1984 - George Orwell - E-Book

1984 E-Book

George Orwell

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Beschreibung

«Orwell told the truth.» Christopher Hitchens

Winston Smith ist Mitarbeiter im Ministerium der Wahrheit. Der Held von «1984» macht zwei entscheidende Fehler: Er verliebt sich in seine Kollegin Julia, und er vertraut sich seinem Vorgesetzten an. Das ist im Weltreich Ozeanien eine Todsünde. Orwell, laut «Observer» der größte Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, gelang mit seiner beklemmenden Vision einer Staatsdiktatur, die kein Privatleben duldet, sondern die Gedanken und Gefühle der Bürger bis ins Letzte diktiert, ein Großklassiker der Moderne. - «1984» erscheint nun in einer Neuübersetzung von Gisbert Haefs mit einem exklusiven Nachwort von Mirko Bonné.

Totalitärer Überwachungsstaat, Entmündigung des Individuums, lückenlose Observation und Manipulation, Gehirnwäsche und Geschichtsfälschung - selten hat eine bei Erscheinen noch völlig absurd anmutende Dystopie die Zukunft der Menschheit so exakt und visionär vorhergesagt wie dieser Bestseller aus dem Jahre 1948. Im Lichte von «Social Scoring», wie es in China längst praktiziert wird, haben sich die schlimmsten Befürchtungen des Autors bewahrheitet.

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Seitenzahl: 544

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George Orwells Weltbestseller, hier neu übersetzt, ist Pflichtlektüre für jeden politisch denkenden Menschen. Er zeigt eine Welt totaler Überwachung, Manipulation und Indoktrination durch «alternative Fakten» – ein Menetekel unserer digital hochgerüsteten Gegenwart. Mit seiner beklemmenden Vision einer Staatsdiktatur, die Gedanken und Gefühle der Menschen bis ins Letzte steuert, gelang Orwell, laut «Observer» der größte Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, ein Großklassiker der Moderne. Ob Fake News, Hate Speech, digitales Profiling, Social Scoring oder Big Data – Parallelen zu unserer heutigen Welt drängen sich auf jeder Seite dieses hellsichtigen Buchs auf.

George Orwell (1903–1950) wurde in Motihari/Bengalen als Sohn eines britischen Kolonialbeamten geboren. Er besuchte Privatschulen in England, diente in der burmesischen Imperial Police, arbeitete als Lehrer und Buchhandelsgehilfe, kämpfte auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg und reüssierte als freier Schriftsteller und Journalist. Neben seinen Welterfolgen «Farm der Tiere» und «1984» ist er durch politische wie literarische Essays bekannt geworden.

«Mit ‹1984› hinterließ George Orwell der Nachwelt eine Vision, deren zeitlose Authentizität bis heute erstaunt und die im Gegensatz zu sämtlichen zuvor oder danach entstandenen Roman-Dystopien sogar immer brisanter wird.»

Mirko Bonné

«Orwell markiert einen Wendepunkt. Er ruft uns zur Frage auf, ob nicht der Triumph bestimmter geistiger Kräfte durch unverhohlenen Stolz und deren Maßlosigkeit zu einer Lage führen kann, die schlimmer als alles bislang Dagewesene ist. Er ist nicht der Erste, der diese Frage stellt, er ist jedoch der Erste, der sie auf einer so wahrhaft liberalen wie radikalen Grundlage und mit überwältigender Intensität und Leidenschaft stellt, ohne gleichzeitig den Wunsch nach einer gerechteren Gesellschaft ausschalten zu wollen.»

Lionel Trilling

«Wenn wir ihr je gestatten zu existieren, wird Orwells Welt von ‹1984› nicht lange existieren.»

Bertrand Russell

«Die thematische Fortsetzung der ‹Animal Farm›, nur mit ganz anderen Mitteln … ein unwiderruflicher Urteilsspruch über eine verlorene Menschheit.»

Eva Menasse

«Mein Held.»

Tom Stoppard

«Orwell sagte die Wahrheit.»

Christopher Hitchens

GEORGE ORWELL

1984

Aus dem Englischen übersetzt von Gisbert Haefs

Nachwort von Mirko Bonné

MANESSE

Teil 1

I

Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith drückte das Kinn auf die Brust, um dem beißenden Wind zu entgehen, und schlüpfte schnell durch die Glastüren der Victory Mansions, aber nicht schnell genug, um zu verhindern, dass ein Wirbel grobkörnigen Staubs mit ihm hineingelangte.

Im Hausflur roch es nach gekochtem Kohl und alten Fußmatten. An einem Ende hatte man ein buntes Plakat, für Innenräume eigentlich zu groß, an die Wand geheftet. Es zeigte nichts als ein riesiges Gesicht, über einen Meter breit: das Gesicht eines etwa fünfundvierzigjährigen Mannes mit dichtem schwarzem Schnurrbart und markigen, ansehnlichen Zügen. Winston ging zur Treppe. Es mit dem Aufzug zu versuchen war sinnlos. Selbst zu den besten Zeiten funktionierte er selten, und im Moment war der Strom tagsüber abgeschaltet. Das gehörte zu den Sparmaßnahmen in Vorbereitung der Hass-Woche. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, neununddreißig Jahre alt und mit einem Krampfadergeschwür über dem rechten Knöchel, ging langsam hinauf und legte mehrere Pausen ein. Auf jedem Absatz starrte gegenüber vom Aufzugsschacht das Plakat mit dem riesigen Gesicht von der Wand. Es war eines jener Bilder, die so angelegt sind, dass einem die Augen bei jeder Bewegung folgen. DERGROSSEBRUDERBEOBACHTETDICH, stand darunter.

In der Wohnung verlas eine sonore Stimme eine Reihe von Zahlen, die etwas mit der Produktion von Roheisen zu tun hatten. Die Stimme kam aus einer länglichen Metalltafel ähnlich einem matten Spiegel, die in die rechte Wand eingelassen war. Winston drehte einen Knopf, und die Stimme wurde etwas leiser, aber die Wörter waren immer noch zu verstehen. Das Gerät (Teleschirm genannt) ließ sich leiser stellen, aber nicht völlig abschalten. Er ging zum Fenster: eine schmächtige, zerbrechliche Gestalt, und der blaue Overall, Uniform der Partei, betonte die Magerkeit seines Körpers nur noch mehr. Sein Haar war sehr hell, sein Gesicht von Natur aus rötlich, die Haut rau von grober Seife, stumpfen Rasierklingen und der Kälte des eben vergangenen Winters.

Selbst durch das geschlossene Fenster wirkte die Außenwelt kalt. Unten auf der Straße wirbelten kleine Windstrudel Spiralen aus Staub und Papierfetzen auf, und trotz des Sonnenscheins und des grellblauen Himmels schien es keinerlei Farben zu geben außer auf den überall angebrachten Plakaten. Das Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart blickte unübersehbar von jeder Ecke. Eines hing an der Fassade genau gegenüber. DER GROSSE BRUDER BEOBACHTET DICH, sagte die Unterzeile, und die dunklen Augen blickten tief in die von Winston. Unten auf Straßenhöhe flappte die losgerissene Ecke eines anderen Plakats stoßweise im Wind, wobei das Wort ENGSOZ abwechselnd bedeckt und enthüllt wurde. In einiger Entfernung kreiste ein Helikopter zwischen den Dächern, schwebte einen Moment lang wie eine Schmeißfliege und flog dann in einem Bogen wieder weg. Es war die Polizeipatrouille, die den Leuten in die Fenster schaute. Die Patrouillen waren jedoch nicht wichtig. Wichtig war allein die Gedankenpolizei.

Hinter Winstons Rücken plapperte die Stimme vom Teleschirm weiter über Roheisen und die Übererfüllung des Neunten Dreijahresplans. Der Teleschirm empfing und sendete gleichzeitig. Der Schirm würde jedes über ein ganz leises Flüstern hinausgehende Geräusch, das Winston machte, auffangen; außerdem war er ebenso zu sehen wie zu hören, solange er im Sichtfeld der Metalltafel blieb. Natürlich konnte man nicht wissen, ob man in einem bestimmten Moment beobachtet wurde. Wie oft oder nach welchem System sich die Gedankenpolizei bei den einzelnen Schirmen einschaltete, ließ sich nur raten. Es war sogar denkbar, dass sie unausgesetzt jeden beobachteten. Jedenfalls konnten sie sich zuschalten, wann immer sie wollten. Man hatte mit der Annahme zu leben – und tat dies aus Gewohnheit, die zum Instinkt wurde –, dass jedes Geräusch, das man machte, abgehört und außer im Dunkeln jede Bewegung überwacht wurde.

Winston wandte dem Teleschirm weiter den Rücken zu. Das war sicherer; allerdings kann, wie er nur zu gut wusste, auch ein Rücken etwas verraten. Einen Kilometer entfernt ragte sein Arbeitsplatz, das Ministerium der Wahrheit, riesig und weiß über der schmutzigen Landschaft auf. Dies, so dachte er mit einer Art von vagem Abscheu – dies war London, die größte Stadt von Flugfeld Eins, der Einwohnerzahl nach drittgrößte Provinz von Ozeanien. Er versuchte, irgendeine Kindheitserinnerung hervorzukramen, die ihm sagen sollte, ob London schon immer so gewesen war. Hatte es immer dieses Panorama verfallender Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert gegeben, die Seiten mit Balken gestützt, die Fenster mit Pappe und die Dächer mit Wellblech geflickt, die schiefen Gartenmauern überall abgesackt? Und die zerbombten Brachen, wo Mörtelstaub in der Luft herumwirbelte und hier und da Weiderich über die Schutthügel kroch; und die Stellen, wo die Bomben größere Flächen eingeebnet hatten und Kolonien trostloser Holzbauten wie Hühnerställe entstanden waren? Aber es hatte keinen Sinn; er konnte sich nicht erinnern: Nichts blieb von seiner Kindheit außer einer Reihe greller Bilder ohne jeden Hintergrund und meistens nicht zu deuten.

