George Orwell: 1984, Farm der Tiere - George Orwell - E-Book

George Orwell: 1984, Farm der Tiere E-Book

George Orwell

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Beschreibung

"1984 - der Roman zum Ende des Kommunismus." George Orwells 1984 dreht sich um den Büroangestellten Winston Smith, der im Ministerium für Wahrheit Ozeaniens als kleines Zahnrad im Getriebe eines monströsen Staatsapparates Zensuraufgaben erledigt. Seit Jahren nagen Zweifel an der Legitimität des Systems, in dem ihm selbst ein Augenrollen das Leben kosten kann. Der Roman beginnt mit dem ersten Schritt, diesen ursprünglich rein geistigen Widerstand in die Tat umzusetzen: Winston eröffnet ein Tagebuch. In weiterer Folge lernt er eine junge Kollegin lieben, gemeinsam beginnen sie eine Liebesbeziehung, die in der jeden Lebensaspekt durchdringenden Diktatur für sich bereits einen Akt des Hochverrats darstellt. Wenn sie auch unterschiedliche Ansichten über die Gesellschaft, in der sie leben, haben, sie eint die Ablehnung ihres engen Korsetts und der Wunsch nach individueller Freiheit und nicht zuletzt ein Recht, zu lieben und zu fühlen. Während Winston versteht, WIE die Maschinerie der Tyrannei funktioniert, versteht er jedoch nicht, WESHALB der massive Aufwand ihres Überwachungs- und Unterdrückungsapparates betrieben wird. Als sie sich entschließen, Kontakt zur Opposition im Untergrund zu suchen und schließlich in die Hände der Staatsmacht gelangen, lernt Winston den wahren Hintergrund der Gesellschaft Ozeaniens kennen. Bis zu seinem Tode war George Orwell überzeugter Sozialist - umso größer war die Wirkung, die sein 1949 veröffentlichtes Werk auf die politische Linke der damaligen Zeit hatte. Innerhalb dieser galt die Sowjetunion als die Verwirklichung der Ideen Marx, das Arbeiterparadies, dass die versklavten Massen aus ihrem Joch befreien würde. Orwell war einer der wenigen Linken seiner Zeit, die es wagten, an diesem Narrativ zu rütteln. Unter dem Eindruck des unbestreitbaren Terrors der stalinistischen Herrschaft und ihrer zynischen, opportunistischen Kooperation mit dem faschistischen und kapitalistischen Ausland, kritisierte er die Heuchelei und die Unmenschlichkeiten des real existierenden Kommunismus mit Farm der Tiere und 1984. George Orwell - Farm der Tiere Farm der Tiere (Animal Farm) ist eine dystopische Fabel von George Orwell, erschienen im Jahr 1945. Inhalt ist die Erhebung der Tiere einer englischen Farm gegen die Herrschaft ihres menschlichen Besitzers, der sie vernachlässigt und ausbeutet. Nach anfänglichen Erfolgen und beginnendem Wohlstand übernehmen die Schweine immer mehr die Führung und errichten schließlich eine Gewaltherrschaft, die schlimmer ist als diejenige, welche die Tiere abschütteln wollten. Während die politische Linke der 1940er immer noch mehrheitlich die Sowjetunion als Verwirklichung der Ideen Karl Marx' betrachteten, bricht George Orwell mit seinem Bestseller mit dieser Sichtweise, indem er sehr humorvoll die Entwicklung Russlands bzw. der Sowjetunion von der späten Herrschaft Zar Nikolaus II. bis zum Nachkriegsstalinismus in Form dieser modernen Fabel.  

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Hörbuch
1984
Buch I
1
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5
6
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Buch II
1
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9
10
Buch III
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5
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Appendix: Die Prinzipien von Neusprech
Farm der Tiere
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X

Inhaltsverzeichnis

Hörbuch

1984

Buch I

1

2

3

4

5

6

7

8

Buch II

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Buch III

1

2

3

4

5

6

Appendix: Die Prinzipien von Neusprech

Farm der Tiere

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

Impressum:

Titel: 1984, Farm der Tiere

Autor: George Orwell

Übersetzer: Christoph Springinsfeld

Titelbild: Loreta Lazarova, Tsvetan Tsvetkov

ISBN: 9786197642513

Herausgeber: Pretorian Media GmbH, Ul. Yanaki Bogdanov 11, BG-9010 Varna

Erschienen: 2022

Hörbuch

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1984

Buch I

1

Es war ein klarer, kalter Mittag im April. Winston Smith drückte sein Kinn an die Brust, um sich vor dem beißenden Wind zu schützen, und schlüpfte hastig durch die Eingangstüren der Victory Mansions, wenn auch nicht schnell genug, um zu verhindern, dass eine Böe Schmutz mit ihm eintrat.

Der Flur roch nach Kohleintopf und altem Filzboden. Auf einer Seite hing ein mehrfarbiges Plakat an der Wand, zu groß, um in eine der Wohnungen zu passen. Es zeigte nichts als ein riesiges, mehr als einen Meter breites Gesicht: das Gesicht eines etwa fünfundvierzig Jahre alten Mannes, mit einem dicken schwarzen Schnurrbart und harten, aber gutaussehenden Zügen. Winston ging in Richtung der Treppe. Den Aufzug beachtete er gar nicht. Selbst in besseren Zeiten hatte er nur selten funktioniert, und zurzeit war der Strom tagsüber abgestellt. Das war Teil der Sparmaßnahmen als Vorbereitung auf die sogenannte Hasswoche. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, der neununddreißig Jahre alt war und an einem Krampfadergeschwür über dem rechten Knöchel litt, stieg langsam hoch und musste unterwegs einige Pausen einlegen. Auf jeder Etage blickte von der Wand gegenüber dem Aufzugsschacht das Plakat mit dem riesigen Gesicht von der Wand. Es war eines dieser Bilder, die so gestaltet sind, dass man von den Augen verfolgt wird, wenn man sich bewegt. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH, stand darunter geschrieben.

In der Wohnung las eine Stimme voller Begeisterung eine Reihe Zahlen vor, die etwas mit der Erzeugung von Roheisen zu tun hatten. Die Stimme kam von einer breiten Metalltafel, die wie ein matter Spiegel aussah und einen Teil der rechten Wand bedeckte. Winston drehte an einem Regler, und die Stimme wurde etwas leiser, obwohl die Worte immer noch deutlich zu hören waren. Das Gerät (ein sogenannter Teleschirm) ließ sich zwar leiser, aber nicht vollständig aus machen. Er ging zum Fenster hinüber: er war eine kleine, schmächtige Gestalt, wobei der magere Körper nur durch die blauen Overalls, die die Uniform der Partei darstellten, etwas kräftiger wirkte. Sein Haar war sehr hell, sein Gesicht von Natur aus rosig, seine Haut durch die grobe Seife, die stumpfen Rasierklingen und die Kälte des gerade zu Ende gegangenen Winters rau geworden.

Die Welt draußen wirkte selbst durch das geschlossene Fenster kalt. Unten auf der Straße wirbelten kleine Windstöße Staub und Papierfetzen auf, und obwohl die Sonne schien und der Himmel strahlend blau war, wirkte alles farblos, außer den Plakaten, die überall klebten. Das Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart starrte von jeder Ecke herab. An der Hausfassade direkt gegenüber hing eines. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH, stand darunter, und die dunklen Augen blickten tief in die Winstons. Unten auf der Straße flatterte ein weiteres Plakat, das an einer Ecke abgerissen war, unruhig im Wind und zeigte gelegentlich das Wort INGSOC. In der Ferne flog ein Hubschrauber über den Dächern herum, hielt einen Moment lang und flog dann in weiten Kurven wieder davon. Es war die Polizeistreife, die in den Fenstern der Leute herumspionierte. Aber die Patrouillen waren nicht wichtig. Nur die Gedankenpolizei war wichtig.

Hinter Winstons Rücken plapperte die Stimme des Teleschirms immer noch über Roheisen und die Übererfüllung des neunten Dreijahresplans. Das Gerät empfing und sendete gleichzeitig. Jedes Geräusch, das Winston von sich gab, das über den Pegel eines leisen Flüsterns hinausging, wurde registriert, und wenn er sich innerhalb des Blickfeldes aufhielt, konnte man ihn nicht nur hören, sondern auch sehen. Natürlich konnte man nicht wissen, ob man gerade beobachtet wurde. Wie oft oder nach welchen Kriterien sich die Gedankenpolizei in eine einzelne Leitung einklinkte, war reine Spekulation. Es war sogar denkbar, dass sie jeden Einzelnen ständig beobachteten. Aber auf jeden Fall hatten sie Zugriff, wann immer sie es wollten. Es war zur Gewohnheit geworden, sogar zum Instinkt, mit der Annahme zu leben, dass jedes Geräusch, das man von sich gab, belauscht wurde, und dass, außer wenn es dunkel war, jede Bewegung beobachtet wurde.

Winston wandte sich vom Teleschirm ab. Das war sicherer, aber er wusste, dass das Zuwenden seines Rückens verräterisch wirken konnte. Einen Kilometer entfernt ragte das Ministerium für Wahrheit, sein Arbeitsplatz, groß und strahlend weiß aus der schmutzigen Umgebung hervor. Dies, so dachte er mit einer gewissen Abscheu, war London, die Hauptstadt von Airstrip One, der drittgrößten Provinz Ozeaniens. Er versuchte, irgendeine Kindheitserinnerung herauszukitzeln, die ihm verraten würde, ob London schon immer so ausgesehen hatte. Standen da schon immer diese verfallenden Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert, die an den Seiten mit Holzbohlen abgestützt waren, deren Fenster mit Pappe geflickt und deren Dächer mit Wellblech abgedeckt waren und deren auseinanderbröckelnde Gartenmauern in alle Richtungen durchhingen? Und die zerbombten Orte, auf deren von Staub bedeckten Trümmern Wildrosen wuchsen, und die Orte, an denen Raketeneinschläge ganze Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht hatten und auf denen armselige Siedlungen von Bretterbuden, nicht viel besser als Hühnerställe, entstanden waren? Aber es nützte nichts, er konnte sich nicht erinnern: Von seiner Kindheit war nichts übriggeblieben als eine Reihe schemenhafter Bilder, zusammenhanglos und unverständlich.

