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Zwei Seelen. Ein Schicksal. Seelenverwandtschaft war für Kela bislang nur ein Wort. Doch seit der Fürstensohn Nero sie in die geheime Gesellschaft der Seelenclans eingeführt hat, gerät ihr Herz in seiner Nähe immer häufiger aus dem Takt. Leider sind es Gefühle, die keine Zukunft haben. Denn Nero ist einen gefährlichen Pakt eingegangen, den er nur mithilfe eines verschollenen Clanschlüssels brechen kann. Die riskante Suche nach dem magischen Artefakt führt Kela und Nero über mehrere Kontinente – und die Zeit drängt. Band 2 der atemberaubenden Romantasy-Reihe von Bestsellerautorin Rose Snow
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Seitenzahl: 526
Als Ravensburger E-Book erschienen 2022Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2022 Ravensburger VerlagOriginalausgabeCopyright © 2022 by Rose Snow© 2022 Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.Lektorat: Franziska JaekelUmschlaggestaltung: Miriam Wasmus Verwendete Bilder von © Elen Lane, © Kotkoa, © yanushkov, © bokasana, © artrise, © pthub125896, © lightgirl, © aluna1, © Olga Begak Art, © rangizzz, alle von Adobe Stock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51108-2Ravensburger.com
Für meinen Mann
Sieben Schlüssel
aus magischer Blüte,
deren Kraft in
den Frauen verglühte.
Verschlossen der Welten
verbindendes Tor
dunkle Asche sich
in den Rissen verlor.
Die Macht der Schlüssel
mag auferstehen
in treuen Anhängern
fortan sie gesehen:
Calla –
gold und wunderschön
wird Stürme, Blitz und Donner säen
Rose –
so schwarz wie tiefste Nacht
Gefühle andrer Herzen entfacht
Iris –
blau gleich dunklem Saphir
wird lesen die Gedanken dir
Dahlie –
grüner erstrahlen Wälder nur
lauscht dem Flüstern der Natur
Chrysantheme –
violett, zart und fein
fällt ihr Blick in die Vergangenheit ein
Orchidee –
weiß wie Schnee die Farbe
sich stets bedient an fremder Gabe
Lotos –
rot wie triefend Blut
vor ihren Täuschungen sei auf der Hut
Was verloren,
vergessen aber nicht,
tritt schon bald
erneut ans Licht.
Von jenen,
die unsterblich gefunden,
Mehrheit vereint
der Rest gebunden.
Wird öffnen
die verbindende Pforte,
wird lösen
alle magischen Worte.
Einer der Clans
nur wird bestehen,
alle anderen verdammt
unterzugehen.
Dunkle Asche verstreut
übers Land
Unsterblichkeit jäh
ihr Ende fand.
»Wir sind spät dran«, sagt Nero, als wir die pechschwarze Tür mit den eingelassenen Rosenornamenten erreichen, die sich in der unteren Etage des mediterranen Anwesens der de Balzacs befindet und von gedämpftem Bodenlicht erhellt wird. Es ist erst einige Tage her, dass ich mit Jerome und Todd durch genau diese Tür getreten bin, um in dem traumhaften, spitzenbesetzten Kleid zur Ringzeremonie zu reisen – und doch fühlt es sich bereits nach einer verdammten Ewigkeit an.
Was in so kurzer Zeit alles passieren kann.
Jeromes Verrat. Das Wirken der Brüder des Feuers. Der Pakt.
Ein hässliches Pochen überfällt meine Brust. Ich habe keine Ahnung, wohin mich Nero führt, geschweige denn, was die de Balzacs von mir wollen. Die Nervosität kriecht meinen Nacken hinauf, breitet sich in meinem Kopf und meinen Gedanken aus. »Wozu genau brauchen uns deine Eltern?«
»Unsere Anwesenheit ist für die Clanfürstin der Chevall-Rivaldis erforderlich. Margret möchte sichergehen, dass wir die Wahrheit sagen. Sie verlangt nach einem Beweis für Chelions Eingreifen und das neuartige Interesse der Bruderschaft. Unter den aktuellen Gegebenheiten hält sie dich für die neutralste Zeugin.«
»Ich bin mir nicht sicher, wie neutral ich bin. Geschweige denn, ob ich als Beweis funktioniere«, erwidere ich skeptisch, kann Margrets Vorsicht aber durchaus nachvollziehen. Die Anführerin der Chevall-Rivaldis weiß, was auf dem Spiel steht. Sie weiß, dass bereits sechs von sieben Kéjsaias freigelegt wurden. Dass der Clan der de Balzac und die Gwynedons über jeweils zwei Kéjsaias verfügen, dass die von Rubinsteins einen Schlüssel besitzen und sich die Bruderschaft einen Kéjsaia unter den Nagel gerissen hat, selbst wenn dieser Umstand im Hohen Rat angezweifelt wurde. Mit den Brüdern des Feuers ist ein zusätzlicher Gegner auf der Spielfläche erschienen, der um die Mehrheit der Schlüssel kämpfen wird. Was genau sie mit der Öffnung der Heiligen Pforte und dem Ende der Clan-Unsterblichkeit bezwecken, ist jedoch ungewiss.
»Zumindest bist du der lebende Beweis, dass das Unmögliche möglich ist«, beantwortet Nero meine Frage in derart vertraulichem Tonfall, dass ich für einen Moment den Atem anhalte. Zwischen den unterirdischen Mauern brennt sich sein dunkler Blick voller Stärke und Zuversicht in mich, als könnte er mir sämtliche Ängste nehmen, jetzt und für immer. Zeitgleich realisiert mein Gehirn, was offensichtlich ist.
Wir sind allein hier unten.
Nur wir zwei.
Seit Chelions Besuch und seiner erschütternden Ankündigung, durch den teuflischen Pakt den Platz mit Nero zu tauschen, hatten wir kaum einen Moment für uns. Fast kam es mir vor, als hätte Nero absichtlich dafür gesorgt.
»Und was wäre das Unmögliche?«, hake ich nach und spüre, wie sich eine hoffnungsfrohe Erwartung durch meinen Körper schraubt. Spüre, wie mein Herz innehält.
Im schummrigen Licht des zart nach Lavendel und Zitronen duftenden Korridors, wirken die ebenmäßigen Gesichtszüge des nachtschwarz gekleideten Fürstensohns noch unergründlicher und seine Nähe noch einnehmender. Eine dunkelbraune Haarlocke fällt ihm verwegen in die Stirn und seine wachsamen Augen leuchten förmlich, als er auf mich zutritt.
»Meine Eltern waren noch nie gezwungen, auf eine Halbsterbliche zu warten«, erklärt er unverwandt und setzt damit meinen Herzschlag ruckartig wieder in Gang.
Ich zucke mit den Schultern. Lasse den Anflug von Enttäuschung an mir abperlen. »Man ist nie zu alt, um dazuzulernen. Selbst deine Eltern nicht.«
»Das ist wahr«, sagt er ruhig, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von mir zu nehmen. »Du bringst also nicht bloß mein Leben durcheinander, Katalea.«
Bevor ich etwas erwidern kann, tritt Nero bereits an das pechschwarze Tor. Sein markant schönes Profil mit den ausdrucksstarken Lippen scheint entschlossen und seltsam nachdenklich, als er seinen Clanring an das Schloss hält. Augenblicklich sprießen leuchtend zarte Fäden aus dem Rosenemblem und formen vor dem Türblatt einen gleißend hellen Schlüssel, mit dem Nero die Tür öffnet und uns über die Schwelle in einen fensterlosen Saal führt.
Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, dass wir durch die Ringschlüsselmagie nicht bloß den Ort, sondern auch die Zeit gewechselt haben. Mit der gewölbten Decke, dem rohen Steinboden und den gusseisernen Wandleuchtern erweckt die Halle den Eindruck, als wären wir im tiefsten Mittelalter gelandet, in dem es nach alten Gemäuern und feuchter Erde riecht. Der schmucklose Raum ist ganz anders als das Anwesen der de Balzacs. Kühl und bedrohlich, und garantiert nicht der freundlichste Ort für ein Bündnis.
»Nun können wir endlich anfangen«, verkündet Marlon de Balzac aus der düsteren Mitte des Saals. Das Kerzenlicht der Wandkandelaber flackert orangefarben über das Hemd des Clanfürsten, der in seinem schwarzen Designeranzug eine ebenso elegante Erscheinung abgibt wie seine Frau Juliette, die mit perfektem Kurzhaarschnitt und figurbetontem Etuikleid neben ihm steht. Jedes Detail sitzt. Jede Geste, jeder Atemzug der Anwesenden scheint ihrer Kontrolle zu obliegen, mit einer entscheidenden Ausnahme: Margret, die Clanfürstin der Chevall-Rivaldis.
Durch ihre kurzen weißen Haare sticht die ältere Frau seltsam aus der Dunkelheit der de Balzacs hervor. Die Arme abwartend vor der Brust verschränkt, sieht sie in ihrem waldgrünen Gehrock mit den glänzenden, lavendelfarbenen Ornamenten nicht weniger vornehm aus, nur ich wirke in meiner Jeans, dem weißen Shirt und den zu einem losen Dutt zusammengebundenen blonden Haaren seltsam deplatziert – und so fühle ich mich auch. Die drei Oberhäupter tragen nicht nur die Farben ihrer Clans, sondern auch einen unendlich ernsten Gesichtsausdruck, der sich auch bei den an der Steinmauer postierten Männern wiederfindet. Margrets Leibwächter. Offenbar haben die beiden bulligen Typen die Order, sich im Hintergrund zu halten.
