1984 - George Orwell - E-Book

1984 E-Book

George Orwell

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Beschreibung

George Orwells dystopischer Roman von 1949 gehört zu den wichtigsten Werken des 20. Jahrhunderts. Der Beamte Winston Smith hält in seinem geheimen Tagebuch die Lebensumstände in der Überwachungsdiktatur Ozeanien fest. Als er mit seiner jungen Kollegin Julia eine Affäre beginnt und die beiden Kontakt zu einer Untergrundorganisation aufnehmen, die der Herrschaft des "Großen Bruders" ein Ende bereiten will, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Ein Klassiker, der im 21. Jahrhundert wieder hochaktuell scheint – neu übersetzt und erstmals in der Universal-Bibliothek erhältlich. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 534

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George Orwell

1984

Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Holger Hanowell

Reclam

Englischer Originaltitel: Nineteen Eighty-Four

 

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961821-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019611-3

www.reclam.de

Inhalt

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Nachwort

[5]Erster Teil

1

Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith hatte das Kinn an die Brust gedrückt, um dem hässlichen Wind zu entgehen, und schlüpfte rasch durch die Glastüren des Victory-Wohnblocks, aber nicht rasch genug, um zu verhindern, dass ein Wirbel körnigen Staubs mit hereinwehte.

Im Hausflur roch es nach gekochtem Kohl und alten Fußmatten. An einem Ende des Flurs hatte man ein farbiges Plakat an die Wand geheftet, das für innen eigentlich zu groß war. Darauf war nichts weiter als ein riesiges, mehr als einen Meter breites Gesicht zu sehen: das Gesicht eines Mannes von etwa fünfundvierzig Jahren mit dichtem schwarzem Schnurrbart und ansprechenden, wenn auch schroffen Zügen. Winston steuerte auf die Treppe zu. Es war zwecklos, es mit dem Aufzug zu versuchen. Selbst in seinen besten Zeiten funktionierte er oft nicht, und im Moment wurde der Strom während des Tages abgestellt. Das gehörte zu dem Sparprogramm, das der Hasswoche vorausging. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, der neununddreißig war und über dem rechten Sprunggelenk ein Krampfadergeschwür hatte, ging langsam und musste auf dem Weg mehrmals verschnaufen. Auf jedem Treppenabsatz, an der Wand gegenüber vom Aufzugschacht, starrte einen das Plakat mit dem riesigen Gesicht an. Es war eines jener Bilder, die so gestaltet sind, [6]dass die Augen einem überall hin zu folgen scheinen. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH, stand in der Textzeile darunter.

In der Wohnung verlas eine sonore Stimme eine Statistik, die irgendetwas mit der Roheisenproduktion zu tun hatte. Die Stimme kam aus einer rechteckigen Metallplatte, die wie ein blinder Spiegel aussah und rechter Hand in die Wand eingelassen war. Winston drehte an einem Regler, woraufhin die Stimme ein wenig leiser wurde, doch der Wortlaut war immer noch vernehmbar. Man konnte das Gerät (das Telemonitor genannt wurde) zwar leiser stellen, ganz abschalten ließ es sich jedoch nicht. Winston trat ans Fenster: eine eher kleine, zerbrechlich wirkende Gestalt, deren Magerkeit durch den blauen Overall, der zur Einheitskleidung der Partei gehörte, noch betont wurde. Sein Haar war hellblond, sein Gesicht von Natur aus gerötet, seine Haut aufgeraut von grobkörniger Seife und stumpfen Rasierklingen und von der Kälte des Winters, der gerade zu Ende gegangen war.

Die Welt draußen sah selbst durch das geschlossene Fenster kalt aus. Unten auf der Straße wirbelten kleine Windböen Staub und Papierfetzen spiralförmig in die Höhe, und obwohl die Sonne schien und der Himmel ein hartes Blau zeigte, wirkte alles farblos, abgesehen von den Plakaten, die überall hingen. Das Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart blickte von jeder ins Auge fallenden Häuserecke herab. Eines hing an der Hauswand genau gegenüber. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH, lautete der Schriftzug darunter, während sich der dunkle Blick tief in Winstons Augen senkte. Weiter unten, auf Höhe der Straße, flatterte ein anderes, an einer Ecke eingerissenes Plakat unruhig im [7]Wind, so dass das einzige Wort ENGSOZ mal verdeckt und mal zu erkennen war. In weiter Ferne tauchte ein Helikopter zwischen die Dächer, schwebte einen Moment dort wie eine Schmeißfliege und schwirrte dann in weitem Bogen wieder ab. Das war die Polizeistreife, die an den Fenstern der Leute herumschnüffelte. Die Streifflüge waren nicht von Bedeutung. Von Bedeutung war nur die Gedankenpolizei.

Hinter Winstons Rücken plapperte die Stimme aus dem Telemonitor immer noch von Roheisen und der Übererfüllung des Neunten Dreijahresplans. Der Telemonitor empfing und übertrug Daten zur selben Zeit. Jedes Geräusch, das Winston machte und das über ein leises Wispern hinausging, wurde von dem Gerät registriert; darüber hinaus war er zu sehen und zu hören, solange er im Blickfeld der Metallplatte blieb. Man konnte natürlich nicht wissen, ob man gerade beobachtet wurde. Wie oft oder nach welchem System sich die Gedankenpolizei in einzelne Leitungen einschaltete, blieb bloße Spekulation. Es war sogar denkbar, dass jeder rund um die Uhr überwacht wurde. Wie dem auch sei, die Gedankenpolizei war imstande, sich überall einzuschalten, wann immer sie wollte. Man musste ständig in der Annahme leben – man tat es aus Gewohnheit, die zum Instinkt wurde –, dass jedes Geräusch, das man machte, mitgehört und jede Bewegung argwöhnisch verfolgt wurde, außer in der Dunkelheit.

Winston kehrte dem Telemonitor weiterhin den Rücken zu. So war es sicherer; allerdings, und das wusste er genau, gab selbst ein Rücken Dinge preis. In einer Entfernung von einem Kilometer ragte das Ministerium für Wahrheit, sein Arbeitsplatz, riesig und weiß aus der tristen, schmutzigen [8]Landschaft auf. Dies, so dachte er mit einem Anflug von Abscheu – dies war London, die Hauptstadt von Landefeld Eins, welches wiederum die am drittstärksten bevölkerte Provinz Ozeaniens war. Er durchsuchte sein Gedächtnis nach irgendwelchen Kindheitserinnerungen, die ihm hätten verraten können, ob London immer schon so ausgesehen hatte. Hatte es immer schon diese Reihen aus halb verfallenen Häusern aus dem 19. Jahrhundert gegeben, deren Außenwände mit Holzbalken gestützt wurden, deren Fenster mit Hartkarton abgedeckt und deren Dächer mit Wellblech ausgebessert waren, deren schief verlaufende Gartenmauern nach allen Seiten hin absackten? Und die zerbombten Bereiche, in denen Mörtelstaub durch die Luft wirbelte und Nachtkerzen auf Schutthaufen wucherten; und die Stellen, an denen die Bomben ein größeres Areal dem Erdboden gleichgemacht hatten, an denen jetzt schäbige Siedlungen aus hölzernen Verschlägen aus dem Boden geschossen waren, die wie Hühnerställe aussahen? Aber es half nichts, er konnte sich einfach nicht erinnern: Von seiner Kindheit war ihm nichts geblieben außer einer Anzahl gleißender Bilder, die zusammenhanglos auftauchten und zumeist unverständlich waren.

Das Ministerium für Wahrheit – MiniWahr in Neusprech1 – unterschied sich auffallend von allem, was man sonst sah. Es handelte sich um ein riesiges, pyramidenartiges Bauwerk aus leuchtendweißem Beton, das sich, Terrasse um Terrasse, dreihundert Meter hoch in die Luft schraubte. Von dort, wo Winston im Augenblick stand, konnte [9]man gerade noch die drei Parolen der Partei erkennen, die sich in eleganter Schrift von der weißen Fassade abhoben:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNWISSENHEIT IST STÄRKE

Das Ministerium für Wahrheit besaß, so hieß es, dreitausend Büros über der Erde und eine entsprechende Anzahl weit verzweigter Räumlichkeiten unter der Erde. Verstreut über ganz London gab es nur noch drei andere Bauten von ähnlichem Aussehen und Ausmaß. Diese ließen die umliegenden Gebäude im Stadtbild so klein erscheinen, dass man vom Dach des Victory-Wohnblocks alle vier gleichzeitig sehen konnte. Sie beherbergten die vier Ministerien, die den gesamten Regierungsapparat darstellten. Das Ministerium für Wahrheit, das sich mit dem Nachrichtenwesen, der Unterhaltung, der Bildung und den schönen Künsten befasste. Das Ministerium für Frieden, das für Kriegsangelegenheiten zuständig war. Das Ministerium für Liebe, das Recht und Ordnung aufrechterhielt. Und das Ministerium für Fülle, das für wirtschaftliche Belange verantwortlich war. Ihre Namen lauteten in Neusprech: MiniWahr, MiniPax, MiniLieb und MiniFülle.