Das Ministerium der Wahrheit – Miniwahr auf Neusprech* – war verblüffend anders als jedes andere Objekt in Sichtweite. Es war eine gewaltige Pyramidenkonstruktion aus glänzend weißem Beton und stieg Terrasse um Terrasse dreihundert Meter empor. Von dort, wo Winston stand, konnte man so gerade noch die drei Slogans der Partei lesen, die sich in eleganten Lettern von der weißen Fassade abhoben:

KRIEG IST FRIEDE

FREIHEIT IST KNECHTSCHAFT

UNWISSEN IST STÄRKE

Das Ministerium der Wahrheit bestand, wie es hieß, aus dreitausend oberirdischen Räumen und entsprechenden Verzweigungen unter der Erde. In ganz London gab es nur drei weitere Gebäude ähnlicher Art und Größe. Sie beherrschten die umgebende Architektur so vollständig, dass man vom Dach der Victory Mansions aus alle vier gleichzeitig sehen konnte. Sie waren die Sitze der vier Ministerien, auf die der gesamte Regierungsapparat aufgeteilt war: das Ministerium der Wahrheit, das sich mit Nachrichten, Unterhaltung, Bildung und Kultur befasste; das Ministerium des Friedens, zuständig für Krieg; das Ministerium der Liebe, das Recht und Ordnung hütete; und das Ministerium der Fülle, verantwortlich für wirtschaftliche Belange. Auf Neusprech lauteten ihre Namen Miniwahr, Minifried, Minilieb und Minifüll.

Schrecken flößte vor allem das Ministerium der Liebe ein. Es hatte überhaupt keine Fenster. Winston war nie im Ministerium der Liebe gewesen, nicht einmal auf einen halben Kilometer herangekommen. Außer in offiziellen Angelegenheiten war es unmöglich, dort hineinzugelangen, und auch dann nur, indem man ein Labyrinth aus Stacheldrahtverhauen, Stahltüren und Maschinengewehrnestern durchquerte. Sogar durch die zu den äußeren Schanzen führenden Straßen patrouillierten Wachen mit Gorillagesichtern; sie trugen schwarze Uniformen und waren mit mehrgliedrigen Schlagstöcken bewaffnet.

Winston drehte sich abrupt um. Er hatte eine Miene von ruhigem Optimismus aufgesetzt, die im Bereich des Teleschirms zu zeigen ratsam war. Er ging durchs Zimmer zur kleinen Küche. Zu dieser Tageszeit aus dem Ministerium fortzugehen hieß, auf das Essen in der Kantine zu verzichten, und er wusste, dass in der Küche nichts Essbares war außer einem Stück Schwarzbrot, das es für das morgige Frühstück aufzuheben galt. Er holte eine Flasche mit farbloser Flüssigkeit aus dem Regal; auf dem schlichten weißen Etikett stand VICTORY GIN. Der sonderte einen üblen öligen Geruch ab, ähnlich chinesischem Reisschnaps. Winston goss eine Teetasse fast voll, wappnete sich gegen den Schock und kippte alles hinunter wie eine Dosis Medizin.

Sein Gesicht wurde sofort dunkelrot, und das Wasser schoss ihm aus den Augen. Das Zeug schmeckte wie Salpetersäure, und außerdem hatte man beim Schlucken das Gefühl, eins mit dem Gummiknüppel auf den Hinterkopf zu bekommen. Im nächsten Moment ließ jedoch das Brennen im Magen nach, und die Welt begann fröhlicher auszusehen. Aus einem zerknüllten Päckchen mit der Aufschrift VICTORY CIGARETTES zog er eine Zigarette und hielt sie unvorsichtigerweise senkrecht, woraufhin der Tabak zu Boden rieselte. Mit der nächsten hatte er mehr Glück. Er ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich an einen kleinen Tisch links vom Teleschirm. Aus der Schublade nahm er einen Federhalter, ein Fläschchen Tinte und ein dickes Quartheft mit rotem Rücken und marmoriertem Einband.

Aus irgendeinem Grund war der Teleschirm im Wohnzimmer an einer ungewöhnlichen Stelle angebracht. Statt wie üblich an der Kopfseite, von wo aus er den ganzen Raum beherrscht hätte, war er in die Längswand eingelassen, dem Fenster gegenüber. Auf einer Seite gab es einen kleinen Alkoven, in dem Winston jetzt saß; als die Wohnungen gebaut wurden, hatte er wohl ein Bücherregal aufnehmen sollen. Wenn er im Alkoven saß und sich zurücklehnte, konnte Winston außerhalb der Reichweite des Teleschirms bleiben, was die Sicht anlangte. Natürlich konnte man ihn hören, aber solange er in dieser Position verharrte, war er nicht zu sehen. Zum Teil hatte ihn die ungewöhnliche Ausgestaltung des Raums zu dem angeregt, was er nun tun wollte.

Angeregt worden war er aber auch von dem Buch, das er gerade aus der Schublade geholt hatte. Es war ein besonders schönes Buch. Solch glattes, cremefarbenes Papier, mit der Zeit ein wenig vergilbt, wurde seit mindestens vierzig Jahren nicht mehr hergestellt. Er konnte sich aber denken, dass das Buch weit älter war. Er hatte es im Schaufenster eines kleinen unaufgeräumten Trödelladens gesehen, in einem heruntergekommenen Stadtteil (welches Viertel es genau gewesen war, wusste er nicht mehr), und ihn hatte sofort ein überwältigendes Verlangen gepackt, es zu besitzen. Mitglieder der Partei sollten eigentlich nicht in gewöhnliche Läden gehen («Geschäfte auf dem freien Markt machen», nannte man das), aber die Regel wurde nicht strikt eingehalten, da manche Dinge wie Schnürsenkel und Rasierklingen gar nicht anders zu beschaffen waren. Er hatte sich auf der Straße rasch umgeblickt, war dann in den Laden geschlüpft und hatte das Buch für zwei Dollar fünfzig gekauft. Damals hatte er es nicht zu einem bestimmten Zweck haben wollen. Schuldbewusst hatte er es in seiner Aktentasche heimgetragen. Auch wenn nichts darin geschrieben stand, war es ein kompromittierender Besitz.

Nun war er im Begriff, ein Tagebuch anzufangen. Das war nicht illegal (nichts war illegal, da es keine Gesetze mehr gab), aber im Fall der Entdeckung war es ziemlich sicher, dass man dafür mit dem Tod oder wenigstens fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager bestraft würde. Winston steckte eine Schreibfeder in den Halter und lutschte daran, um das Fett zu entfernen. Die Feder war ein archaisches Instrument, sogar zum Signieren nur noch selten verwendet, und er hatte sich heimlich und mit einigen Schwierigkeiten eine beschafft, nur aus dem Gefühl heraus, dass dieses wunderbar cremefarbene Papier es verdiente, mit einer richtigen Feder beschrieben statt mit einem Tintenstift zerkratzt zu werden. Eigentlich war er es nicht gewohnt, mit der Hand zu schreiben. Abgesehen von ganz kurzen Notizen diktierte man üblicherweise alles in den Sprechschreiber, aber das war für seine jetzigen Absichten natürlich unmöglich. Er tauchte die Feder in die Tinte und zögerte dann einen Moment. Ein Schauer hatte seinen Leib durchrieselt. Etwas zu Papier zu bringen war der entscheidende Schritt. Mit kleinen, ungelenken Buchstaben schrieb er:

4. April 1984.

Er lehnte sich zurück. Ein Gefühl völliger Hilflosigkeit hatte ihn erfasst. Zunächst einmal war er gar nicht sicher, dass es wirklich 1984 war. Die Zahl musste ungefähr stimmen, denn er war ziemlich sicher, dass er neununddreißig war, und er glaubte, 1944 oder 1945 geboren zu sein; heutzutage war es jedoch unmöglich, ein Datum auf ein oder zwei Jahre genau festzulegen.

Für wen, fragte er sich plötzlich unwillkürlich, schrieb er denn dieses Tagebuch? Für die Zukunft, für die Ungeborenen. Seine Gedanken kreisten einen Moment um das zweifelhafte Datum auf dem Blatt und stießen sich dann mit einem fühlbaren Aufprall an dem Neusprech-Wort Doppeldenk. Zum ersten Mal wurde ihm die Ungeheuerlichkeit dessen bewusst, was er da tun wollte. Wie konnte man denn mit der Zukunft kommunizieren? Das war aufgrund ihres Wesens unmöglich. Entweder würde die Zukunft der Gegenwart ähneln, dann würde sie nicht auf ihn hören; oder sie wäre anders als die Gegenwart, dann wäre sein Problem bedeutungslos.