Mit spitzen Fingern deutet Juliette ungeduldig auf mich. »Hiermit erhalten Sie die Möglichkeit, Ihr Misstrauen endgültig zu beseitigen, Margret.«
»Es wäre naiv, Ihnen nicht zu misstrauen, Juliette«, entgegnet Margret glatt. »Naiv und fahrlässig.« Sie nickt Nero zu, der daraufhin nach meiner Hand greift und mich zu ihr in die Mitte der gewölbten Halle führt. Seine Berührung ist das einzig Warme in dieser kalten Umgebung, deren finstere Atmosphäre durch tiefe Skepsis und Argwohn verstärkt wird.
»Vertrau mir«, flüstert Nero mir zu und hebt dann im matten Schein der gusseisernen Wandleuchter unsere ineinander verschränkten Hände ein Stück an, sodass Margret unsere Handrücken berühren kann.
Bereits im nächsten Augenblick geht ein sanfter Ruck durch mich hindurch. Mein Atem beschleunigt sich. Ich fühle eine knisternd kühle Kraft, die spinnwebfein über meinen Arm und Hals hinweg in meinen Kopf tastet und nach meinen Erinnerungen greift. Fühle, wie diese unsichtbare Macht durch die letzten Tage gleitet, bis zu dem Moment, in dem Chelion offenbart, dass der dunkle Pakt rechtmäßig geschlossen wurde, und uns die Rose aus verwehendem Rauch entgegenhält, deren fallende schwarze Blätter den Ablauf der unheilvollen Frist verkünden.
Erschrocken keucht Margret auf und taumelt zurück. Schwer atmend betrachtet sie mich, bevor sich ihre klugen Augen verengen und ihre Aufmerksamkeit scharf zu Nero zieht. »Ein Pakt? Sie haben einen Pakt geschlossen? Wieso haben Sie dieses Detail bei der Versammlung des Hohen Rates ausgelassen?!«
Neros fein geschnittenes Gesicht bleibt reglos. »Dieser Pakt ändert nichts an der Tatsache, dass die Brüder des Feuers hinter den Kéjsaias her sind.«
»Betrachten Sie diesen Pakt als zusätzlichen Vertrauensbeweis«, fügt sein Vater seelenruhig hinzu und lächelt schal. »Wir hätten versuchen können, das dunkle Bündnis zu verheimlichen – haben das jedoch unterlassen. Der Blick in die Vergangenheit wurde Ihnen gewährt, damit Sie sich selbst von der Wahrheit überzeugen können, Margret. Eine Wahrheit, die die anderen Mitglieder des Hohen Rates nicht hören wollen.«
»Was ihnen wohl kaum zu verübeln ist«, erwidert sie schnaubend. »Wenn Sie Ihren Sohn vor seinem Schicksal bewahren wollen, müssen Sie den letzten Kéjsaia vor Ablauf der Frist finden.«
»Was auch in Ihrem Interesse liegt«, bemerkt der Clanfürst nüchtern und zieht den Ärmel seines schwarzen Jacketts glatt. »Wenn wir ab jetzt zusammenarbeiten wollen, müssen wir uns wohl oder übel … vertrauen.« Das letzte Wort fällt aus seinem Mund wie ein vergiftetes Stück Apfel, dessen Gift sich schwelend in dem Gewölbe ausbreitet, um sich in Ritzen und Rissen der alten Steinmauern und Steinplatten festzusetzen.
»Unsere Vorfahren hätten eine Allianz wie diese niemals für gut befunden.« Margret hält einen Moment inne, bevor der wachsame Ausdruck auf ihren Zügen einer eisernen Entschlossenheit weicht. »Doch die Vergangenheit darf nur beschränkt Einfluss auf die Gegenwart haben, vor allem, wenn wir unsere Zukunft selbst bestimmen möchten. Wir alle haben eine Vorstellung von dem, was passiert, wenn die Brüder des Feuers die Heilige Pforte öffnen. Die Welt, wie wir sie kennen, würde aufhören zu existieren. Ich betrachte es als meine Pflicht, dies zu verhindern. Die Tatsache, dass die Bruderschaft ihr Interesse so lange im Verborgenen hielt, um jetzt – so kurz vor der Entdeckung des letzten Schlüssels – aktiv zu werden, sollte uns in Alarmbereitschaft versetzen. Ich gehe davon aus, dass Chelion als Acuzios Handlanger agiert. Als ältestes Mitglied der Bruderschaft sinnt Acuzio schon lange auf Rache und möchte Vergeltung für das, was ihm widerfahren ist.«
Der Name verursacht ein mulmiges Gefühl in mir. Suki hat Acuzio in der Bibliothek der Chevall-Rivaldis erwähnt, als sie über die berüchtigtsten und gefährlichsten Brüder des Feuers sprach.
»Dennoch ist von der Schwesternschaft keine Hilfe zu erwarten«, fährt Margret fort. »Die Beschützerinnen der Quelle lassen dem Schicksal seinen Lauf. Das Orakel hingegen ist den Kéjsaias verpflichtet – es hält sich aus der Angelegenheit heraus, zumal seine Kraft schwindet, je näher wir der Öffnung der Heiligen Pforte kommen.«
Ihre Worte entringen Marlon ein verächtliches Schnauben, das geringschätzig durch den altertümlichen Saal schallt. »Nur aus diesem Grund schmoren Anatole und Ruben Gwynedon noch nicht in der Hölle. Weil das Orakel schon zu lange niemanden mehr in die Unterwelt verbannt hat!« Er verschränkt die Hände hinter seinem Rücken, als würde er sonst die Beherrschung verlieren, dann nimmt er einen tiefen Atemzug und neigt den Kopf. Seine schwarzen Haare glänzen wie Rabengefieder. »Uns ist zu Ohren gekommen, dass wir nicht die Ersten sind, die eine Allianz in Erwägung ziehen. Angeblich soll der Clan von Abendsberg mit der Familie Gwynedon kooperieren.«
»Nicht nur das«, bestätigt Margret. »Es kursiert das Gerücht einer Vermählung zwischen Ruben Gwynedon und Giselle von Rubinstein, was an der Schneeweißen Prophezeiung liegen mag. Anatole Gwynedons Sohn wurde eine große Zukunft vorhergesagt. Einige sehen in ihm bereits denjenigen, der die Kéjsaias einen wird.«
»Er ist ein Mörder«, presst Nero hervor.
»Das konnte nicht bewiesen werden«, hält Margret dagegen. »Erinnerungen, die einem Herzensschwur entstammen, sind nicht eindeutig genug. Und selbst wenn Chelion behaupten mag, im Tausch gegen einen Kéjsaia Ruben Gwynedon großzügigen Zugang zu Nekronicum verschafft zu haben, ist das noch lange kein stichhaltiger Beweis.« Die weißhaarige Clanfürstin sieht Nero entschieden an. »Für die Kooperation unserer Clans muss die Suche nach dem letzten Kéjsaia oberste Priorität besitzen. Nichts darf dieser Suche im Weg stehen. Keine Emotionen, keine Rachegelüste.«
»Seien Sie versichert, dass wir dies nicht anders sehen. Niemand von uns möchte, dass die Brüder des Feuers die Pforte öffnen«, kommt Juliette ihrem Sohn zuvor.
»Deshalb haben wir auch mitgebracht, worum Sie uns gebeten haben.« Marlon zieht ein silberfarbenes Amulett aus den Tiefen seines Jacketts, das er an Margret weiterreicht.
Ehrfürchtig fährt die Clanfürstin der Chevall-Rivaldis die Gravur des runden Schmuckstücks nach – die Strahlen einer aufgehenden Sonne hinter drei ineinander verflochtenen Blüten, die bei jeder Berührung im Halbdunkel lichtvoll aufblitzen, als würde eine besondere Magie durch sie hindurchfließen.
»Der Orden des Lichts«, haucht Margret und blickt Marlon erstaunt an. »Wie sind Sie bloß in den Besitz dieser Kostbarkeit gelangt?«
»Es handelt sich um ein Stück aus der Sammlung meiner Vorfahren.«
»Also ist es wahr. Die ewige Bibliothek, die größte Sammlung der Unsterblichen ist im Besitz der de Balzacs … Ich wusste lange nicht, ob sie wirklich existiert.«
»Wir haben auch einiges unternommen, um ihre Existenz zu verbergen«, sagt er.
»Wann werde ich die anderen Gegenstände zu Gesicht bekommen, die in Verbindung mit dem Orden stehen?«
»Später. Wir haben unseren Teil der Abmachung erfüllt, nun sind Sie an der Reihe.«
Nachdenklich legt Margret das Medaillon in ihre flache Hand, dessen silbern glänzende Oberfläche die Flamme eines Wandkandelabers sanft reflektiert. »Vor mehr als tausend Jahren waren die Clans der Rivaldis, der von Rubinsteins und der Zhens der Auffassung, dass die Kéjsaias nicht in die Hände der Unsterblichen gehörten. Zu groß war die Versuchung, die Schlüssel zu benutzen und die Heilige Pforte zu öffnen. Aus diesem Grund wurden ihre Kéjsaias – der Dahlienschlüssel, der Lotosschlüssel und der Callaschlüssel – an ausgewählte Sterbliche übergeben. Ihnen wurde die Aufgabe zuteil, die Kéjsaias für immer zu verstecken – und zwar vor uns selbst.« Sie atmet tief ein. »Wem gehörte das Medaillon?«
»Dem Hüter des letzten, noch nicht freigelegten Kéjsaias. Dem Hüter des Callaschlüssels, dem Schlüssel des Hauses Zhen«, beantwortet Marlon ihre Frage.