Das Ministerium für Liebe war die mit Abstand beängstigendste Einrichtung. In dem Gebäude gab es überhaupt keine Fenster. Winston war noch nie im Ministerium für Liebe gewesen, er hatte sich ihm auch nie weiter als auf einen halben Kilometer genähert. Es war unmöglich, diesen Ort zu betreten, außer in dienstlichen Angelegenheiten, aber auch dann musste man erst ein Gewirr aus [10]Stacheldrahtverhauen, Stahltüren und verborgenen Maschinengewehrstellungen überwinden. Selbst in den Straßen, die zu den äußeren Absperrungen führten, gingen gorillagesichtige Wachen in schwarzen Uniformen Streife, bewaffnet mit Schlagstöcken.

Winston drehte sich ruckartig um. Er hatte seiner Miene den Ausdruck eines ruhigen Optimismus verliehen, den man klugerweise präsentierte, wenn man sich dem Telemonitor zuwandte. Er ging quer durch das Zimmer in die winzige Küche. Indem er das Ministerium zu dieser Tageszeit verlassen hatte, hatte er sein Mittagessen in der Kantine geopfert, und ihm war bewusst, dass es in der Küche nichts Essbares gab, abgesehen von dem Stück dunklen Brots, das er sich für das morgige Frühstück aufsparen musste. Aus dem Regal nahm er eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit und einem schlichten, weißen Etikett, auf dem VICTORY GIN stand. Sie verströmte einen widerwärtigen, öligen Geruch, wie chinesischer Reisschnaps. Winston schenkte sich fast eine Teetasse voll davon ein, wappnete sich gegen den Schock und schluckte das Zeug dann wie Medizin hinunter.

Sofort lief sein Gesicht scharlachrot an, Tränen strömten ihm über die Wangen. Das Zeug war wie Salpetersäure, und sobald man es schluckte, hatte man außerdem das Gefühl, als bekäme man einen Schlag auf den Hinterkopf mit einem Gummiknüppel. Im nächsten Moment jedoch hörte das Brennen in seinem Magen auf, und schon sah die Welt rosiger aus. Er nahm eine Zigarette aus einem zerknautschten Päckchen mit dem Aufdruck VICTORY ZIGARETTEN und hielt sie in seiner Unachtsamkeit senkrecht, so dass der Tabak auf den Fußboden krümelte. Bei der nächsten [11]Zigarette hatte er mehr Erfolg. Er ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich an einen kleinen Tisch, der links vom Telemonitor stand. Aus der Tischschublade nahm er einen Federhalter, ein Tintenfässchen und ein dickes, unbeschriebenes Buch im Quartformat mit rotem Rücken und einem marmorierten Einband.

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hing der Telemonitor im Wohnzimmer an einer ungewöhnlichen Stelle. Anstatt ein solches Gerät, wie sonst üblich, an der rückwärtigen, schmaleren Wand zu installieren, von wo aus es den ganzen Raum kontrolliert hätte, hatte man es an der längeren Seite in die Wand eingelassen, genau gegenüber vom Fenster. Auf einer Seite des Telemonitors befand sich eine Nische, in der Winston jetzt gerade saß und die man damals, als die Wohnungen gebaut wurden, vermutlich für Bücherregale vorgesehen hatte. Wenn er in der Nische saß und sich zurücklehnte, konnte Winston außerhalb des Aufnahmebereichs des Telemonitors bleiben, was das Sichtfeld betraf. Natürlich konnte man ihn hören, aber solange er in seiner gegenwärtigen Position blieb, war er nicht zu sehen. Nicht zuletzt der ungewöhnliche Zuschnitt des Zimmers hatte ihn auf die Idee gebracht, die er nun in die Tat umsetzen wollte.

Dazu angeregt hatte ihn aber auch das Buch, das er soeben aus der Schublade genommen hatte. Es war ein selten schönes Buch. Das glatte, cremefarbene Papier, von den Jahren schon ein bisschen vergilbt, besaß eine Qualität, die seit mindestens vierzig Jahren nicht mehr hergestellt wurde. Doch er ahnte, dass das Buch weitaus älter war. Er hatte es im Schaufenster eines muffigen kleinen Ramschladens in einem heruntergekommenen Viertel liegen sehen (in [12]welchem Viertel genau, wusste er nicht mehr) und war sofort von dem überwältigenden Verlangen erfasst worden, dieses Buch zu besitzen. Parteimitglieder sollten gewöhnliche Läden eigentlich nicht betreten (»keine Geschäfte auf dem freien Markt machen«, hieß es), aber diese Vorschrift wurde nicht streng eingehalten, gab es doch verschiedene Artikel wie Schnürsenkel und Rasierklingen, an die man anders nicht herankam. Winston hatte auf der Straße rasch in beide Richtungen geschaut, war dann in den Laden geschlüpft und hatte das Buch für zwei Dollar fünfzig gekauft. Zu jener Zeit war ihm nicht bewusst gewesen, dass er dieses Buch zu irgendeinem bestimmten Zweck brauchte. Mit schlechtem Gewissen hatte er es in seiner Aktentasche nach Hause getragen. Obwohl die Seiten unbeschrieben waren, konnte man durch den Besitz eines solchen Buches in ernste Schwierigkeiten geraten.

Winston war im Begriff, ein Tagebuch anzulegen. Das war an sich nicht illegal (nichts war illegal, da es keine Gesetze mehr gab), aber wenn es herauskam, war ziemlich sicher damit zu rechnen, dass dieses Vergehen mit der Todesstrafe geahndet werden würde, zumindest aber mit fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit. Winston steckte eine Stahlfeder in den Halter und befeuchtete sie mit der Zunge, um den Schmier zu entfernen. Federhalter waren vorsintflutlich und wurden selbst für Unterschriften kaum noch benutzt. Winston hatte sich einen beschafft, heimlich und nicht ohne Schwierigkeiten, einfach aus dem Gefühl heraus, das schöne cremefarbene Papier habe es verdient, mit einer richtigen Feder beschrieben anstatt mit einem Tintenstift bekritzelt zu werden. Eigentlich war er es nicht gewöhnt, mit der Hand zu schreiben. Abgesehen von [13]kurzen Notizen diktierte man für gewöhnlich alles in den Sprechschreiber, der sich natürlich für sein gegenwärtiges Vorhaben nicht eignete. Er tauchte den Federhalter in das Tintenfässchen und hielt einen Moment inne. Ein Ziehen war durch seinen Magen gegangen. Entscheidend war, überhaupt etwas auf dem Papier zu hinterlassen. In kleinen und ungelenken Buchstaben schrieb er:

4. April 1984.

Er lehnte sich zurück. Ein Gefühl vollständiger Hilflosigkeit hatte ihn überkommen. Zunächst einmal wusste er nicht mit Sicherheit, ob dies wirklich das Jahr 1984 war. Es musste ungefähr diese Zeit sein, da er sich recht sicher war, dass er neununddreißig Jahre alt war, und er glaubte, 1944 oder 1945 geboren zu sein; aber heutzutage war es kaum noch möglich, ein Datum genauer als auf ein oder zwei Jahre einzugrenzen.

Für wen, fragte er sich plötzlich, schrieb er dieses Tagebuch überhaupt? Für die Zukunft, für die noch nicht Geborenen. Einen Moment lang kreisten seine Gedanken um das zweifelhafte Datum auf der Seite und stießen dann schlagartig auf das Neusprechwort Doppeldenk. Zum ersten Mal machte er sich die Tragweite seines Handelns bewusst. Wie konnte man mit der Zukunft kommunizieren? Das war naturgemäß unmöglich. Entweder ähnelte die Zukunft der Gegenwart, dann würde sie ihm jedoch nicht zuhören, oder sie wäre ganz anders beschaffen, und dann wäre seine missliche Lage bedeutungslos.

Eine Weile saß er da und starrte dümmlich auf das Papier. Inzwischen hatte der Telemonitor zu schneidender [14]Militärmusik gewechselt. Es war eigenartig, aber offenbar war ihm nicht nur das Vermögen sich auszudrücken abhandengekommen, er hatte darüber hinaus auch vergessen, was er ursprünglich hatte sagen wollen. Seit Wochen hatte er sich auf ebendiesen Moment vorbereitet, und nie war es ihm in den Sinn gekommen, dass dafür irgendetwas anderes als Mut nötig wäre. Das Schreiben an sich würde kein Problem darstellen. Er brauchte ja schließlich nichts weiter zu tun, als den nicht enden wollenden Monolog zu Papier zu bringen, der buchstäblich seit Jahren in seinem Kopf ablief. In diesem Augenblick war jedoch selbst der Monolog versiegt. Außerdem hatte sein Krampfadergeschwür begonnen, unerträglich zu jucken. Er traute sich nicht, sich dort zu kratzen, denn dann entzündete es sich immer. Die Sekunden vergingen. Er nahm nichts weiter wahr als die Leere auf der Seite vor sich, den Juckreiz oberhalb des Sprunggelenks, das Dröhnen der Musik und eine leichte Benommenheit, die vom Gin herrührte.

