie ihn zum Sanitäter!« Die beiden liefen herbei und trugen Hang aus der Zelle.

»Halten Sie seine Arme über dem Kopf«, rief Du ihnen nach.

Der Wächter musterte ihn skeptisch. »Du hast Ahnung von Erster Hilfe?«

Du nickte. »Ein bisschen.«

»Dann komm mit und hilf.« Der Wächter starrte die anderen vier Insassen an. »Und ihr bleibt hier und benehmt euch. Erst mal keine Arbeit morgen früh, ihr werdet noch verhört.«

Mit diesen unheilvollen Worten rannte der Wächter hinter Du und seinen Kollegen her, um Hang Wenzhi das Leben zu retten. Die vier Insassen von Zelle 424 waren einmal mehr in ihrem kleinen Raum eingesperrt.

Als die Schritte verhallten, wischte sich Shun den Schweiß von der Stirn und sah sich nervös um. »Scheiße. Zum Glück ist er nicht verreckt. Wie hätten wir das erklären sollen?«

»Bist du bescheuert?«, fauchte Blackie. »Es wäre viel besser für uns, wenn er verrecken würde. Ist ja nicht so, als hätten wir damit was zu tun gehabt.«

Bruder Ping runzelte die Stirn. »Wir haben ein Problem. Wegen der Nummer wecken sie garantiert den Kommandanten. Und sobald Brille aufwacht und denen erzählt, was hier passiert ist, sind wir dran.«

Der Gedanke an den Elektroschocker des Kommandanten ließ Shun erzittern, aber er klammerte sich an den letzten Fetzen Hoffnung. »Brille wird’s doch nicht wagen, sich zu verplappern, oder? Der muss wissen, dass wir ihm sonst das Leben wirklich zur Hölle machen.«

Ah Shan schüttelte den Kopf. »Noch haben wir ihn nicht kleingekriegt. Ich fürchte, wir können das nicht unter den Teppich kehren.«

»Ach leck mich doch, wisst ihr was?«, sagte Blackie gereizt. »Meiner Meinung nach trägt dieser Du Mingqiang die Schuld. Wenn der sich nicht eingemischt hätte, hätten wir uns richtig um Brille gekümmert.«

Shun klatschte in die Hände. »Stimmt! Er hat unsere Verhandlung unterbrochen und Brille überhaupt erst die Gelegenheit gegeben, Krawall zu veranstalten. Dann wollte Brille sterben, aber Du war es, der ihn unbedingt retten musste. Wenn Brille bei Kommandant Zhang sitzt und alles ausplaudert, kommt Du als der große Saubermann aus der Sache raus und wird uns alles vermasseln.«

Ermutigt von der Zustimmung, legte Blackie nach und schlug gegen den Bettpfosten. »Wir sollten uns also um den Kerl gleich mit kümmern.«

Ah Shan räusperte sich. »Ja, wir müssen was unternehmen, sonst herrscht in dieser Zelle nie wieder Ruhe.« Während er sprach, sah er Bruder Ping an, um dessen Reaktion zu beurteilen.

Bruder Ping knackte mit den Fingerknöcheln, tat aber ansonsten keine Meinung kund.

»Ich habe den schon länger im Visier«, fauchte Blackie missgünstig. »Aber bis jetzt hat Bruder Ping mich immer zurückgepfiffen. Mehr als einmal.«

»Ihr habt beide nicht den Gesamtzusammenhang im Blick«, sagte Bruder Ping und seufzte leise. »Wir müssen uns vor dem Kerl in Acht nehmen.«

Blackie verdrehte die Augen. »Inwiefern in Acht nehmen? Der hat doch nur fünf Jahre gekriegt, wie schlimm kann er schon sein?«

Bruder Ping tippte ihm mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Das ist genau das Problem.«

Blackie verzog das Gesicht in Unverständnis. Ah Shan aber stöhnte auf, als hätte er plötzlich etwas Wichtiges begriffen.

»Ich muss dir wohl nicht erklären, was Zellblock 4 für ein Ort ist«, sagte Bruder Ping.