Mein Puls beschleunigt sich und meine Gedanken springen zu den beiden küssenden Kristallfröschen, die doch keine waren. Ich räuspere mich. »Was ist mit den anderen Hütern passiert?«
Margret lächelt mich schmal an. »Was glaubst du denn, was mit ihnen passiert ist, Kind? Sie sind gestorben. Die meisten von ihnen wurden von den Clans zu Tode gehetzt.«
»Auch der Hüter des Lotosschlüssels?«
»Darauf willst du also hinaus, Kela.« Ihre Stimme wird einen Hauch gütiger. »Es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber unseren Informationen zufolge fiel der letzte aktive Hüter des Lotosschlüssels dem Dreißigjährigen Krieg zum Opfer. Nicht nur er, um genau zu sein, sondern auch sein Nachfolger. Der Kéjsaia verschwand und tauchte irgendwann in den Händen eines Antiquitätenhändlers auf. Die Vorbesitzerin eures Hauses war die Enkelin dieses Antiquitätenhändlers.«
»Das heißt, es war Zufall, dass ich auf den Schlüssel gestoßen bin?«, frage ich und erinnere mich, wie wir uns damals auf die Suche nach einem neuen Zuhause begeben haben und ich mich restlos in das alte, efeuüberwucherte Haus verliebt hatte. Ich hätte alles dafür getan, sofort dort einzuziehen.
»Oftmals liegen Zufall und Schicksal näher beieinander, als man denkt«, erklärt Margret bedeutungsschwer. »Ich kann dir nicht sagen, ob der Schlüssel dich absichtlich auserwählt und zu sich geführt hat, ob du dich als Halbsterbliche instinktiv von seiner Macht angezogen fühltest oder ob alles nur einem simplen Glücksfall geschuldet ist.«
»Wollen wir nun?«, drängt Marlon, woraufhin Margret uns der Reihe nach mustert und die Schultern sinken lässt. Das Ornamentmuster ihres Gehrocks schimmert im Kerzenschein der an den Steinwänden befestigten Eisenleuchter. »Bevor wir anfangen, muss Ihnen bewusst sein, dass ein Blick in eine derart weit zurückliegende Vergangenheit ein äußerst anstrengendes Unterfangen darstellt, das nur mir selbst vorbehalten ist. Die Anstrengung erhöht sich noch deutlich, wenn diese Eindrücke geteilt werden sollen. Es würde schneller gehen, wenn ich die Sichtung allein durchführen könnte.«
Marlon lächelt kühl. »Das mag sein. Doch auch ich möchte mir Gewissheit verschaffen. Und da ich nicht über Ihre Gabe verfüge, sind wir wohl oder übel gezwungen, diesen Umweg zu gehen.«
Widerstrebend nickt die Athánados und strafft den Rücken. »Nun denn, wenn es Ihr unbedingter Wunsch ist. Unter allen Umständen müssen wir verhindern, dass der Callaschlüssel in die Hände der Bruderschaft fällt, was bedeutet, dass jeder von uns seine Komfortzone verlassen muss. Wir gehen davon aus, dass der Callaschlüssel bislang nicht geborgen werden konnte, weil ihn ein mysteriöser Schutz umgibt. Hierzu sollten wir hoffentlich gleich mehr erfahren, und wenn wir Glück haben, erhalten wir auch Hinweise zu seinem aktuellen Aufenthaltsort.«
Auf Margrets Anweisung hin verteilen wir uns in der dunklen Halle im Kreis, während sie selbst in der Mitte verharrt, die Augen schließt und das Amulett mit ausgestrecktem Arm nach vorn hält. Das Licht der Kandelaber wirft tiefe Schatten auf ihr Gesicht, die sich sekündlich zu verdichten scheinen, als würde sich sämtliche Finsternis im Raum zusammenziehen. Eine gespenstische Stille legt sich über den Ort. Die darunterliegende, schier unerträgliche Spannung ist bis in meine Zehenspitzen spürbar und erreicht ihren Höhepunkt, als das kreisrunde Amulett plötzlich vibriert und die Luft um uns schlagartig zu knistern beginnt. Die Flammen der Wandkerzen zucken auf, als würden sie eine mächtige Magie ankündigen. Mit angehaltenem Atem beobachte ich, wie das Amulett in Margrets Hand auseinanderbricht und seine glänzenden Silberfragmente über ihrer Handinnenfläche schweben lässt, bis sich die schimmernden Bruchteile in unzählige funkelnde Partikel auflösen. Wie ein glitzernder Schwarm setzen sie sich sanft in Bewegung und wirbeln um Margrets ausgestreckten Arm herum. Mit jedem Atemzug schwillt der schillernde Silberstrudel weiter an, ebenso wie das seltsam flüsternde Geräusch, das sich in der Halle erhebt. Eine eisige Gänsehaut jagt mir über den Rücken, und mein Herz stockt, als der kräftige Mahlstrom Margrets Größe erreicht hat, sich sein Innerstes klärt und den Blick auf eine längst vergessene Vergangenheit freigibt.
Das blasse Bild eines alten Mannes erscheint. Er übergibt das Amulett einem jüngeren Mann in einem dunklen Umhang, der den silbernen Anhänger vorsichtig um seinen Hals legt. Voller Ehrfurcht nimmt er danach auch den auf Samt gebetteten Kéjsaia entgegen. Der Schlüssel ist aus Gold gefertigt und trägt das Symbol der Calla, deren kelchförmige Blüte von einem eigenen Leuchten erfüllt ist und den ganzen Raum in ein magisch goldenes Licht taucht.
»Occultatum in sempiternum. Occultatum in sempiternum. Occultatum in sempiternum«, höre ich die beiden Männer wispern. Wie ein düsteres Versprechen rauscht ihr beschwörendes Flüstern durch die Gegenwart, in der Margrets Arm leicht zittert, während in der Vergangenheit der junge Mann bereits durch die Nacht reitet und sein Pferd antreibt, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her.
Aus dem Augenwinkel nehme ich plötzlich einen eigenartigen Schimmer wahr und glaube, eine Hand zu erkennen, die sich neben einem Wandleuchter an der Steinmauer hinter mir materialisiert. Als ich genauer hinschaue, ist die Hand jedoch verschwunden. Verwirrt blicke ich zu Nero und seinen Eltern, die gebannt die Geschichte des Amuletts beobachten. Sie läuft so schnell ab, dass ich ihr kaum folgen kann. Ich sehe Schlösser, Burgen und Höhlen, Altäre und Kirchen. Schlachten, Blut und unzählige Übergaben, in denen der Kéjsaia und das Amulett weitergereicht werden. Ich sehe alte Pergamente, Schiffe und Tote, sehe die Zeichen der Familien, die immer wieder aufblitzen, wenn sie den Hüter gnadenlos jagen. Sehe Bücher mit verschlungenen Symbolen in finsteren Kammern, sehe ein Omega-Zeichen verhängnisvoll aufleuchten und eine Frau mit engelsgleichem Gesicht, die sich im Verborgenen mit einem Hüter trifft. Die Bilder flackern schneller, in einer schier zusammenhanglos erscheinenden Abfolge, bis Margret schmerzerfüllt aufschreit und ihren Arm zurückzieht.
Schlagartig erlischt der Blick in die Vergangenheit. Zeitgleich zieht sich auch der Wirbel silberfunkelnder Partikel auf einen Punkt zusammen und formt das kreisrunde Amulett, das mit einem unheilvollen Geräusch auf dem dunklen Steinboden aufschlägt.
»Wohin bringst du mich?«, will ich von Nero wissen, als er mich durch unzählige Korridore mit Ritterrüstungen und Wappen zu einem überdimensionalen Ölgemälde führt, auf dem uns ein Mann mit Hut und Spitzbart kühl entgegenlächelt. Hinter dem Gemälde offenbart sich eine Geheimtür und dahinter eine Wendeltreppe, die sich derart tief in den Boden schraubt, dass ich schon befürchte, den Brüdern des Feuers gleich einen persönlichen Besuch abzustatten.
»Vertrau mir«, raunt Nero mir zu, bevor er zielsicher vorangeht.
»Das habe ich heute schon einmal gehört.«
»Und?« Der dunkelhaarige Athánados nimmt eine Stufe nach der anderen. »Du hast es überlebt.«
»Geht es bloß darum? Es einfach zu überleben?«, frage ich und spüre erneut dieses hässliche Pochen in meiner Brust, das mich immer überkommt, wenn ich an den Pakt und die Feuerrose denke, die jeden Tag eines ihrer verwehenden Blütenblätter verliert.
»Ich muss dir etwas zeigen, Katalea.« Die dunkle Stimme des Fürstensohns hallt von den steinernen Wänden wider, verliert sich in den Tiefen des Gangs, der von fackelähnlichen Lampen spärlich erhellt wird. Die kühlen Mauern sondern den Geruch nach Feuchtigkeit und Stein ab, aber da ist noch etwas anderes, der zarte Duft einer seltsamen Vorahnung.
»Und was?«
»Etwas, das dir nicht gefallen wird.«
Ich bleibe stehen, meine Hand legt sich fest um das schmale Geländer. »Du verstehst es wirklich, mich zu überzeugen. Lass uns lieber umkehren.«
Nero dreht sich auf der Stufe vor mir um und hebt die Augenbrauen. »Es gibt auch einen Teil, der dir gefallen wird.«
»Das sagst du nur, um mich zu ködern.«
Ein Muskel an seiner Wange zuckt amüsiert. »Könnte gut sein.«
»Ehrlichkeit ist nicht immer die beste Strategie. Außerdem haben wir jetzt ganz andere Sorgen. Die Zeit rennt uns davon und Margrets Vergangenheitssprung war alles andere als erkenntnisreich«, entgegne ich energisch, mache auf dem Absatz kehrt und will schon zurück nach oben, da spüre ich Neros Hand auf meinem Oberarm, die meinen Schwung bremst. Ich komme ins Straucheln, verliere das Gleichgewicht und drohe zu fallen, doch der Fürstensohn fängt mich auf. Seine Hände landen auf meiner Hüfte, mit einem kräftigen Ruck zieht er mich zu sich heran.