Das Ministerium für Wahrheit - Miniwahr, in Neusprech[Fußnote 1] - hob sich auffällig von allen anderen Gebäuden in Sichtweite ab. Es handelte sich um ein riesiges pyramidenförmiges Bauwerk aus strahlend weißem Beton, das mit seinen unzähligen Stockwerken 300 Meter in die Höhe ragte. Von dort, wo Winston stand, konnte er gerade noch die drei Parolen der Partei lesen, die in eleganten Buchstaben auf der weißen Fassade prangten:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNWISSENHEIT IST STÄRKE

Das Ministerium für Wahrheit umfasste, so hieß es, dreitausend Räume über dem Erdboden und ein ebenso großes Netzwerk verzweigte sich darunter. In ganz London standen nur drei weitere Gebäude vergleichbarer Form und Größe. Sie überragten die umliegende Bebauung so sehr, dass man vom Dach der Victory Mansions alle vier gleichzeitig sehen konnte. Sie beherbergten die vier Ministerien, unter denen der gesamte Regierungsapparat aufgeteilt war. Das Ministerium für Wahrheit, das sich mit Nachrichten, Unterhaltung, Bildung und schönen Künsten befasste, das Ministerium für Frieden, dem die Kriegsführung oblag, das Ministerium für Liebe, das für Recht und Ordnung sorgte und das Ministerium für Überfluss, das für wirtschaftliche Angelegenheiten zuständig war. In Neusprech hießen sie: Miniwahr, Minipax, Minilieb und Minifluss.

Das Ministerium für Liebe war das wirklich furchteinflößende. Es hatte überhaupt keine Fenster. Winston war noch nie im Ministerium für Liebe gewesen, nicht einmal in einem halben Kilometer Umkreis. Es war ein Ort, den man nur aus dienstlichen Gründen betreten konnte, und auch dann musste man sich den Weg durch ein Labyrinth aus Stacheldrahtverhauen, Stahltüren und versteckten Maschinengewehrnestern bahnen. Sogar die Straßen, die zu den äußeren Barrieren führten, wurden von finster dreinblickenden Wächtern in schwarzen Uniformen mit Schlagstöcken bewacht.

Winston drehte sich abrupt um. Er hatte seiner Miene den optimistischen Ausdruck verliehen, den man beim Blick auf den Teleschirm zu tragen pflegte. Er verließ das Wohnzimmer und ging in die kleine Küche. Da er das Ministerium um diese Zeit verlassen hatte, hatte er auf sein Mittagessen in der Kantine verzichtet, und er war sich bewusst, dass es in der Küche nichts zu essen gab außer einem Stück grauem Brot, das er für das morgige Frühstück aufheben musste. Er nahm eine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit aus dem Regal, auf deren weißem Etikett die Aufschrift VICTORY GIN prangte. Sie verströmte einen üblen, öligen Geruch, der an chinesischen Reisbrand erinnerte. Winston schenkte fast eine Tasse voll ein, sammelte sich und schluckte sie wie Medizin hinunter.

Augenblicklich lief sein Gesicht scharlachrot an und die Augen begannen zu tränen. Das Zeug ätzte wie Säure, und außerdem hatte er beim Schlucken das Gefühl, einen Gummiknüppel auf den Hinterkopf zu bekommen. Im nächsten Moment jedoch ließ das Brennen in seinem Bauch nach, und die Welt begann fröhlicher zu wirken. Er nahm eine Zigarette aus einer zerdrückten Packung mit der Aufschrift VICTORY CIGARETTES und hielt sie unvorsichtigerweise aufrecht, woraufhin der Tabak zu Boden fiel. Bei der nächsten hatte er mehr Erfolg. Er ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich an einen kleinen Tisch, der links neben dem Teleschirm stand. Aus der Tischschublade holte er einen Federhalter, ein Tintenfass und ein dickes, recht großes Notizbuch mit rotem Rücken und marmoriertem Einband heraus.

Aus irgendeinem Grund befand sich der Teleschirm im Wohnzimmer an einer ungewöhnlichen Stelle. Statt wie üblich an der Stirnwand, von wo aus er den ganzen Raum überblicken konnte, hing er an der längeren Wand, gegenüber dem Fenster. An einer Seite war eine kleine Nische, in der Winston jetzt saß und die beim Bau des Wohnhauses wahrscheinlich für Bücherregale gedacht war. Indem er in der Nische saß und sich weit zurücklehnte, blieb Winston, sofern er das einschätzen konnte, außerhalb der Sichtweite des Teleschirms. Natürlich konnte er gehört werden, aber solange er in dieser Position verharrte, konnte er nicht gesehen werden. Es war nicht zuletzt die ungewöhnliche Beschaffenheit des Raumes, die ihn auf die Idee gebracht hatte, das zu tun, was er jetzt vorhatte.

Doch auch das Buch, das er soeben aus der Schublade geholt hatte, hatte ihn dazu angeregt. Es war ein ungewöhnlich schönes Buch. Sein glattes, cremefarbenes Papier, das durch das Alter ein wenig vergilbt war, war etwas, das seit mindestens vierzig Jahren nicht mehr hergestellt wurde. Er konnte jedoch erahnen, dass das Buch noch viel älter war. Er hatte es im Schaufenster eines muffigen kleinen Trödelladens in einem schäbigen Viertel der Stadt liegen sehen (welches Viertel genau, wusste er nicht mehr) und hatte sofort von dem unbändigen Wunsch verspürt, es zu besitzen. Parteimitglieder durften zwar nicht in gewöhnliche Läden gehen ('am freien Markt teilnehmen', wie es hieß), aber die Regel wurde nicht streng verfolgt, weil es dort verschiedene Dinge gab, wie Schnürsenkel und Rasierklingen, die sich nirgends sonst auftreiben ließen. Er hatte einen kurzen Blick die Straße hinauf und hinunter geworfen, war dann in den Laden geschlichen und hatte das Buch für zwei Dollar fünfzig gekauft. Zu diesem Zeitpunkt war ihm nicht klar, wozu er es eigentlich haben wollte. Mit schlechtem Gewissen hatte er es in seiner Aktentasche nach Hause getragen. Auch wenn nichts darin stand, war es ein kompromittierender Gegenstand.

Er hatte vor, ein Tagebuch zu beginnen. Das war nicht illegal (nichts war illegal, denn es gab keine Gesetze mehr), aber würde es entdeckt werden, war es ziemlich sicher, dass er mit dem Tod oder zumindest mit fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager bestraft werden würde. Winston nahm die Feder aus dem Federhalter und saugte an ihr, um sie zu reinigen. Die Feder war ein archaisches Werkzeug, das selbst für Unterschriften selten benutzt wurde, und er hatte sich heimlich und mit einigen Schwierigkeiten eine besorgt, einfach aus dem Gefühl heraus, dass das schöne cremefarbene Papier es verdiente, mit einer richtigen Feder beschrieben zu werden, anstatt von einem Stift zerkratzt zu werden. Eigentlich war er es nicht gewohnt, mit der Hand zu schreiben. Abgesehen von sehr kurzen Notizen war es üblich, alles in den Sprechschreiber zu sprechen, was für seinen jetzigen Zweck natürlich unmöglich war. Er tauchte den Stift in die Tinte und zögerte eine Sekunde lang. Ihm drehten sich die Eingeweide um. Das Papier zu beschreiben war der entscheidende Akt. In kleinen, krakeligen Buchstaben schrieb er:

4. April 1984.

Er lehnte sich zurück. Ein Gefühl völliger Hilflosigkeit hatte ihn ergriffen. Zunächst einmal wusste er nicht mit Sicherheit, dass es 1984 war. Es musste um dieses Datum herum sein, denn er war sich ziemlich sicher, dass er neununddreißig Jahre alt war, und er glaubte, 1944 oder 1945 geboren zu sein; aber es war heutzutage nie möglich, ein Datum auf ein oder zwei Jahre genau zu bestimmen.

Für wen, so fragte er sich plötzlich, schrieb er dieses Tagebuch? Für die Zukunft, für die Ungeborenen. Seine Gedanken kreisten einen Moment lang um das zweifelhafte Datum auf der Seite und stießen dann auf das Neusprechwort Doppeldenk. Zum ersten Mal wurde ihm das Ausmaß seines Vorhabens bewusst. Wie konnte man mit der Zukunft kommunizieren? Das war von Natur aus unmöglich. Entweder würde die Zukunft der Gegenwart ähneln, in diesem Fall würde sie ihm nicht zuhören, oder sie würde sich von ihr unterscheiden, und sein Vorhaben wäre bedeutungslos.