Einige Zeit saß er da und starrte blöde auf das Papier. Vom Teleschirm kam jetzt schneidige Marschmusik. Seltsam; offenbar hatte er nicht nur die Fähigkeit verloren, sich auszudrücken, sondern auch vergessen, was er ursprünglich hatte sagen wollen. Seit Wochen hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet, und es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass dafür noch etwas außer Mut nötig sein könnte. Das eigentliche Schreiben wäre einfach. Er brauchte doch nur den unendlichen unruhigen Monolog, der seit Jahren in seinem Kopf ablief, zu Papier zu bringen. In diesem Moment aber war sogar der Monolog erstorben. Außerdem hatte sein Krampfadergeschwür unerträglich zu jucken begonnen. Er wagte nicht, sich zu kratzen, weil es sich dann immer entzündete. Die Sekunden tickten dahin. Ihm war nichts bewusst außer der Weiße des Papiers, dem Jucken der Haut über seinem Fußknöchel, dem Geschmetter der Musik und einer leichten Benommenheit von dem Gin.

Plötzlich begann er in schierer Panik zu schreiben und nahm nur unvollkommen wahr, was er da niederschrieb. Seine kleine, kindliche Handschrift streunte aufwärts und abwärts über die Seite, gab zuerst die großen Anfangsbuchstaben und schließlich sogar die Satzzeichen auf.

4. April1984.GesternAbendimKino.LauterKriegsfilme.EinsehrguterübereinSchiffvollerFlüchtlinge,irgendwoimMittelmeerbombardiert.PublikumsehramüsiertüberAufnahmenvoneinemgroßendickenfettenmannderwegzuschwimmenversuchtverfolgtvoneinemhelikopter.zuerstsahmanihndurchswasserschnellenwieeinendelfin,dannsahmanihnimfadenkreuzdeshelikopters,dannwarervollerlöcherunddieseeringsumwurderosaunderversanksoplötzlichalswärewasserdurchdielöchereingedrungen.publikumgröltevorlachenalserunterging.dannsahmaneinrettungsbootvollerkindermiteinemdarüberschwebendenhelikopter.einemittelaltefraukönntejüdingewesenseinsaßimbugmiteinemkleinenjungenumdiedreiindenarmen,derkleinehatvorangstgeschrienunddenkopfzwischenihrenbrüstenverborgenalsobersichinsiereinwühlenwollteunddiefrauhattediearmeumihngelegtundihngetröstetobwohlsieselbstvorangstganzblauwar.dieganzezeithatsieihnsoweitwiemöglichverdecktalsobsiemeinteihrearmekönntenihnvordenkugelnschützen.dannwarfderhelikoptereine20-kilo-bombemittenzwischensieabfurchtbarerblitzunddasganzebootwarnurnochkleinholz.danngabeseinewunderbareaufnahmevoneinemkinderarmderhochhochhochflogindielufteinhelikoptermitkameravornmussihmindiehöhegefolgtseinundvondenparteisitzengabesvielbeifallabereinefrauuntenimproloteildeshauseshatplötzlichangefangenradauzumachenundgeschriensiehättendasnichtvordenkindernzeigensollenneehättensienichtistnichtinordnungnichtvordenkindernneebisdiepolizeisiehinausgebrachthatichnehmenichtandassihrirgendwaspassiertistniemandkümmertsichumdaswasdieprolossagentypischeprolo-reaktiondiemachendochnie …

Winston hörte auf zu schreiben, auch weil er einen Schreibkrampf bekam. Er wusste nicht, was ihn dazu gebracht hatte, diesen Strom von Unfug abzulassen. Seltsamerweise hatte sich jedoch, während er dies tat, eine ganz andere Erinnerung in seinem Kopf kristallisiert, so klar, dass er sich fast fähig fühlte, sie niederzuschreiben. Nun wurde ihm bewusst, dass er wegen dieses anderen Vorfalls plötzlich beschlossen hatte, heimzugehen und heute mit dem Tagebuch zu beginnen.

Es hatte sich an diesem Morgen im Ministerium ereignet, falls man von etwas so Schleierhaftem sagen konnte, es habe sich ereignet.

Es war beinahe elf Uhr, und in der Registraturabteilung, wo Winston arbeitete, zogen sie die Stühle aus den Arbeitsverschlägen und stellten sie mitten in der Halle vor den großen Teleschirm, zur Vorbereitung auf die Zwei Minuten Hass. Winston wollte sich eben auf seinen Platz in einer der Mittelreihen setzen, als zwei Leute, die er vom Sehen kannte, mit denen er aber nie gesprochen hatte, unerwartet den Raum betraten. Eine der beiden Personen war ein Mädchen, dem er oft auf dem Korridor begegnet war. Ihren Namen kannte er nicht, wusste aber, dass sie in der Prosa-Abteilung arbeitete. Da er sie oft mit ölverschmierten Händen und einem Schraubenschlüssel gesehen hatte, nahm er an, dass sie eine Anstellung als Mechanikerin bei einer der Romanmaschinen hatte. Sie mochte um die siebenundzwanzig sein, hatte dichtes dunkles Haar, ein sommersprossiges Gesicht, blickte selbstbewusst drein und hatte flinke, athletische Bewegungen. Eine schmale rote Schärpe, Emblem der Jungen Anti-Sex-Liga, war in der Taille mehrmals um ihren Overall geschlungen, gerade stramm genug, um ihre wohlgeformten Hüften zu betonen. Winston hatte sie schon nicht gemocht, als er sie das allererste Mal sah. Er wusste warum. Es lag an der Atmosphäre von Hockeyfeldern und kalten Bädern und Gemeinschaftswanderungen und ganz allgemein sauberer Gesinnung, die sie umgab. Er verabscheute fast alle Frauen, besonders die jungen und hübschen. Fast immer waren es Frauen, und vor allem die jungen, die die bigottesten Anhänger der Partei waren, die Slogans wiederkäuten, sich als Amateurspione betätigten und nicht ganz Linientreue ausschnüffelten. Aber dieses spezielle Mädchen wirkte auf ihn noch gefährlicher als die meisten anderen. Einmal, als sie auf dem Korridor aneinander vorbeigingen, hatte sie ihn mit einem schnellen Seitenblick bedacht, der ihn zu durchbohren schien und ihn für einen Moment mit blankem Entsetzen erfüllte. Ihm war sogar durch den Kopf gegangen, dass sie eine Agentin der Gedankenpolizei sein könnte. Das war zwar ziemlich unwahrscheinlich, aber er verspürte immer ein eigenartiges Unbehagen, in das sich ebenso Angst wie Feindseligkeit mischte, wenn sie irgendwo in der Nähe war.

Die andere Person war ein Mann namens O’Brien, ein Mitglied der Inneren Partei, in der er eine so wichtige und hohe Stellung einnahm, dass Winston davon nur eine verschwommene Vorstellung hatte. Jäh senkte sich eine kurze Stille auf die Leute um die Stühle, als sie den schwarzen Overall eines Mitglieds der Inneren Partei kommen sahen. O’Brien war ein großer, stämmiger Mann mit massigem Hals und einem derben, humorvollen, brutalen Gesicht. Seinem wuchtigen Äußeren zum Trotz bewies er im Umgang einen gewissen Charme. Die Art, wie er die Brille auf der Nase zurechtrückte, war irgendwie entwaffnend – in nicht genau zu definierender Weise seltsam kultiviert. Falls jemand noch in solchen Begriffen gedacht hätte, war es eine Geste, die an einen Edelmann des achtzehnten Jahrhunderts hätte erinnern können, der einem seine Schnupftabakdose anbietet. Winston hatte O’Brien vielleicht ein Dutzend Mal in ebenso vielen Jahren gesehen. Er fühlte sich sehr zu ihm hingezogen, und dies nicht nur, weil ihn der Kontrast zwischen O’Briens gewandter Art und seiner Preisboxerstatur faszinierte. Weit mehr lag es an dem insgeheim gehegten Glauben – oder vielleicht nicht einmal ein Glaube, lediglich eine Hoffnung –, dass O’Brien politisch nicht vollkommen orthodox war. Etwas in seinem Gesicht ließ das unweigerlich vermuten. Andererseits stand in seinen Zügen vielleicht gar nicht Unorthodoxie zu lesen, sondern nur Intelligenz. Jedenfalls wirkte er wie einer, mit dem man reden könnte, wenn man irgendwie den Teleschirm überlistete und ihn allein zu fassen bekäme. Winston hatte nie auch nur den geringsten Versuch gemacht, seine Annahme zu überprüfen; praktisch gab es ja überhaupt keine Möglichkeit dazu. In diesem Moment schaute O’Brien auf seine Armbanduhr, sah, dass es fast elf Uhr war, und beschloss offenbar, in der Registraturabteilung zu bleiben, bis die Zwei Minuten Hass vorbei waren. Er nahm sich einen Stuhl in der gleichen Reihe wie Winston, ein paar Plätze entfernt. Eine kleine rotblonde Frau, die im Verschlag neben dem von Winston arbeitete, saß zwischen ihnen. Das Mädchen mit dem dunklen Haar war gleich dahinter.

Im nächsten Moment brach aus dem großen Teleschirm am Ende des Raums ein grässliches, knirschendes Kreischen hervor, wie von einer riesigen ungeölten Maschine. Es war ein Laut, der einen die Zähne zusammenpressen ließ und die Nackenhaare aufstellte. Das Hassen hatte begonnen.