»Das passiert, wenn du nicht auf mich hörst«, bemerkt er hintergründig, sein fein geschnittenes Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Neros tiefdunkle Augen mustern mich, als wäre er auf der Suche nach einer längst verlorenen Antwort. Mein Puls schnellt nach oben, die Luft zwischen uns knistert, vibriert, doch ich lasse mich nicht schon wieder in die Irre führen.
»Nein, das passiert, wenn man seltsame Treppen hinabsteigt, die garantiert nicht den aktuellen Sicherheitsvorschriften unseres Jahrhunderts entsprechen«, wehre ich mich gegen seine Worte und mein verräterisches Herz.
»Du wirst rot.« Ein unwiderstehliches Lächeln teilt seine Lippen, während er mir sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht. Diese kleine Berührung reicht bereits aus, um mir wohlige Schauer über die Haut strömen zu lassen. Unwillkürlich halte ich den Atem an, versinke in Neros mysteriösen Augen, in denen tiefe Begierde aufblitzt. Auch ich spüre das Begehren, das sich sehnsüchtig zwischen uns spinnt, bis sich Neros Blick schlagartig trübt und er mich ansieht, als wäre ich eine einzige dramatische Erinnerung, die ihn innerlich zerreißt. Mit einem Mal zieht er seine Hand zurück und wirkt abweisend und distanziert.
»Werde ich gar nicht«, sage ich schnell, um den Moment nicht noch merkwürdiger werden zu lassen. »Also ich werde nicht rot. Außerdem könntest du es gar nicht sehen, es ist viel zu dunkel hier unten. Wir sollten besser nach oben gehen, am liebsten an die frische Luft. Wo sind wir hier eigentlich? Und war’s das jetzt? Arbeitet ihr ab sofort mit den Chevall-Rivaldis zusammen?«
Die Zerrissenheit auf Neros Zügen weicht einem irritierten Stirnrunzeln. »Hast du denn einen besseren Vorschlag? Ich dachte, Suki ist deine Freundin.«
»Natürlich ist Suki meine Freundin, aber darum geht es doch nicht. Ich frage mich, ob ihr Clan die beste Wahl ist. Immerhin wurde uns soeben demonstriert, wie kräfteraubend es ist, wenn Margret ihre Gabe einsetzt. Wir haben nicht ewig Zeit, und wenn dein Vater darauf besteht, dass sie es immer vor ihnen …«
»Katalea, hör damit auf«, unterbricht er mich.
»Womit? Mir Sorgen zu machen? Wenn das so einfach wäre. Wir haben nur noch neunzehn Tage«, erwidere ich leicht panisch. Seit Chelions Offenbarung fühlt es sich an, als würde die dunkle Feuerrose ihre verdammten Blätter noch schneller verlieren.
»Wir tun, was wir können, um den Kéjsaia zu finden.«
»Wie kannst du bloß so ruhig bleiben?«
»Würde es denn etwas ändern, wenn ich durchdrehe?«
»Klar«, antworte ich. »Ich würde mich besser fühlen.«
Nero schenkt mir dieses entwaffnende Lächeln, das mir direkt in den Magen fährt. »Ist ein Argument. Nur kein besonders gutes.«
Er nimmt meine Hand und führt mich die Treppe hinab in einen kreisförmigen Vorraum, bei dem es sich um den Zugang zu etwas weit Größerem zu handeln scheint. Vor unseren Augen erhebt sich ein imposantes Holztor, das von mehreren Eisenriegeln verschlossen wird. Aus einem versteckten Steinfach in der Mauer, das sich durch einen Druckmechanismus öffnen lässt, entnimmt Nero zwei Paar weiße Handschuhe, von denen er mir eines reicht. Als Nächstes tritt er an das Tor, dessen Holz von verspielten rosenartigen Intarsien geschmückt wird, zieht einen altertümlichen Schlüssel aus seiner schwarzen Jeans und öffnet die bogenförmige Pforte, deren Riegel nacheinander aufschnappen.
Neugierig streife ich die Handschuhe über und betrete mit Nero einen kleinen Zwischenraum, der uns durch eine weitere Holztür in einen hell erleuchteten Saal führt.
Ich staune nicht schlecht. Mit dem sich trichterförmig nach oben hin öffnenden Atrium und den unzähligen Galerieebenen, die durch verschiedene Freitreppen miteinander verbunden sind, erinnert die gigantische Halle an eine dieser riesigen, hochmodernen Stadtbibliotheken. Alles an diesem Ort wirkt geordnet und perfekt ausgerichtet. Weiß ist die dominierende Farbe, die sich auch in den raumumspannenden Bücherregalen und den quadratischen Säulen der beleuchteten Schaukästen wiederfindet.
Ich drehe mich einmal im Kreis, genieße den zarten Duft nach Rosen, der sich mit dem Geruch alter Bücher vermischt, und sauge die beeindruckende Atmosphäre in mich auf – das Gefühl von grenzenloser geistiger Freiheit.
»Das ist … wow. Das ist so anders als der Rest.«
Nero beobachtet mich, wie ich die Bibliothek Stück für Stück erkunde, wie ich im Zentrum des Atriums von Exponat zu Exponat wandere. Auf den hüfthohen weißen Marmorblöcken befinden sich kleine Statuen, Schmuck, Waffen und aufgeschlagene Bücher, die in blank polierten Glaskästen präsentiert werden. Vor einem der Bücher halte ich inne.
»Ist das … ein Druck der Bibel?«
»Die Erstausgabe«, erwidert Nero nüchtern, doch er scheint meine Reaktion in vollen Zügen zu genießen. Meine Augen sind überwältigt, mein Herz ist es auch.
»Wieso zeigst du mir das? Willst du etwa angeben?«
»Ein wenig. Funktioniert es?«
Ich zucke mit den Schultern. »Etwas.«
Ein gewinnendes Grinsen macht sich in seinem Gesicht breit. »Katalea. Das hier ist das Erbe der de Balzacs«, verkündet er mit stolzer und dunkler Stimme, als würde er mich in ein uraltes Geheimnis seiner Familie einweihen.
Ich lege den Kopf in den Nacken, betrachte die zahlreichen Bücher, bei denen es sich wahrscheinlich um Erstausgaben und verschollene Manuskripte handelt, und erinnere mich daran, dass Todd diesen Ort auf unserem Rundgang durch das Weingut erwähnt hat.
Die ewige Bibliothek.
»Dir ist doch eins klar, oder?«, frage ich abwesend.
»Was denn?«
»Das Erbe der de Balzacs ist weiß.«
Nero lacht laut und so sexy, dass ich nicht anders kann, als meinen Blick von den Büchern loszureißen, um mich einem noch viel einnehmenderen Anblick hinzugeben. Seine Augen funkeln mich belustigt an, sämtliche Anspannung scheint von dem Fürstensohn abzufallen. Der Ausdruck in seinem schönen Gesicht wird weicher. »Wir sind toleranter, als es scheinen mag.«
»Dir ist schon klar, dass Weiß eigentlich meine Farbe ist«, sage ich, um ihn zu necken. Tatsächlich fühlt es sich noch immer nicht an, als wäre ich eine Gwynedon, im Gegenteil. Es fühlt sich nicht einmal an, als würde ich überhaupt in den ganzen Clan-Wahnsinn hineingehören, Halbsterbliche hin oder her. Nur eine Verbindung kann ich nicht abstreiten. Und die steht vor mir und sieht mich so durchdringend an, dass mein Mund ganz trocken wird.
»Schwarz ist nun deine Farbe, Katalea«, widerspricht Nero ruhig, aber mit derart unmissverständlichem Unterton, dass mir ganz warm wird. Mit klopfendem Herzen deute ich rasch auf ein von silberfarbenen Ornamenten geziertes Zepter aus Obsidian. »Was genau ist das?«
»Der verschollene Stab. Der Legende nach gehörte er einem römischen Kaiser. Mit seiner uralten Kraft sollte das Zepter seinen Besitzer befähigen, Untertanen zu leiten und Feinde zu willenlosen Sklaven zu machen.«
»Von wegen Zepter. Das hört sich doch ganz nach den Manipulationskünsten der de Balzacs an.« Meine Beine setzen sich erneut in Bewegung, lassen mich zwischen den schneeweißen Säulen hindurchspazieren. Die Exponate sind zu beeindruckend, um sie nicht näher zu bestaunen.
»Natürlich waren wir es«, bestätigt Nero und stützt seine Unterarme lässig auf einem der Glaskästen ab, sodass die Muskeln unter seinem schwarzen Pullover hervortreten. »Die Menschen mögen simple Erklärungen jedoch lieber als komplizierte. Suchst du nach etwas?«
»Klar. Ich halte nach dem Heiligen Gral Ausschau«, sage ich leichthin.
»Den wirst du hier nicht finden.«
»Wieso? Weil es ihn nicht gibt?«
»Doch, es gibt ihn.«
Ich starre Nero an. »Du meinst … er ist echt?«
»Im Laufe der Zeit haben die Athánados mit ihren Kräften und Möglichkeiten experimentiert«, antwortet er. »Der Kelch war der Versuch eines besonders motivierten Clanlosen, seine Unsterblichkeit in einen Becher zu bannen. Wie du dir vorstellen kannst, waren die meisten Athánados nicht besonders angetan, ihre exklusiven Möglichkeiten zu teilen. Es heißt, dass der Kelch zerstört wurde, aber womöglich ist auch das nur ein Gerücht. Magische Experimente dieser Art wurden jedenfalls vom Hohen Rat untersagt, weil sie gefährlich sind und zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen – was mit dem Heiligen Gral eindeutig bewiesen wurde.«
Ich wünschte, der Heilige Gral würde noch existieren, wünschte, dass er sich hier befände und Brandon ihn benutzen könnte. Und während mir dieser Wunsch noch durch den Kopf geht, bleibt mein Blick an einem Ölgemälde rechts von mir hängen, dessen Rahmen von strahlenden, weißen Orchideen geschmückt wird, und das mir viel zu bekannt vorkommt. Dunkelrote Schmetterlinge. Riesiger Fliegenpilz. Bücherbehangene Bäume, unter denen eine verwunschen schöne Schneelandschaft zu sehen ist. Ich erkenne sowohl den Mann mit dem engelhaften Antlitz als auch die Frau mit der überdimensionalen Rose wieder. Bei den einzelnen Elementen handelt es sich ausschließlich um Fragmente anderer Gemälde, die ebenfalls im Gabengang des Schlosses der Zusammenkunft hingen und auf die Geschichte und Fähigkeit des entsprechenden Clans Bezug nahmen.