Eine Zeit lang saß er da und starrte gedankenverloren auf das Papier. Aus dem Teleschirm dröhnte aggressive Militärmusik. Seltsamerweise schien er nicht nur die Fähigkeit verloren zu haben, sich zu artikulieren, sondern sogar vergessen zu haben, was er ursprünglich hatte sagen wollen. Seit Wochen bereitete er sich auf diesen Moment vor, und es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass es dazu etwas anderes als nur Mut benötigen könnte. Das eigentliche Schreiben würde einfach sein. Alles, was er zu tun hatte, war, den endlosen, ruhelosen Gedankenmonolog zu Papier zu bringen, der ihm buchstäblich seit Jahren im Kopf herumging. Doch in diesem Moment war selbst dieser Monolog verstummt. Außerdem begann sein Krampfaderngeschwür unerträglich zu jucken. Er traute sich nicht, daran zu kratzen, denn wenn er es tat, entzündete es sich immer. Die Sekunden verstrichen langsam. Er nahm nichts wahr außer der Leere des Blattes vor ihm, dem Juckreiz der Haut über seinem Knöchel, der aggressiven Musik und einem leichten Schwips, den der Gin verursacht hatte.

Plötzlich begann er panisch drauflos zu schreiben, ohne recht zu wissen, was er da eigentlich schrieb. Seine kleine, kindliche Handschrift breitete sich auf der Seite aus, zuerst in einzelnen Großbuchstaben und schließlich sogar in ganzen Sätzen:

4. April 1984. Letzter Abend im Kino. Alles Kriegsfilme. Ein sehr guter Film über ein Schiff voller Flüchtlinge, das irgendwo im Mittelmeer bombardiert wird. Das Publikum amüsierte sich köstlich über die Aufnahmen eines riesigen, fetten Mannes, der versuchte, einem Helikopter davonzuschwimmen. Zuerst sah man ihn wie einen Wal im Wasser treiben, dann wurde er durch das Visier des Helikopters gezeigt, er war voller Löcher, das Meer um ihn herum färbte sich rosa, und schließlich ging er unter; das Publikum schrie vor Lachen. Dann sah man ein Rettungsboot voller Kinder, über dem ein Hubschrauber kreiste. Eine Frau mittleren Alters, wohl eine Jüdin, saß oben am Bug und hatte einen kleinen Jungen im Alter von etwa drei Jahren im Arm. Der Kleine schrie vor Angst und versteckte seinen Kopf zwischen ihren Brüsten, als ob er sich in ihr vergraben wollte, und die Frau legte ihre Arme um ihn und tröstete ihn, obwohl sie selbst ganz blass vor Angst war, wobei sie ihn die ganze Zeit so gut wie möglich zudeckte, als ob sie dachte, ihre Arme könnten die Kugeln von ihm fernhalten. Dann warf der Hubschrauber eine 20-Kilo-Bombe inmitten der Kinder ab, es blitzte gewaltig und das Boot ging in Flammen auf. Danach folgte eine wunderbare Aufnahme eines Kinderarms, der durch die Luft wirbelte. Ein Hubschrauber mit einer Kamera vorne dran muss das Ganze aufgezeichnet haben und es gab eine Menge Applaus von den Sitzen der Parteimitglieder, doch eine Frau aus dem Proletarierbereich machte plötzlich Ärger und schrie, dass so etwas nicht vor Kindern gezeigt werden sollte, dass das nicht richtig sei, bis die Polizei sie rausgebracht hat aber ich glaube, ihr ist nichts passiert, es interessiert auch keinen, typische Proletarier Reaktion ...

Winston hörte auf zu schreiben, unter anderem, weil sein Handgelenk schmerzte. Er wusste nicht, was ihn dazu veranlasst hatte, diesen Haufen Unsinn niederzuschreiben. Aber das Merkwürdige war, dass währenddessen eine ganz andere Erinnerung in seinem Kopf aufgetaucht war, so dass er sich fast dazu gezwungen sah, sie aufzuschreiben. Es war, wie er jetzt erkannte, diese eine Begebenheit, die ihn plötzlich dazu veranlasst hatte, nach Hause zu gehen und heute endlich mit dem Tagebuch zu beginnen.

Es war an diesem Morgen im Ministerium passiert, wenn man überhaupt sagen konnte, dass etwas passiert war.

Es war fast elf Uhr, und in der Dokumentationsabteilung, in der Winston arbeitete, wurden gerade die Stühle aus den Abstellkammern herausgeholt und in der Mitte des Saals gegenüber dem großen Teleschirm aufgestellt, um den Zwei-Minuten-Hass vorzubereiten. Winston nahm gerade in einer der mittleren Reihen Platz, als unerwartet zwei Personen in den Raum kamen, die er vom Sehen her kannte, mit denen er aber noch nie gesprochen hatte. Eine von ihnen war eine junge Frau, der er oft auf den Gängen begegnete. Er kannte ihren Namen nicht, aber er wusste, dass sie in der Propagandaabteilung arbeitete. Vermutlich arbeitete sie - da er sie manchmal mit ölverschmierten Händen und einem Schraubenschlüssel gesehen hatte - als Mechanikerin an einer der Romanschreibmaschinen. Sie war ein hübsches Mädchen um die Siebenundzwanzig, mit dichtem, dunklem Haar, einem sommersprossigen Gesicht und wirkte flink und athletisch. Eine schmale scharlachrote Schärpe, das Emblem der Keuschheitsjugendliga, war mehrmals um die Taille ihres Overalls gewickelt, gerade eng genug, um die Rundungen ihrer Hüften zu betonen. Winston hatte sie vom ersten Augenblick an nicht gemocht. Er kannte den Grund dafür. Sie strahlte die Atmosphäre von Fußballplätzen, kalten Duschen, Gemeinschaftswanderungen und kleinkariertem Ordnungsdenken aus. Er mochte fast alle Frauen nicht, vor allem nicht die jungen und hübschen. Es waren immer Frauen, und vor allem die jungen, die der Partei am fanatischsten ergeben waren, die Parolen schluckten, die Amateurspione, die nach Abweichlern Ausschau hielten. Aber diese Frau schien ihm gefährlicher zu sein als die meisten anderen. Einmal, als sie auf dem Korridor aneinander vorbeigingen, warf sie ihm einen kurzen Blick von der Seite zu, der ihn zu durchbohren schien und ihn einen Moment lang mit tiefster Angst erfüllt hatte. Ihm war sogar der Gedanke gekommen, dass sie eine Agentin der Gedankenpolizei sein könnte. Das war freilich sehr unwahrscheinlich. Dennoch verspürte er weiterhin ein merkwürdiges Unbehagen, eine Mischung aus Angst und Feindseligkeit, wenn sie in seiner Nähe war.

Bei der anderen Person handelte es sich um einen Mann namens O'Brien, ein Mitglied der Inneren Partei und Träger eines so wichtigen und hohen Amtes, dass Winston nur eine vage Vorstellung davon hatte, worum es sich dabei handelte. Die um die Stühle versammelte Gruppe wurde für einen Moment still, als sie den schwarzen Overall eines Mitglieds der Inneren Partei näherkommen sah. O'Brien war ein großer, kräftiger Mann mit einem dicken Hals und harten, grausamen und verschmitzten Gesichtszügen. Trotz seiner furchterregenden Erscheinung versprühte er einen gewissen Charme. Er hatte die Angewohnheit, seine Brille so auf der Nase zu platzieren, dass er auf gewisse Weise entwaffnend und merkwürdig kultiviert wirkte. Es war eine Ausstrahlung, die, wenn jemand noch in solchen Begriffen gedacht hätte, an einen Adligen des achtzehnten Jahrhunderts erinnert hätte, der seine Schnupftabakdose anbietet. Winston hatte O'Brien in einem Dutzend Jahren vielleicht ebenso oft gesehen. Er fühlte sich zutiefst zu ihm hingezogen, und zwar nicht nur, weil ihn der Kontrast zwischen O'Briens gutbürgerlichem Auftreten und seinem Körper, der an einen Box-Champion erinnerte, faszinierte. Vielmehr war es die heimliche Überzeugung - oder vielleicht nicht einmal eine Überzeugung, sondern nur eine vage Hoffnung -, dass O'Brien nicht zu den Dogmatikern in der Partei gehörte. Irgendetwas in seinem Gesicht schien dies nahezulegen. Und vielleicht war es nicht einmal fehlende Dogmatik, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, sondern einfach Intelligenz. Auf jeden Fall wirkte er wie ein Mensch, mit dem man reden konnte, wenn man irgendwie den Teleschirm überlisten und ihn allein erwischen konnte. Winston hatte nie den geringsten Versuch unternommen, diese Vermutung zu überprüfen, denn es gab keine Möglichkeit, dies zu tun. In diesem Moment blickte O'Brien auf seine Armbanduhr, sah, dass es fast elf Uhr war, und beschloss offenbar, in der Dokumentationsabteilung zu bleiben, bis der Zwei-Minuten-Hass vorüber war. Er nahm einen Stuhl in der gleichen Reihe wie Winston, ein paar Plätze weiter. Eine kleine, braunhaarige Frau, die am Arbeitsplatz neben Winston arbeitete, saß zwischen ihnen. Das Mädchen mit den dunklen Haaren saß direkt dahinter.

Im nächsten Moment ertönte aus dem großen Teleschirm am Ende des Raumes ein grässliches, knirschendes Geräusch, wie von einer monströsen, schlecht geölten Maschine. Es war ein Ton, bei dem man die Zähne zusammenbeißen musste und sich die Haare im Nacken sträubten. Der Zwei-Minuten-Hass hatte begonnen.

