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Es geht in diesem Wegweiser-Band 3 um den Prozess der Verwirklichung unserer innenliegenden Persönlichkeit und um die Entwicklung unserer Einzigartigkeit. Eine Darlegung des Individuationsprozesses als lebenslanger Entwicklungsweg. - Welche Hilfe kann ich auf meinem oft herausfordernden, schwierigen Weg zu mir selber brauchen? - Wie finde ich heraus, was es als nächsten Schritt zu tun oder zu lassen gilt? - Wie kann ich meiner Wahrnehmung, Gefühlssicherheit oder Intuition vertrauen, wie kann ich sie überprüfen? Über die Frage nach dem "Wer bin ich?" spannt die Autorin den Erklär-Bogen von der Notwendigkeit des Verlassen Müssens von Vertrautem, Überholtem und damit im Chaos landend, um zu immer neuer, tiefergehender Selbsterkenntnis zu gelangen die wir als Reifung der Persönlichkeit erleben. Sie finden in diesem kleinen Buch ein paar Erläuterungen, Gedanken zu diesem Thema und Übungen, die behilflich sein könnten.
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Seitenzahl: 89
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Linda Vera Roethlisberger
INDIVIDUATION – UNTERWEGS ZU SICH SELBST UND ÜBER SICH HINAUS
©2021 Trilogos Stiftung
Collagen & Layout: AMBERPRESS, Gosia Warrink und Katja Koeberlin
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
www.tredition.de
ISBN Hardcover: 978-3-347-26972-9
ISBN e-Book: 978-3-347-26973-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages, der Trilogos Stiftung und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Zwischen Land und Wasser verbindet eine Brücke innere Starre und äußere Beweglichkeit zu neuem Werden.
Zwischen Licht und Dunkel erkennen wir Wünsche, über sie nachzudenken bringt Klarheit, in Wahrheit oder Irrtum.
Zwischen Traum und Wirklichkeit messen sich Kräfte, die uns umgestalten wollen zu unserer eigentlichen Gestalt.
Linda Vera
Inhalt
Einleitung
1 Aufbruch zum eigenen Selbst
2 Integration unserer Schatten: Verinnerlichung und Mitmensch-Sein
3 Individuation und die angewandte Trilogos Methode
Nachwort
Anhang: Glossar – Literatur – Das Trilogos im Internet
Einleitung
Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts hielt sich der große Philosoph Arthur Schopenhauer in Dresden auf, wo er an seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ arbeitete. Eines Tages besuchte er den Botanischen Garten der Stadt. Dort war er dermaßen in seine Betrachtungen versunken, dass er, wie er selbst später einem Freund gestand, in seinem ganzen Wesen und seinen Gebärden „etwas so Auffallendes zeigte“, dass einer der Aufseher sich misstrauisch an ihn wandte und fragte, wer er denn sei. Schopenhauer antwortete darauf: „Ja, wenn Sie mir das sagen könnten, wer ich bin, dann wäre ich Ihnen vielen Dank schuldig.“
Das Bewusstseyn ist die bloße Oberfläche unseres Geistes, von welchem, wie vom Erdkörper, wir nicht das Innere, sondern nur die Schale kennen.
Arthur Schopenhauer
Wohl jeder von uns stellt sich zu irgendeinem Zeitpunkt im Leben die große Frage: Wer bin ich?
Eigentlich sollte die Antwort ganz einfach sein, sitzen wir doch sozusagen an der Quelle. Wer könnte uns näher sein als wir selbst? Uns besser kennen? Wir wissen, wie wir aussehen, sind uns – mehr oder weniger – unserer Gedanken und Gefühle bewusst, und darüber hinaus geben uns der Wille und unser Handeln Aufschluss über unsere Werte, Motive und Funktionsweisen. Ein Blick in unsere Familienstruktur zeigt uns unsere Prägungen und Muster, und unsere Träume, Ziele und Visionen knüpfen an unser Potenzial an. Das klingt alles viel überschaubarer, als der als Pessimist und Eigenbrötler verschriene Schopenhauer in seiner Anekdote zum Ausdruck bringt.
Doch wenn wir uns tiefer mit der Frage beschäftigen, wer wir wirklich sind, stoßen wir bald an die Grenzen der Selbsterkenntnis.
Meist definieren wir uns über Werte, Qualitäten, Eigenschaften, vielleicht auch unsere Funktion in Gesellschaft, Familie, Beruf. All dies aber sind Parameter, die sich wandeln können: im Lauf der Zeit, unter dem Einfluss plötzlicher Ereignisse, auf dem Prüfstand unseres Lebens. Aus diesem Grund sind Krisen oft Wendepunkte im Leben: Plötzlich ist man nicht mehr der, der man eben noch zu sein glaubte. Etwas Gewohntes bricht weg, hinterlässt Chaos und mit ihm den Samen einer Neuordnung.
Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.
Friedrich Nietzsche
Das Leben fordert uns immer wieder heraus, uns anzupassen, unsere Schwächen zu erkennen und Stärken zu entwickeln. Im Lauf der Jahre erkennen wir, dass es kein permanentes Ich gibt, was eine umfassende Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ erschwert. Wir bemerken auch, dass unser Selbstbild gar nicht so objektiv ist, wie wir annahmen: dass wir manches beschönigen, anderes verdrängen und das Bild, das wir von uns pflegen, durchaus ein anderes sein kann als das, welches unsere Mitmenschen von uns gewinnen. Schopenhauer war der Ansicht, dass die Kenntnis, die wir von uns selbst haben, keineswegs vollständig und erschöpfend sei, sondern nur oberflächlich.
Und doch haben wir ein Gespür für das eigene Wesen: das, was uns ausmacht, was uns von anderen trotz all der Gemeinsamkeiten unterscheidet.
So wie alles, was existiert, sind „Ich“ und „Selbst“ nicht nur vom spirituellen, sondern auch vom quantenphysikalischen Standpunkt aus letztlich Energie, Schwingung. Und Schwingung wird in geordneter Form zum Klang. Das mag abstrakt klingen.
Joachim-Ernst Berendt, der während des Krieges ein Physikstudium begonnen hatte und später als Redakteur beim Südwestfunk arbeitete, schuf mit seinem Werk „Nada Brahma – Die Welt ist Klang“ ein plastisches Bild, das uns auf der Suche nach dem „Wer bin ich“ weiterhelfen kann. Stellen wir uns also für einen Moment das Universum als großen Klang vor. Das Individuum ist eine Manifestation des Universums. Anders ausgedrückt, ist jeder Einzelne von uns eine Stimme, die in diesem gewaltigen Akkord mitschwingt. Um es noch plastischer zu machen, stellen wir uns vor, wir seien ein Orchestermusiker. Je sauberer wir unser Instrument stimmen, je besser wir spielen und die Musik verstehen, uns einfinden in das Werk, umso mehr tragen wir zur Harmonie der Schöpfung bei. Jeder Ton, den wir spielen, ist von Bedeutung, ist Teil des Ganzen, das sich wiederum durch uns speist.
Ganz ähnlich ist es im Leben: Fallen wir in uns hinein – in unser Herz, unsere Seele, Bewusstes und Unbewusstes, unser Potenzial –, sind wir ganz eigenes Selbst. Dieses „Insich-Hineinfallen“ umschreibt den Prozess der Individuation, wie insbesondere C. G. Jung ihn prägte: als Weg, zum Einzelwesen zum eigenen Selbst zu werden.
Der Prozess der Verwirklichung unserer Persönlichkeit bringt uns immer zu der Schnittstelle zwischen wahrem und gelebten Potenzial. Wir können nur dann in unserer Ganzheit schwingen, wenn wir alle Bereiche unserer selbst zum Klingen bringen. Und hier begegnen wir Aufgabe und Schwierigkeit zugleich: In uns liegt so vieles brach, was uns nicht bewusst ist, was wir verdrängen, abspalten oder aufgrund unserer Prägungen und Muster nicht frei entfalten können. Ein begnadeter Geiger, so sagt man salopp, kann auch einen Schuhkarton zum Klingen bringen. Das mag ja sein. Doch wie viel schöner wird der Klang, wenn das Instrument gepflegt ist, die Risse im Korpus repariert und alle Saiten aufgezogen sind. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit uns. Erlauben wir uns, zu heilen und uns zu entfalten, immer wieder aufs Neue.
Erleuchtung erlangt man durch das Erkennen der eigenen Dunkelheit.
C. G.Jung
Der Invididuationsprozess ist ein Geschehen, das sich auf das gesamte Leben erstreckt, und durchläuft verschiedene Entwicklungsstufen. Nach C. G. Jung dient die erste Lebenshälfte meist der Ich-Entwicklung und Ich-Bildung, während in der zweiten die Entwicklung zum psychisch integrierten Selbst einsetzt: Auf das Sammeln von Erfahrungen und ein erstes Erkennen hin folgt die Reifung der Persönlichkeit. Je mehr wir uns als Teil eines Ganzen empfinden – als Schwingung oder Klang im Universum wie auch als aktiver Teil unserer Gesellschaft und der Erdengemeinschaft –, desto mehr tritt die Aufgabe des Einzelnen für das Ganze in den Vordergrund. Selbstverwirklichung bedeutet dann keine Egomanie mehr, im Gegenteil. Wir überschreiten das personale Ich und begeben uns in die Transzendenz, wo wir Ganzheit und Verbundenheit mit allem direkt erfahren: Der eigene Klang ist Teil des Akkords der Schöpfung. Dies macht uns zugleich auch die Verantwortung bewusst, die unsere Entfaltung für das Ganze besitzt.