»Eine Auftragsarbeit meines Vaters«, höre ich Nero sagen.
Ich blinzele überrascht. »Das wart ihr? Ich dachte, diese merkwürdige Collage sei eine mutige künstlerische Anspielung auf die diebische Gabe der Gwynedons.«
Nero richtet sich auf und kommt auf mich zu. Seine Schritte hallen über den hellen Marmorboden, um sich in der luftigen Höhe des Atriums zu verlieren. »Es entspringt einer gewissen Tradition, die Künstler im Schloss der Zusammenkunft zu beeinflussen. Der Hohe Rat beauftragt meist Clanlose, die sich unvoreingenommen gegenüber den Familien aufstellen, aber selbst diese Clanlosen sind finanziellen Anreizen gegenüber nicht unaufgeschlossen.«
Ich seufze. »Ihr bestecht sie? Und das lässt der Hohe Rat durchgehen?«
Im Vorbeigehen klopfen seine Fingerspitzen über einige Schaukästen. »Diese Kunstwerke sind harmlos und nichts im Vergleich zu den Experimenten, über die wir gerade sprachen.«
»Ach ja?«
»Natürlich. Es gab die verrücktesten Versuche, in denen unermesslicher Reichtum heraufbeschworen, Magie konserviert oder neue magische Gaben entdeckt werden sollten. Vereinzelt wurden auch Experimente durchgeführt mit dem Ziel, bestimmte Emotionen oder Fertigkeiten an ausschließlich weibliche oder männliche Nachkommen weiterzuvererben oder die Macht des Orakels zu umgehen, um sich der Schwesternschaft anschließen zu können.«
»Wer wollte denn das?«, frage ich.
»Eine Clanlose, die sich zu Höherem berufen fühlte. Als Beschützerinnen der Quelle sind die Schwestern vom Orakel auserkoren, das höchste Amt auszuführen. Schließlich ist die Seelenquelle der Ursprung und die kosmische Essenz allen Lebens. Doch jeder Zauber hat seinen Preis, wenn er überhaupt gelingt. Die meisten dieser Experimente waren von Beginn an zum Scheitern verurteilt, was nicht bedeutet, dass sie keine Komplikationen nach sich zogen. Das ist der Grund, warum Bücher mit magischen Beschwörungsformeln und Elixieren stets mit Vorsicht zu genießen sind.« Nero bleibt neben mir stehen. Sein unnachahmlicher Geruch nach Regen steigt mir in die Nase und erreicht angenehm meine Sinne, als er sich zu mir beugt und auf das Ausstellungsstück rechts von uns deutet, einen aufgeschlagenen Wälzer mit Skizzen unterschiedlicher Phiolen. »Vor allem das Diadarium der Elixiere fordert einen behutsamen Umgang. Es handelt sich um ein Tagebuch magischer Tränke, insgesamt 365 an der Zahl, manche davon so selten wie Einhörner.«
»Die es nicht gibt«, sage ich vorsichtig und nähere mich ehrfürchtig dem Glaskasten. »Also Einhörner.«
Nero folgt mir. Sein rechter Mundwinkel zuckt nach oben. »Natürlich nicht.«
»Hey. Bei euch verliert man langsam den Überblick«, verteidige ich mich, bevor Nero gelassen auf eine bauchige Flasche zeigt, deren silberne Flüssigkeit zu brodeln scheint. »Nach diesem Elixier wurde übrigens sehr lange gesucht. Es nennt sich Enkardasia.«
»Das Elixier, das offenbart, was versteckt wurde. Suki hat es erwähnt. Die Clans hatten gehofft, damit die Kéjsaias zu finden«, sage ich und bin gedanklich sofort bei der rauchenden Feuerrose des Pakts, die das grauenhafte Pochen in meiner Brust aufleben lässt. Ich kann das träge Fallen ihrer verwehenden schwarzen Blütenblätter beinahe körperlich fühlen, das mir mit jedem Rosenblatt einen weiteren Tag raubt. »Dieses Enkardasia könnten wir gerade verdammt gut gebrauchen, um den letzten Schlüssel aufzuspüren.«
»Bislang wurde es nicht gefunden, ebenso wenig wie der sagenumwobene Friedenstrank oder die Tote-Erweckungsmixtur. Das Diadarium gehörte übrigens deiner Vorfahrin.«
»Meiner Vorfahrin?«
Nero lehnt sich an den Marmorsockel und verschränkt entspannt die Arme vor der Brust. »Der dreisten Diebin. Wobei ich davon ausgehe, dass sie das Buch gestohlen hat. In der ewigen Bibliothek befinden sich Artefakte von allen sieben Ältesten. Unter anderem eine vergoldete Feder, mit der die schamlose Verführerin ihre Liebhaber in den Wahnsinn getrieben haben soll.«
»Oh, und von der Dame stammst du ab?«, frage ich provokant.
Ein selbstbewusstes Lächeln legt sich auf sein Gesicht. »Nun, ich benötige keine Feder, wenn du es genau wissen willst«, erklärt er samtig und betrachtet mich eindringlich. Ich merke, wie mir die Röte in die Wangen schießt, und auch Nero scheint für einen Moment von seinen eigenen Worten irritiert zu sein, bevor er kontrolliert die Schultern strafft und sich räuspert.
»Es heißt, dass sie nicht glücklich wurde, weil sie so viel Freude an der Verführung empfand, dass sie sich niemals wahrhaftig binden konnte«, fährt er fort. »Unsere größte Stärke ist stets unsere größte Schwäche. Schatten und Licht liegen dicht beieinander.« Für einen Augenblick sieht mich Nero bezeichnend an, dann stößt er sich von dem Marmorsockel ab, um nachdenklich an ein paar Exponaten vorbeizuschlendern. »Damit war sie allerdings nicht die Einzige. Angeblich soll sich die listige Gedankenleserin von der Flut aller empfangenen Gedanken überfordert gefühlt haben, die notorische Lügnerin konnte keine tiefen Freundschaften knüpfen und die dreiste Diebin hatte Angst davor, selbst bestohlen zu werden. Aber eigentlich wollte ich dir etwas ganz anderes zeigen«, bemerkt er sachlich, als fiele ihm in dem Moment ein, warum wir hier sind. Gleich darauf greift er nach meiner Hand und führt mich über eine Treppe zur nächsten Ebene, wo wir an einem riesigen Touchscreen haltmachen.
Worte in der unsterblichen Sprache erscheinen so schnell auf dem Bildschirm, dass ich sie nicht lesen kann, doch Nero tippt gekonnt darauf herum. Dabei bilden die weißen Handschuhe einen starken Kontrast zu seiner dunklen Kleidung. An jedem anderen hätten die hellen Handschuhe vermutlich lächerlich ausgesehen, nicht an ihm. Ein paar dunkle Haarsträhnen fallen ihm in die Stirn, während er mit konzentrierter Miene von einem Register zum nächsten springt, bis sich auf dem Touchscreen ein schwarzes Buch mit dunkelroten Ornamenten öffnet.
»Was ist das?«
»Ein sehr, sehr altes Sagenbuch. Einige der Werke hier wurden bereits digitalisiert.«
Auf den pergamentartigen Seiten vor uns erscheint die Illustration eines dunkelhaarigen Mannes mit grimmigem Lächeln, der eine dunkelhaarige Frau innig küsst, bevor er sich auf sein Pferd setzt und haltlos ganze Dörfer niedermetzelt. Das digitale Buch blättert automatisch weiter. Ich sehe zu, wie der Mann Frauen und Männer rücksichtslos tötet, als wäre er einem grässlichen Blutrausch verfallen, in dem es nur darum geht zu morden. Seine Vergehen sind abscheulich und grausam, und er stoppt erst, als in der Ferne eine Gestalt erscheint. Ihr Gesicht ist so fließend gezeichnet, dass man es nicht erkennen kann. Aber sie sorgt dafür, dass sich dicke Stricke um den Mann winden wie dunkle Schlangen, die ihn ins tiefe Erdreich ziehen, wo er dazu verdammt ist, sich den Brüdern des Feuers anzuschließen. Von nun an muss er über düstere Kreaturen mit Hörnern und geflügelte Wesen mit Dämonenfratzen herrschen. Die Brutalität des Mannes kennt auch hier keine Grenzen, aber er scheint gebrochen. Immer wieder drängt es ihn nach oben, auf die Erde, wo er für kurze Momente die Frau beobachten kann, die er einst geküsst hat. Doch jedes Mal, wenn er sich ihr nähern will, wird er von einer magischen Kraft abgehalten und zurück in die Unterwelt geworfen, als dürfe diese Begegnung nicht sein. Eisiger Zorn erfüllt den Mann, lässt ihn hässliche Wesenheiten heraufbeschwören, die sich Stück für Stück in den Geist der Frau fressen. Sie beginnt, sich zu verändern, wird zügelloser und aggressiver, bis sie selbst Gefallen daran findet, andere im Dorf zu quälen, zu foltern und zu töten. Als sie schließlich von den Dorfbewohnern zur Rechenschaft gezogen und gehängt wird, lächelt der Mann.