Plötzlich fing er an, wie panisch zu schreiben, ohne recht zu wissen, was er da eigentlich zu Papier brachte. Seine kleine kindliche Handschrift breitete sich auf der Seite aus, wobei er zuerst auf die Großbuchstaben und zuletzt sogar auf die Interpunktion verzichtete:

4. April, 1984. Gestern Abend im Kino. Nur Kriegsfilme. Darunter ein sehr guter, über ein Schiff voller Flüchtlinge, das irgendwo im Mittelmeer bombardiert wird. Publikum amüsierte sich über Aufnahmen von einem riesengroßen dicken Mann, der versuchte, vor einem Hubschrauber davonzuschwimmen, erst sah man, wie er wie ein Schweinswal durchs Wasser pflügte, dann sah man ihn durchs [15]Zielfernrohr des Hubschraubers, dann war er voller Löcher und das Meer um ihn herum färbte sich rosa und er versank so plötzlich als hätten die Löcher das Wasser hereingelassen, Publikum brüllte vor Lachen als er versank. dann sah man ein rettungsboot voll mit kindern, über dem ein hubschrauber kreiste. da war eine frau mittleren alters vielleicht eine jüdin die am bug saß mit einem jungen von ungefähr drei jahren im arm. kleiner junge schrie vor angst und steckte seinen kopf zwischen ihre brüste als wollte er sich ganz in ihr verkriechen und die frau legte die arme um ihn und tröstete ihn obwohl sie selbst weiß vor angst war, die ganze zeit schützte sie ihn so gut es ging als glaubte sie ihre arme könnten die kugeln von ihm abhalten. dann warf der hubschrauber eine 20-kilo-bombe auf die leute ein wahnsinniges aufblitzen und das boot war nur noch kleinholz. dann war da eine großartige aufnahme von einem kinderarm der hoch hoch hoch und immer höher durch die luft fliegt ein hubschrauber mit kamera in der kanzel muss ihm nachgeflogen sein und es gab eine menge applaus von den parteiplätzen aber eine frau unten wo die proles sitzen fing an stunk zu machen und schrie die hättn doch so was nich vor kindern zeigen solln hätten’s nich tun solln es wär nich richtig vor kindern die hätten’s nich tun solln bis die polizei sie rauswarf sie rausschmiss ich glaube nicht dass ihr was passiert ist keinen kümmert’s was die proles sagen typische prolesreaktion die werden doch nie –

Winston hörte auf zu schreiben, auch deshalb, weil er einen Krampf in der Hand hatte. Er wusste nicht, was ihn dazu veranlasst hatte, diesen Haufen Müll auszuschütten. [16]Das Eigenartige daran war, dass sich währenddessen eine vollkommen andere Erinnerung in seinem Geist so klar materialisiert hatte, dass er sich fast in der Lage fühlte, sie aufzuschreiben. Wegen dieses anderen Vorfalls, das wurde ihm jetzt bewusst, hatte er mit einem Mal beschlossen, nach Hause zu gehen und an diesem Tag mit dem Tagebuch zu beginnen.

Alles hatte an diesem Morgen im Ministerium seinen Lauf genommen, falls man bei so einer verworrenen Sache überhaupt davon sprechen kann, dass sie ihren Lauf nimmt.

Es war kurz vor elf Uhr, und in der Dokumentationsabteilung, in der Winston arbeitete, zogen sie die Stühle aus den Arbeitsnischen und gruppierten sie in der Mitte des großen Raums, gegenüber vom großen Telemonitor, zur Vorbereitung für den Zwei-Minuten-Hass. Winston war gerade im Begriff, in einer der mittleren Reihen Platz zu nehmen, als zwei Personen, die er zwar vom Sehen kannte, mit denen er aber nie gesprochen hatte, unerwartet den Raum betraten. Bei der einen Person handelte es sich um eine junge Frau, der er oft auf den langen Fluren begegnete. Er wusste nicht, wie sie hieß, dafür wusste er aber, dass sie in der Abteilung für Fiktion arbeitete. Vermutlich hatte sie einen Job als Mechanikerin an einer der Romanmaschinen, denn manchmal hatte er sie mit ölverschmierten Händen und einem Schraubenschlüssel gesehen. Die junge Frau machte einen forschen Eindruck, war ungefähr siebenundzwanzig, hatte volles dunkles Haar, ein sommersprossiges Gesicht, und all ihre Bewegungen wirkten flink und athletisch. Eine schmale scharlachrote Schärpe, das Abzeichen des Junioren-Anti-Sex-Bunds, schlang sich auf Taillenhöhe mehrmals um ihren Overall, gerade fest genug, um ihre [17]wohlgeformten Hüften zur Geltung zu bringen. Winston hatte sie vom ersten Augenblick an nicht ausstehen können. Er wusste auch, warum. Es lag an der Atmosphäre von Hockeyplätzen, kalten Bädern, verordneten Gruppenwanderungen und der allgemeinen Saubermann-Mentalität, die sie immerzu nach außen kehrte. Frauen mochte er im Grunde fast alle nicht, schon gar nicht die jungen und hübschen. Vor allem Frauen, insbesondere die jungen, gehörten zu den bigottesten Anhängern der Partei; sie hatten die Parolen verinnerlicht, betätigten sich als Amateurspitzel und schnüffelten herum, ob jemand von der Parteilinie abwich. Aber bei dieser jungen Frau hatte er das Gefühl, dass sie gefährlicher war als die meisten anderen. Als sie sich einmal auf dem Flur begegnet waren, hatte sie ihn im Vorübergehen mit einem verstohlenen Blick gemustert, der ihn zu durchbohren schien und einen Moment lang mit blankem Entsetzen erfüllt hatte. Ihm war sogar der Gedanke gekommen, sie könnte eine Agentin der Gedankenpolizei sein. Allerdings war das eher unwahrscheinlich. Dennoch verspürte er weiterhin ein seltsames Unbehagen, in das sich sowohl Furcht als auch Feindseligkeit mischte, sobald die Frau in seine Nähe kam.

Die andere Person war ein Mann namens O’Brien, Mitglied der Inneren Partei, der einen so wichtigen und unerreichbaren Posten innehatte, dass Winston davon nur eine vage Vorstellung hatte. Eine kurze Stille überkam die Leute bei den Sitzplätzen, als sie jenes Mitglied der Inneren Partei im schwarzen Overall hereinkommen sahen. O’Brien war ein großer stämmiger Mann mit Stiernacken und einem groben, launischen, brutalen Gesicht. Trotz seiner furchteinflößenden Erscheinung besaß er einen gewissen Charme. [18]Er hatte die Angewohnheit, sich die Brille auf der Nase zurechtzurücken, eine Geste, die seltsam entwaffnend wirkte – und unerklärlicherweise seltsam kultiviert. Falls noch irgendwer in solchen Kategorien gedacht hätte, hätte man bei dieser Geste an einen Adligen des 18. Jahrhunderts denken mögen, der seine Schnupftabakdose anbot. Winston hatte O’Brien vielleicht ein Dutzend Mal in etwa ebenso vielen Jahren zu Gesicht bekommen. Er fühlte sich stark zu ihm hingezogen, und das lag nicht allein daran, dass ihn der Kontrast zwischen O’Briens weltmännischem Auftreten und seiner Preisboxer-Statur faszinierte. Vielmehr hegte er heimlich die Überzeugung – vielleicht war es keine Überzeugung, sondern nur eine Hoffnung –, dass O’Briens politische Rechtgläubigkeit nicht vollkommen war. Etwas in seinen Gesichtszügen legte diese Vermutung unwiderstehlich nahe. Aber vielleicht stand in diesem Gesicht gar keine Unangepasstheit, sondern einfach nur Intelligenz. Wie dem auch sei, er wirkte wie ein Mensch, mit dem man reden könnte, wenn es einem nur gelänge, den Telemonitor auszutricksen und O’Brien unter vier Augen zu sprechen. Winston hatte nie den kleinsten Versuch unternommen, seine Vermutung zu bestätigen: Es gab ohnehin keine Möglichkeit, dies zu tun. In diesem Moment warf O’Brien einen Blick auf seine Armbanduhr, sah, dass es fast elf Uhr war, und beschloss offensichtlich, in der Dokumentationsabteilung zu bleiben, bis der Zwei-Minuten-Hass beendet war. Er setzte sich auf einen Stuhl in derselben Reihe wie Winston, nur wenige Plätze von ihm entfernt. Eine kleine hellblonde Frau, die in der Arbeitsnische neben Winston arbeitete, saß zwischen ihnen. Die junge Frau mit dunklen Haaren saß unmittelbar hinter ihm.

[19]Im nächsten Moment brach aus dem großen Telemonitor am Ende des Raums ein grässliches, knirschendes Kreischen, als würde eine monströse Maschine ohne Öl anlaufen. Dieses Geräusch ging einem durch Mark und Bein, die Nackenhaare sträubten sich. Das Hassritual hatte begonnen.

Wie immer war das Gesicht von Emmanuel Goldstein, dem Feind des Volkes, blitzartig auf dem Schirm erschienen. Vereinzelt war ein Zischen im Publikum zu hören. Die kleine hellblonde Frau quiekte aus Furcht und Abscheu zugleich. Goldstein war der Renegat und Abtrünnige, der früher, vor langer Zeit (wie lange das her war, wusste niemand mehr) einer der führenden Männer der Partei gewesen war, fast auf einer Stufe mit dem Großen Bruder, und der sich dann an konterrevolutionären Machenschaften beteiligt hatte, zum Tode verurteilt wurde, dann jedoch auf mysteriöse Weise entkommen und verschwunden war. Das Programm des Zwei-Minuten-Hasses wechselte von Tag zu Tag, es gab aber keine Sendung, in der Goldstein nicht die Hauptfigur gewesen wäre. Er war der Urverräter, der Erste, der die Reinheit der Partei befleckt hatte. Alle nachfolgenden an der Partei verübten Verbrechen, alle Fälle von Verrat, alle Sabotageakte, Ketzereien und Abweichungen hatten ihren Ursprung in seinen Lehren. Irgendwo lebte er noch und plante weitere Verschwörungen: Vielleicht irgendwo jenseits des Meeres, protegiert von seinen ausländischen Geldgebern, vielleicht sogar – so ging gelegentlich das Gerücht – in einem Versteck in Ozeanien selbst.