Wie gewöhnlich blitzte auf dem Schirm das Gesicht von Emmanuel Goldstein auf, dem Volksfeind. Hier und da hörte man im Publikum Zischen. Die kleine rotblonde Frau gab ein Quieken aus Furcht und Abscheu von sich. Goldstein war der Renegat, der Abtrünnige, vor langer Zeit (niemand konnte sich erinnern, wie lange es her war) eine der führenden Gestalten der Partei, fast auf einer Stufe mit dem Großen Bruder selbst, um sich dann konterrevolutionären Aktivitäten zu verschreiben, war zum Tode verurteilt worden und auf geheimnisvolle Weise entkommen und verschwunden. Das Programm der Zwei Minuten Hass änderte sich von Tag zu Tag, aber immer war Goldstein die Hauptfigur. Er war der Ur-Verräter, der als Erster die Reinheit der Partei besudelt hatte. Alle späteren Verbrechen gegen die Partei, jeder Verrat, alle Sabotageakte, Ketzereien, Abweichungen entsprangen unmittelbar seiner Lehre. Irgendwo war er immer noch am Leben und heckte seine Verschwörungen aus, vielleicht irgendwo jenseits des Meeres unter dem Schutz seiner ausländischen Zahlmeister; vielleicht sogar – wie man gelegentlich munkelte – in irgendeinem Versteck in Ozeanien selbst.

Winstons Zwerchfell zog sich zusammen. Er konnte Goldsteins Gesicht nie ohne eine schmerzhafte Mischung verschiedener Gefühle betrachten. Es war ein hageres jüdisches Gesicht mit einem großen wirren Kranz weißer Haare und kleinem Kinnbart – ein kluges Gesicht, und doch an sich irgendwie verabscheuungswürdig, und die lange dünne Nase, auf deren Spitze die Brille saß, hatte etwas von seniler Albernheit. Es erinnerte an das Gesicht eines Schafs, und auch die Stimme hatte etwas Schafartiges. Goldstein feuerte seine übliche giftige Attacke gegen die Doktrinen der Partei ab – so überzogen und verdreht, dass ein Kind es hätte durchschauen können, und doch gerade ausreichend plausibel, um einem das beunruhigende Gefühl zu geben, andere Leute, weniger vernünftig als man selbst, könnten sich davon einnehmen lassen. Er schmähte den Großen Bruder, prangerte die Diktatur der Partei an, verlangte den sofortigen Friedensschluss mit Eurasien, forderte Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Gedankenfreiheit, schrie hysterisch, die Revolution sei verraten worden – all dies in einem Sturzbach vielsilbiger Wörter, der eine Art Parodie auf die übliche Sprechweise der Parteiredner war und auch einige Neusprech-Wörter enthielt: sogar mehr Neusprech-Wörter, als ein Mitglied der Partei sie normalerweise benutzen würde. Und um keinen Zweifel daran zu lassen, welche Realität Goldsteins hohles Gewäsch verdeckte, marschierten die ganze Zeit hinter seinem Kopf auf dem Teleschirm die endlosen Kolonnen der eurasischen Armee – Glied um Glied kräftig wirkender Männer mit ausdruckslosen asiatischen Gesichtern, die auf dem Schirm nach vorn brandeten und verschwanden, um von anderen, genau gleichen abgelöst zu werden. Das dumpfe rhythmische Stampfen der Soldatenstiefel lieferte den Hintergrund zu Goldsteins blökender Stimme.

Das Hassen dauerte noch keine dreißig Sekunden, als schon die Hälfte der Leute im Raum unbeherrschte Wutschreie ausstießen. Das selbstgefällige Schafsgesicht auf dem Schirm und die Furcht einflößende Macht der eurasischen Armee dahinter waren mehr, als man ertragen konnte; außerdem erregten Goldsteins Anblick oder schon der Gedanke daran automatisch Furcht und Zorn. Als Hassobjekt war er beständiger als Eurasien oder Ostasien, denn wenn sich Ozeanien mit einer dieser Mächte im Krieg befand, herrschte im Allgemeinen Friede mit der anderen. Eines jedoch war seltsam: Obwohl Goldstein von allen gehasst und verachtet wurde, obwohl jeden Tag tausendmal auf Podien, auf dem Teleschirm, in Zeitungen, in Büchern seine Theorien widerlegt, zerfetzt, verhöhnt und dem Blick der Allgemeinheit als jener wahrhaft erbärmliche Unsinn preisgegeben wurden, der sie waren – trotz alledem schien sein Einfluss nie abzunehmen. Immer gab es neue Trottel, die darauf warteten, sich von ihm verführen zu lassen. Nie verging ein Tag, ohne dass nach seinen Anweisungen handelnde Spione und Saboteure von der Gedankenpolizei entlarvt wurden. Er war der Kommandeur einer riesigen Schattenarmee, eines Untergrundnetzes von Verschwörern, die den Staat umstürzen wollten. Angeblich nannten sie sich Die Bruderschaft. Man flüsterte sich auch Geschichten über ein schreckliches Buch zu, ein Kompendium aller Ketzereien, von Goldstein verfasst, das hier und da im Untergrund zirkulierte. Es war ein Buch ohne Titel. Wenn überhaupt, erwähnten die Leute es schlicht als dasBuch. Aber darüber gab es nur vage Gerüchte. Die Bruderschaft und dasBuch waren Themen, die kein gewöhnliches Parteimitglied erwähnte, wenn es sich vermeiden ließ.

In der zweiten Minute steigerte sich das Hassen zur Raserei. Die Leute sprangen auf ihren Plätzen auf und nieder und brüllten aus voller Kehle in dem Versuch, die wahnsinnige Blökstimme vom Schirm zu übertönen. Die kleine rotblonde Frau war hellrosa angelaufen, und ihr Mund öffnete und schloss sich wie der eines angelandeten Fischs. Sogar O’Briens fleischiges Gesicht war gerötet. Er saß ganz gerade auf seinem Stuhl; seine mächtige Brust schwoll an und bebte, als stemme er sich gegen eine anbrandende Woge. Das dunkelhaarige Mädchen hinter Winston hatte begonnen, «Schwein! Schwein! Schwein!» zu rufen, und plötzlich packte sie ein schweres Neusprech-Wörterbuch und schleuderte es gegen den Schirm. Es traf Goldsteins Nase und prallte ab; die Stimme fuhr unerbittlich fort. In einem lichten Moment stellte Winston fest, dass er mit den anderen schrie und mit dem Absatz wuchtig gegen die Querstrebe seines Stuhls trat. Furchtbar an den Zwei Minuten Hass war nicht, dass man zur Teilnahme verpflichtet, sondern dass es unmöglich war, nicht mitzumachen. Binnen dreißig Sekunden wurde jegliche Verstellung überflüssig. Eine grässliche Ekstase aus Furcht und Rachsucht, aus Mordlust und der Gier, jemanden zu quälen und Gesichter mit einem Vorschlaghammer zu zertrümmern, schien die ganze Menschengruppe wie ein Stromstoß zu durchfließen und einen auch gegen den eigenen Willen in einen kreischenden Irren mit verzerrter Fratze zu verwandeln. Dabei war aber die Wut, die man fühlte, eine abstrakte, ziellose Emotion, die man von einem Gegenstand auf den anderen richten konnte wie die Flamme einer Lötlampe. So wandte sich in einem Moment Winstons Hass gar nicht gegen Goldstein, sondern im Gegenteil gegen den Großen Bruder, die Partei und die Gedankenpolizei; und in solchen Momenten war sein Herz bei dem einsamen, verhöhnten Ketzer auf dem Schirm, dem einzigen Hüter von Wahrheit und Vernunft in einer Welt voller Lügen. Und doch war er im nächsten Moment eins mit den Leuten ringsum, und alles, was über Goldstein gesagt wurde, erschien ihm als wahr. In solchen Momenten verwandelte sich sein geheimer Abscheu gegen den Großen Bruder in Anbetung, und der Große Bruder schien alles zu überragen, ein unbesiegbarer, furchtloser Beschützer, der sich wie ein Fels den asiatischen Horden entgegenstellte, und Goldstein erschien trotz seiner Isoliertheit, Hilflosigkeit und des Zweifels an seiner bloßen Existenz als ein unheimlicher Zauberer, der durch die schiere Gewalt seiner Stimme fähig war, das Gefüge der Zivilisation zu zerstören.

In manchen Momenten war es sogar möglich, den Hass durch eine Willensanstrengung hierhin oder dorthin zu lenken. Jäh gelang es Winston mit jener Art heftiger Bewegung, mit der man in einem Albtraum den Kopf vom Kissen hochreißt, seinen Hass vom Gesicht auf dem Schirm fort und auf das dunkelhaarige Mädchen hinter sich zu lenken. Lebhafte, wunderbare Vorstellungen schossen ihm durch den Kopf. Er würde sie mit einem Gummiknüppel totprügeln. Er würde sie nackt an einen Pfahl binden und mit Pfeilen spicken wie Sankt Sebastian. Er würde sie vergewaltigen und ihr auf dem Höhepunkt die Kehle durchschneiden. Deutlicher als zuvor begriff er außerdem, warum er sie hasste. Er hasste sie, weil sie jung und hübsch und geschlechtslos war, weil er mit ihr ins Bett gehen wollte und dies nie tun würde, weil um ihre schöne, biegsame Taille, die nach einer Umarmung zu verlangen schien, nur die abstoßende rote Schärpe lag, aggressives Symbol der Keuschheit.