Die Dunkelhaarige wird vor eine Art Totengericht geführt, das sie in die Unterwelt verbannt. Dort wartet der Mann bereits sehnsüchtig auf sie; doch während ihrer Überführung tritt eine Frau in einem strahlenden Umhang hervor. Sie reicht der Verbannten die Hand und führt sie zu einer gleißend hellen Quelle, in deren Wasser sie für immer versinkt.
Als sich das Buch wieder zuschlägt, drehe ich mich zu Nero um. Mein Gesicht ist ein einziges, kümmerliches Fragezeichen.
»Wenn du dir einen Film mit mir ansehen möchtest, können wir auch gern ins Kino gehen. Da laufen lustigere Streifen«, sage ich, um das dunkle Gefühl abzuschütteln, das in meinem Bauch anwächst.
Nero blickt mich unbewegt an. »Das war die Geschichte von Acuzio und seiner Geliebten.«
»Was willst du mir damit sagen? Dass er gefährlich ist? Das habe ich auch schon vorher kapiert.«
Das Gesicht des Fürstensohns verfinstert sich. »Ich will damit sagen, dass ich gefährlich für dich bin. Die beiden waren durch eine Kardisis miteinander verbunden. Der Herzensschwur teilt und bindet, wie du weißt.«
Ich beiße mir auf die Lippe. Spüre, wie die Gedanken meinen Kopf stürmen. »Ist das der Grund, warum du in den letzten Tagen auf Abstand gegangen bist? Warum du mich nicht mehr an dich heranlässt?«
»Hast du gesehen, was er mit ihr gemacht hat?«
Widerstand macht sich in mir breit. »Ja, aber das sind doch nicht wir.«
»Aber das könnten wir sein, Katalea. Der Herzensschwur bleibt bestehen, selbst wenn ich zu einem Bruder des Feuers werde. Verstehst du es denn nicht? Der Schwur würde mich dazu treiben, dich bei mir haben zu wollen. Um jeden Preis.« In seinen Worten schwingt eine Entschlossenheit mit, die meinen Puls nach oben treibt.
»Das kannst du doch nicht wissen«, protestiere ich. »Jeder Schwur ist anders, außerdem steht doch noch gar nicht fest, dass du mit Chelion den Platz tauschen wirst. Wir haben immer noch Zeit!« Meine Finger fangen an zu kribbeln, meine Augen schweifen rastlos zu den weißen Bücherregalen neben uns, die viel zu perfekt einsortiert wurden.
Eine tiefe Falte taucht auf Neros Stirn auf. »Katalea, uns bleiben noch neunzehn Tage. Neunzehn Tage, in denen wir ausgerechnet den letzten Schlüssel finden sollen, nach dem die Clans seit Jahrhunderten suchen.«
Perplex starre ich ihn an. Fühle, wie die Angst anschwillt und ich von Hilflosigkeit erfasst werde. »Hast du etwa schon aufgegeben?«
Sein Gesicht verschließt sich. »Ich bin einfach nur realistisch.«
Seine Worte sind wie eine schallende Ohrfeige, die sich in meine Haut brennt. Jede Silbe schmerzt, feuert mein inneres Chaos an und lässt es mit voller Wucht zurückkehren. Abwesend trete ich an eines der Regale heran, die nach Themen geordnet sind, und beginne, die Werke zur Industriellen Revolution der Größe nach zu ordnen, was vollkommen schwachsinnig ist, mir aber zumindest ein wenig das Gefühl von Kontrolle zurückgibt.
»Deine Theorie hinkt«, bemerke ich eisern. »Wenn uns der Schwur sowieso verbindet, wird es nichts ändern, wenn du dich von mir fernhältst.«
Er antwortet nicht, aber sein dunkles Schweigen ist Antwort genug. Eine weitere Möglichkeit sickert durch meine Gehirnwindungen, hässlich und derart endgültig, dass es mir die Kehle zuschnürt.
»Nein«, hauche ich und fahre zu Nero herum, der reglos meinem Blick standhält. Fassungslosigkeit dringt durch jede Zelle meines Körpers. »Nein«, wiederhole ich. »Schlag dir das sofort aus dem Kopf. Das ist keine Option!«
»Das ist meine Entscheidung«, erwidert er.
»Du … willst dich freiwillig zur Seelenquelle begeben?!«, frage ich und kann nicht glauben, dass er sein unsterbliches Leben mit dem Ritual beenden möchte, dass es für ihn okay ist, seine Seele mittels der Zeremonie zur Quelle zurückzuführen. Dass es für ihn okay ist, sich kurzerhand von der Welt zu verabschieden und mich hier allein zurückzulassen.
»Ich habe dir gesagt, dass es dir nicht gefallen wird.«
»Natürlich wird es mir nicht gefallen! Du kannst doch nicht einfach davonlaufen!«
»Davonlaufen? So siehst du das?« Die Muskeln über seinem Kiefer sind dem Zerreißen nahe, seine Augen blitzen mich düster an.
»Es ist der feige Weg, Nero!«
Er lacht bitter auf. »Der feige Weg? Ich tue das für dich, Katalea.«
Ich schüttele den Kopf, denn ich habe nicht vor, ihn damit davonkommen zu lassen. »Nein, tust du nicht. Nach dem, was mit Nivia passiert ist, hast du Angst. Du hast Angst vor deinen eigenen Gefühlen. Tu nicht so, als wolltest du mich beschützen, ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen!«
»Ach wirklich? Das hat bei Jerome aber anders ausgesehen«, herrscht er mich an.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Mein Brustkorb hebt und senkt sich schwer, als ich ihm tief in die Augen sehe. »Du hast mir immer gesagt, dass ich stärker bin, als ich es mir zugestehe. Jetzt musst du selbst diese Stärke beweisen, du musst daran glauben, dass wir den Schlüssel finden. Wir haben noch Zeit. Neunzehn Tage sind verdammt viel, verglichen mit dem Leben einer Eintagsfliege«, sage ich und denke unweigerlich an Oscar und daran, dass man jeden Moment vollkommen ausschöpfen muss. Entschlossen trete ich noch näher an den Athánados heran. »Auch ich habe Angst, aber ich bin nicht bereit aufzugeben. Ich werde dich nicht aufgeben, Nero!«
Seine Züge werden weicher. Ich habe keine Ahnung, woher ich den Mut nehme, aber er lässt mich den letzten Abstand zwischen uns überwinden, bis wir uns fast berühren.
Ein gequälter Ausdruck huscht über Neros Gesicht. »Katalea, nicht«, flüstert er ganz nah an meinen Lippen.
»Ich werde dich nicht aufgeben«, wiederhole ich und spüre, wie alles in mir zu ihm drängt, zu dem Kuss und noch mehr. Ich bin bereit, für diesen Mann über meine Grenzen zu gehen, bin bereit, an seiner Seite zu kämpfen.
Um ihn zu kämpfen.
Ich sehe den Widerhall meiner Gefühle in seinen Augen, sehe, wie er mit seinen Emotionen ringt. Nehme unter seinen Wimpern die gleiche Sehnsucht wahr, die auch jede Faser meines Körpers erfüllt. Spüre die Hitze unserer Körper, die Atemlosigkeit unserer Blicke und die leidenschaftliche Spannung zwischen uns, die sich mit jedem Herzschlag weiter verschärft und doch schlagartig verpufft, als sich jemand hinter Nero räuspert.
»Es war nicht meine Absicht zu stören«, bemerkt seine Mutter kühl und kommt die Treppe hinauf. »Nero, deine Anwesenheit wird verlangt. Es sieht so aus, als würde sich die Gabe der Chevall-Rivaldis doch noch als hilfreich erweisen. Vater möchte, dass du ihn unverzüglich aufsuchst.«
Nero nimmt einen tiefen Atemzug, sein Blick liegt noch immer auf mir. »Natürlich«, sagt er schließlich, während der dunkle Ausdruck in seine Augen zurückkehrt. Er blickt mich noch einmal nachdrücklich an, als müsse er mir versichern, dass seine Entscheidung gefallen ist, bevor er sich umdreht und wortlos die Treppe nach unten geht.
Nachdem Nero die Halle mit schnellen Schritten verlassen hat, fällt Juliettes Blick auf den überdimensionalen Touchscreen und das schwarze Buch, das nun zugeschlagen darauf zu sehen ist.
»Er hat es dir also gezeigt.«
Ich nicke und setze alles daran, meine aufgebrachten Gedanken und Gefühle in den Griff zu bekommen. Die Vorstellung, dass Nero sich aus meinem Leben stiehlt und ich ihn für immer verliere, gräbt sich schmerzhaft in meine Eingeweide, doch es ist nicht ratsam, vor Juliette de Balzac irgendeine Art von Schwäche zu zeigen.
»Brüder des Feuers sind in der Lage, Buße zu tun«, bemerkt sie und macht ein paar Schritte auf mich zu. »Nach Jahrhunderten der Verdammnis können sie sich rehabilitieren und zur Quelle zurückkehren, was Acuzio jedoch versagt wurde. Seine Grausamkeit kannte keine Grenzen; er hat der Welt Furchtbares angetan und war für so viel Leid verantwortlich. In seinem Wahn hat er sich über die Menschen erhoben. Er hat ihre Vergänglichkeit als absolute Schwäche betrachtet, für ihn waren sie nicht mehr als nutzloses Vieh.« Ihr unnahbarer Blick wandert zu mir.
»Dabei sind die Menschen nicht vergänglich«, sage ich und stelle eines der Bücher flink nach rechts.