Winstons Zwerchfell krampfte sich zusammen. Wann immer er das Gesicht von Goldstein sah, verspürte er einen schmerzlichen Widerstreit der Gefühle. Goldstein hatte [20]ein hageres jüdisches Gesicht, einen breiten, zotteligen Kranz weißer Haare und ein Ziegenbärtchen – ein kluges Gesicht, das doch irgendwie verabscheuungswürdig war, dessen lange schmale Nase, auf deren Spitze eine Brille saß, den Eindruck alberner Senilität vermittelte. Es erinnerte an das Gesicht eines Schafs, und auch die Stimme besaß etwas Schafartiges. Goldstein trug seinen üblichen, in giftigem Ton gehaltenen Angriff auf die Parteidoktrinen vor – einen Angriff, der so überzogen und widersinnig war, dass sogar ein Kind ihn hätte durchschauen können, aber andererseits glaubwürdig genug, um in einem das alarmierende Gefühl wachzurufen, dass andere Leute, die nicht so besonnen waren wie man selbst, darauf hereinfallen könnten. Er beschimpfte den Großen Bruder, er prangerte die Parteidiktatur an, er forderte sofortige Friedensverhandlungen mit Eurasien, er plädierte für die Rede-, Presse-, Versammlungs- und Gedankenfreiheit, er schrie hysterisch, die Revolution sei verraten worden – und das alles in einer hektischen, vielsilbigen Redeweise, die eine Art Parodie auf den üblichen Stil der Redner der Partei war und sogar einige Neusprechwörter enthielt: tatsächlich mehr Neusprechwörter, als irgendein Parteimitglied normalerweise im richtigen Leben benutzen würde. Und die ganze Zeit über zogen – falls man noch den geringsten Zweifel hatte, was Goldsteins trügerische Phrasendrescherei in Wahrheit überdeckte – hinter seinem Kopf auf dem Telemonitor die schier endlosen Marschkolonnen der eurasischen Armee vorüber – Reihe um Reihe robust aussehender Männer mit ausdruckslosen asiatischen Gesichtern, die auf dem Schirm auftauchten und wieder verschwanden, um durch andere ersetzt zu werden, die genau gleich aussahen. Das dumpfe, [21]rhythmische Stampfen der Armeestiefel erzeugte die Geräuschkulisse zu Goldsteins blökender Stimme.

Das Hassritual dauerte noch kaum eine halbe Minute, als die Hälfte der Leute im Raum in unkontrolliertes Wutgeschrei ausbrach. Das selbstgefällige Schafsgesicht auf dem Schirm und die beängstigende Macht der Eurasischen Armee im Hintergrund waren nicht mehr auszuhalten: Außerdem erzeugte Goldsteins Anblick oder auch nur der Gedanke an ihn automatisch Angst und Zorn. Er war ein beständigeres Hassobjekt als Eurasien oder Ostasien, denn wenn Ozeanien mit einer dieser Mächte Krieg führte, befand es sich für gewöhnlich mit der anderen im Frieden. Eigenartig war nur, dass, obwohl Goldstein von allen gehasst und verachtet wurde, obwohl seine Theorien jeden Tag und tausendfach am Tag auf Rednertribünen, auf dem Telemonitor, in Zeitungen und in Büchern widerlegt, auseinandergenommen, lächerlich gemacht und in aller Öffentlichkeit als der armselige Schwachsinn entlarvt wurden, der sie waren – dass trotz alledem Goldsteins Einfluss nie abzunehmen schien. Ständig gab es neue Leichtgläubige, die nur darauf warteten, von ihm verführt zu werden. Kein Tag verging, an dem nicht irgendwelche Spione und Saboteure, die auf seine Anordnung hin handelten, von der Gedankenpolizei entlarvt worden wären. Goldstein war der Kommandeur einer riesigen Schattenarmee, eines Netzwerks von Verschwörern im Untergrund, das sich dem Sturz der Regierung verschrieben hatte. Das Netzwerk bezeichnete sich offenbar als »Die Bruderschaft«. Im Flüsterton erwähnte man auch ein schreckliches Buch, ein Kompendium sämtlicher Irrlehren, dessen Verfasser Goldstein sei und das hier und dort heimlich zirkuliere. Es war ein Buch [22]ohne Titel. Wenn die Leute überhaupt davon sprachen, dann nur von dem Buch. Aber von solchen Dingen wusste man lediglich über vage Gerüchte. Weder die Bruderschaft noch das Buch war ein Thema, das ein gewöhnliches Parteimitglied erwähnte, falls es sich vermeiden ließ.

In der zweiten Minute steigerte sich das Hassritual zur Raserei. Die Leute sprangen an ihren Plätzen auf und nieder und schrien aus vollem Halse, um die blökende Stimme zu übertönen, die aus dem Schirm kam und einen in den Wahnsinn trieb. Die kleine hellblonde Frau war rot angelaufen, ihr Mund öffnete und schloss sich wie bei einem Fisch an Land. Selbst O’Briens breites Gesicht war gerötet. Er saß stocksteif auf seinem Platz, und sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich zitternd, als stemme er sich gegen eine aufbrandende Welle. Die junge dunkelhaarige Frau hinter Winston hatte begonnen, »Schwein! Schwein! Schwein!« zu schreien, packte plötzlich ein schweres Neusprechlexikon und schleuderte es gegen den Schirm. Dort traf es Goldstein auf Nasenhöhe und prallte ab; unerbittlich plärrte die Stimme in einem fort. In einem lichten Moment merkte Winston, dass er mit den anderen schrie und mit dem Absatz seines Schuhs fest gegen die Querleiste seines Stuhls trat. Das Schreckliche am Zwei-Minuten-Hass war nicht, dass man verpflichtet war mitzumachen, sondern vielmehr, dass man sich der Sogwirkung gar nicht entziehen konnte. Schon nach einer halben Minute verstellte sich keiner mehr. Eine grässliche Ekstase aus Angst und Rachsucht, ein Verlangen, zu töten, zu foltern und Gesichter mit einem Vorschlaghammer zu zertrümmern, schien die ganze Gruppe wie elektrischer Strom zu durchfließen und verwandelte einen gegen seinen Willen [23]in einen grimassierenden, schreienden Wahnsinnigen. Und trotzdem war der Zorn, den man verspürte, eine abstrakte, ziellose Gefühlsregung, die man wie die Flamme einer Lötlampe von einem Gegenstand auf den anderen richten konnte. Deshalb galt Winstons Hass einen Moment lang überhaupt nicht Goldstein, sondern vielmehr dem Großen Bruder, der Partei und der Gedankenpolizei; und in solchen Momenten fühlte er von Herzen mit dem einsamen, verhöhnten Ketzer auf dem Schirm, dem einzigen Hüter der Wahrheit und Vernunft in einer Welt voller Lügen. Trotzdem war er schon im nächsten Moment eins mit den Leuten um ihn herum, und all das, was über Goldstein gesagt wurde, schien ihm wahr zu sein. In solchen Momenten verwandelte sich sein geheimer Abscheu vor dem Großen Bruder in Bewunderung, und der Große Bruder schien alles zu überragen, wie ein unbesiegbarer, furchtloser Schutzherr, der wie ein Fels gegen die Horden aus Asien stand, und dann erschien ihm Goldstein trotz seiner Isolation, seiner Hilflosigkeit und trotz der Zweifel an seiner Existenz wie ein böser Hexenmeister, der schon allein mit seiner machtvollen Stimme imstande war, das Gefüge der Zivilisation zu zerstören.

In manchen Momenten war es sogar möglich, seinen Hass willentlich in die eine oder andere Richtung zu lenken. Plötzlich gelang es Winston mit äußerster Anstrengung – so wie man nach einem Albtraum den Kopf vom Kissen hochreißt –, seinen Hass von dem Gesicht auf dem Schirm auf die junge dunkelhaarige Frau hinter ihm zu richten. Lebhafte und wunderbare Halluzinationen durchzuckten ihn. Er würde sie mit einem Gummiknüppel zu Tode prügeln. Er würde sie nackt an einen Pfahl binden und [24]wie den heiligen Sebastian mit Pfeilen durchbohren. Er würde sie vergewaltigen und ihr im Augenblick des Höhepunkts die Kehle durchschneiden. Klarer als zuvor erkannte er nun, warum er sie derart hasste. Er hasste sie, weil sie jung und hübsch und geschlechtslos war, weil er mit ihr ins Bett wollte, das aber nie tun würde, weil sie um ihre reizende, anschmiegsame Taille, die geradezu dazu einlud, umarmt zu werden, diese widerwärtige scharlachrote Schärpe trug – das aggressive Symbol der Keuschheut.