Der Hass erreichte seinen Höhepunkt. Goldsteins Stimme war zu einem wirklichen Schafsblöken geworden, und für einen Moment verwandelte sich sein Gesicht in das eines Schafs. Dann verschmolz das Schafsgesicht mit der Gestalt eines eurasischen Soldaten, der vorzurücken schien, groß und furchtbar; seine Maschinenpistole röhrte und schien die Oberfläche des Schirms zu sprengen, sodass einige Leute in der ersten Reihe tatsächlich auf ihren Sitzen zurückzuckten. Aber im gleichen Moment verwandelte sich, begleitet von einem allgemeinen tiefen Seufzer der Erleichterung, die Gestalt des Feindes in das Antlitz des Großen Bruders, mit schwarzem Haar, schwarzem Schnurrbart, voll der Kraft und geheimnisvollen Ruhe und so groß, dass es fast den ganzen Schirm füllte. Niemand hörte, was der Große Bruder sagte. Es waren nur ein paar Worte der Aufmunterung, wie man sie im Lärm einer Schlacht äußert, nicht einzeln zu vernehmen, die aber durch die bloße Tatsache, dass sie gesprochen werden, das Vertrauen wiederherstellen. Dann schwand das Gesicht des Großen Bruders wieder, und an seiner Stelle erschienen in kräftigen Großbuchstaben die drei Slogans der Partei:

KRIEG IST FRIEDE

FREIHEIT IST KNECHTSCHAFT

UNWISSEN IST STÄRKE

Aber das Gesicht des Großen Bruders schien ein paar Sekunden auf dem Schirm zu bleiben, als wäre der Eindruck, den es auf allen Augäpfeln hinterlassen hatte, zu kraftvoll, als dass er sofort schwinden könnte. Die kleine rotblonde Frau hatte sich über die Rückenlehne des Stuhls vor ihr geworfen. Mit bebendem Murmeln, das klang wie «Mein Erlöser!», reckte sie die Arme zum Schirm. Dann verbarg sie das Gesicht in den Händen. Ganz offensichtlich sprach sie ein Gebet.

In diesem Moment brach die ganze Gruppe von Leuten in einen tiefen, langsamen, rhythmischen Gesang aus: «G–B! … G–B! … G–B!», wieder und wieder, sehr bedächtig, mit einer langen Pause zwischen dem G und dem B – ein schwerer, raunender Ton, irgendwie seltsam wild, und im Hintergrund schien man das Trampeln nackter Füße und das Wummern von Tomtoms zu hören. Es dauerte fast dreißig Sekunden an. Es war ein Chorus, den man oft in Momenten überwältigender Emotionen hören konnte. Zum Teil war es eine Art Hymnus an die Weisheit und Majestät des Großen Bruders, aber mehr noch ein Akt der Selbsthypnose, ein willentliches Ersticken des Bewusstseins durch rhythmischen Lärm. Winstons Eingeweide schienen zu gefrieren. In den Zwei Minuten Hass konnte er es nicht vermeiden, das allgemeine Delirium zu teilen, aber dieses untermenschliche Skandieren von «G–B! … G–B!» erfüllte ihn immer mit Grauen. Natürlich stimmte er mit den anderen ein: Es war unmöglich, dies nicht zu tun. Die eigenen Gefühle zu verhehlen, die Miene zu beherrschen, zu tun, was alle anderen taten, war eine instinktive Reaktion. Aber es gab eine Spanne von ein paar Sekunden, in denen der Ausdruck in seinen Augen ihn möglicherweise verraten haben könnte. Und genau in diesem Moment ereignete sich der bedeutsame Vorfall – falls er tatsächlich passierte.

Für einen Moment fing er O’Briens Blick auf. O’Brien war aufgestanden. Er hatte die Brille abgenommen und war dabei, sie mit seiner charakteristischen Geste wieder aufzusetzen. Aber es gab da einen Sekundenbruchteil, in dem ihre Augen sich trafen, und in diesem winzigen Augenblick wusste Winston – ja, er wusste es! –, dass O’Brien dasselbe dachte wie er. Eine unmissverständliche Botschaft war ausgetauscht worden. Es war, als hätten sich ihre beiden Geister geöffnet, als flössen Gedanken durch die Augen vom einen zum anderen. «Ich bin bei dir», schien O’Brien ihm zu sagen. «Ich weiß genau, was du empfindest. Ich weiß alles über deine Verachtung, deinen Hass, deinen Ekel. Aber keine Sorge, ich bin auf deiner Seite!» Und dann war dieser erhellende Blitz wieder verschwunden, und O’Briens Gesicht war so undurchdringlich wie das jedes anderen.

Das war alles, und er war sich bereits unsicher, ob es sich tatsächlich ereignet hatte. Solche Vorkommnisse setzten sich nie fort. Sie sorgten lediglich dafür, dass in ihm der Glaube – oder die Hoffnung – lebendig blieb, neben ihm gebe es noch andere Feinde der Partei. Vielleicht stimmten die Gerüchte über ausgedehnte Verschwörungen im Untergrund ja doch – vielleicht existierte Die Bruderschaft tatsächlich! Trotz der endlosen Verhaftungen und Geständnisse und Hinrichtungen konnte man unmöglich sicher sein, dass Die Bruderschaft nicht doch nur ein Mythos war. An manchen Tagen glaubte er daran, an anderen nicht. Es gab keine Beweise, nur flüchtige Eindrücke, die alles oder nichts bedeuten mochten: zufällig aufgeschnappte Gesprächsfetzen, schwache Kritzeleien auf den Wänden von Waschräumen – einmal sogar bei der Begegnung von zwei Fremden eine geringfügige Bewegung der Hände, was ausgesehen hatte, als könnte es ein Erkennungssignal sein. Das war alles nur Vermutung; wahrscheinlich hatte er sich das Ganze eingebildet. Er war zu seinem Verschlag zurückgegangen, ohne O’Brien noch einmal anzuschauen. Es war ihm nicht ernstlich in den Sinn gekommen, ihrem flüchtigen Kontakt etwas folgen zu lassen. Selbst wenn er gewusst hätte, wie er es anstellen sollte, wäre es unvorstellbar gefährlich gewesen. Eine oder zwei Sekunden lang hatten sie einen uneindeutigen Blick ausgetauscht, und das war alles. Aber sogar das war ein denkwürdiger Vorgang in der abgeschiedenen Einsamkeit, in der man zu leben hatte.

Winston raffte sich auf und setzte sich gerade hin. Er stieß ein Rülpsen aus. Der Gin stieg ihm vom Magen her hoch.

Seine Augen konzentrierten sich wieder auf das Blatt. Er stellte fest, dass er während seines ohnmächtigen Brütens auch geschrieben hatte, wie automatisch. Und es war nicht mehr die verkrampfte, unbeholfene Handschrift von vorhin. Seine Feder war lustvoll über das glatte Papier geglitten und hatte in großen sauberen Buchstaben geschrieben: 

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

immer und immer wieder, das halbe Blatt voll.

Er konnte einen Anflug von Panik nicht unterdrücken. Das war absurd, da die Niederschrift dieser speziellen Wörter nicht gefährlicher war als der erste Schritt, das Tagebuch zu beginnen; aber einen Moment lang war er versucht, das besudelte Blatt herauszureißen und das ganze Unterfangen aufzugeben.

Er tat dies jedoch nicht, weil er wusste, dass es sinnlos war. Ob er NIEDERMITDEMGROSSENBRUDER schrieb oder es unterließ, spielte keine Rolle. Ob er mit dem Tagebuch fortfuhr oder nicht, spielte keine Rolle. Die Gedankenpolizei würde ihn so oder so erwischen. Er hatte das wesentliche Verbrechen begangen, das alle anderen umfasste – würde es selbst dann noch begangen haben, wenn er nie die Feder aufs Blatt gesetzt hätte. Gedankenverbrechen, so nannten sie es. Gedankenverbrechen war etwas, was man nicht ewig verhehlen konnte. Man konnte einige Zeit erfolgreich ausweichen, vielleicht sogar Jahre, aber früher oder später mussten sie einen erwischen.

Es geschah immer nachts – die Festnahmen fanden unweigerlich nachts statt. Plötzlich aus dem Schlaf gerissen werden, die grobe Hand, die an der Schulter zerrt, grelles Lampenlicht in den Augen, der Kreis harter Gesichter rings um das Bett. In der großen Mehrzahl der Fälle gab es keinen Prozess, keinen Bericht über die Verhaftung. Die Leute verschwanden einfach, immer nachts. Der Name wurde aus den Registern getilgt, jede Aufzeichnung über alles, was man je getan hatte, wurde gelöscht, die frühere Existenz wurde geleugnet und dann vergessen. Man wurde abgeschafft, vernichtet: vaporisiert war der übliche Begriff.

Einen Moment lang packte ihn eine Art Hysterie. Er begann hastig und unsauber zu kritzeln:

sie werden mich erschießen ist mir egal sie werden mir ins genick schießen ist mir egal nieder mit dem großen bruder sie schießen einem immer ins genick ist mir egal nieder mit dem großen bruder …

Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, schämte sich ein wenig über sich selbst und legte die Feder beiseite. Im nächsten Moment schreckte er auf. Es klopfte an die Tür.

Jetzt schon! Er saß mucksmäuschenstill in der sinnlosen Hoffnung, wer auch immer das sein mochte, würde nach einem einmaligen Versuch wieder gehen. Aber nein, das Klopfen wiederholte sich. Säumigkeit wäre das Schlimmste von allem. Sein Herz pochte wie eine Trommel, aber sein Gesicht war dank langer Gewöhnung wahrscheinlich ausdruckslos. Er stand auf und ging mit schweren Schritten zur Tür.

II

Als er die Hand auf den Türknauf legte, sah Winston, dass er das Tagebuch offen auf dem Tisch hatte liegen lassen. NIEDERMITDEMGROSSENBRUDER bedeckte fast die ganze Seite, in Buchstaben, die beinahe so groß waren, dass man sie quer durch den Raum lesen konnte. Das war eine unglaubliche Dummheit. Aber, begriff er, selbst in seiner Panik hatte er das cremige Papier nicht verschmieren wollen, indem er das Buch schloss, solange die Tinte noch feucht war.