Wie üblich war das Gesicht Emmanuel Goldsteins, dem Feind des Volkes, auf dem Teleschirm eingeblendet worden. Hier und da zischte es im Publikum. Die kleine Frau mit den braunen Haaren kreischte vor Angst und Abscheu. Goldstein war ein Abtrünniger und Verräter, der einst, vor langer Zeit (wie lange, wusste niemand mehr), eine der führenden Persönlichkeiten der Partei gewesen war, fast auf einer Stufe mit dem Großen Bruder selbst, dann jedoch die Revolution verraten hatte, zum Tode verurteilt worden war und auf mysteriöse Weise entkommen und verschwunden war. Das Programm des Zwei-Minuten-Hasses variierte von Tag zu Tag, aber immer drehte es sich um Goldstein. Er war der Erzfeind, der die Reinheit der Partei beschmutzt hatte. Alle späteren Verbrechen gegen die Partei, alle Spionage- und Sabotageakte, Verirrungen und Verwässerungen der Ideologie ließen sich direkt auf seine Lehren zurückführen. Irgendwo war er noch am Leben und brütete seine Verschwörungen aus: Vielleicht irgendwo jenseits des Meeres, unter dem Schutz seiner ausländischen Auftraggeber, vielleicht sogar - so wurde gelegentlich gemunkelt - in irgendeinem Versteck in Ozeanien selbst.

Winstons fühlte einen Knoten in der Magengegend. Er konnte das Gesicht von Goldstein nicht ohne eine schmerzhafte Gefühlsmischung ansehen. Es war ein hageres, jüdisches Gesicht, mit einem großen, wuscheligen Schopf weißer Haare und einem kleinen Ziegenbart – es wirkte klug, und doch irgendwie von Natur aus verabscheuungswürdig, die lange, dünne Nase, an deren Ende eine Brille saß, hatte etwas Seniles, Albernes. Es ähnelte dem Gesicht eines Schafes, und auch die Stimme hatte etwas Schafartiges an sich. Goldstein trug seine übliche, hasserfüllte Attacke gegen die Lehren der Partei vor - eine Attacke, die so übertrieben und grotesk war, dass ein Kind sie hätte durchschauen können, und doch gerade glaubwürdig genug, um einen mit dem beunruhigenden Gefühl zu erfüllen, dass andere Menschen, die nicht so vernünftig waren wie man selbst, auf sie hereinfallen könnten. Er beschimpfte den Großen Bruder, er prangerte die Macht der Partei an, er forderte den sofortigen Friedensschluss mit Eurasien, er plädierte für Rede-, Presse-, Versammlungs- und Gedankenfreiheit, er schrie hysterisch, dass die Revolution verraten worden sei - und das alles in einer rasanten, verschachtelten Rhetorik, die den Stil der Parteiredner parodierte und sogar Neusprech-Worte enthielt, mehr Neusprech-Worte sogar, als ein Parteimitglied im normalen Leben verwenden würde. Und damit kein Zweifel an der Wahrheit aufkam, über die Goldsteins durchschaubares Geschwätz hinwegzutäuschen versuchte, sah man hinter ihm am Teleschirm die endlosen Kolonnen der eurasischen Armee marschieren - Reihe um Reihe kräftiger Männer mit ausdruckslosen, asiatischen Gesichtern, die auf den Zuseher zuschritten und verschwanden, um hinter sich den Blick auf die nächsten, gleich aussehenden Soldaten frei zu machen. Das dumpfe, rhythmische Stampfen der Soldatenstiefel untermalte die blökende Stimme Goldsteins.

Noch bevor dreißig Sekunden verstrichen waren, brach die Hälfte der Anwesenden in unkontrollierte Wutausbrüche aus. Das selbstgefällige Schafsgesicht auf dem Teleschirm und die furchteinflößende Stärke der eurasischen Armee dahinter waren nicht mehr zu ertragen; außerdem löste der Anblick oder auch nur der Gedanke an Goldstein automatisch Angst und Wut aus. Er war ein Hassobjekt, das als solches beständiger war als Eurasien oder Ostasien, denn wenn Ozeanien mit einer dieser Mächte im Krieg lag, war es in der Regel mit der anderen im Frieden. Aber das Seltsame war, dass, obwohl Goldstein von allen gehasst und verachtet wurde, obwohl jeden Tag und jeden Tag tausendmal, auf Podien, in den Teleschirmen, in Zeitungen und Büchern seine Theorien entkräftet, widerlegt, ins Lächerliche gezogen und vor aller Augen als erbärmlicher Blödsinn bloßgestellt wurden - trotz alledem schien sein Einfluss nie zu schwinden. Immer wieder fanden sich neue Dummköpfe, die darauf warteten, von ihm verführt zu werden. Es verging kein Tag, an dem Spione und Saboteure, die in seinem Auftrag handelten, nicht von der Gedankenpolizei enttarnt wurden. Er war der Befehlshaber einer riesigen Schattenarmee, eines Untergrundnetzes von Verschwörern, die sich dem Sturz des Staates verschrieben hatten. Die Bruderschaft lautete ihr Name. Es wurde auch über ein schreckliches Buch gemunkelt, ein Sammelsurium sämtlicher Irrlehren, dessen Autor Goldstein war und das im Geheimen im Umlauf war. Es war ein Buch ohne Titel. Man bezeichnete es, wenn überhaupt, einfach als DAS BUCH. Aber von solchen Dingen wusste man nur durch vage Gerüchte. Weder die Bruderschaft noch DAS BUCH waren ein Thema, das ein gewöhnliches Parteimitglied erwähnte, wenn es sich vermeiden ließ.

In der zweiten Minute steigerte sich der Hass zur Ekstase. Die Leute sprangen auf ihren Plätzen auf und ab und schrien lauthals, um die wahnsinnig blökende Stimme, die vom Teleschirm kam, zu übertönen. Die kleine Frau mit den braunen Haaren war knallrosa angelaufen, und ihr Mund öffnete und schloss sich wie der eines gestrandeten Fisches. Selbst O'Briens ernstes Gesicht war errötet. Er saß kerzengerade in seinem Stuhl, seine mächtige Brust schwoll an und bebte, als würde er sich gegen den Ansturm einer Welle stemmen. Das dunkelhaarige Mädchen hinter Winston hatte begonnen zu schreien: "Schwein! Schwein! Schwein!", und plötzlich nahm sie ein schweres Neusprech-Wörterbuch in die Hand und schleuderte es gegen den Teleschirm. Es traf Goldsteins Nase und prallte ab; die Stimme sprach unaufhaltsam weiter. In einem lichten Moment stellte Winston fest, dass er mit den anderen schrie und mit dem Absatz heftig gegen die Strebe seines Stuhls trat. Das Schreckliche an dem Zwei-Minuten-Hass war nicht, dass man gezwungen wurde, mitzumachen, sondern im Gegenteil, dass es unmöglich war, nicht mitzumachen. Nach dreißig Sekunden musste man sich nicht einmal mehr verstellen. Ein abscheulicher Rausch aus Angst und Rachsucht, ein Verlangen zu töten, zu foltern, Köpfe mit einem Vorschlaghammer einzuschlagen, schien die Menge zu elektrisieren und einen selbst gegen seinen Willen in einen tobenden Wahnsinnigen zu verwandeln. Und doch war die Wut, die man empfand, ein abstraktes, unwillkürliches Gefühl, das sich wie die Flamme einer Lötlampe von einem Objekt auf ein anderes richten ließ. So richtete sich Winstons Hass in einem Moment gar nicht gegen Goldstein, sondern im Gegenteil gegen den Großen Bruder, die Partei und die Gedankenpolizei; und in solchen Momenten schlug sein Herz für den verachteten, verspotteten Verräter auf dem Teleschirm, den einzigen Hüter von Wahrheit und Vernunft in einer Welt voller Lügen. Und doch war er im nächsten Augenblick eins mit den Menschen um ihn herum, und alles, was über Goldstein gesagt wurde, schien ihm wahr zu sein. In diesen Momenten verwandelte sich seine heimliche Abscheu gegenüber dem Großen Bruder in Bewunderung, und der Große Bruder erschien ihm als unbesiegbarer, furchtloser Beschützer, der wie ein Fels gegen die Horden Asiens stand, und Goldstein erschien ihm trotz seiner Isolation, seiner Hilflosigkeit und der Zweifel an seiner Existenz wie ein böser Zauberer, der allein durch die Kraft seiner Stimme das Gefüge der Gesellschaft zerstören konnte.

In manchen Momenten war es sogar möglich, seinen Hass bewusst in die eine oder andere Richtung zu lenken. Plötzlich gelang es Winston, mittels heftiger Anstrengung, als würde man während eines Albtraums den Kopf aus dem Kissen reißen, seinen Hass von dem Gesicht auf dem Teleschirm auf das dunkelhaarige Mädchen hinter ihm zu übertragen. Lebendige, herrliche Fantasien schossen ihm durch den Kopf. Er prügelte sie mit einem Gummiknüppel zu Tode. Er band sie nackt an einen Pfahl und durchlöcherte sie mit Pfeilen, wie den Heiligen Sebastian. Er schändete sie und schnitt ihr im Moment des Höhepunkts die Kehle durch. Mehr als zuvor wurde ihm klar, warum er sie hasste. Er hasste sie, weil sie jung und hübsch und asexuell war, weil er mit ihr ins Bett gehen wollte und es nie tun würde, weil um ihre wohlgeformte, geschmeidige Taille, die wie eine Aufforderung schien, sie in die Arme zu nehmen, nur die abscheuliche scharlachrote Schärpe hing, das aggressive Symbol der Keuschheit.