Die Trilogos Methode kann als ganzheitlicher Individuationsweg verstanden werden, der neben Intellekt und Emotion auch das spirituelle Wesen des Menschen mit einbezieht.
An seinem Anfang steht die Bewusstwerdung des Einzelnen und mit ihr der Zugang zum persönlichen Unbewussten. Wenn man den „Keller des Bewusstseins“ betritt und systematisch durchstöbert, leistet man Integrationsarbeit. Man trifft auf die Schatten – unerlöste Dinge im Inneren, die wir mit den Übungen der Trilogos Methode ans Licht bringen, befreien und zu unserem Potenzial transformieren. Die bewusste Schattenintegration schafft Raum für Neues: Talente, die frei werden, neuen Mut, weitere Schritte zu sich selbst zu tun, eine größere Harmonie im Innen und Außen. Indem wir mehr und mehr Persönlichkeitsanteile integrieren, streben wir unserer nächsten Aufgabe zu: der Selbstverantwortung des Einzelnen für das Ganze. So, wie der Geiger im Orchester andere durch sein reines, beseeltes Spiel dazu inspirieren kann, in das eigene Talent hineinzuwachsen. Oder wie er auch mal einen Part des anderen übernimmt, wenn der strauchelt, wenn dessen Saiten gerissen sind.
Individuation mit dem Ziel, die menschlichen Qualitäten in menschliche Kompetenz münden zu lassen, ist ein lebendiger Weg voller Überraschungen. Nicht immer ist er einfach, besonders dann nicht, wenn es gilt, Traumata aufzulösen und abgespaltene Anteile unserer selbst zurückzuholen. Doch immer wartet das Gefühl der Befreiung und des inneren Glücks, wenn wir uns in unsere ureigene Bestimmung hineinbegeben können.
Man kann einen Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken.
Galileo Galilei
1
Aufbruch zum eigenen Selbst
1Aufbruch zum eigenen Selbst
Bald bin ich licht, bald bin ich trüb, bald hart, bald weich, dann bös, dann gut. Bin Sonn‘ und Vogel, Staub und Wind, so Mond als Kerze, so Strom wie Glut, bin arger Geist, bin Engelkind – dieses und jenes ist gut.
Rumi
Die Sehnsucht nach Selbsterkenntnis scheint tief in unserem Wesen verwurzelt zu sein. Wir wollen uns begreifen, uns erfahren, uns selbst immer wiederfinden. In einer Welt, in der alles sich ändert, suchen wir Sicherheit und Halt in uns selbst und stellen doch nur fest, dass auch wir uns wandeln. Wir wollen uns von anderen unterscheiden und suchen uns selbst in ihnen. Sehnen uns nach Gemeinsamkeiten und dem Ureigenen zugleich.
Begeben wir uns in die Welt der Sagen, so erkennen wir, dass die Individuation als Prinzip der Differenzierung des Allgemeinen zum Besonderen älter ist als die lateinische Wurzel des Wortes selbst. Bereits in Mesopotamien begeben sich die schillernden Helden, so wie später Odysseus, auf Abenteuer und Irrfahrten, um die eigenen Grenzen zu erfahren, sich zu beweisen und das eigene Wesen auszuloten.
Individuation als autonom gesteuerter Prozess ist dennoch ein Luxus der modernen Zeit, in welcher sich das Korsett von Glaubenszwang und festen gesellschaftlichen Regeln immer weiter gelockert hat. Je weniger sich Menschen den herrschenden Strukturen unterordnen müssen, desto mehr Raum bleibt, sich selbst zu erfahren. Das war in Europa nicht immer selbstverständlich. Das Wort „Individualität“ in seiner Bedeutung des Einzelwesens mit seinen Besonderheiten, die es von anderen abheben, taucht erst im 18. Jahrhundert auf. Und der Individualismus als „Betonung der Interessen des Einzelwesens gegenüber denen der Gesellschaft“ ist gar ein Begriff des 19. Jahrhunderts. Der Prozess der Individuation1