Der Hass erreichte seinen Höhepunkt. Goldsteins Stimme war zu einem wirklichen Schafsblöken geworden, und für einen Augenblick verwandelte sich sein Gesicht in das eines Schafs. Dann verschmolz das Schafsgesicht mit einem eurasischen Soldaten, der vorzurücken schien, groß und gewaltig, mit ratternder Maschinenpistole, und aus der Oberfläche des Schirms zu springen schien, so dass einige der Leute in der ersten Reihe tatsächlich auf ihren Plätzen zurückschreckten. Doch im selben Moment, begleitet von allgemeinen Seufzern der Erleichterung, zerfloss die feindselige Gestalt in das Gesicht des Großen Bruders, schwarzhaarig, mit schwarzem Schnurrbart, ein Gesicht, das Macht ausstrahlte und auf dem eine geheimnisvolle Ruhe lag, ein Gesicht, dessen Größe fast den gesamten Schirm ausfüllte. Niemand hörte, was der Große Bruder sagte. Es waren bloß ein paar Worte der Ermutigung, die Art Worte, die im Schlachtgetümmel geäußert werden, die man zwar im Einzelnen nicht versteht, die aber allein dadurch Zuversicht wiederherstellen, dass sie ausgesprochen werden. Dann wurde das Gesicht des Großen Bruders ausgeblendet, und stattdessen erschienen die drei Parolen der Partei in fetten Großbuchstaben:

[25]KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNWISSENHEIT IST STÄRKE

Doch das Gesicht des Großen Bruders schien noch einige Sekunden auf dem Schirm nachzuglühen, als sei die Wirkung, die es auf der Netzhaut der Zuschauer hinterlassen hatte, zu lebhaft, um sofort wieder zu verblassen. Die kleine hellblonde Frau hatte sich über die Lehne des Stuhls vor ihr gekrümmt. Mit einem bebenden Wispern, das wie »Mein Erlöser!« klang, streckte sie die Arme zum Schirm aus. Dann vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen. Es war offensichtlich, dass sie leise betete.

In diesem Moment verfielen alle dort Versammelten in einen tieftönenden, langsamen, rhythmischen Sprechgesang: »G-B! … G-B!« – immer und immer wieder, sehr langsam, mit einer langen Pause zwischen dem »G« und dem »B« – ein dunkler, geraunter Laut, auf eigentümliche Weise urtümlich-wild, so dass man glaubte, im Hintergrund das Stampfen bloßer Füße und das dumpfe Dröhnen von Trommeln zu hören. Etwa eine halbe Minute behielt die Gruppe diese Lautfolge bei. Es war ein Kehrreim, der oft in Augenblicken überwältigender Gefühle zu hören war. Zum Teil war es ein Lobgesang auf die Weisheit und Majestät des Großen Bruders, darüber hinaus war es ein Akt der Selbsthypnose, eine durch rhythmische Laute absichtlich herbeigeführte Benebelung des Bewusstseins. Winston verspürte eine Kälte in den Eingeweiden. Während des Zwei-Minuten-Hasses konnte er nicht anders, er musste einfach an dem allgemeinen Taumel teilnehmen, doch dieser unmenschliche Singsang »G-B! … G-B!« [26]erfüllte ihn stets mit Schrecken. Natürlich stimmte auch er wie alle anderen in diese Laute mit ein: Man hätte sich unmöglich anders verhalten können. Sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen, sein Mienenspiel zu beherrschen, genau das zu tun, was alle anderen auch taten, war eine Instinktreaktion. Es gab jedoch eine Spanne von wenigen Sekunden, während derer ihn womöglich der Ausdruck in seinen Augen hätte verraten können. Und genau in diesem Moment geschah etwas Bemerkenswertes – falls es überhaupt geschah.

Flüchtig hatte er Blickkontakt mit O’Brien. O’Brien war aufgestanden. Er hatte die Brille abgenommen und war im Begriff, sie sich mit seiner charakteristischen Geste wieder auf die Nase zu setzen. Aber für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich ihre Blicke, und in dieser kurzen Spanne wusste Winston – ja, er wusste es! –, dass O’Brien dasselbe dachte wie er. Sie hatten eine unmissverständliche Botschaft ausgetauscht. Es war, als hätten beide ihren Geist geöffnet und als strömten die Gedanken durch die Augen vom einen zum anderen. »Ich bin Ihrer Meinung«, schien O’Brien ihm zu sagen. »Ich weiß, was Sie fühlen. Ich weiß alles über Ihre Verachtung, Ihren Hass, Ihren Abscheu. Aber keine Sorge, ich bin auf Ihrer Seite!« Dann war die aufblitzende Übereinkunft verschwunden, und O’Briens Miene war genauso unergründlich wie die aller anderen.

Mehr war da nicht, und schon war er sich nicht mehr sicher, ob es überhaupt passiert war. Vorfälle dieser Art waren immer folgenlos. Sie dienten lediglich dazu, in ihm den Glauben oder die Hoffnung lebendig zu halten, dass es außer ihm noch andere Feinde der Partei gab. Womöglich waren die Gerüchte, es gebe eine große [27]Untergrundverschwörung, doch wahr – vielleicht existierte die Bruderschaft wirklich! Trotz der endlosen Verhaftungswellen, der Geständnisse und Hinrichtungen konnte man nie sicher sein, ob die Bruderschaft nicht doch nur ein Mythos war. An manchen Tagen glaubte er daran, dann wiederum nicht. Es gab keine Beweise, nur flüchtige Andeutungen, die alles oder nichts bedeuten konnten: Wortfetzen belauschter Gespräche, blasse Kritzeleien auf Toilettenwänden, und einmal, als sich zwei Fremde begegneten, sogar eine kleine Handbewegung, die so ausgesehen hatte, als sei sie ein Erkennungszeichen. Alles bloß Spekulation: Wahrscheinlich hatte er sich alles nur eingebildet. Er war in seine Arbeitsnische zurückgegangen, ohne O’Brien noch einmal einen Blick zuzuwerfen. Der Gedanke, die flüchtige Kontaktaufnahme weiter zu verfolgen, kam ihm eigentlich nicht in den Sinn. Es wäre unfassbar gefährlich gewesen, selbst wenn er gewusst hätte, wie er das hätte anstellen sollen. Für ein oder zwei Sekunden hatten sie einen mehrdeutigen Blick gewechselt, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Aber selbst das war ein denkwürdiger Vorfall in der abgeschlossenen Einsamkeit, in der man leben musste.

Winston raffte sich auf und setzte sich gerade hin. Dann stieß er einen Rülpser aus. Der Gin stieg ihm brennend in die Speiseröhre.

Er fasste die Seite wieder schärfer ins Auge. Dann stellte er fest, dass er während des hilflosen Dasitzens und Grübelns weitergeschrieben hatte, ganz unwillkürlich. Und es war nicht mehr die gedrängte, unbeholfene Handschrift wie zuvor. Seine Feder war ausgreifend über das glatte Papier geglitten und hatte in großen, klaren Druckbuchstaben hinterlassen –

[28]NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

immer und immer wieder, eine halbe Seite füllend.

Er verspürte eine aufsteigende Panik. Das war eigentlich absurd, denn diese konkreten Worte zu schreiben, war nicht gefährlicher als der erste Schritt, das Tagebuch anzulegen; aber einen Moment lang war er versucht, die verbrauchten Seiten herauszureißen und das Vorhaben komplett aufzugeben.

Aber das tat er nicht, wusste er doch, dass es zwecklos war. Ob er nun NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER schrieb oder es bleiben ließ, machte keinen Unterschied. Ob er das Tagebuch weiterführte oder nicht, machte keinen Unterschied. Die Gedankenpolizei würde ihn so oder so kriegen. Er hatte das entscheidende Verbrechen begangen, das alle anderen mit einschloss – und das hätte er auch dann getan, wenn er nie einen Buchstaben zu Papier gebracht hätte. Gedankenverbrechen, so nannten sie es. Gedankenverbrechen konnte man nicht auf Dauer verheimlichen. Vielleicht konnte man sich eine Weile erfolgreich durchlavieren, sogar ein paar Jahre, aber früher oder später kamen sie einem doch auf die Schliche.

Es geschah immer nachts – die Festnahmen erfolgten ausschließlich bei Nacht. Das jähe Hochfahren aus dem Schlaf, die grobe Hand, die einen an der Schulter schüttelt, das grelle Licht, das einen blendet, der Kreis aus verhärteten Mienen um das Bett. Bei den allermeisten Fällen fand [29]keine Gerichtsverhandlung statt, es gab kein Protokoll der Verhaftung. Die Menschen verschwanden einfach, immer in der Nacht. Der Name wurde aus den Registern gestrichen, jede Aufzeichnung von allem, was man je getan hatte, wurde gelöscht, die einstige Existenz eines Menschen wurde geleugnet und dann vergessen. Man wurde getilgt, vernichtet: vaporisiert lautete die gängige Bezeichnung.

Einen Moment lang verfiel er in eine Art Hysterie. Dann fing er an, in hastiger, unsauberer Krakelschrift zu schreiben:

sie werden mich abknallen ist mir egal sie verpassen mir einen genickschuss ist mir egal nieder mit dem großen bruder die verpassen einem immer genickschüsse ist mir egal nieder mit dem großen bruder –

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, ein wenig beschämt, und legte den Federhalter zur Seite. Im nächsten Moment erschrak er heftig. Es klopfte an der Tür.

