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In seinem Essay "Notes on Nationalism", beschäftigt sich George Orwell mit der Frage, was Nationalismus eigentlich ist und welche Auswirkungen er hat. Anders als man gemeinhin annehmen könnte, definiert Orwell dabei Nationalismus nicht ausschließlich bezogen auf die Zugehörigkeit zu einer Nation sondern wesentlich breiter als Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe verbunden mit dem Glauben an die Überlegenheit dieser Gruppe. Dabei kann es sich um Gruppen aller Art handeln: Religiöse Gruppen, Parteien, Klassen, etc. Orwell argumentiert, dass Nationalismus ein gefährliches Phänomen ist, das zu Kriegen, Intoleranz und Unterdrückung führen kann.
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Seitenzahl: 74
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NOTIZEN ÜBER NATIONALISMUS
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NOTES ON NATIONALISM
(Deutsche Übersetzung - Englisches Original)
von George Orwell
Übersetzung Heike Wolf (2022)
Copyright© Aureon Verlag GmbH
NOTIZEN ÜBER NATIONALISMUS
NOTES ON NATIONALISM
Erschienen in Gangrel Magazine, Nummer4 im Sommer 1946
Irgendwo benutzt Byron das französische Wort longeur und bemerkt nebenbei, dass wir in England zwar nicht das Wort haben, dafür aber die Sache in beachtlichem Überfluss. In gleicher Weise gibt es eine Gewohnheit, die jetzt so weitverbreitet ist, dass sie unser Denken über fast jedes Thema beeinflusst, die aber noch keinen Namen erhalten hat. Ich habe als nächstliegendes bestehendes Äquivalent das Wort „Nationalismus“ gewählt, aber in einem Moment wird sich herausstellen, dass ich es nicht ganz im üblichen Sinn gebrauche, wenn auch nur deshalb, weil die Emotion, von der ich rede, sich nicht immer auf das bezieht, was sich Nation nennt – also ein Volk oder ein geographischer Bereich. Sie kann sich auf eine Kirche oder eine Klasse beziehen, oder sie kann rein negativ funktionieren, gegen irgendetwas und ohne das Bedürfnis für ein positives Loyalitätsobjekt.
Mit „Nationalismus“ meine ich vor allem die Gewohnheit, anzunehmen, dass Menschen wie Insekten klassifiziert und ganze Gruppen von Millionen oder Zehnmillionen Menschen voller Überzeugung als „gut“ oder „schlecht“ abgestempelt werden können. Aber zweitens – und das ist wesentlich wichtiger – meine ich die Gewohnheit, sich selbst mit einer bestimmten Nation oder anderen Einheit zu identifizieren, sie als jenseits von Gut und Böse zu platzieren und keine andere Pflicht zu erkennen als ihre Interessen zu fördern. Nationalismus darf nicht mit Patriotismus verwechselt werden. Beide Worte werden normalerweise auf so vage Weise benutzt, dass jede Definition bestritten würde, aber man muss eine Unterscheidung zwischen ihnen treffen, da zwei verschiedene und sogar gegensätzliche Vorstellungen involviert sind. Mit „Patriotismus“ meine ich Hingabe an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Lebensart, die man für die beste der Welt hält, ohne aber den Wunsch, diese anderen Menschen aufzuzwingen. Patriotismus ist von Natur aus defensiv, sowohl militärisch wie kulturell. Nationalismus dagegen ist von dem Wunsch nach Macht untrennbar. Das dauerhafte Ziel jedes Nationalisten ist es, mehr Macht zu sichern und mehr Prestige, nicht für sich selbst, sondern für die Nation oder eine andere Einheit, in welcher er sich entschlossen hat, seine eigene Individualität zu versenken.