»Der Hochsicherheitstrakt. Ein Sammelbecken für die schlimmsten Verbrecher der Stadt.«

»Richtig. Und der Unterschied zwischen diesem Ort und anderen Gefängnissen?«

»Hier ist es schlimm …« Blackie grinste. »Zellblock 4 – schließ die Tür – Zhang ist richtig hart – unser Friedhof hat ein Bad – wir warten auf die Kugel.«

Dieses kleine Liedchen machte gerade in den städtischen Gefängnissen die Runde. »Zhang« war Zhang Haifeng, der ihren Trakt mit eiserner Faust regierte; »Friedhof« bezog sich auf die Zellen, in denen die Betten wie Grabsteine aufgereiht standen; und die »Kugel« wurde erwartet, weil die meisten der Insassen Wiederholungstäter waren, viele von ihnen zum Tode Verurteilte, denen nur noch das Erschießungskommando bevorstand.

»Zellblock 4 – schließ die Tür«, wiederholte Bruder Ping inbrünstig. »So ist es. Ich stecke jetzt seit zehn Jahren in diesem albtraumhaften Loch, und Du Mingqiang ist der Erste hier, der bloß fünf absitzen soll. Denk mal drüber nach: Hätten sie ihn überhaupt hergebracht, wenn er nicht trotzdem gefährlich wäre?«

Mit einem Ruck begriff Blackie, worauf er hinauswollte. Trotzdem weigerte er sich, klein beizugeben, sondern schnaubte bloß. »Dann ist er eben auch ein Schwerverbrecher – und wenn schon. Ich habe vor niemandem Angst! Verflucht, wenn der weiß, was gut für ihn ist, zeigt er uns künftig ein bisschen Respekt. Und wenn er irgendwelche krummen Dinger drehen will, mache ich ihn platt!«

Bruder Ping grinste ihn fröhlich an und nickte. »Genau das wollte ich damit sagen. Als er hier angekommen ist, hatte ich schon das Gefühl, dass er weiß, wo sein Platz ist. Wir haben ihm eine Verhandlung gegeben, und er hat getan, was wir ihm befohlen haben. Also habe ich ihn in Ruhe gelassen, und wir sind alle prima klargekommen. Aber jetzt hat er sich ein dickes Fettnäpfchen gesucht …« Seine Stimme wurde ernst; er drückte Daumen und Zeigefinger fest zusammen. »In dem Fall wollen wir doch bei seinem Spielchen mitmischen.«

Das Objekt ihrer Diskussion hatte indes keine Ahnung von den Plänen, die gegen ihn geschmiedet wurden. Du Mingqiang saß im Erdgeschoss im Büro des Sanitäters, wo der diensthabende Mediziner soeben Hang Wenzhis Wunde versorgt und empfohlen hatte, ihn zur weiteren Behandlung ins Gefängniskrankenhaus zu verlegen. Die Wächter sahen, dass die Sache keinen Aufschub duldete, und schickten ihn sofort mit einer Eskorte dorthin.

Das Gefängniskrankenhaus hatte kein Anmeldesystem; Patienten wurden behandelt, wann und wie sie eintrafen. Hang wurde in den zweiten Stock der Klinik gebracht, wo ihn ein Arzt mittleren Alters untersuchte und auf der Stelle alles für eine Bluttransfusion in die Wege leitete.

Nach einem Ausbruch kurzer, hektischer Aktivität wurde ein Blutbeutel an Hangs Venen angeschlossen. Schnell bekam er wieder ein wenig Farbe, atmete sogar ruhiger.

»Er kommt schon durch. Stellen Sie jemanden ab, der auf ihn aufpasst, und rufen Sie mich, sobald er wach wird.« Der Arzt reichte dem Wächter ein Beruhigungsmittel und verschwand, um sich um seine vielen anderen Aufgaben zu kümmern.

Der Wächter entspannte sich. Er stand mit den Kollegen im Türrahmen und rauchte, während Du Mingqiang an Hangs Seite blieb und ihn nicht aus den Augen ließ.

Wie der Arzt erwartet hatte, erholte Hang sich rasch. Tatsächlich schlug er schon die Augen auf, bevor der Wächter seine erste Zigarette beendet hatte. Erst schien er ins Leere zu starren, bis sich seine Augen langsam auf die Umgebung fokussierten.

»Ich … ich bin nicht tot?«, sagte er traurig und spuckte einen Mundvoll abgestandener Luft aus. Dünn wie ein Faden schwebte seine Stimme im Raum. Im gleichen Moment sah er Du Mingqiang neben seinem Bett sitzen.