Schon so bald! Er saß mucksmäuschenstill da, in der vergeblichen Hoffnung, wer auch immer dort stand, würde nach einem einmaligen Klopfen wieder gehen. Aber nein, das Klopfen wiederholte sich. Das Allerschlimmste wäre jetzt, weiter zu zögern. Sein Herz pochte wie eine Trommel, aber seine Miene blieb aus langer Gewohnheit vermutlich ausdruckslos. Er stand auf und begab sich schwerfällig zur Tür.

[30]2

Als er die Hand auf den Türgriff legte, sah Winston, dass er das Tagebuch offen auf dem Tisch hatte liegen lassen. NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER stand dort über die Hälfte der Seite hinweg, in so großen Buchstaben, dass man die Zeilen fast von der Tür aus lesen konnte. Eine unfassbare Dummheit, was er da getan hatte. Aber ihm wurde bewusst, dass er trotz seiner Panik nicht das cremefarbene Papier hatte verschmieren wollen, indem er das Buch zuschlug, solange die Tinte noch feucht war.

Er holte tief Luft und machte die Tür auf. Augenblicklich durchflutete ihn eine warme Welle der Erleichterung. Vor der Tür stand eine blasse, zerknittert aussehende Frau mit strähnigem Haar und zerfurchtem Gesicht.

»Ach, Genosse«, begann sie mit trostlos jammernder Stimme, »mir war doch, als hätte ich Sie reinkommen hören. Könnten Sie wohl kurz zu uns kommen und mal einen Blick auf unser Spülbecken werfen? Es ist verstopft und –«

Es war Mrs Parsons, die Frau eines Nachbarn auf derselben Etage. (»Mrs« war ein Begriff, der von der Partei eigentlich missbilligt wurde – es wurde erwartet, jeden mit »Genosse« oder »Genossin« anzureden –, doch bei einigen Frauen benutzte man die Anrede »Mrs« ganz unwillkürlich). Sie war um die dreißig Jahre alt, sah aber viel älter aus. Man hatte den Eindruck, als habe sich Staub in den Falten ihres Gesichts abgelagert. Winston folgte ihr den Hausflur entlang. Diese nichtfachmännischen Reparaturarbeiten stellten ein fast tägliches Ärgernis dar. Die Victory-Wohnblocks bestanden aus alten Wohnungen, die etwa aus den 1930er Jahren stammten und allmählich zu Bruch gingen. [31]Von Decken und Wänden bröckelte dauernd der Putz, bei jedem strengen Frost platzten die Leitungsrohre, wann immer es schneite, tropfte es durch das Dach, und die Zentralheizung lief für gewöhnlich nur mit halber Kraft, wenn sie nicht aus Gründen der Sparsamkeit ganz abgestellt wurde. Sofern man anfallende Reparaturen nicht selbst ausführte, mussten sie von fernen Kommissionen genehmigt werden, die durchaus imstande waren, das Auswechseln einer Fensterscheibe zwei Jahre lang hinauszuzögern.

»Ist ja auch nur, weil Tom nicht da ist«, sagte Mrs Parsons vage.

Die Wohnung der Parsons war größer als die von Winston und auf andere Weise schäbig. Alles sah furchtbar abgenutzt und zertrampelt aus, ganz so, als seien die Räumlichkeiten gerade erst von einem großen, wilden Tier heimgesucht worden. Sportsachen – Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein geplatzter Fußball, eine verschwitzte, auf links gezogene Turnhose – lagen auf dem Boden herum, und der Esstisch war ein Durcheinander aus schmutzigem Geschirr und Schulheften mit Eselsohren. An den Wänden hingen scharlachrote Banner des »Jugendbunds« und der »Spione« sowie ein großformatiges Plakat vom Großen Bruder. Auch hier hing der Geruch von gekochtem Kohl in der Luft, der das ganze Gebäude erfüllte, nur dass er hier noch von einem scharfen Schweißgeruch durchsetzt war, dessen Verursacher im Augenblick nicht anwesend war – das wusste man gleich beim ersten Schnüffeln, auch wenn man sich das nicht erklären konnte. In einem anderen Zimmer versuchte jemand, mit einem Kamm und einem Blatt Toilettenpapier die Melodie der Militärmusik nachzuspielen, die immer noch aus dem Telemonitor drang.

[32]»Das sind die Kinder«, sagte Mrs Parsons und warf einen halb ängstlichen Blick auf die Tür. »Sind heute noch nicht draußen gewesen. Und da ist es ja klar –«

Sie hatte die Angewohnheit, ihre Sätze nicht zu Ende zu führen. Das Küchenspülbecken war fast randvoll mit einem schmierigen, grünlichen Wasser, das schlimmer als alles andere nach Kohl stank. Winston kniete sich hin und überprüfte den Knick des Abflussrohrs. Er hasste es, seine Hände zu benutzen, und er hasste es, sich bücken zu müssen, weil er dann meistens anfing zu husten. Mrs Parsons schaute ihm überfordert zu.

»Klar, wenn Tom da wär, hätt er das im Nu hingekriegt«, meinte sie. »So was liegt ihm. Er ist so geschickt mit den Händen, der Tom.«

Parsons war Winstons Kollege im Ministerium für Wahrheit. Er war ein untersetzter, aber agiler Mann von lähmender Dummheit, ein Koloss, der einen hirnlosen Eifer an den Tag legte – eines von diesen vollkommen ergebenen Arbeitstieren, die keine Fragen stellen und von denen, mehr noch als von der Gedankenpolizei, der Zusammenhalt der Partei abhing. Mit fünfunddreißig war er erst kürzlich gegen seinen Willen aus dem Jugendbund ausgeschlossen worden, und bevor er in den Jugendbund aufgestiegen war, war es ihm gelungen, ein Jahr länger bei den Spionen zu bleiben, als es die festgesetzte Altersgrenze vorsah. Im Ministerium hatte er einen untergeordneten Posten, bei dem man keine Intelligenz brauchte, aber andererseits war er eine wichtige Person im Sportkomitee und in allen anderen Komitees, die sich damit befassten, Gruppenwanderungen, spontane Demonstrationen, Sparkampagnen und freiwillige Einsätze zu organisieren. Während er seine Pfeife paffte, ließ er [33]einen mit stillem Stolz wissen, er habe sich im Verlauf der letzten vier Jahre jeden Abend im Kommunalen Zentrum blicken lassen. Wohin er auch ging, folgte ihm ein überwältigender Schweißgeruch, eine Art unbewusster Beweis dafür, wie anstrengend sein Leben war; dieser Geruch blieb in der Luft hängen, wenn Tom längst fortgegangen war.

»Haben Sie einen Maulschlüssel?«, fragte Winston und versuchte, den Schraubring am Kniestück zu drehen.

»Einen Maulschlüssel«, sagte Mrs Parsons und wirkte verunsichert. »Weiß nicht genau. Ob die Kinder vielleicht –«

Getrampel von Stiefeln und ein weiterer Tusch auf dem Kamm kündigten die Kinder an, die nebenan ins Wohnzimmer stürmten. Mrs Parsons brachte den Maulschlüssel. Winston ließ das Wasser ablaufen und entfernte angewidert den Pfropfen aus Haaren, der das Abflussrohr verstopft hatte. So gut es ging, wusch er sich die Hände unter dem kalten Wasser aus der Leitung und ging in den anderen Raum zurück.

»Hände hoch!«, schrie eine wilde Stimme.

Ein hübscher, zäh wirkender Junge von neun Jahren war hinter dem Tisch hervorgesprungen und bedrohte ihn mit einer Spielzeugpistole, während die kleine Schwester, die etwa zwei Jahre jünger sein mochte, dieselbe Handbewegung mit einem Stück Holz machte. Beide trugen blaue Shorts, graue Hemden und rote Halstücher, wie es die Uniform der Spione vorsah. Winston hob die Hände über den Kopf, aber mit gewissem Unbehagen, da der Junge sich so böse gebärdete, dass es nicht mehr nur ein Spiel war.

»Du bist ein Verräter!«, schrie der Junge. »Bist ein Gedankenverbrecher! Bist ein eurasischer Agent! Ich knall dich ab, ich vaporisier dich, ich schick dich in die Salzminen!«

[34]Plötzlich sprangen beide um ihn herum und schrien »Verräter!« und »Gedankenverbrecher!«, wobei das kleine Mädchen seinen Bruder mit jeder Bewegung imitierte. Irgendwie war das ein wenig beängstigend, ganz so, als tollten Tigerjunge herum, die schon bald groß sind und Menschen fressen werden. In den Augen des Jungen lag eine Art berechnende Wildheit, ein unverhohlenes Verlangen, Winston zu schlagen oder zu treten, und auch das Wissen, bald groß genug zu sein, um all das tun zu können. Bloß gut, dass er keine echte Pistole in der Hand hielt, dachte Winston.

Mrs Parsons’ Augen huschten nervös zwischen Winston und den Kindern hin und her. Im helleren Licht des Wohnzimmers stellte er interessiert fest, dass sich tatsächlich Staub in den Falten ihres Gesichts abgelagert hatte.

»Die können ganz schon Krach machen«, meinte sie. »Sind enttäuscht, weil sie nicht bei der Hinrichtung zusehen können, das wird’s sein. Hab zu viel zu tun, kann nicht mit ihnen hingehen, und Tom kommt nicht rechtzeitig von der Arbeit zurück.«

»Warum können wir nicht das Hängen sehen?«, brüllte der Junge.

»Wollen Hängen sehen! Wollen Hängen sehen!«, skandierte das Mädchen und sprang immer noch herum.

