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Nach vielen Irrungen, Wirrungen und noch mehr überstandenen Gefahren haben Heiko Chan und sein Freund Don Jaime Kapstadt erreicht – und treffen dort eine geheimnisvoll-gefährliche Frau namens Genieve Clouzot. Sie lassen sich von ihr überreden, gemeinsam mit dem Exterroristen Liberanto, den sie eigentlich hatten aufhalten wollen, dessen Befreier aus den Kerkern von Luna, Nestor Hagen, und einem geheimnisvollen kleinen Mädchen namens Lisa zur Antarktis zu fliegen. Dort gibt es eine besondere Überraschung: Clint Fisher stößt zu ihnen, in seltsamer Begleitung. Aber Heiko durchschaut ihn: Es handelt sich um einen Mann, der sein Äußeres beinahe beliebig verändern kann! Aber noch ahnt er nichts vom wahren Geheimnis des Exterroristen Liberanto, obwohl sie hier zusammengekommen sind, um es zu lüften, denn davon könnte es abhängen, ob sich die Erde von der kyphorischen Besatzung befreien kann… (499) Dieser Band enthält folgende SF-Romane: Wilfried A. Hary: Erbe der Macht Wilfried A. Hary Stadt im Eis Wilfried A. Hary Das Relikt Alfred Bekker: Fluchtpunkt Mars
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4 Science Fiction Abenteuer Sonderband 1015
Copyright
Erbe der Macht - Wilfried A. Hary (Erno Fischer)
Stadt im Eis - Wilfried A. Hary (Erno Fischer)
Das Relikt - Wilfried A. Hary (Erno Fischer)
Commander John Darran 1: Fluchtpunkt Mars
Nach vielen Irrungen, Wirrungen und noch mehr überstandenen Gefahren haben Heiko Chan und sein Freund Don Jaime Kapstadt erreicht – und treffen dort eine geheimnisvoll-gefährliche Frau namens Genieve Clouzot. Sie lassen sich von ihr überreden, gemeinsam mit dem Exterroristen Liberanto, den sie eigentlich hatten aufhalten wollen, dessen Befreier aus den Kerkern von Luna, Nestor Hagen, und einem geheimnisvollen kleinen Mädchen namens Lisa zur Antarktis zu fliegen. Dort gibt es eine besondere Überraschung: Clint Fisher stößt zu ihnen, in seltsamer Begleitung. Aber Heiko durchschaut ihn: Es handelt sich um einen Mann, der sein Äußeres beinahe beliebig verändern kann!
Aber noch ahnt er nichts vom wahren Geheimnis des Exterroristen Liberanto, obwohl sie hier zusammengekommen sind, um es zu lüften, denn davon könnte es abhängen, ob sich die Erde von der kyphorischen Besatzung befreien kann…
Dieser Band enthält folgende SF-Romane:
Wilfried A. Hary: Erbe der Macht
Wilfried A. Hary Stadt im Eis
Wilfried A. Hary Das Relikt
Alfred Bekker: Fluchtpunkt Mars
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
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Alles rund um Belletristik!
„Die Antarktis birgt das Geheimnis – und er soll es erben!“
Nach vielen Irrungen, Wirrungen und noch mehr überstandenen Gefahren haben Heiko Chan und sein Freund Don Jaime nach ihrer Flucht vom Mond Kapstadt erreicht – und müssen erkennen, dass sie ungewollt dem größten Terroristen aller Zeiten zur Flucht vom Mond verholfen haben! Sie folgen ihm zu den Ruinen von Alt-Kapstadt und finden dort nicht nur ihn, sondern eine Frau namens Genieve Clouzot, und die hat einiges mit ihnen vor. So lassen sie sich überreden, gemeinsam mit dem Exterroristen, den sie eigentlich hatten aufhalten wollen, dessen Befreier aus den Kerkern von Luna und einem geheimnisvollen kleinen Mädchen namens Lisa in Richtung Antarktis zu fliegen. Denn dort wartet anscheinend ein bedeutsames Geheimnis auf sie, das der Schlüssel zur Befreiung der Erde von der Fremdherrschaft der Kyphorer werden könnte…
DIE HAUPTPERSONEN:
Heiko Chan – der Survival-Spezialist kommt von einem Schlamassel in den nächsten.
Don Jaime López de Mendoza Tendilla y Ledesma — der letzte und völlig verarmte Spross eines uralten spanischen Adelsgeschlechts leidet gewissermaßen mit Heiko. Aber wenigstens lernt er, mit Kindern umzugehen, durch…
Lisa – das kleine Mädchen ist erst vier Jahre alt. Aber sie ist ein sogenannter PSI-Mensch – und das hat gewisse Auswirkungen, die nicht immer und vor allem nicht für jeden erfreulich sind.