Du lächelte wortlos, beugte sich zu ihm runter und flüsterte ihm ins Ohr: »An diesem Ort gibt es keine Freiheit, nicht einmal die Freiheit zu sterben.«

Hang schüttelte hilflos den Kopf, fand aber keine Antwort. Der Wächter bei der Tür hatte Dus Bewegung gesehen. Er drückte die halbe Zigarette am Türrahmen aus und schlenderte zum Bett. »Ist er wach?«

Du schien ihn nicht zu hören, sondern hielt seinen Mund an Hangs Ohr gedrückt. Plötzlich klang er sehr ernst. »Halt bloß den Rand. Kein Wort über letzte Nacht!«

Hang wollte das Herz in der Brust verdorren. Letzte Nacht? Die schlimmste Erniedrigung seines Lebens? Warum sollte er darüber nicht reden? In restloser Verwirrung starrte er den jungen Mann an.

Du konnte nicht mehr erklären, bevor der Wächter das Bett erreicht hatte und ihn unsanft beiseiteriss. »Was machst du da? Bist du taub?«

»Er ist gerade erst aufgewacht, also habe ich seinen Puls gemessen«, sagte Du und lächelte offenherzig.

»Am Arsch, Puls messen! Los, zur Seite!« Der Wächter schubste ihn grob aus dem Weg und beugte sich über das Bett, um Hangs Gesicht zu betrachten. Etwas sanfter fügte er hinzu: »Mach dir fürs Erste keine Gedanken, sondern erhol dich.«

»He, Kommandant Zhang!«, rief plötzlich einer der Kollegen von der Tür her, laut genug, um die Leute im Raum vorzuwarnen. Hastig drehte sich der Wächter um, als Zhang bereits mit schweren Schritten im Türrahmen erschien.

»Kommandant Zhang«, sagte der Wächter respektvoll. Du Mingqiang senkte den Blick und drückte die Arme an die Seiten, als wollte er im Sitzen strammstehen.

»Was ist passiert?« Mit finsterer Miene sah sich Zhang Haifeng im Zimmer um.

»Dieser Neuzugang war mit seiner Strafe unzufrieden und hatte wohl ein paar emotionale Probleme, also hat er sich mit seinen Brillengläsern das Handgelenk aufgeschlitzt. Zum Glück habe ich ihn rechtzeitig gefunden und war in der Lage, ihm das Leben zu retten«, sagte der Wächter und heimste damit nicht nur den Ruhm für die Rettungstat ein, sondern ließ praktischerweise auch all den vorausgegangenen Tumult aus.

Hang Wenzhi schnaubte leise. Sein Gesicht war von Empörung gezeichnet.

Was Zhang Haifeng nicht verborgen blieb. Er starrte den Wächter an. »Ich bezweifle, dass es so einfach war.« Damit trat er ans Bett und beugte sich seinerseits über Hang. »Sag du es mir. Was ist passiert?«

Hang Wenzhi erstarrte und antwortete nicht sofort, sondern warf Du Mingqiang einen Seitenblick zu. Du war ebenfalls wieder näher ans Bett gerückt, und sowie sich ihre Blicke trafen, schüttelte er kaum merklich den Kopf.

Zhang Haifeng fing zwar den Seitenblick auf, aber als er sich umsah, hatte Du wieder seine ernste Miene aufgesetzt, den Blick gesenkt und die Arme fest an die Seiten gedrückt.

»Ich hatte keine Hoffnung mehr. Ich bin unschuldig … mir wurde das alles nur angehängt …«, murmelte Hang schließlich vor sich hin, was genau mit der Darstellung des Wächters übereinstimmte.

Zhang Haifeng schwieg einen Moment, ehe er sich an Du wandte. »Du kommst mit ins Nebenzimmer, ich habe ein paar Fragen an dich.« Dann winkte er den Wächter fort. »Und Sie gehen zurück. Behalten Sie meinen Zellblock im Auge und sorgen Sie dafür, dass es keinen Ärger mehr gibt.«

Sobald der Wächter verschwunden war, ging Zhang ins Nebenzimmer, schnappte sich einen Stuhl und setzte sich. Sein schneidender Blick heftete sich an Du Mingqiang.

Du stand noch immer mit gesenktem Kopf da.

Zhang lächelte und sah aus, als wüsste er nicht recht, ob er belustigt oder wütend sein sollte. Er winkte Du. »Komm her. Stell dich vor mich.«

Folgsam kam Du näher und blieb einen Schritt vor Zhang stehen, der den Elektroschocker aus der Tasche an seinem Gürtel zog.

»Du bist jetzt seit etwa zwei Monaten bei uns?« Zhangs Stimme war so ausdruckslos, als redete er übers Wetter.

Du rührte sich nicht. »Ja.«