Der Hass steigerte sich zu seinem Höhepunkt. Die Stimme Goldsteins war zu einem tatsächlichen Schafsblöken geworden, und für einen Augenblick verwandelte sich das Gesicht in das eines Schafs. Dann verschmolz das Schafsgesicht mit der Gestalt eines eurasischen Soldaten, der vorzurücken schien, riesig und furchterregend, sein Maschinengewehr dröhnte und schien aus dem Teleschirm des Teleschirms herauszustehen, so dass einige Leute in der ersten Reihe auf ihren Sitzen zurückwichen. Doch im nächsten Moment atmeten alle auf, als die feindliche Gestalt mit dem Gesicht des Großen Bruders verschmolz, mit den schwarzen Haaren, dem schwarzen Schnurrbart, voller Kraft und unergründlicher Ruhe und so groß, dass es fast die ganze Leinwand ausfüllte. Niemand nahm wahr, was der Große Bruder sagte. Es waren nur ein paar anheizende Worte, die Art von Worten, die im Kampfgetümmel fallen, inhaltslos, aber durch die Tatsache, dass sie ausgesprochen wurden, zuversichtserweckend. Dann verblasste das Gesicht des Großen Bruders wieder, und stattdessen erschienen die drei Parolen der Partei in fetten Großbuchstaben:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNWISSENHEIT IST STÄRKE

Doch das Gesicht des Großen Bruders schien noch einige Sekunden auf dem Teleschirm zu verharren, als wäre der Eindruck, den es in den Augen aller hinterlassen hatte, zu lebendig, um sofort wieder zu verschwinden. Die kleine Frau mit den braunen Haaren hatte sich über die Rückenlehne des Stuhls vor ihr nach vorne geworfen. Mit einem zitternden Gemurmel, das wie "Mein Held!" klang, streckte sie ihre Arme nach der Leinwand aus. Dann vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen. Sie schien ein Gebet zu sprechen.

In diesem Moment brach die Menge in ein tiefes, langsames, rhythmisches 'G-B!...G-B!' aus - immer und immer wieder, ganz langsam, mit einer langen Pause zwischen dem dem 'G' und dem 'B' - ein schweres Gemurmel, archaisch, dass man das Aufstampfen nackter Füße und das Schlagen von Trommeln zu hören glaubte. So ging es vielleicht dreißig Sekunden lang weiter. Es war ein Rhythmus, der oft in Momenten überwältigender Emotionen zu hören war. Teilweise war es eine Art Lobgesang an die Weisheit und Erhabenheit des Großen Bruders, aber mehr noch diente er dazu, sich in Trance zu versetzen, ein absichtliches Ertränken des Bewusstseins durch rhythmischen Lärm. Winston wurde flau im Magen. Während des Zwei-Minuten-Hasses konnte er nicht umhin, sich dem allgemeinen Delirium zu unterwerfen, aber dieser tierische Sprechgesang von 'G-B!...G-B!' erfüllte ihn stets mit Entsetzen. Natürlich sang er mit den anderen mit: Es war nicht möglich, etwas anderes zu tun. Seine Gefühle zu verbergen, seine Miene zu beherrschen, das zu tun, was alle anderen taten, geschah instinktiv. Aber während eines Zeitraums von ein paar Sekunden hätte ihn sein Blick beinahe verraten können. Und genau in diesem Moment war das Entscheidende passiert - wenn es denn überhaupt passiert war.

Einen Moment lang fiel sein Blick auf O'Brien. O'Brien war aufgestanden. Er hatte seine Brille abgenommen und war gerade dabei, sie mit seiner charakteristischen Geste wieder auf die Nase zu setzen. Aber für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke, und währenddessen wusste Winston - ja, er WUSSTE! - dass O'Brien das Gleiche dachte wie er selbst. Eine unmissverständliche Botschaft war übermittelt worden. Es war, als hätten sich ihre beiden Geister geöffnet, und die Gedanken strömten durch ihre Augen von einem zum anderen. 'Ich bin auf deiner Seite', schien O'Brien zu ihm zu sagen. 'Ich weiß genau, was du fühlst. Ich weiß alles über deine Verachtung, deinen Hass und deine Abscheu. Aber keine Sorge, ich bin auf deiner Seite!' Und dann verschwand der Anflug von Intelligenz, und O'Briens Miene wirkte wieder so geistlos wie die der anderen.

Das war es, und er war sich bereits nicht mehr sicher, ob es wirklich passiert war. Solche Vorfälle blieben immer bedeutungslos. Sie hielten in ihm nur den Glauben oder die Hoffnung wach, dass es außer ihm noch andere Feinde der Partei gab. Vielleicht waren die Gerüchte über große Verschwörungen im Untergrund doch wahr - vielleicht gab es die Bruderschaft wirklich! Trotz der endlosen Verhaftungen, Geständnisse und Hinrichtungen war es unmöglich, sicher zu sein, dass die Bruderschaft nicht nur ein Mythos war. An manchen Tagen glaubte er an sie, an anderen nicht. Es gab keine Beweise, nur flüchtige Anzeichen, die alles oder nichts bedeuten konnten: belauschte Gesprächsfetzen, undeutliche Kritzeleien auf Toilettenwänden - einmal sogar hatte er zwei Fremde dabei beobachtet, wie sie eine kleine Handbewegung zum Gruß machten, die wie ein Erkennungszeichen gewirkt hatte. Es war alles nur Vermutung: Sehr wahrscheinlich hatte er sich alles nur eingebildet. Er war zu seinem Arbeitsplatz zurückgegangen, ohne O'Brien noch einmal anzusehen. Es kam ihm kaum in den Sinn, den Kontakt zu suchen. Es wäre unvorstellbar gefährlich gewesen, selbst wenn er gewusst hätte, wie er es anstellen sollte. Für eine Sekunde, zwei Sekunden, hatten sie einen zweideutigen Blick ausgetauscht, und das war das Ende der Geschichte. Aber selbst das war ein denkwürdiges Ereignis, in der abgeschotteten Isolation, in der man leben musste.

Winston streckte sich und setzte sich aufrecht hin. Er stieß einen Rülpser aus. Der Gin rumorte in seinem Magen.

Seine Augen richteten sich wieder auf das Blatt. Er stellte fest, dass er, während er hilflos vor sich hin grübelte, wie von selbst geschrieben hatte. Und es war nicht mehr die gleiche verkrampfte, unbeholfene Handschrift wie zuvor. Seine Feder war schwungvoll über das glatte Papier geglitten und hatte in großen, sauberen Großbuchstaben geschrieben:

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER!

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER!

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER!

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER!

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER!

Wieder und wieder, eine halbe Seite füllte er damit aus.

Er konnte nicht umhin, einen Anflug von Panik zu verspüren. Es war eigentlich albern, denn das Schreiben dieser Worte war nicht gefährlicher als bereits das Öffnen des Tagebuchs, aber einen Moment lang spürte er die Versuchung, die beschriebenen Seiten herauszureißen und die Sache ganz aufzugeben.

Er tat es jedoch nicht, weil er wusste, dass es sinnlos war. Ob er nun NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER schrieb oder nicht, machte keinen Unterschied. Ob er das Tagebuch weiterführte oder nicht, machte keinen Unterschied. Die Gedankenpolizei würde ihn in jedem Fall kriegen. Das eigentliche Verbrechen hatte er bereits begangen - und hätte es auch begangen, wenn er nie etwas zu Papier gebracht hätte -, auf dem alle anderen Verbrechen gründeten. Gedankenverbrechen nannten sie es. Gedankenverbrechen konnte man nicht ewig verbergen. Man konnte sich eine Zeit lang, ja sogar jahrelang, erfolgreich verstecken, aber früher oder später erwischten sie einen doch.

Es war immer nachts - die Verhaftungen erfolgten ausnahmslos nachts. Ein plötzlicher Ruck aus dem Schlaf, eine Hand, die einen grob an der Schulter packte, grelles Licht, das einen blendete, finstere Gesichter um das Bett herum. In den allermeisten Fällen gab es keinen Prozess, keinen Bericht über die Verhaftung. Die Leute verschwanden einfach, immer in der Nacht. Ihr Name wurde aus den Akten gestrichen, alle Aufzeichnungen über alles, was sie jemals getan hatten, wurden vernichtet, ihre einstige Existenz wurde geleugnet und schließlich vergessen. Man wurde beseitigt, ausgelöscht: VAPORISIERT war das gebräuchliche Wort.

Einen Moment überwältigte ihn eine gewisse Hysterie. Er begann in hastigem, unsauberem Gekritzel zu schreiben:

sollen sie mich erschießen es ist mir egal, von hinten ins genick, es ist mir egal nieder mit dem großen bruder sie schießen immer von hinten ins genick es ist egal nieder mit dem großen bruder

Beschämt lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und legte den Stift weg. Im nächsten Moment schreckte er heftig auf. Es klopfte an der Tür.

Jetzt schon! Er blieb mucksmäuschenstill sitzen, in der vergeblichen Hoffnung, dass derjenige, der es war, es bei einem Versuch belassen und wieder verschwinden würde. Aber nein, wieder klopfte es. Das Schlimmste überhaupt wäre es, zu zögern. Sein Herz raste, aber sein Gesicht war vermutlich dank langer Gewohnheit ausdruckslos. Er stand auf und bewegte sich schwerfällig auf die Tür zu.

2

Als er zum Türknauf griff, sah Winston, dass er das Tagebuch offen auf dem Tisch liegen gelassen hatte. NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER stand über die ganze Seite geschrieben, so groß, dass man es vom ganzen Zimmer aus lesen konnte. Was er gemacht hatte, war unfassbar dumm. Ihm fiel auf, dass er trotz seiner Panik das cremefarbene Papier nicht mit der feuchten Tinte verschmieren wollte, indem er das Buch zuklappte.

Er holte tief Luft und öffnete die Tür. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Eine blasse, müde wirkende Frau mit schütterem Haar und Falten im Gesicht stand vor der Tür.