Er holte Luft und öffnete die Tür. Sogleich durchströmte ihn eine warme Woge der Erleichterung. Draußen stand eine farblose, zerknittert aussehende Frau mit dünnem Haar und zerfurchtem Gesicht.

«Ach, Genosse», begann sie mit einer eintönigen, beinahe weinerlichen Stimme, «ich dachte, ich hätte Sie reinkommen hören. Meinen Sie, Sie könnten rüberkommen und einen Blick auf unseren Küchenabfluss werfen? Er ist verstopft und …»

Es war Mrs. Parsons, die Frau eines Nachbarn auf der gleichen Etage. («Mrs.» war ein Wort, das die Partei eher ablehnte – man war gehalten, alle mit «Genosse» anzureden –, aber bei einigen Frauen benutzte man es instinktiv.) Sie war um die dreißig, wirkte aber viel älter. Man hatte den Eindruck, in den Falten ihres Gesichts hätte sich Staub abgelagert. Winston folgte ihr über den Gang. Diese lästigen Amateurreparaturen waren ein beinahe tägliches Ärgernis. Die Wohnungen der Victory Mansions waren alt, erbaut um 1930, und fielen allmählich auseinander. Dauernd bröckelte der Putz von Decken und Wänden, bei jedem starken Frost platzten die Leitungen, das Dach leckte, sobald Schnee fiel, die Heizung lief gewöhnlich mit halber Kraft, wenn sie nicht aus Gründen der Sparsamkeit ganz abgeschaltet war. Abgesehen von dem, was man selbst erledigen konnte, mussten Reparaturen von entlegenen Komitees gebilligt werden, die dazu neigten, sogar das Ersetzen einer Fensterscheibe zwei Jahre lang aufzuschieben.

«Natürlich bloß, weil Tom nicht zu Hause ist», sagte Mrs. Parsons unbestimmt.

Die Wohnung der Parsons war größer als die von Winston und auf andere Art schäbig. Alles wirkte zerstoßen, zertrampelt, wie eben von einem großen wilden Tier heimgesucht. Sportzubehör – Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein geplatzter Fußball, eine verschwitzte, umgekrempelte Turnhose – lag überall auf dem Boden, und der Tisch war ein Durcheinander von schmutzigem Geschirr und Schreibheften mit Eselsohren. An den Wänden hingen die roten Banner der Jugendliga und der Spione sowie ein lebensgroßes Plakat des Großen Bruders. Wie im ganzen Gebäude roch es nach gekochtem Kohl, allerdings durchsetzt von einem schärferen Schweißgeruch, und zwar – man wusste es beim ersten Einatmen, wenn man auch nicht sagen konnte, warum – war es der Schweiß einer gerade abwesenden Person. In einem anderen Zimmer versuchte jemand, mit einem Kamm und einem Stück Toilettenpapier die Marschmusik mitzuspielen, die immer noch aus dem Teleschirm kam.

«Das sind die Kinder», sagte Mrs. Parsons; sie warf einen halb besorgten Blick zur Tür. «Die sind heute nicht draußen gewesen. Und natürlich …»

Sie hatte die Angewohnheit, ihre Sätze mittendrin abzubrechen. Die Küchenspüle war fast bis zum Rand voll mit schmutzigem grünem Wasser, das ärger als alles andere nach Kohl stank. Winston kniete nieder und untersuchte das krumme Verbindungsrohr. Er hasste manuelle Arbeit und mochte sich nicht bücken, weil das bei ihm immer einen Hustenreiz auslöste. Mrs. Parsons schaute hilflos zu.

«Wenn Tom hier wäre, würde er das natürlich im Handumdrehen in Ordnung bringen», sagte sie. «Er macht so was gern. Er ist ja so geschickt mit den Händen, unser Tom.» Parsons war Winstons Arbeitskollege im Ministerium der Wahrheit, ein korpulenter, aber tatkräftiger Mann von lähmender Dummheit, eine Masse von geistlosem Enthusiasmus – eines jener hingebungsvollen Arbeitstiere, von denen die Stabilität der Partei abhing, mehr noch als von der Gedankenpolizei. Mit fünfunddreißig hatte man ihn gerade erst gegen seinen Willen aus der Jugendliga ausgestoßen, und ehe er es zur Jugendliga gebracht hatte, war es ihm gelungen, ein Jahr über die vorgeschriebene Altersgrenze hinaus bei den Spionen zu bleiben. Im Ministerium bekleidete er einen untergeordneten Posten, für den Intelligenz nicht erforderlich war; andererseits war er aber eine der Führungsgestalten im Sportkomitee und in all den anderen Ausschüssen, die sich damit befassten, Gemeinschaftswanderungen, spontane Demonstrationen, Sparkampagnen und überhaupt freiwillige Aktivitäten jeder Art zu organisieren. Mit ruhigem Stolz erzählte er einem, wobei er seine Pfeife paffte, dass er die letzten vier Jahre jeden Abend im Gemeinschaftszentrum erschienen war. Überwältigender Schweißgeruch folgte ihm als unbewusster Beweis für sein anstrengendes Leben, wohin er auch ging, und blieb noch zurück, wenn er gegangen war.

«Haben Sie einen Schraubenschlüssel?», fragte Winston; er hantierte an der Mutter des Verbindungsstücks.

«Einen Schraubenschlüssel», sagte Mrs. Parsons, die sofort unsicher wurde. «Also ich weiß nicht. Vielleicht die Kinder …»

Schuhgetrampel und ein weiterer Fanfarenstoß auf dem Kamm, als die Kinder ins Wohnzimmer stürmten. Mrs. Parsons brachte den Schraubenschlüssel. Winston ließ das Wasser ab und entfernte angeekelt das Knäuel menschlicher Haare, das die Leitung verstopft hatte. Unter dem kalten Wasser aus dem Hahn säuberte er sich die Hände, so gut es ging, und begab sich wieder ins andere Zimmer.

«Hände hoch!», schrie eine wilde Stimme. 

Ein hübscher, drahtiger Neunjähriger war hinter dem Tisch aufgetaucht und bedrohte ihn mit einer automatischen Kinderpistole, während seine etwa zwei Jahre jüngere Schwester mit einem Stück Holz die gleiche Geste machte. Beide trugen blaue Shorts, graue Hemden und rote Halstücher, die Uniform der Spione. Winston hob die Hände über den Kopf, allerdings mit einem Gefühl von Unbehagen, denn die Miene des Jungen war so boshaft, dass es eigentlich kein Spiel zu sein schien.

«Sie sind ein Verräter!», schrie der Junge. «Sie sind ein Gedankenverbrecher! Sie sind ein eurasischer Spitzel! Ich werde Sie erschießen, ich vaporisiere Sie, ich schicke Sie ins Salzbergwerk!»

Plötzlich sprangen beide um ihn herum, riefen «Verräter!» und «Gedankenverbrecher!», wobei das kleine Mädchen jede Bewegung seines Bruders nachahmte. Irgendwie war es ein wenig erschreckend, wie das Tollen von Tigerjungen, die bald zu Menschenfressern heranwachsen werden. Im Blick des Jungen lag eine Art berechnender Wildheit, ein ganz offensichtlicher Wunsch, Winston zu schlagen oder zu treten, und das Bewusstsein, dafür fast groß genug zu sein. Ein Glück, dass er keine richtige Pistole in der Hand hatte, dachte Winston.

Mrs. Parsons’ Augen zuckten nervös von Winston zu den Kindern und wieder zurück. Im besseren Licht des Wohnzimmers bemerkte er interessiert, dass tatsächlich Staub in den Runzeln ihres Gesichts lag.

«Die sind immer so laut», sagte sie. «Und das nur, weil sie enttäuscht darüber sind, dass sie nicht beim Hängen haben zuschauen können. Ich bin zu beschäftigt, um sie zu begleiten, und Tom kommt nicht früh genug von der Arbeit zurück.»

«Warum können wir nicht gehen und uns das Hängen anschauen?», grölte der Junge mit seiner lauten Stimme.

«Will das Hängen sehen! Will das Hängen sehen!», sang das kleine Mädchen, das weiter herumtanzte.

Winston erinnerte sich daran, dass an diesem Abend ein paar eurasische Gefangene, der Kriegsverbrechen schuldig, im Park gehängt werden sollten. So etwas gab es ungefähr einmal im Monat, und es war ein beliebtes Schauspiel. Kinder wollten es immer unbedingt sehen. Er verabschiedete sich von Mrs. Parsons und ging zur Tür. Er hatte aber noch keine sechs Schritte auf dem Flur zurückgelegt, als ihm etwas einen äußerst schmerzhaften Schlag gegen den Hinterkopf verpasste. Es war, als hätte man ihm einen rot glühenden Draht hineingetrieben. Er fuhr herum und sah gerade noch, wie Mrs. Parsons ihren Sohn zurück durch die Wohnungstür zog, während der Junge eine Schleuder einsteckte.

«Goldstein!», brüllte der Junge, als die Tür sich hinter ihm schloss. Was Winston aber am meisten traf, war der Ausdruck von ohnmächtiger Angst auf dem grauen Gesicht der Frau.

In seiner Wohnung ging er schnell am Teleschirm vorbei und setzte sich wieder an den Tisch; dabei rieb er sich immer noch den Nacken. Die Musik vom Teleschirm hatte aufgehört. Stattdessen verlas eine abgehackte soldatische Stimme mit so etwas wie brutalem Vergnügen eine Beschreibung der Bewaffnung der neuen Schwimmenden Festung, die gerade zwischen Island und den Färöern ankerte. 