Solange es nur auf die berüchtigteren und eher identifizierbaren nationalistischen Bewegungen in Deutschland, Japan und anderen Ländern angewandt wird, ist das alles offensichtlich genug. Wenn man mit einem Phänomen wie dem Nazismus konfrontiert wird, den wir von außen beobachten können, würden fast alle von uns ziemlich dieselben Dinge darüber sagen. Aber ich muss wiederholen, was ich weiter oben sagte, dass ich das Wort „Nationalismus“ nur aus Ermangelung eines besseren benutze. In dem erweiterten Sinn, in dem ich das Wort benutze, beinhaltet Nationalismus solche Bewegungen und Tendenzen wie Kommunismus, politischen Katholizismus, Zionismus, Antisemitismus, Trotzkismus und Pazifismus. Er bedeutet nicht notwendigerweise Loyalität zu einer Regierung oder einem Land, noch weniger zu dem eigenen Land, und es ist nicht einmal unbedingt notwendig, dass die Einheiten, auf die er sich bezieht, tatsächlich existieren. Um ein paar offensichtliche Beispiele zu nennen, das Judentum, der Islam, das Christentum, das Proletariat und die weiße Rasse sind allesamt Objekte leidenschaftlicher nationalistischer Gefühle: aber ihre Existenz kann ernsthaft infrage gestellt werden und es gibt für keines von ihnen eine Definition, die universell akzeptiert würde.
Es lohnt sich also, erneut zu betonen, dass nationalistische Gefühle rein negativ sein können. Es gibt zum Beispiel Trotzkisten, die schlichtweg Feinde der UdSSR geworden sind, ohne eine entsprechende Loyalität zu einer anderen Einheit zu entwickeln. Wenn man die Auswirkungen davon begreift, wird das Wesen dessen, was ich mit Nationalismus meine, wesentlich klarer. Ein Nationalist ist jemand, der, ausschließlich oder hauptsächlich, im Sinne wetteifernden Prestiges denkt. Er mag ein positiver oder negativer Nationalist sein – das bedeutet, er mag seine geistige Energie entweder zum Hochloben oder Verunglimpfen benutzen – aber in jedem Fall richten sich seine Gedanken immer auf Siege, Niederlagen, Triumphe und Demütigungen. Er sieht Geschichte, insbesondere Zeitgeschichte, als ein endloses Ansteigen und Sinken großer Machteinheiten und jedes geschehende Ereignis scheint für ihn ein Beweis, dass seine eigene Seite höher steht und irgendein verhasster Rivale weiter unten. Aber letztlich ist es wichtig, Nationalismus nicht mit der reinen Anbetung des Erfolgs zu verwechseln. Der Nationalist agiert nicht nach dem Prinzip, sich der stärksten Seite anzuschließen. Im Gegenteil, wenn er einmal seine Seite gewählt hat, ist er überzeugt, dass sie die stärkste ist, und ist in der Lage, sogar dann bei seiner Überzeugung zu bleiben, wenn die Fakten ihm auf überwältigende Art widersprechen. Nationalismus ist Machthunger, der durch Selbsttäuschung gehärtet wird. Jeder Nationalist ist der schamlosesten Unehrlichkeit fähig, aber er ist auch – da er im Bewusstsein handelt, etwas Größerem als sich selbst zu dienen – unerschütterlich sicher, recht zu haben.
Jetzt, da ich diese lange Definition vorgetragen habe, wird es wohl zugegeben werden, dass die Gewohnheit, über die ich rede, in der englischen Intelligenzija weit verbreitet ist, und zwar weiter verbreitet als in der Allgemeinheit. Für jene, die starke Gefühle hinsichtlich der gegenwärtigen Politik verspüren, wurden bestimmte Themen so mit Prestigeüberlegungen durchtränkt, dass es fast unmöglich ist, sie mit echter Rationalität zu betrachten.