"Ach, Genosse", sagte sie mit trüber, klagender Stimme, "ich dachte doch, ich hätte dich heimkommen hören. Meinst du, du könntest rüberkommen und dir unser Spülbecken ansehen? Es ist verstopft und... "

Es war Mrs. Parsons, die Frau eines Nachbarn aus demselben Stockwerk ('Mrs.' war ein Wort, das in der Partei verpönt war - man sollte einander mit 'Genosse' anreden -, doch bei manchen Frauen benutzte man es instinktiv). Sie war eine Frau um die Dreißig, sah aber viel älter aus. Es sah so aus, als würde sich Staub in ihren Falten ablagern. Winston folgte ihr durch den Gang. Fast jeden Tag musste irgendetwas provisorisch repariert werden. Die Victory Mansions waren alte Wohnungen, erbaut um 1930, und sie verfielen zusehends. Der Putz blätterte von Decken und Wänden ab, die Rohre platzten bei strengem Frost, das Dach war nach jedem Schneefall undicht, die Heizungsanlage lief meist auf Sparflamme, wenn sie nicht aus Kostengründen ganz abgeschaltet war. Reparaturen, abgesehen von denen, die man selbst vornehmen konnte, mussten von irgendwelchen Komitees genehmigt werden, wodurch selbst der Tausch einer Fensterscheibe eine Angelegenheit von zwei Jahren war.

"Natürlich nur, weil Tom nicht zu Hause ist", sagte Mrs. Parsons knapp.

Die Wohnung der Parsons war größer als die von Winston und auf ihre eigene Art heruntergekommen. Sie wirkte ramponiert und verwüstet, als wäre sie gerade von einem großen, wilden Tier heimgesucht worden. Sportsachen - Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein geplatzter Fußball, eine umgedrehte, verschwitzte Trainingshose - lagen überall am Boden verstreut, und am Tisch lag ein Stapel schmutzigen Geschirrs und zerknitterte Schulhefte. Von den Wänden hingen scharlachrote Fahnen der Jugendliga und der Spione sowie ein lebensgroßes Plakat des Großen Bruders. Es roch nach Krauteintopf, wie auch der Rest des Gebäudes, aber noch stärker war der Schweißgeruch, der eindeutig von jemandem stammte, der gerade nicht zugegen war. In einem anderen Zimmer versuchte jemand mit einem Kamm und einem Stück Klopapier, die Militärmusik, die aus dem Teleschirm dröhnte, zu begleiten.

"Das sind nur die Kinder", sagte Mrs. Parsons und warf einen etwas besorgten Blick auf die Tür. "Sie waren heute noch nicht draußen. Und natürlich..."

Sie hatte die Angewohnheit, ihre Sätze mittendrin abzubrechen. Die Spüle war fast bis zum Rand mit schmutzigem, grünlichem Wasser gefüllt, das mehr als alles andere nach Kraut roch. Winston kniete sich hin und untersuchte den Siphon. Er hasste körperliche Arbeit, und er hasste es, sich zu bücken, weil er dabei immer husten musste. Mrs. Parsons schaute hilflos zu.

"Wenn Tom zu Hause wäre, würde er das natürlich sofort reparieren", sagte sie. "Er liebt so etwas. Er ist so gut mit seinen Händen, oh Tom."

Parsons war Winstons Kollege im Ministerium für Wahrheit. Er war ein dicklicher, aber lebhafter Mann, der lähmend dumm und leicht zu begeistern war - einer jener völlig bedingungslos gehorsamen Dummköpfe, von denen die Partei noch mehr abhing als von der Gedankenpolizei.

Mit fünfunddreißig war er gerade unfreiwillig aus der Jugendliga ausgeschlossen worden, und bevor er in die Jugendliga eingetreten war, war es ihm gelungen, ein Jahr länger als vorgesehen bei den Spionen zu bleiben. Im Ministerium war er auf einem untergeordneten Posten beschäftigt, für den keine besondere Intelligenz erforderlich war, andererseits war er in führender Position im Sportausschuss und in allen anderen Ausschüssen, die sich mit der Organisation von Gemeinschaftswanderungen, Spontandemonstrationen, Sparvereinen und anderen ehrenamtlichen Tätigkeiten befassten. Mit einem gewissen Stolz erzählte er zwischen zwei Zügen an seiner Pfeife, dass er in den letzten vier Jahren jeden Abend im Gemeinschaftszentrum erschienen war. Ein überwältigender Schweißgeruch, mit dem er seine Mühen unterbewusst unterstreichen zu versuchen schien, verfolgte ihn auf Schritt und Tritt und hing noch in der Luft, nachdem er einen Raum verlassen hatte.

"Haben Sie eine Rohrzange?", fragte Winston und fummelte am Verschluss des Siphons herum.

"Eine Rohrzange?", sagte Mrs. Parsons und wirkte plötzlich verwirrt. "Ich weiß nicht, ich bin nicht sicher. Vielleicht die Kinder..."

Das Trampeln von Stiefeln und die Melodie aus dem Kamm waren zu hören, als die Kinder ins Wohnzimmer stürmten. Mrs. Parsons brachte die Rohrzange. Winston ließ das Wasser ab und entfernte angewidert den Klumpen menschlicher Haare, der das Rohr verstopft hatte. Er säuberte seine Finger, so gut es ging im kalten Wasser aus dem Hahn und ging zurück in den Nebenraum.

"Nimm die Hände hoch!", brüllte eine grimmige Stimme.

Ein hübscher, kräftig aussehender neunjähriger Junge war hinter dem Tisch aufgetaucht und bedrohte ihn mit einer Spielzeug-Maschinenpistole, während seine kleine, etwa zwei Jahre jüngere Schwester es ihm mit einem Stück Holz gleichtat. Beide trugen die Uniform der Spione: blaue Shorts, graue Hemden und rote Halstücher. Winston hob die Hände über den Kopf, doch mit einem mulmigen Gefühl, denn der Junge wirkte, als würde er es ernst meinen.

"Du bist ein Verräter!", schrie der Junge. "Du bist ein Gedankenverbrecher! Du bist ein eurasischer Spion! Ich werde dich erschießen, ich vaporisiere dich, du kommst in die Salzminen!"

Plötzlich sprangen beide um ihn herum und riefen "Verräter!" und "Gedankenverbrecher!", wobei das kleine Mädchen jede Bewegung ihres Bruders nachahmte. Es war ein wenig beängstigend, wie kleine Tiger, die noch herumbalgen, aber bald zu Raubtieren heranwachsen würden. Die Augen des Jungen strahlten eine berechnende Grausamkeit aus, das ganz offensichtliche Verlangen, Winston zu schlagen oder zu treten, und das Wissen, fast groß genug zu sein, um dieses Verlangen in die Tat umzusetzen. Gut, dass es keine echte Waffe war, die er in der Hand hielt, dachte Winston.

Mrs. Parsons' Augen huschten nervös von Winston zu den Kindern und wieder zurück. Im Wohnzimmer, in dem besseres Licht herrschte, bemerkte er fasziniert, dass tatsächlich Staub in ihren Gesichtsfalten lag.

"Sie sind so laut", sagte sie. "Sie sind enttäuscht, weil sie die Hinrichtung nicht sehen konnten, das ist es. Ich bin zu beschäftigt, um mit ihnen hinzugehen, und Tom wird nicht rechtzeitig von der Arbeit zurück sein."

"Warum können wir nicht zur Hinrichtung gehen?", brüllte der Junge mit seiner kräftigen Stimme.

"Wir wollen die Hinrichtung sehen! Wir wollen den Galgen sehen!", rief das kleine Mädchen, das immer noch herumhüpfte.

Einige gefangene, eurasische Kriegsverbrecher sollten an diesem Abend im Park gehängt werden, erinnerte sich Winston. Das geschah etwa einmal im Monat und war ein beliebtes Spektakel. Die Kinder drängten sich immer darum, dabei sein zu dürfen. Er verabschiedete sich von Mrs. Parsons und machte sich auf den Weg zur Tür. Aber er war noch keine sechs Schritte den Gang hinunter gegangen, als er einen schmerzhaften Schlag im Nacken verspürte. Er drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie Mrs. Parsons ihren Sohn zurück in die Wohnung zerrte, während der Junge eine Schleuder einsteckte.

"Goldstein", brüllte der Junge, als sich die Tür hinter ihm schloss. Aber was Winston am meisten traf, war der hilflose, verängstigte Ausdruck auf dem fahlen Gesicht der Frau.

Zurück in der Wohnung hastete er am Teleschirm vorbei und setzte sich wieder an den Tisch, während er sich immer noch den Nacken rieb. Die Musik aus dem Teleschirm war verstummt. Stattdessen las eine abgehackte Soldatenstimme mit einem aggressiven, vergnügt wirkenden Unterton eine Beschreibung der Bewaffnung der neuen schwimmenden Festung vor, die kürzlich zwischen Island und den Färöer-Inseln vor Anker gegangen war.

Mit diesen Kindern, dachte er, muss diese unglückliche Frau ein Leben in Angst und Schrecken führen. Noch ein Jahr, vielleicht zwei, und sie würden ihr Tag und Nacht hinterherspitzeln. Heutzutage waren fast alle Kinder schrecklich. Das Schlimmste war, dass sie durch Organisationen wie die Spione systematisch in unzähmbare kleine Wilde verwandelt wurden, und dennoch regte sich in ihnen kein Widerstand gegen die autoritäre Herrschaft der Partei. Im Gegenteil, sie verehrten die Partei und alles, was mit ihr zusammenhing. Die Lieder, die Paraden, die Fahnen, das Wandern, das Exerzieren mit Holzgewehren, das Brüllen von Parolen, die Verherrlichung des Großen Bruders - das alles war für sie eine Art Spiel. Ihre ganze Aggressivität richtete sich nach außen, gegen die Feinde des Staates, gegen Ausländer, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Für Menschen über dreißig war es fast normal, Angst vor den eigenen Kindern zu haben. Und das aus gutem Grund, denn es verging kaum eine Woche, in der die "Times" nicht einen Bericht brachte, in dem beschrieben wurde, wie ein kleiner Schnüffler - ein sogenannter "kleiner Held" - eine kompromittierende Aussage aufgeschnappt und seine Eltern bei der Gedankenpolizei denunziert hatte.