Mit diesen Kindern, dachte er, muss die arme Frau ein Leben ständigen Schreckens führen. Noch ein Jahr oder zwei, dann würde sie von ihnen Tag und Nacht auf Anzeichen von Unorthodoxie beobachtet. Heutzutage waren fast alle Kinder furchtbar. Am schlimmsten war, dass Organisationen wie die Spione sie systematisch zu unkontrollierbaren kleinen Wilden machten, was bei ihnen aber keinerlei Hang zur Rebellion gegen die Parteidisziplin bewirkte. Im Gegenteil: Sie verehrten die Partei und alles, was damit zusammenhing. Die Lieder, die Aufmärsche, die Fahnen, das Wandern, der Drill mit Holzgewehren, das Brüllen von Slogans, die Anbetung des Großen Bruders – das alles war für sie eine Art großartigen Spiels. Ihre ganze Wildheit wurde nach außen gelenkt, gegen Staatsfeinde, Ausländer, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Es war beinahe normal, dass Leute über dreißig sich vor den eigenen Kindern fürchteten. Und aus gutem Grund, denn es verging kaum eine Woche, ohne dass die «Times»einen Artikel brachte, in dem beschrieben wurde, wie ein kleiner Schnüffler – «Kinderheld» war die dafür übliche Bezeichnung – eine kompromittierende Bemerkung belauscht und seine Eltern bei der Gedankenpolizei denunziert hatte.

Die von der Schleuder ausgelösten Schmerzen hatten nachgelassen. Halbherzig nahm er die Feder auf und fragte sich, ob er noch etwas ins Tagebuch zu schreiben fände. Plötzlich begann er wieder an O’Brien zu denken.

Vor Jahren – wie lange war es her? Es mussten sieben Jahre sein – hatte er geträumt, er gehe durch einen stockdunklen Raum. Und jemand, der seitlich von ihm saß, hatte, als er vorüberging, gesagt: «Wir werden uns an dem Ort treffen, an dem es keine Dunkelheit gibt.» Er hatte es ganz ruhig gesagt, fast beiläufig – eine Feststellung, kein Befehl. Winston war weitergegangen, ohne anzuhalten. Merkwürdig war, dass zu jener Zeit, im Traum, die Wörter keinen großen Eindruck auf ihn gemacht hatten. Erst später und allmählich schienen sie bedeutsam zu werden. Er konnte sich jetzt nicht mehr erinnern, ob er vor oder nach diesem Traum O’Brien zum ersten Mal gesehen hatte; er wusste auch nicht mehr, wann er die Stimme erstmals als die von O’Brien identifiziert hatte. Aber auf jeden Fall gab es diese Identifizierung. Es war O’Brien gewesen, der aus dem Dunkel zu ihm gesprochen hatte.

Winston hatte nie sicher sein können – auch nach dem Austausch von Blicken an diesem Morgen war ihm dies immer noch nicht möglich –, ob O’Brien ein Freund oder ein Feind war. Es schien auch nicht besonders wichtig zu sein. Zwischen ihnen gab es eine Verbindung, ein Einvernehmen, das bedeutender war als Zuneigung oder Parteinahme. «Wir werden uns an dem Ort treffen, an dem es keine Dunkelheit gibt», hatte er gesagt. Winston wusste nicht, was das bedeutete, nur, dass es auf die eine oder andere Art wahr werden würde.

Die Stimme vom Teleschirm setzte aus. Ein Trompetenstoß, klar und schön, schwebte durch die stickige Luft. Die Stimme fuhr krächzend fort: «Achtung! Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit! Gerade erreicht uns eine Blitznachricht von der Malabar-Front. Unsere Streitkräfte in Südindien haben einen glorreichen Sieg errungen. Ich bin befugt, Ihnen mitzuteilen, dass die Aktion, über die wir jetzt berichten, vielleicht das Ende des Kriegs in Reichweite bringen könnte. Hier ist die Blitzmeldung …»

Gleich kommen schlechte Nachrichten, dachte Winston. Und tatsächlich folgte nach der blutrünstigen Schilderung der Vernichtung einer eurasischen Armee mit enormen Zahlen von Gefallenen und Gefangenen die Ankündigung, dass ab der kommenden Woche die Schokoladenration von dreißig auf zwanzig Gramm reduziert werde.

Winston rülpste wieder. Die Wirkung des Gins ließ nach, es blieb nur ein Gefühl der Erschlaffung. Der Teleschirm – vielleicht zur Feier des Siegs, vielleicht um die Erinnerung an die verlorene Schokolade zu verdrängen – brach aus in «Ozeanien, nur für dich». Man war gehalten, dabei strammzustehen. In seiner derzeitigen Position war er jedoch unsichtbar.

«Ozeanien, nur für dich» wurde von leichterer Musik abgelöst. Winston ging ans Fenster, den Rücken zum Teleschirm. Der Tag war immer noch kalt und klar. Irgendwo weit entfernt explodierte ein Raketensprengkopf mit dumpfem nachhallendem Donnern. Zurzeit gingen davon etwa zwanzig oder dreißig pro Woche auf London nieder.

Unten auf der Straße ließ der Wind das abgerissene Plakat hin und her flappen, und das Wort ENGSOZ erschien und verschwand stoßweise. Engsoz. Die heiligen Grundsätze von Engsoz. Neusprech, Doppeldenk, die Veränderbarkeit der Vergangenheit. Er fühlte sich, als ginge er durch Wälder am Meeresgrund, verloren in einer monströsen Welt, in der er selbst das Monster war. Er war allein. Die Vergangenheit war tot, die Zukunft unvorstellbar. Welche Gewissheit hatte er denn, dass auch nur ein einziger jetzt lebender Mensch auf seiner Seite war? Und wie konnte er wissen, ob die Herrschaft der Partei nicht ewig dauern würde? Wie eine Antwort kamen ihm die drei Slogans auf der weißen Fassade des Ministeriums der Wahrheit in den Sinn:

KRIEG IST FRIEDE

FREIHEIT IST KNECHTSCHAFT

UNWISSEN IST STÄRKE

Aus der Tasche holte er eine Fünfundzwanzig-Cent-Münze. Auch dort standen in kleinen, klaren Buchstaben dieselben Slogans, und auf der anderen Seite der Münze war der Kopf des Großen Bruders. Selbst von der Münze aus verfolgten einen die Augen. Auf Münzen, auf Briefmarken, auf Buchumschlägen, auf Bannern, auf Plakaten und auf Zigarettenschachteln – überall. Immer die Augen, die einen beobachteten, und die Stimme, die einen umfing. Schlafend oder wach, beim Arbeiten oder Essen, im Haus oder draußen, im Bad oder im Bett – kein Entkommen. Nichts gehörte einem selbst, außer den paar Kubikzentimetern im eigenen Schädel.

Die Sonne war weitergewandert, und die Myriaden Fenster im Ministerium der Wahrheit, auf die das Licht jetzt nicht mehr fiel, wirkten grimmig wie die Schießscharten einer Festung. Angesichts des ungeheuren pyramidenartigen Baus sank ihm das Herz. Er war zu stark, man konnte ihn nicht erstürmen. Tausend Raketensprengköpfe würden ihn nicht zertrümmern. Wieder fragte er sich, für wen er das Tagebuch führte. Für die Zukunft, für die Vergangenheit – für eine Zeit, die imaginär sein mochte. Und vor ihm lag nicht Tod, sondern Vernichtung. Das Tagebuch würde zu Asche und er vaporisiert werden. Nur die Gedankenpolizei würde lesen, was er geschrieben hatte, ehe sie es aus dem Dasein und der Erinnerung tilgten. Wie sollte man an die Zukunft appellieren, wenn keine Spur von einem, nicht einmal ein auf ein Stück Papier gekritzeltes anonymes Wort, physisch überleben konnte?

Vom Teleschirm schlug es vierzehn. In zehn Minuten musste er aufbrechen. Um vierzehn Uhr dreißig hatte er wieder auf der Arbeit zu sein.

Seltsamerweise schien der Stundenschlag ihm neuen Mut verliehen zu haben. Er war ein einsamer Geist, der eine Wahrheit äußerte, die niemand je hören würde. Aber solange er sie äußerte, war auf geheimnisvolle Weise die Kontinuität gewahrt. Nicht indem man sich zu Gehör brachte, sondern indem man nicht wahnsinnig wurde, bewahrte man das Erbe der Menschheit. Er ging zum Tisch zurück, tunkte die Feder ein und schrieb:

An die Zukunft oder die Vergangenheit, an eine Zeit, in der das Denken frei ist und die Menschen verschieden voneinander sind und nicht allein leben – an eine Zeit, in der es Wahrheit gibt und Getanes nicht ungetan gemacht werden kann:

Aus der Zeit der Gleichförmigkeit, aus der Zeit der Einsamkeit, aus der Zeit des Großen Bruders, aus der Zeit von Doppeldenk – Grüße!

Er war schon tot, überlegte er. Es schien ihm, dass er erst jetzt, da er begonnen hatte, seine Gedanken zu formulieren, den entscheidenden Schritt getan hatte. Die Konsequenzen jeder Handlung sind in der Handlung selbst enthalten. Er schrieb:

Gedankenverbrechen führt nicht zum Tod: Gedankenverbrechen IST Tod.