»Die Menschen schon«, widerspricht sie. »Ihre Körper sind Hüllen, die den Wellen der Zeit unterworfen sind. Nicht aber ihre Seelen. Ihre Seelen sind wie Blumen. Bestimmt zu verdorren, um wieder aufzublühen, bis sie schließlich im Licht der Quelle erstrahlen und sich mit der Ganzheit des Universums verbinden.« Sie lässt die Schultern sinken. »Dich als Halbsterbliche hätte Acuzio als etwas ganz und gar Unnatürliches betrachtet.«
»Im Gegensatz zu Ihnen?«, entgegne ich forsch.
Juliettes dunkel geschminkte Augen verengen sich. »Deine Feindseligkeit ist völlig fehl am Platz, Kela. Ich bin froh, dass uns dieser Moment hier gegönnt wurde.« Die Härte in ihrem Blick verblasst. »Denn ich möchte mich bei dir entschuldigen.«
»Wieso?«
»Ich habe dich falsch eingeschätzt. Wenn man schon etwas länger auf der Welt ist, hat man bereits einige Täuschungen erfahren. Ich habe die Natur des Menschen in all ihren Facetten kennengelernt, sie ist wunderschön, und kann doch so unbarmherzig ausfallen. Doch ich sehe, wie du meinen Sohn anschaust. Ich sehe, was du für ihn empfindest. Sehe, dass du den Lotosschlüssel mit deinem Leben beschützt hast, um ihn Nero erneut anzuvertrauen. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass du dich dem Clan der Gwynedons in keiner Weise verpflichtet fühlst. Ich kannte deine Cousine nicht besonders gut, und ich habe auch kein Bedürfnis verspürt, sie näher kennenzulernen. Aber du – nun ja.« Sie schreitet zur Brüstung, legt ihre Hände auf den Handlauf des weißen Etagengeländers und blickt in Richtung Atrium. »Nero hat dir die Sammlung der de Balzacs gezeigt. Er vertraut dir. Als Mutter möchte ich meinen Sohn beschützen, egal wie alt er ist. Schließlich bleibe ich immer seine Mutter.«
Die Unsterbliche dreht sich zu mir um. In dem engen schwarzen Kleid hebt sich ihre schlanke Gestalt deutlich von dem hellen Geländer ab. »Der Pakt, den Jerome unrechtmäßig vollzogen hat, lastet schwer auf meiner Seele. Chelion ist ein durchtriebener Mann, vor dem man schon immer auf der Hut sein musste. Als Sohn Bernhard von Abendsbergs war er seit jeher aufmüpfig, und als es dann zur Tragödie kam und hieß, dass er seine Brüder im Schlaf ermordet hat, war es durchaus erschreckend, aber wenig verwunderlich.«
»Was hat er davon?«
»Wie bitte?«
»Was hat Chelion davon, Acuzio zu helfen?«, will ich wissen. »Sollte Chelion Neros Platz einnehmen, verliert er doch ebenfalls seine Unsterblichkeit, wenn die Bruderschaft die Heilige Pforte öffnet. Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Du weißt nicht, welche Sonderabsprachen Chelion mit Acuzio getroffen hat. Den Brüdern mag es nicht gegönnt sein, lange auf Erden zu verweilen. Sie sind speziellen Restriktionen unterworfen, doch sie besitzen Zugriff auf gewisse Mächte und Möglichkeiten.« Sie stockt. »Der Gedanke, dass Nero gezwungen ist, in die Unterwelt zu gehen, dass seine Seele von diesen düsteren Kräften eingenommen wird …« Ein Zittern geht durch ihren Körper, sie starrt mich an. »Du musst es verhindern, Kela.«
Ich blinzele. »Ich verstehe nicht ganz.«
»Die Bedrohung durch die Bruderschaft ist akut – vor allem deshalb, weil sie die Clans noch mehr anspornt, den letzten Kéjsaia so schnell wie möglich zu finden. Mit einem Mal knüpfen die Häuser Bündnisse, um ihre Position zu verbessern. Der Clan von Rubinstein hat sich den Gwynedons nur zugewandt, weil mein Sohn durch die Kardisis an dich gebunden ist. Sollte diese Verbindung nicht mehr existieren, wären sie uns wieder wohlgesonnen. Sie wären bereit, ihren Schlüssel an uns zu übergeben, womit wir in Besitz von drei Kéjsaias wären, während die Gwynedons lediglich zwei von ihnen hätten. Denn sollte der Clan der Gwynedons den letzten Kéjsaia doch noch vor uns entdecken, müssen wir vorbereitet sein.«
»Ich verstehe immer noch nicht«, wiederhole ich verwirrt. »Wie soll ich den Schwur denn lösen?«
Sie betrachtet mich unverwandt. »Du bist die letzte weibliche Nachfahrin der Gwynedon-Fürstenfamilie, was bedeutet, dass auch der Eid mit dir erlischt.«
Meine Synapsen versuchen, die Informationen zu verknüpfen. »Was schlagen Sie vor? Dass ich mich von Ihnen töten lasse?«, frage ich halb im Scherz.
»Selbstverständlich werde ich dir nichts antun. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass diese Vorgehensweise alles andere als ratsam ist und nur Unglück über die Familie bringt.« Juliette hält kurz inne und sieht mich an, als müsse ich die Lösung selbst finden. Als ich keine Anstalten mache zu reagieren, klärt sie mich auf. »Anders sieht es natürlich aus, wenn du dir selbst das Leben nimmst.«
»Sie möchte was?!«, höre ich Brandon ins Handy japsen. Auch wenn ich ihn nicht sehen kann, weiß ich, wie sich sein Gesicht gerade verzieht, in dieser extremen Mischung aus Schock und Unglaube, die einen nur überfällt, wenn die Grenzen des Vorstellbaren gesprengt werden. Ich klemme mein Handy zwischen Ohr und Schulter und versuche an der nächsten Tür, was bislang nicht geklappt hat. Ich lasse die Ringschlüsselmagie wirken und wünsche mich nach Hause. Als ich die Tür öffne, liegt jedoch erneut nur ein verlassener Raum vor mir, diesmal mit einem Baldachin aus azurblauem Samt über einem schlichten Bett.
»Shit. Wieder ein gesperrter Zugang. Kein Wunder, dass Juliette mir erlaubt hat, mich in dem Gebäude frei zu bewegen. Schließlich kann ich nirgendshin.«
»Kela. Hallo? Kannst du bitte bei der Sache bleiben?«
»Ich brauche frische Luft, Brandon. Wenn ich noch eine weitere Ritterrüstung oder ein Wappen sehe, kotze ich. Das hier ist der reinste Irrgarten. Und du willst nicht wissen, wie viele Tonkrüge ich in meinem Wahn schon umsortiert habe.«
Genervt schließe ich die Tür, biege nach rechts ab und gehe durch einen Gang, der mehrmals um fünfundvierzig Grad abknickt und dann ein paar Stufen nach unten verläuft, bis zu einer alten Holztür, die gewaltiger aussieht als die anderen. Durch ihre Ritzen dringt ein kühler Luftzug, der verführerisch über meine Haut streicht.
Der stählerne Riegel knarzt, als ich ihn mit aller Kraft zur Seite schiebe und die Tür einen Spalt öffne, gerade so weit, dass ich hindurchschlüpfen kann.
»Kela? Bist du noch da? Verdammt, ich mache mir Sorgen!«
»Ja, ich bin noch da, warte kurz«, beruhige ich meinen Bruder und mich selbst, indem ich ein paar tiefe Atemzüge nehme und die steinerne Freitreppe nach unten marschiere, durch eine Art Innenhof zu einem Torbogen, der sich zu einer gigantischen Parkanlage öffnet. Der leichte Duft von frisch gemähtem Gras umspielt meine Nase. Ich hätte etwas Wildes, Rohes erwartet, doch im Licht der Außenbeleuchtung sehe ich gepflegte Rasenflächen zwischen getrimmten Büschen und Bäumen, hinter denen sich eine hügelige Landschaft abzeichnet. Ich drehe mich um. Die dunkle Festung mit ihren massiven Türmen und den Schießscharten wirkt viel zu plump, um Teil dieser märchenhaften Anlage zu sein.
»Ich bin draußen«, sage ich, doch die Gedanken bleiben in mir eingesperrt, donnern wild gegen mein Gehirn. Aufregung pulsiert durch jeden Winkel meines Körpers, aber wenigstens bekomme ich endlich Luft.
»Und wo bist du? Kannst du weg von dort?«
»Keine Ahnung. Vielleicht Irland oder Schottland?«, mutmaße ich und folge einem gewundenen, schwach beleuchteten Sandweg. Mit jedem Schritt, der mich von der Festung der de Balzacs wegführt, fühle ich mich etwas freier, auch wenn ich mir seltsam beobachtet vorkomme. Für einen Moment glaube ich sogar, aus dem Augenwinkel einen merkwürdigen Schatten wahrzunehmen, doch als ich zurückblicke, ist niemand zu sehen.
»Ich werde hier noch wahnsinnig«, bemerke ich frustriert.
»Du musst da raus, Kela.«
»Wenn das so leicht wäre.«
»Diese Frau will, dass du dich umbringst.« Brandon schnaubt tief ins Telefon. »Was ist, wenn sie es doch einfach selbst erledigt, Unglück hin oder her? Mann, du bist dort nicht sicher!« Seine Angst tastet mit kalten Fingern nach mir.
Ich schließe die Augen. Lasse die kühle Luft in meine Lunge fließen, versuche, mich und mein Herz zu besänftigen, bevor ich die Augen wieder öffne und nach oben sehe. Über meinem Kopf spannt sich der unendliche Nachthimmel mit seinem sichelförmigen Mond und den einzelnen Sternen, die ebenso verloren wirken, wie ich mich gerade fühle.
»So weit wird sie nicht gehen«, sage ich und setze mich wieder in Bewegung.