Der Schmerz, den das Geschoss aus der Schleuder verursacht hatte, war abgeklungen. Halbherzig nahm er die Feder in die Hand und überlegte, ob er noch etwas in das Tagebuch schreiben könnte. Plötzlich begann er wieder an O'Brien zu denken.

Vor Jahren - wie lange war das her? Sieben Jahre mussten es sein - hatte er geträumt, dass er durch einen stockdunklen Raum ging. Und jemand, der in der Nähe saß, hatte ihm im Vorbeigehen gesagt: "Wir werden uns an dem Ort treffen, an dem es keine Dunkelheit gibt". Es war ganz leise, fast beiläufig gesagt worden - eine Feststellung, kein Befehl. Er war weitergegangen, ohne innezuhalten. Das Merkwürdige war, dass die Worte damals, im Traum, keinen großen Eindruck auf ihn gemacht hatten. Erst später und nach und nach schienen sie an Bedeutung zu gewinnen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob er O'Brien vor oder nach dem Traum zum ersten Mal gesehen hatte, und er konnte sich auch nicht daran erinnern, wann er die Stimme zum ersten Mal als die O'Briens identifiziert hatte. Aber auf jeden Fall hatte er sie erkannt. Es war O'Brien, der aus der Dunkelheit zu ihm gesprochen hatte.

Winston konnte sich nie sicher sein - selbst nach dem Blitzen in den Augen an diesem Morgen war es immer noch unmöglich, sicher zu sein, ob O'Brien ein Freund oder ein Feind war. Es schien auch keine große Rolle zu spielen. Zwischen ihnen herrschte ein unausgesprochenes Verständnis, das wichtiger war als Zuneigung oder politischer Position. "Wir werden uns an dem Ort treffen, an dem es keine Dunkelheit gibt", hatte er gesagt. Winston wusste nicht, was das bedeutete, nur dass es sich irgendwann, irgendwie bewahrheiten würde.

Die Stimme aus dem Teleschirm hielt inne. Ein Trompetensignal, klar und wohlklingend, ertönte durch die stehende Luft. Die Stimme fuhr schnarrend fort:

"Achtung! Ihre Aufmerksamkeit, bitte! Eilmeldung von der Malabar-Front! Unsere Streitkräfte in Südindien haben einen glorreichen Sieg errungen. Ich darf sagen, dass die Operation, über die wir jetzt berichten, das Ende des Krieges in greifbare Nähe rücken könnte. Hier ist die Kurzmeldung..."

'Das bedeutet schlechte Nachrichten', dachte Winston. Und tatsächlich, auf eine blutrünstige Schilderung der Vernichtung einer eurasischen Armee mit kolossalen Zahlen von Gefallenen und Gefangenen folgte die Ankündigung, dass die Schokoladenration ab nächster Woche von dreißig auf zwanzig Gramm reduziert werden würde.

Winston rülpste wieder. Die Wirkung des Gins ließ nach und hinterließ ein flaues Gefühl. Auf dem Teleschirm - vielleicht um den Sieg zu feiern, vielleicht um den Gedanken an die verlorene Schokolade zu vertreiben - ertönte 'Ozeania über alles'. Dazu hatte man eigentlich stramm zu stehen, doch in seiner jetzigen Position war er nicht zu sehen.

'Ozeania über alles' wich seichterer Musik. Winston ging zum Fenster und blieb mit dem Rücken zum Teleschirm stehen. Es war immer noch kalt und klar. Irgendwo in der Ferne schlug eine Rakete mit dumpfem, hallendem Getöse ein. Etwa zwanzig oder dreißig davon fielen derzeit jede Woche auf London.

Unten auf der Straße wehte der Wind das zerrissene Plakat hin und her, und das Wort INGSOC erschien und verschwand in unregelmäßigen Abständen. Ingsoc. Die heiligen Grundsätze von Ingsoc. Neusprech, Doppeldenk, die Veränderlichkeit der Vergangenheit. Er fühlte sich, als würde er durch die Tiefen des Meeresgrundes wandern, verloren in einer Welt voller Monster, unter denen er selbst das Monster war. Er war allein. Die Vergangenheit war tot, eine Zukunft würde es nicht geben. Wie konnte er sicher sein, dass auch nur ein einziger lebender Mensch auf seiner Seite war? Und woher sollte er wissen, ob die Herrschaft der Partei nicht für immer bestehen bleiben würde? Wie als Antwort kamen ihm die drei Parolen auf der weißen Fassade des Ministeriums für Wahrheit wieder in den Sinn:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNWISSENHEIT IST STÄRKE

Er nahm ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück aus seiner Tasche. Auch dort waren in winziger, klarer Schrift dieselben Parolen eingraviert, und auf der anderen Seite der Münze das Antlitz des Großen Bruders. Selbst von der Münze aus verfolgten einen die Augen. Auf Münzen, auf Briefmarken, auf Buchumschlägen, auf Transparenten, auf Plakaten, auf Zigarettenpackungen - überall. Immer diese Augen, die einen beobachten, und die Stimme, die einen verfolgte. Ob im Schlaf oder wach, bei der Arbeit oder beim Essen, drinnen oder draußen, in der Dusche oder im Bett - es gab kein Entkommen. Nichts gehörte einem, außer den wenigen Kubikzentimetern im Inneren des Schädels.

Die Sonne hatte sich gedreht, und die unzähligen Fenster des Ministeriums für Wahrheit, auf die kein Licht mehr schien, wirkten düster wie die Schießscharten einer Festung. Sein Herz bebte vor der gewaltigen pyramidenförmigen Silhouette. Sie war zu stark, sie konnte nicht erobert werden. Tausend Raketen würden sie nicht zum Einsturz bringen. Er fragte sich wieder, für wen er das Tagebuch schrieb. Für die Zukunft, für die Vergangenheit - für ein Zeitalter, das vielleicht nur in seiner Einbildung existierte. Und vor ihm lag nicht der Tod, sondern die völlige Auslöschung. Das Tagebuch würde zu Asche zerfallen und er sich in Luft auflösen. Nur die Gedankenpolizei würde lesen, was er geschrieben hatte, bevor sie zuerst seine Existenz und und schließlich jede Erinnerung daran löschte. Wie konnte man etwas mit der Zukunft teilen, wenn nicht einmal eine Spur von einem selbst, nicht einmal ein anonymes, auf ein Stück Papier gekritzeltes Wort, erhalten bleiben konnte?

Aus dem Teleschirm ertönte die Zeitansage: Vierzehn Uhr. In zehn Minuten musste er los. Um vierzehn Uhr dreißig hatte er wieder bei der Arbeit zu sein.

Irgendwie schien ihm die Zeitansage neues Leben eingehaucht zu haben. Er war ein einsamer Geist, der eine Wahrheit aussprach, die niemand jemals hören würde. Doch solange er sie aussprach, blieb sie auf eine gewisse Weise erhalten. Nicht indem man sich Gehör verschaffte, sondern indem man bei klarem Verstand blieb, trug man das Erbe der Menschheit weiter. Er ging zurück zum Tisch, tauchte seine Feder in die Tinte und schrieb:

"An die Zukunft oder an die Vergangenheit, an eine Zeit, in der die Gedanken frei sind, in der die Menschen sich voneinander unterscheiden und nicht getrennt leben - an eine Zeit, in der die Wahrheit existiert und das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann:

Aus dem Zeitalter der Gleichschaltung, aus dem Zeitalter der Isolation, aus dem Zeitalter des Großen Bruders, aus dem Zeitalter des Doppeldenks - Grüße!"

Er war bereits tot, dachte er. Es schien ihm, dass er erst jetzt, wo er begonnen hatte, seine Gedanken zu formulieren, den entscheidenden Schritt getan hatte. Die Folgen einer jeden Handlung waren Bestandteil dieser Handlung. Er schrieb:

"Gedankenverbrechen ziehen nicht den Tod nach sich: Gedankenverbrechen SIND der Tod."

Jetzt, da ihm bewusst geworden war, dass er bereits tot war, war es wichtig, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Zwei Finger seiner rechten Hand waren mit Tinte verschmiert. Das war ein solches Detail, das einen verraten konnte. Irgendein neugieriger Schnüffler im Ministerium (wahrscheinlich eine Frau: jemand wie die kleine braunhaarige Frau oder das dunkelhaarige Mädchen aus der Propagandaabteilung) könnte sich fragen, warum er in der Mittagspause etwas geschrieben hatte, warum er einen altmodischen Füller benutzt hatte, WAS er geschrieben haben könnte - und dann diesen Hinweis an die entsprechende Stelle weiterleiten. Er ging ins Bad und schrubbte die Tinte sorgfältig mit der körnigen dunkelbraunen Seife ab, die die Haut wie Sandpapier aufrieb und daher gut für diesen Zweck geeignet war.

Er steckte das Tagebuch in die Schublade. Es war völlig sinnlos, es zu verstecken, aber er konnte wenigstens feststellen, ob es entdeckt worden war oder nicht. Ein zwischen die Seiten gelegtes Haar war zu offensichtlich. Mit der Fingerspitze hob er ein etwas größeres, weißes Staubkorn auf und deponierte es an der Ecke des Einbands, wo es zwangsläufig abgeschüttelt werden würde, würde jemand das Buch bewegen.