Nun, da er sich als Toten begriff, wurde es wichtig, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Zwei Finger seiner rechten Hand waren mit Tinte verschmiert. Das war genau die Art von Detail, die einen verraten konnte. Irgendein herumschnüffelnder Eiferer im Ministerium (wahrscheinlich eine Frau; jemand wie die kleine rotblonde Frau oder das dunkelhaarige Mädchen aus der Prosa-Abteilung) könnte sich zu fragen beginnen, warum er in der Mittagspause geschrieben, warum er eine altmodische Feder benutzt, was er geschrieben hatte – und dann einer zuständigen Stelle einen Hinweis geben. Er ging ins Bad und schrubbte die Tinte sorgfältig mit der körnigen dunkelbraunen Seife ab, die einem die Haut aufrieb wie Sandpapier und deshalb für diesen Zweck gut geeignet war.

Er legte das Tagebuch in die Schublade. Es war einigermaßen zwecklos, es verstecken zu wollen, aber wenigstens konnte er feststellen, ob dessen Existenz entdeckt worden war oder nicht. Ein über den Buchrücken gelegtes Haar war zu offensichtlich. Mit der Fingerspitze nahm er ein gerade noch erkennbares weißliches Staubkörnchen auf und platzierte es auf eine Ecke des Umschlags, von wo es herabfallen musste, wenn jemand das Buch bewegte.

III

Winston träumte von seiner Mutter.

Er musste, dachte er, zehn oder elf gewesen sein, als seine Mutter verschwand. Sie war eine große, stattliche, eher stille Frau mit langsamen Bewegungen und wunderbar blondem Haar. An seinen Vater erinnerte er sich weniger deutlich: dunkelhaarig und schmal, immer in adretten dunklen Kleidern (Winston entsann sich besonders der sehr dünnen Sohlen seiner Schuhe), und er hatte Brille getragen. Die beiden mussten wohl von einer der ersten großen Säuberungen der Fünfziger verschluckt worden sein. 

In diesem Moment saß seine Mutter irgendwo tief unter ihm, seine jüngere Schwester in den Armen. An die Schwester erinnerte er sich gar nicht mehr, außer als winziges, schwächliches Baby, immer still, mit großen wachsamen Augen. Beide blickten zu ihm hinauf. Sie befanden sich an einem unterirdischen Ort – auf dem Grund eines Brunnens zum Beispiel oder in einem sehr tiefen Grab –, es war jedoch ein Ort, der bereits weit unter ihm lag und sich noch weiter abwärtsbewegte. Sie waren im Salon eines untergehenden Schiffs und schauten durch das dunkler werdende Wasser zu ihm herauf. Noch gab es Luft im Salon, noch konnten sie ihn sehen, und auch er sah sie, aber sie sanken immer tiefer, hinab ins grüne Wasser, das sie im nächsten Moment für immer seinem Blick entziehen musste. Er war draußen im Licht und an der Luft, während sie in den Tod hinabgezogen wurden, und sie waren dort unten, weil er hier oben war. Er wusste es und sie wussten es, und er konnte dieses Wissen auf ihren Gesichtern sehen. Es gab da keine Vorwürfe, weder auf den Gesichtern noch in ihren Herzen, nur das Wissen darum, dass sie sterben mussten, damit er am Leben bliebe, und dass dies Teil der unausweichlichen Ordnung der Dinge war.

Er konnte sich nicht entsinnen, was geschehen war, aber in seinem Traum wusste er, dass das Leben seiner Mutter und das seiner Schwester aus irgendeinem Grund für seines geopfert worden waren. Es war einer jener Träume, die zwar die typische Szenerie eines Traums wahren, aber zugleich eine Fortsetzung der eigenen Verstandestätigkeit sind und in denen einem Tatsachen und Ideen bewusst werden, die auch dann noch als neu und kostbar erscheinen, wenn man erwacht ist. Nun wurde Winston plötzlich klar, dass der Tod seiner Mutter vor fast dreißig Jahren auf eine heute nicht länger vorstellbare Weise tragisch und traurig gewesen war. Tragik, begriff er, gehörte der alten Zeit an, einer Zeit, in der es noch Privatheit, Liebe und Freundschaft gegeben hatte und die Mitglieder einer Familie füreinander eingestanden waren, ohne dafür einen Grund haben zu müssen. Die Erinnerung an seine Mutter ging ihm zu Herzen, denn er wusste, sie hatte ihn geliebt, als sie gestorben war, und er war zu jung und selbstsüchtig gewesen, um ihre Liebe zu erwidern, und weil sie sich irgendwie – er wusste nicht mehr, wie – für einen Begriff von Loyalität geopfert hatte, der ein persönlicher und unumstößlicher war. Ihm war klar, dass so etwas heute nicht mehr geschehen konnte. Heute gab es Furcht, Hass und Schmerz, aber keine Gefühle wie Würde, keine tiefe oder vielschichtige Trauer. All dies schien er in den großen Augen von Mutter und Schwester zu sehen, die durch das grüne Wasser zu ihm aufschauten, Hunderte Faden tief und immer noch sinkend.

Plötzlich stand er auf kurzem federndem Rasen, an einem Sommerabend, an dem schräg einfallende Sonnenstrahlen den Boden vergoldeten. Die Landschaft, auf die er blickte, kehrte in seinen Träumen so oft wieder, dass er nie ganz sicher war, ob er sie in der realen Welt gesehen hatte oder nicht. Wenn er im Wachzustand daran dachte, nannte er sie das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchen aufgewühlte Wiese, über die sich ein Weg schlängelte, und hier und da gab es einen Maulwurfshügel. In der verwilderten Einfriedung jenseits des Felds schaukelten die Zweige der Ulmen ganz leicht in der Brise; die Blätter wogten in dichter Fülle wie Frauenhaar. Irgendwo in der Nähe, aber nicht zu sehen, gab es einen klaren, langsam dahinfließenden Bach, und in den Buchten, die sich unter den Weiden gebildet hatten, schwammen Zinnfische.

Das dunkelhaarige Mädchen kam über das Feld auf ihn zu. Mit einer einzigen Bewegung – so schien es – streifte sie ihre Kleider ab und warf sie verächtlich beiseite. Ihr Körper war weiß und glatt, weckte in ihm aber kein Begehren; tatsächlich sah er nicht einmal richtig hin. Was ihn in diesem Moment überwältigte, war die bewundernswerte Gebärde, mit der sie die Kleider abgeworfen hatte. Mit ihrer Anmut und Leichtigkeit schien sie eine ganze Kultur zu vernichten, ein ganzes Denksystem, so als könnten der Große Bruder und die Partei und die Gedankenpolizei mit einer einzigen grandiosen Armbewegung ins Nichts gefegt werden. Auch dies war eine Gebärde, die der alten Zeit angehörte. Winston erwachte mit dem Wort «Shakespeare» auf den Lippen.

Vom Teleschirm kam ein ohrenbetäubendes Pfeifen, das auf derselben Tonhöhe dreißig Sekunden anhielt. Es war sieben Uhr fünfzehn, Aufstehzeit für Büroarbeiter. Winston wälzte seinen Körper aus dem Bett – nackt, denn ein Mitglied der Äußeren Partei erhielt im Jahr nur dreitausend Kleidercoupons, und ein Schlafanzug kostete sechshundert – und griff nach einem schäbigen Unterhemd und Shorts, die auf einem Stuhl lagen. In drei Minuten würde die Körperertüchtigung beginnen. Im nächsten Moment krümmte er sich in einem heftigen Hustenanfall, wie er ihn fast immer kurz nach dem Erwachen packte. Das Husten erschöpfte seine Lungen so vollständig, dass er erst wieder zu atmen beginnen konnte, wenn er sich auf den Rücken legte und ein paar tiefe Atemzüge machte. Durch die Anstrengung des Hustens waren seine Adern geschwollen, und das Krampfadergeschwür begann zu jucken.

«Gruppe dreißig bis vierzig!», kläffte eine schrille Frauenstimme. «Gruppe dreißig bis vierzig! Bitte auf die Plätze. Dreißig bis vierzig!»

Winston nahm vor dem Teleschirm prompt Haltung an, da schon das Bild einer hageren, aber muskulösen jungen Frau erschienen war, die Turnzeug und Sportschuhe trug.

«Arme beugen und strecken!», stieß sie hervor. «Ich gebe den Takt an. Eins, zwei, drei vier! Eins, zwei, drei, vier! Kommt schon, Genossen, ein bisschen lebhafter! Eins, zwei, drei, vier! …»

Der Schmerz des Hustenanfalls hatte die Eindrücke, die ihm von seinem Traum beschert worden waren, noch nicht völlig aus dem Gehirn verscheucht, und die rhythmischen Bewegungen der Übung ließen sie ein wenig zurückkehren. Während er mechanisch die Arme vor- und zurückstreckte und dabei jene Miene grimmiger Freude zur Schau trug, die bei der Körperertüchtigung als angemessen galt, versuchte er in Gedanken wieder in die trübe Zeit seiner frühen Kindheit zurückzugelangen. Es war äußerst schwierig. Jenseits der späten Fünfziger verschwamm alles. Wenn es keine äußeren Vorgänge gab, an die man sich halten konnte, verlor sogar der Verlauf des eigenen Lebens die Konturen. Man erinnerte sich an wichtige Ereignisse, die wahrscheinlich nie stattgefunden hatten, man erinnerte sich an Einzelheiten von Vorfällen, ohne deren Atmosphäre heraufbeschwören zu können, und es gab lange leere Zeiträume, mit denen sich nichts in Verbindung bringen ließ. Damals war alles anders gewesen. Selbst die Namen von Ländern und ihre Umrisse auf den Karten waren andere gewesen. Flugfeld Eins zum Beispiel hatte damals anders geheißen: Es wurde England oder Britannien genannt, wenngleich London, da war er sich ziemlich sicher, immer schon London geheißen hatte.