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Sie hätte es doch schon längst getan, wenn sie es könnte.«
»Vielleicht irrst du dich aber auch, und sie wartet nur auf einen günstigen Zeitpunkt. Du musst abhauen. Und zwar sofort«, erklärt er nachdrücklich, während ich innerlich rekapituliere, was in der letzten Stunde alles passiert ist. Nero, der entschieden hat, seinem Leben ein Ende zu setzen, um mich zu beschützen, und Juliette, die von mir verlangt, Selbstmord zu begehen, damit sie das Bündnis mit den von Rubinsteins wieder aufnehmen kann.
Ich schlucke krampfhaft. »Brandon, ich kann nicht zulassen, dass Nero sich zur Seelenquelle begibt.«
»Warum nicht? Der Typ ist doch alt genug, um das selbst zu entscheiden, immerhin hat der schon mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel«, murmelt mein Bruder und atmet geräuschvoll aus. »Kela, ich weiß, dass du ihn magst, sogar sehr, aber … bitte versprich mir, dass du keinen Blödsinn machst, nur um ihn zu retten.«
Ich bleibe stehen und lasse mich vor einem kegelförmig gestutzten Baum auf eine schmale Steinbank sinken. »Ich habe nicht vor, mich zu töten, wenn du das meinst.«
»Aber wer weiß, was dir sonst noch in den Kopf kommt, um den Kerl vor dem Pakt zu bewahren. Fuck, es muss doch irgendwo auf diesem gottverdammten Anwesen eine Tür geben, durch die du nach Hause kommen kannst! Oder du findest irgendwo ein Taxi. Hauptsache, du machst dich auf den Weg«, sagt er, da höre ich plötzlich jemanden leise meinen Namen rufen. Im nächsten Moment bemerke ich ein helles Leuchten und einen bedrohlichen Schatten, der auf mich zurast.
Gerade noch rechtzeitig springe ich auf, als ein Schwert sirrend neben mir auf die Bank kracht.
Mein Handy und mein Herz poltern zu Boden.
Vor mir steht eine dunkel gekleidete Gestalt, vollkommen maskiert, sodass nur die schmale Augenpartie zu sehen ist. Mit einer fließenden Bewegung holt mein Angreifer noch einmal aus und lässt die Waffe auf mich niederstürzen. Hektisch weiche ich nach hinten aus, die geschliffene Klinge rast nur haarscharf an mir vorbei, bevor ich erneut attackiert werde.
Adrenalin schwemmt durch meinen Körper. Die Gedanken überschlagen sich, nackte Angst überkommt mich. Mein Gegenüber ist klar im Vorteil. Er ist bewaffnet, ich bin es nicht. Um Hilfe rufen ist keine Option, dafür habe ich mich zu weit von der Festung entfernt. Meine Instinkte übernehmen, sind nur darauf gerichtet, mich nicht töten zu lassen. Ich konzentriere mich auf die niedersausende Klinge, deren gefährliches Sirren die Nachtluft erfüllt. Die Bewegungen meines Kontrahenten zeichnen sich anmutig und gnadenlos im goldenen Mondschein ab, als wäre das hier nur ein Spiel für ihn, nicht mehr als ein Tanz. Bei der nächsten Attacke setze ich rasch nach links, doch das Schwert erwischt mich an der Seite. Sofort durchzuckt mich ein brennend heißer Schmerz. Schwerfällig stolpere ich zurück, falle und lande hart auf dem Boden.
Um mich herum wirbelt Staub auf. Mein Rücken schmerzt und mein Atem geht nur noch stoßweiße, als der maskierte Kämpfer sich über mich beugt. Kurz glaube ich, so etwas wie Mitleid in seinen Augen aufflackern zu sehen, da holt er zum entscheidenden Hieb aus. So schnell ich kann, krabbele ich rückwärts, doch ich bin zu langsam. Der Schmerz pocht in meiner Hüfte, blanke Panik schießt durch meine Adern. Als die Klinge erneut auf mich hinabfährt, schreie ich auf und rolle gerade noch rechtzeitig herum. Meine Hände suchen den sandigen Untergrund verzweifelt nach etwas ab, das ich als Waffe benutzen könnte – irgendetwas, doch da ist nichts.
Das Schwert schneidet noch einmal durch die Nachtluft, doch bevor es mich trifft, wird mein Angreifer plötzlich hart zurückgeworfen. Mit überirdisch schnellen Schlägen und Tritten attackiert Nero den Maskierten und stößt ihm das Schwert aus der Hand. Doch auch ohne Waffe ist der Kämpfer nicht zu unterschätzen. In unmenschlichem Tempo greift er den Fürstensohn an, zielt aus der Drehung heraus mit der Faust nach seinem Kopf. Nero duckt sich geschwind, pariert den Schlag mit einem Seitwärtstritt Richtung Brust, den der Angreifer mit einem Arm abblockt, um ihm mit dem rechten Bein gegen die Hüfte zu schlagen. Doch Nero wirbelt herum, täuscht links an und versetzt seinem Gegner einen unerwarteten kräftigen Hakentritt gegen den Kopf. Der Maskierte taumelt zurück. Für einen Sekundenbruchteil scheint er seine nächste Reaktion abzuwägen, bevor er sein Schwert schnappt und sich genauso schnell und lautlos in die Dunkelheit zurückzieht, wie er gekommen ist.
Sofort ist Nero bei mir. Seine Augen tasten meinen Körper besorgt nach Verletzungen ab. »Wie schlimm ist es?«
Ich presse die Hand gegen meine Hüfte und lasse mir langsam von ihm aufhelfen. »Ist nur ein Kratzer.«
»Dein Kratzer blutet ziemlich stark«, erklärt er trocken, zieht seinen schwarzen Pullover aus und drückt ihn gegen meine Wunde.
»Wer war das?«, will ich atemlos wissen. »Und wieso bist du überhaupt hier?«
Nero sieht mich an, als wäre die Antwort offensichtlich und ich nur zu benommen, sie zu erkennen. Unter den Ärmeln seines Shirts blitzen die archaischen Tätowierungen hervor, die Nero in der Dunkelheit der Nacht noch unergründlicher erscheinen lassen. »Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich nicht gekommen wäre?«, fragt er ruhig und hebt mein Handy auf, um es mir zu reichen.
»Nein. Natürlich nicht.«
Das Licht des Mondes spiegelt sich in seinem undurchdringlichen Blick, während er mich prüfend betrachtet.
»Ich hatte ein ungutes Gefühl, Katalea«, sagt er dann. »Eines, das sich bewahrheitet hat. Man darf dich wirklich keine Sekunde aus den Augen lassen.«
»Als hätte ich mir das ausgesucht«, gebe ich murrend zurück, während Nero seinen Arm um meine unverletzte Hüfte schlingt, um mich zu stützen. Die Berührung ist sanft, ganz anders als sein Tonfall. »Ich werde dich in Sicherheit bringen.«
»Was heißt das nun wieder?«
»Du musst weg von hier.«
Ich bleibe stehen und stöhne auf, als die hastige Bewegung meine Wunde zum Pochen bringt. »Damit du dich ohne mich seelenruhig auf dein Ritual vorbereiten kannst? Vergiss es.«
»Katalea, ich habe nicht vor, mich sofort zur Quelle zu begeben.«
»Das beruhigt mich nicht, Nero.«
»Es gibt keine andere Möglichkeit.«
Alles in mir begehrt auf. »Doch, die gibt es. Es gibt nämlich immer eine andere Möglichkeit! Wir werden den Callaschlüssel finden.«
»Wir?« Unmissverständlich schüttelt er den Kopf. »Du wirst nicht mitkommen.«
»Das hast du nicht zu entscheiden.«
»Doch, denn ich werde das Team anführen, und du bist kein Teil davon. Wir werden jetzt deine Wunde versorgen und dann bringe ich dich von hier weg.«
Meine Gedanken laufen durch meinen Kopf, über seine Worte hinweg, bis sie hart gegeneinanderknallen. »Was für ein Team?« Erwartungsvoll schießt mein Puls nach oben. »Margret hat also einen brauchbaren Hinweis entdeckt?«
Für einen Moment schweigt er. »Sieht zumindest danach aus. Aber freu dich nicht zu früh, die Sache könnte im Sand verlaufen.«
»Was ist das für ein Hinweis?«, will ich gespannt wissen, denn es ist absurd, Hoffnung kontrollieren zu wollen, vor allem, wenn sie sanft im eigenen Herzen klopft.
»Es handelt sich um den Namen eines Hüters, der zur Zeit der Französischen Revolution im Besitz des Callaschlüssels war. Wir verifizieren die Information und prüfen sämtliche Verbindungen des Hüters. Allerdings liegt die Französische Revolution schon etwas zurück«, erklärt Nero, der mich mit sich schiebt und mir einen entschiedenen Blick zuwirft. »Was auch immer in deinem hübschen Kopf vorgeht, vergiss es. Einer der Clans hat es noch immer auf dich abgesehen.«
»Aber wieso? Und wer? Wer war dieser Kämpfer?«
»Die Kampftechnik des Attentäters lässt auf den Clan Zhen schließen. Nur wüsste ich nicht, welchen Grund sie hätten, dich anzugreifen.«
»Vielleicht war es nicht der Zhen-Clan«, erwidere ich schnaubend und humpele an einer Reihe gestutzter Büsche vorbei Richtung Festung. »Vielleicht hat Brandon recht und der Angreifer war bloß ein Freund deiner Mutter.« Ich blicke auf mein Handy. »Shit, ich muss ihm sagen, dass es mir gut geht.«
Nero schaut mich wachsam an. »Wie bitte?«
»Ich habe gerade mit Brandon telefoniert, als ich von dem Typen attackiert wurde.«
»Das meinte ich nicht. Ich meinte den Teil mit meiner Mutter.«
»Sie hat mir nahegelegt, mich umzubringen, um den Weg für Giselle von Rubinstein frei zu machen.«