Nehmen wir von den hunderten Beispielen, die man wählen könnte, diese Frage: Welcher der drei großen Alliierten, die UdSSR, Großbritannien und die USA, hat zur Niederlage Deutschlands am meisten beigetragen? Theoretisch sollte es möglich sein, auf diese Frage eine rationale und vielleicht sogar abschließende Antwort zu geben. In der Praxis können allerdings die notwendigen Berechnungen nicht gemacht werden, da jeder, der dazu neigen würde, sich den Kopf über eine solche Frage zu zerbrechen, sie unausweichlich im Hinblick auf wetteiferndes Prestige betrachten würde. Er würde deshalb damit anfangen, sich je nachdem für Russland, Großbritannien oder Amerika zu entscheiden, und erst danach anfangen, nach Argumenten zu suchen, die seine Aussage unterstützen. Und dann gibt es ganze Reihen verwandter Fragen, auf die man nur von jemandem eine ehrliche Antwort bekommen kann, der dem gesamten damit zusammenhängenden Thema gleichgültig gegenübersteht und dessen Meinung dazu wahrscheinlich in jedem Fall wertlos ist. Darin liegt teilweise das bemerkenswerte Versagen der politischen und militärischen Vorhersage in unseren Zeiten. Es ist merkwürdig, darüber nachzudenken, dass kein einziger der ganzen „Experten“ aller Strömungen in der Lage war, ein so wahrscheinliches Ereignis wie den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 vorherzusehen. Und als sich die Nachricht über den Pakt verbreitete, wurden deutlich voneinander abweichende Erklärungen dafür gegeben und Vorhersagen wurden gemacht, die sich fast sofort als falsch erwiesen und in fast jedem Fall nicht auf einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung beruhten, sondern auf dem Wunsch, die UdSSR gut oder schlecht, stark oder schwach erscheinen zu lassen. Politische oder militärische Kommentatoren können, wie Astrologen, fast jeden Fehler überleben, weil ihre hingebungsvollsten Anhänger von ihnen keine Beurteilung der Fakten erwarten, sondern die Stimulation nationalistischer Loyalitäten. Und ästhetische Beurteilungen, insbesondere literarische Beurteilungen, sind oft auf dieselbe Art korrumpiert wie politische. Es würde einem indischen Nationalisten schwerfallen, Kipling mit Genuss zu lesen, oder einem Konservativen, Wert in Majakowski zu entdecken, und es besteht immer die Versuchung zu behaupten, dass jedes Buch, dessen Tendenz man nicht zustimmt, in literarischer Hinsicht ein schlechtes Buch sein muss. Menschen mit starker nationalistischer Sichtweise führen diesen Taschenspielertrick oft durch, ohne sich der Unehrlichkeit bewusst zu sein.
Wenn man in England nur die Anzahl der involvierten Menschen betrachtet, ist es wahrscheinlich, dass die dominante Form des Nationalismus altmodischer britischer Chauvinismus ist. Dieser ist zweifellos weiterhin verbreitet und zwar wesentlich stärker, als Beobachter vor zwölf Jahren angenommen hätten. In diesem Essay befasse ich mich allerdings hauptsächlich mit den Reaktionen der Intelligenzija, bei denen Chauvinismus und altmodischer Patriotismus fast ausgestorben sind, obwohl sie bei einer Minderheit wieder aufzuleben scheinen. Es muss kaum erwähnt werden, dass die dominante Form des Nationalismus bei der Intelligenzija der Kommunismus ist – ich benutze dieses Wort im weitesten Sinne, es beinhaltet nicht nur Mitglieder der Kommunistischen Partei, sondern auch „Weggefährten“ und Russophile im Allgemeinen. Für meine hiesigen Zwecke ist ein Kommunist jemand, der die UdSSR als sein Vaterland betrachtet und es als seine Pflicht sieht, russische Politik um jeden Preis zu rechtfertigen und russische Interessen um jeden Preis voranzutreiben. Solche Menschen sind heute in England offensichtlich sehr zahlreich und ihr direkter und indirekter Einfluss ist sehr groß. Aber es erblühen auch viele andere Formen des Nationalismus und man kann die Sache am besten ins richtige Licht rücken, indem man die Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen und sogar scheinbar gegnerischen Strömungen bemerkt.