3

Winston träumte von seiner Mutter.

Er musste, glaubte er sich zu erinnern, zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als seine Mutter verschwunden war. Sie war eine große, majestätische, eher schweigsame Frau mit einer ruhigen Art und prächtigem blonden Haar. An seinen Vater erinnerte er sich grob als dunkelhaarig und dünn, immer gepflegt und dunkel gekleidet (Winston erinnerte sich besonders an die sehr dünnen Schuhsohlen seines Vaters) und mit einer Brille auf der Nase. Vermutlich waren die beiden einer der ersten großen Säuberungen in den Fünfzigerjahren zum Opfer gefallen.

In seinem Traum saß seine Mutter gerade irgendwo tief unter ihm, mit seiner kleinen Schwester im Arm. Er erinnerte sich überhaupt nicht an seine Schwester, nur daran, dass sie ein winziges, schwächliches Baby war, schweigsam, mit großen, wachen Augen. Beide sahen zu ihm auf. Sie befanden sich an einem Ort, tief unter der Erde - auf dem Grund eines Brunnens vielleicht, oder in einem sehr tiefen Grab -, aber es war ein Ort, der schon weit unter ihm war und sich immer weiter abwärts bewegte. Sie befanden sich im Salon eines sinkenden Schiffes und sahen durch das dunkler werdende Wasser zu ihm auf. Es war noch Luft im Salon, sie konnten ihn noch sehen und er sie, aber die ganze Zeit über sanken sie hinab, hinab in das grüne Wasser, das sie im nächsten Augenblick für immer verschwinden lassen würde. Er war draußen im Licht und an der Luft, während sie in den Tod gesogen wurden, und sie waren dort unten, weil er oben war. Er wusste es und sie wussten es, und er konnte in ihren Blicken sehen, dass sie es wussten. Weder in ihren Blicken noch in ihren Herzen war eine Anklage zu erkennen, nur das Wissen, dass sie sterben mussten, damit er am Leben blieb, und dass dies ein Teil der unvermeidlichen Ordnung der Dinge war.

Er konnte sich nicht erinnern, was geschehen war, aber in seinem Traum wusste er, dass das Leben seiner Mutter und seiner Schwester irgendwie für sein eigenes geopfert worden war. Es war einer jener Träume, die zwar in einer typischen Traumwelt stattfanden, aber an das Bewusstsein des Geistes anschlossen und in denen man Dinge und Ideen wahrnahm, die einem auch nach dem Aufwachen noch neu und wertvoll erschienen. Was Winston jetzt plötzlich auffiel, war, dass der Tod seiner Mutter vor fast dreißig Jahren auf eine Weise tragisch und traurig gewesen war, wie es heute nicht mehr möglich war. Trauer, so erkannte er, gehörten einer alten Zeit an, einer Zeit, in der es noch Privatleben, Liebe und Freundschaft gab und in der die Mitglieder einer Familie einander beistanden, ohne einen Grund dafür haben zu müssen. Die Erinnerung an seine Mutter nagte an seinem Herzen, weil sie aus Liebe zu ihm gestorben war, als er zu jung und egoistisch war, um sie zu lieben, und weil sie sich irgendwie - er wusste nicht mehr wie - für eine Vorstellung von Treue geopfert hatte, die persönlich und unverhandelbar war. Solche Dinge, so erkannte er, konnten heute nicht mehr geschehen. Heute gab es Angst, Hass und Schmerz, aber kein Gefühl von Würde, keine tiefen oder komplexen Empfindungen. All das glaubte er in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester zu sehen, die ihn durch das grüne Wasser ansahen, das unendlich tief war und sie immer tiefer hinabzog.

Plötzlich stand er auf einem stoppeligen Rasen, an einem Sommerabend, dessen tiefstehende Sonnenstrahlen den Boden golden erstrahlen ließen. Die Landschaft, auf die er blickte, tauchte so oft in seinen Träumen auf, dass er sich nie ganz sicher war, ob er sie wirklich einmal gesehen hatte oder nicht. Wenn er wach war, nannte er sie das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchen zerfressene Weide, über die ein Trampelpfad verlief und aus der hier und da ein Maulwurfshügel ragte. In der struppigen Hecke auf der anderen Seite des Feldes wiegten sich die Äste der Ulmen sanft im Wind, ihre Blätter bewegten sich in dichten Bündeln, wie das Haar einer Frau. Irgendwo in der Nähe, wenn auch außer Sichtweite, befand sich ein klarer, langsam fließender Bach, in dessen Tümpeln unter den Weidenbäumen Forellen schwammen.

Das Mädchen mit den dunklen Haaren kam über das Feld auf ihn zu. Mit einer einzigen Bewegung, so schien es, riss sie sich die Kleider vom Leib und warf sie gleichgültig zur Seite. Ihr Körper war weiß und glatt, aber er weckte kein Verlangen in ihm, ja er sah ihn kaum an. Was ihn in diesem Augenblick überwältigte, war die Bewunderung für die Geste, mit der sie ihre Kleider beiseite geworfen hatte. Ihr wohnte eine Anmut und Gleichgültigkeit inne, mit der sie eine ganze Zivilisation, eine ganze Weltanschauung, auslöschen zu können schien, als könnten der Große Bruder, die Partei und die Gedankenpolizei mit einer einzigen eleganten Armbewegung in Luft aufgelöst werden. Auch diese Art von Geste gehörte der alten Zeit an. Winston wachte mit dem Wort "Shakespeare" auf den Lippen auf.

Vom Teleschirm ertönte ein ohrenbetäubender Pfeifton, der sich über dreißig Sekunden hinzog. Es war nun sieben Uhr fünfzehn, Zeit für Angestellte des Ministeriums, aufzustehen. Winston quälte sich aus dem Bett - nackt, denn ein Mitglied der Äußeren Partei erhielt nur 3.000 Bekleidungsmarken pro Jahr, und ein Schlafanzug kostete 600 - und griff nach einem schmuddeligen Unterhemd und einer Unterhose, die auf einem Stuhl lagen. In drei Minuten würden die Leibesübungen beginnen. Im nächsten Moment suchte ihn ein heftiger Hustenanfall heim, der ihn fast immer kurz nach dem Aufwachen überfiel. Dabei leerte sich seine Lunge so vollständig, dass er sich auf den Rücken legen und nach Luft schnappen musste, um wieder atmen zu können. Seine Adern waren durch den Hustenanfall angeschwollen, und sein Krampfaderngeschwür begann zu jucken.

"Gruppe dreißig bis vierzig!", rief eine beißende Frauenstimme. "Gruppe dreißig bis vierzig! In Position, bitte. Gruppe dreißig bis vierzig!"

Winston sprang vor dem Teleschirm auf, auf dem bereits eine schlanke, muskulöse junge Frau in Trainingsanzug und Turnschuhen zu sehen war.

"Arme beugen und strecken!", rief sie aus. "Haltet euch an mein Tempo. EINS, zwei, drei, vier! EINS, zwei, drei, vier! Los, Genossen, nicht schlappmachen! EINS, zwei, drei, vier! EINS zwei, drei, vier!..."

Der schmerzhafte Hustenanfall hatte den Eindruck, den sein Traum hinterlassen hatte, nicht ganz aus Winstons Gedächtnis verdrängt, und die rhythmischen Bewegungen der Übung brachten ihn wieder etwas zurück. Während er seine Arme mechanisch hin- und herwarf und dabei seiner Miene einen vergnügt-angestrengten Ausdruck verlieh, der bei den Leibesübungen erwartet wurde, versuchte er angestrengt, sich in die düstere Zeit seiner frühen Kindheit zurückzuversetzen. Es war außerordentlich schwierig. Jenseits der späten fünfziger Jahre verblasste alles. Wenn es keine greifbaren Aufzeichnungen gab, auf die man sich berufen konnte, verloren selbst die Konturen des eigenen Lebens ihre Schärfe. Man erinnerte sich an große Ereignisse, die höchstwahrscheinlich nicht stattgefunden hatten, man erinnerte sich zusammenhanglos an Einzelheiten, und es gab lange Perioden, aus denen es gar keine Erinnerungen mehr gab. Damals war alles anders gewesen. Sogar die Namen der Länder und ihre Umrisse auf der Landkarte waren anders gewesen. Airstrip One zum Beispiel hatte damals nicht so geheißen, sondern England oder Großbritannien, obwohl London, dessen war er sich ziemlich sicher, immer schon London geheißen hatte.

Winston konnte sich nicht genau an eine Zeit erinnern, in der sich sein Land nicht im Krieg befunden hatte, aber es war offensichtlich, dass es in seiner Kindheit eine ziemlich lange Zeit des Friedens gegeben hatte, denn eine seiner ersten Erinnerungen war die an einen Luftangriff, der alle zu überraschen schien. Vielleicht war es die Zeit, als eine Atombombe Colchester traf. Er erinnerte sich nicht an den Luftangriff selbst, aber er erinnerte sich an die Hand seines Vaters, die die seine ergriff, als sie hinunter, hinunter, hinunter an einen Ort tief unter der Erde eilten, eine Wendeltreppe entlang, die unter seinen Füßen klapperte und seine Beine schließlich so ermüdete, dass er zu wimmern begann und sie anhalten und ausruhen mussten. Seine Mutter folgte in ihrer gemächlichen, verträumten Art ein ganzes Stück hinter ihnen. Sie trug seine kleine Schwester - oder vielleicht war es auch nur ein Bündel Decken, das sie trug: Er war sich nicht sicher, ob seine Schwester damals schon geboren war. Schließlich kamen sie an einem lauten, überfüllten Ort an, den er für eine U-Bahn-Station hielt.