Einige eurasische Gefangene, die sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten, sollten am Abend im Park gehängt werden, wie Winston einfiel. Das geschah etwa einmal im Monat und war ein beliebtes Schauspiel. Kinder forderten immer lautstark ein, dass man sie dorthin mitnahm. Winston verabschiedete sich von Mrs Parsons und ging zur Wohnungstür. Er war noch keine sechs Schritte den Flur [35]hinunter gegangen, als ihn etwas im Nacken traf, ein furchtbar schmerzhafter Schlag. Ihm war, als hätte ihm jemand einen rotglühenden Draht ins Fleisch gebohrt. Als er herumfuhr, sah er gerade noch, wie Mrs Parsons ihren Sohn von der Tür in die Wohnung zurückzerrte, während der Junge eine Schleuder in seiner Hosentasche verschwinden ließ.

»Goldstein!«, brüllte der Junge noch, als die Tür ins Schloss fiel. Doch was Winston am meisten erschütterte, war der Ausdruck hilfloser Furcht, der sich auf dem gräulichen Gesicht der Frau abzeichnete.

Zurück in der Wohnung, huschte er am Telemonitor vorbei und setzte sich wieder an den Tisch, wobei er sich immer noch den Nacken rieb. Die Musik aus dem Telemonitor war verstummt. Stattdessen verlas eine abgehackt sprechende, militärisch geschulte Stimme mit einer Art grausamer Freude eine Beschreibung von der Bewaffnung der neuen Schwimmenden Festung, die kürzlich zwischen Island und den Färöer-Inseln vor Anker gegangen war.

Mit diesen Kindern, dachte er, führte diese bedauernswerte Frau offenbar ein Leben in Angst. Ein Jahr noch, vielleicht auch zwei, und die beiden würden sie Tag und Nacht im Auge behalten, ob sie der Partei auch treu war. Heutzutage waren fast alle Kinder furchtbar. Am schlimmsten war jedoch, dass sie durch Organisationen wie die Spione systematisch in unbezähmbare kleine Wilde verwandelt wurden, und trotzdem rief das in ihnen kein Verlangen hervor, gegen die Parteidisziplin zu rebellieren. Im Gegenteil, sie bewunderten die Partei und alles, wofür sie stand. Die Lieder, die Umzüge, die Banner, die Wanderungen, der Drill mit Übungsgewehren, das Brüllen von Parolen, die [36]Verehrung des Großen Bruders – für die Kinder war all das ein tolles Spiel. Die ganze ungestüme, wilde Energie der Kinder wurde nach außen gerichtet, gegen die Staatsfeinde, gegen Fremde, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Für Leute über dreißig war es fast normal, Angst vor den eigenen Kindern zu haben. Und das aus gutem Grund, verging doch kaum eine Woche, in der die Times nicht einen Artikel darüber brachte, wie irgendeine kleine neugierige Petze – »Kinderheld« lautete die gängige Phrase – eine kompromittierende Bemerkung belauscht und daraufhin die eigenen Eltern bei der Gedankenpolizei denunziert hatte.

Der Schmerz von dem Geschoss der Schleuder hatte nachgelassen. Halbherzig griff Winston zum Federhalter und fragte sich, ob es noch irgendetwas gab, das er ins Tagebuch schreiben könnte. Plötzlich musste er wieder an O’Brien denken.

Vor Jahren – wie lange mochte das her sein? Vermutlich sieben Jahre – hatte er geträumt, er gehe durch ein stockdunkles Zimmer. Und im Gehen hatte ihn jemand, der dort saß, von der Seite angesprochen: »Wir werden uns an dem Ort treffen, an dem es keine Dunkelheit gibt.« Die Stimme sprach sehr ruhig, beinahe beiläufig – eine Feststellung, keine Aufforderung. Er war einfach weitergegangen, ohne zu zögern. Eigenartig war nur, dass die Worte damals, im Traum, keinerlei Eindruck bei ihm hinterlassen hatten. Erst später und ganz allmählich hatten sie anscheinend an Bedeutung gewonnen. Er konnte sich jetzt nicht mehr genau erinnern, ob er O’Brien zum ersten Mal vor oder nach diesem Traum gesehen hatte; ebenso wenig konnte er sich erinnern, wann ihm zum ersten Mal aufgegangen war, dass es O’Briens Stimme gewesen war. Wie dem auch sei, [37]diesen Bezug hatte er hergestellt. Es war O’Brien, der zu ihm aus der Dunkelheit gesprochen hatte.

Winston hatte nie sicher sein können – selbst nach dem flüchtigen Blickkontakt an diesem Morgen konnte er nicht sicher sein –, ob O’Brien Freund oder Feind war. Das tat im Grunde auch nichts zur Sache. Zwischen ihnen herrschte ein geheimes Einvernehmen, und das war wichtiger als Zuneigung oder Parteigängertum. »Wir werden uns an dem Ort treffen, an dem es keine Dunkelheit gibt«, hatte er gesagt. Winston wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, er wusste nur, dass es auf die eine oder andere Weise eintreffen würde.

Die Stimme aus dem Telemonitor brach ab. Ein Trompetenstoß, klar und schön, schwebte durch die abgestandene Luft. Die Stimme fuhr in krächzendem Ton fort:

»Achtung! Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit! Soeben erreicht uns eine Sondermeldung von der Malabar-Front. Unsere Streitkräfte in Südindien haben einen glorreichen Sieg errungen. Ich bin zu der Aussage ermächtigt, dass die Militäroperation, von der wir jetzt berichten, den Krieg ein messbares Stück seinem Ende entgegengeführt hat. Es folgt die Sondermeldung –«

Schlechte Nachrichten, dachte Winston. Und tatsächlich, auf eine blutrünstige Beschreibung der vollständigen Vernichtung einer eurasischen Armee mit ungeheuren Zahlen von Toten und Gefangenen folgte die Ankündigung, dass von kommender Woche an die Schokoladenration von dreißig auf zwanzig Gramm reduziert werden würde.

Winston rülpste wieder. Die Wirkung des Gins klang ab, es blieb ein leeres Gefühl. Aus dem Telemonitor schmetterte nun – vielleicht um den Sieg zu feiern, vielleicht aber [38]auch nur, um den Verlust der Schokolade in der Erinnerung zu verschleiern – »Ozeanien, Dir allein«. Es wurde allgemein erwartet, dazu strammzustehen. Doch Winston war in der gegenwärtigen Position nicht zu sehen.

»Ozeanien, Dir allein« ging in eine leichtere Musik über. Winston trat ans Fenster, weiterhin mit dem Rücken zum Telemonitor. Der Tag war immer noch kalt und klar. Irgendwo in der Ferne detonierte eine Raketenbombe mit dumpfem, nachhallendem Dröhnen. Zurzeit gingen zwanzig oder dreißig dieses Typs wöchentlich auf London nieder.

Unten in der Straße stieß der Wind das eingerissene Plakat hin und her, ruckartig tauchte das Wort ENGSOZ auf und verschwand. Engsoz. Die heiligen Prinzipien des Engsoz. Neusprech, Doppeldenk, die Veränderlichkeit der Vergangenheit. Winston fühlte sich, als laufe er durch Tangwälder auf dem Meeresgrund, verloren in einer monströsen Welt, in der er selbst das Ungeheuer war. Er war allein. Die Vergangenheit war tot, die Zukunft unvorstellbar. Welche Gewissheit hatte er, dass auch nur ein Mensch auf seiner Seite war? Und woher sollte er wissen, ob die Vorherrschaft der Partei nicht vielleicht ewig dauerte? Wie eine Antwort fielen ihm die drei Parolen auf der weißen Fassade des Ministeriums für Wahrheit wieder ein:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNWISSENHEIT IST STÄRKE

Er holte ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück aus der Hosentasche. Auch dort waren die gleichen Parolen eingeprägt, in winziger, klarer Schrift, und auf der anderen Seite der [39]Münze der Kopf des Großen Bruders. Selbst von der Münze verfolgten einen die Augen. Von Münzen, Briefmarken, Bucheinbänden, Bannern, Plakaten und der Verpackung einer Zigarettenschachtel – von überall her verfolgten sie einen. Immer beobachteten einen die Augen, immer umgab einen die Stimme. Ob man schlief oder wach war, ob man arbeitete oder aß, ob man im Haus oder draußen war, im Bad oder im Bett – es gab kein Entrinnen. Nichts gehörte einem ganz allein, ausgenommen die wenigen Kubikzentimeter im eigenen Schädel.

Die Sonne war weitergewandert, und die unzähligen Fenster im Ministerium für Wahrheit, auf die das Licht nun nicht mehr fiel, sahen düster aus wie Schießscharten einer Festung. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen angesichts dieser riesigen pyramidenartigen Struktur. Sie war zu stark, sie konnte nicht gestürmt werden. Tausend Raketenbomben könnten sie nicht zertrümmern. Erneut fragte er sich, für wen er überhaupt Tagebuch führte. Für die Zukunft, für die Vergangenheit – für ein Zeitalter, das vielleicht nur in der Vorstellung existierte. Und vor ihm lag nicht der Tod, sondern Auslöschung. Das Tagebuch würde zu Asche zerfallen, er selbst würde in Dampfschwaden vergehen. Nur die Gedankenpolizei würde lesen, was er geschrieben hatte, ehe sie das Tagebuch aus der Welt und aus der Erinnerung tilgte. Wie sollte man an die Zukunft appellieren, wenn keine Spur von einem, nicht einmal ein anonymes, auf ein Stück Papier gekritzeltes Wort materiell fassbar überdauerte?

Der Telemonitor schlug vierzehn. In zehn Minuten musste Winston los. Um vierzehn Uhr dreißig musste er wieder bei der Arbeit sein.

[40]Eigenartig, aber der Schlag zur vollen Stunde schien ihn mit neuem Mut erfüllt zu haben. Er war ein einsamer Geist, der eine Wahrheit aussprach, die niemand je vernehmen würde. Aber solange er sie äußerte, wäre die Kontinuität auf unergründliche Weise nicht unterbrochen. Das Erbe der Menschheit bewahrte man nicht dadurch, dass man sich Gehör verschaffte, sondern dadurch, dass man geistig gesund blieb. Er ging zurück zum Tisch, tauchte die Feder ein und schrieb:

An die Zukunft oder die Vergangenheit, an eine Zeit, in der die Gedanken frei sind, in der sich die Menschen voneinander unterscheiden und nicht allein leben – an eine Zeit, in der es Wahrheit gibt und das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann:

Aus dem Zeitalter der Gleichförmigkeit, aus dem Zeitalter der Einsamkeit, aus dem Zeitalter des Großen Bruders, aus dem Zeitalter des Doppeldenk – Grüße!

Er war bereits tot, überlegte er. Es kam ihm so vor, als habe er erst jetzt, nachdem er begonnen hatte, seine Gedanken formulieren zu können, den entscheidenden Schritt getan. Die Konsequenzen jeder Handlung sind bereits in der Handlung selbst angelegt. Er schrieb:

Gedankenverbrechen zieht nicht den Tod nach sich: Gedankenverbrechen IST der Tod.

Jetzt, da er sich selbst als toten Mann begriffen hatte, wurde es ihm wichtig, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Zwei Fingerkuppen seiner rechten Hand wiesen [41]Tintenflecke auf. Genau so ein Detail konnte einen verraten. Irgendein neugieriger Eiferer im Ministerium (vermutlich eine Frau: so eine wie die kleine hellblonde Frau oder die junge, dunkelhaarige Frau aus der Abteilung für Fiktion) könnte sich fragen, warum er in der Mittagspause geschrieben hatte, warum er dafür einen altmodischen Federhalter benutzt hatte, was er geschrieben hatte – um daraufhin der zuständigen Stelle einen Hinweis zu geben. Er ging ins Badezimmer und schrubbte die Tinte sorgfältig mit der körnigen, dunkelbraunen Seife weg, die wie Schmirgelpapier über die Haut scheuerte und deshalb für diesen Zweck bestens geeignet war.

Er legte das Tagebuch zurück in die Schublade. Die Überlegung, es zu verstecken, war eher sinnlos, aber er könnte zumindest sicherstellen, ob es entdeckt worden war oder nicht. Ein Haar zwischen den Seiten wäre zu offensichtlich. Mit der Fingerspitze pickte er ein gerade noch erkennbares weißliches Staubkörnchen auf und legte es auf die Ecke des Einbands, wo es herunterfallen musste, wenn das Buch angefasst wurde.

3

Winston träumte von seiner Mutter.

Er musste, überlegte er, zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als seine Mutter verschwand. Sie war eine große, stattliche, eher schweigsame Frau, die sich bedächtig bewegte und wundervolles blondes Haar hatte. Seinen Vater hatte er undeutlicher in Erinnerung, als dunkelhaarigen, dünnen Mann, der stets gepflegte dunkle Kleidung trug [42](Winston erinnerte sich besonders an die sehr dünnen Schuhsohlen seines Vaters) und eine Brille. Die beiden waren offenbar einer der ersten großen Säuberungswellen der 50er Jahre zum Opfer gefallen.

In diesem Moment saß seine Mutter an einer Stelle tief unter ihm, seine kleine Schwester in den Armen. Er hatte seine Schwester nur als kleines, schwächliches Baby in Erinnerung, das immer still war und große, wache Augen hatte. Beide schauten zu ihm hinauf. Sie hockten an irgendeinem unterirdischen Ort – auf dem Grund eines Brunnens womöglich oder in einem sehr tiefen Grab –, aber dieser Ort, der bereits tief unter ihm lag, bewegte sich immer tiefer hinab. Sie waren im Salon eines sinkenden Schiffes und blickten durch die dunkler werdenden Wasser zu ihm hinauf. Noch gab es Luft in dem Salon, sie konnten ihn immer noch sehen und er sie, doch die ganze Zeit sanken sie tiefer und tiefer hinab in die grünlichen Wasser, die sie jeden Moment seinem Blickfeld entziehen würden. Er war im Licht und an der Luft, während sie hinab in den Tod gezogen wurden, und sie waren dort unten, eben weil er hier oben war. Er wusste es, und sie wussten es auch, und er konnte dieses Wissen in ihren Gesichtern lesen. Da war kein Vorwurf, weder in ihren Gesichtern noch in ihren Herzen, nur die Gewissheit, dass sie sterben mussten, damit er am Leben bliebe, und dass dies der unvermeidliche Lauf der Dinge war.

Er konnte sich nicht erinnern, was passiert war, aber im Traum wusste er, dass das Leben seiner Mutter und das seiner Schwester in irgendeiner Weise für das seine geopfert worden waren. Es war einer jener Träume, die, während die charakteristischen Traumszenerien erhalten bleiben, [43]eine Fortführung der eigenen bewussten Gedankenwelt darstellen und in denen einem die Tatsachen und Vorstellungen bewusst werden, die einem auch nach dem Erwachen noch neu und wertvoll erscheinen. Was Winston jetzt plötzlich auffiel, war, dass der Tod seiner Mutter vor fast dreißig Jahren auf eine Weise tragisch und traurig gewesen war, die so nicht mehr möglich war. Das Tragische, so begriff er, gehörte in eine längst vergangene Zeit, in eine Zeit, als es noch Privatsphäre, Liebe und Freundschaft gab und die Mitglieder einer Familie füreinander da waren, ohne nach einem Grund fragen zu müssen. Die Erinnerung an seine Mutter brach ihm das Herz, denn als sie starb, liebte sie ihn, er aber war zu jung und zu selbstsüchtig gewesen, um diese Liebe zu erwidern, und sie hatte sich irgendwie – er konnte sich nicht mehr erinnern, wie – einer starren Vorstellung von Loyalität geopfert, die privat und unabänderlich war. So etwas, das sah er nun, konnte heute nicht mehr passieren. Heute gab es Furcht, Hass und Schmerz, aber keine Erhabenheit der Gefühle mehr, keinen tief empfundenen Kummer. All dies glaubte er in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester wahrzunehmen, die durch das grünliche Wasser zu ihm hinaufblickten, Hunderte Faden unter ihm und immer noch sinkend.

Plötzlich stand er auf kurzem, federndem Rasen, an einem Sommerabend, während die schräg einfallenden Strahlen der Sonne den Boden vergoldeten. Die Landschaft, die er um sich herum wahrnahm, tauchte immer wieder in seinen Träumen auf, so dass er sich nie richtig sicher war, ob er sie in der wirklichen Welt gesehen hatte oder nicht. In der wachen Welt seiner Vorstellungen nannte er diese [44]Landschaft das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchen bewohnte Wiese, mit einem quer verlaufenden Fußpfad und hier und da einem Maulwurfshügel. In der ungepflegten Hecke auf der gegenüberliegenden Seite der Weide bewegten sich die Zweige der Ulmen sanft in der leichten Brise, und ihre Blätter wogten wie die dichte Fülle von Frauenhaar. Irgendwo in der Nähe, aber nicht in Sichtweite, plätscherte ein klarer, träge fließender Bachlauf, wo sich Hasel in den Buchten unter den Weiden tummelten.

Die junge Frau mit dem dunklen Haar kam quer über die Wiese auf ihn zu. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung riss sie sich die Kleider vom Leib und warf sie verächtlich beiseite. Ihr Körper war weiß und glatt, weckte aber kein Verlangen in ihm, ja er schaute nicht einmal richtig hin. Was ihn in diesem Moment übermannte, war Bewunderung für die Geste, mit der sie ihre Kleider von sich geworfen hatte. Mit dieser Anmut und Unbekümmertheit schien sie eine ganze Kultur abzuschütteln, ein ganzes Gedankengebäude, als könnten der Große Bruder und die Partei und die Gedankenpolizei mit einer einzigen ausladenden Armbewegung ins Nichts gefegt werden. Auch dies war eine Geste, die einer längst vergangenen Zeit angehörte. Winston wachte mit dem Wort »Shakespeare« auf den Lippen auf.

Aus dem Telemonitor drang ein ohrenbetäubendes Pfeifen, das eine halbe Minute auf derselben Tonhöhe anhielt. Es war Punkt sieben Uhr fünfzehn, Zeit zum Aufstehen für alle Büroangestellten. Winston quälte sich aus dem Bett – nackt, denn als Mitglied der Äußeren Partei erhielt man nur dreitausend Kleidermarken pro Jahr, und ein Schlafanzug kostete sechshundert – und schnappte sich ein schmuddeliges Unterhemd und eine Shorts, die über einem Stuhl [45]