Liberanto – der Exterrorist heißt in Wirklichkeit Arndt Soklund und muss sich der veränderten Situation auf der Erde anpassen – und nicht nur dieser…
*
Vergangenheit
Arndt Soklund hatte den Traum zum ersten Mal damals in Paris gehabt. Die ständigen Probleme zwischen seinen Eltern und ihm hatten dazu geführt, dass er in der Schweiz erzogen worden war. Er war ein fleißiger und vorbildlicher Schüler geworden, weil er genau gewusst hatte, dass er ansonsten zurückkehren musste in die Antarktis, in den Hauptsitz des Konzerns Bionic Inc. Und er hasste dies wie nichts sonst in dieser Welt.
Der Hauptsitz war mitten auf dem ewigen Eis errichtet worden, auf Betreiben seiner Mutter, wie es hieß. Zu einem Zeitpunkt, als sie noch mit Arndt schwanger gewesen war. Hatte man ihm gegenüber jedenfalls behauptet. Seine eigentliche Heimat Grönland kannte Arndt Soklund nur von gelegentlichen Besuchen in der ehemaligen Hauptniederlassung des Konzerns. Jedenfalls war für ihn die Antarktis die reinste Hölle aus Eis, weshalb er alles tat, um dorthin nicht mehr zurückkehren zu müssen.
Nach der Erziehung in der Schweiz an einem weltberühmten Internat hatte er in Paris zu studieren begonnen. Bezeichnenderweise Bionik, obwohl das Studium ihn ständig an den väterlichen Konzern erinnerte, mit dem er doch eigentlich gar nichts zu tun haben wollte. Aber das Thema an sich interessierte ihn brennend.
Und dann dieser Traum, in dem er die meiste Zeit gar nicht wusste, dass es nur ein Traum war. Zum Beispiel, wenn er sich an Bord eines Raumschiffs wähnte, das sich im Sternenmeer verirrt hatte und den Weg zurück zur Erde nicht mehr fand. Wenn dann eine Art Baum ihm Orientierungshilfe leistete. Wenn er den Eindruck gewann, unsichtbare Netzwerke durchzögen durch den Kosmos wie Wurzeln von Bäumen, und jeder Stern in jeder Galaxie gelte als einer dieser Bäume, die mit ihrem Wurzelwerk zusammengewachsen waren zu einem unendlich großen Gespinst. Wenn er den Baum, der die Erde symbolisierte, als Yggdrasil bezeichnete, als die Weltesche, in Ermangelung einer anderen, treffenderen Bezeichnung. Yggdrasil kannte er zumindest, nämlich aus den nordischen Mythen und Sagen. Schließlich war er Grönländer und hatte diese Sagen sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen.
Als er das erste Mal aus diesem Traum erwacht war, hatte er mindestens zwei Stunden benötigt, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Seitdem fragte er sich, was dieser Traum bedeutete.
Und der Traum war immer wiedergekommen. Erst in großen Abständen, dann in immer kürzeren. Dabei war ihm vor allem aufgefallen, dass er im Traum eine Frau namens Kareen hatte. Nicht nur, dass es überhaupt keine Raumfahrt auf PSI-Basis gab, ergo also nicht die Gefahr, dass sich ein PSI-Schiff im Kosmos verirren konnte, auch noch ausgerechnet mit ihm an Bord … Kareen, das war nicht etwa seine Frau, sondern … seine leibliche Mutter!
Aber im Traum hatte Kareen kein Gesicht. Sie war nur ein Begriff, ein Symbol. Offenbar wie der gesamte Traum. Aber warum ausgerechnet der Name seiner Mutter?
Schon nach den ersten Träumen dieser Art hegte er den Verdacht, dass es irgendwie mit seinem Vater zusammenhängen könnte. Vielleicht träumte er den Traum seines Vaters? Aber um das herauszufinden, hätte er mit seinen Eltern offen über dieses Thema reden müssen. Mit Eltern, die er am liebsten niemals mehr wiedergesehen hätte. Er wusste nicht, ob er sie mehr hasste oder mehr verabscheute.
Falls ihn jedoch jemand gefragt hätte, wieso er solch negative Gefühle für seine leiblichen Eltern hegte, hätte er darauf keine überzeugende Antwort geben können. In ihm wehrte sich alles dagegen, seine eigenen Eltern auch nur im Geringsten anzuerkennen. Er hatte ihnen das schon von frühester Kindheit an ganz offen gezeigt. Wenn seine Mutter ihn auf den Arm nehmen wollte, hatte er geschrien und gestrampelt. Jegliche Berührung durch sie hatte ihn mit Ekel erfüllt – Ekel und tiefste Abneigung. Und sie hatte sich immer wieder bemüht, seine Mutter sein zu dürfen. Ohne jeglichen Erfolg. Und wenn er gesehen hatte, dass er ihr damit weh tat, hatte er sich sogar auch noch darüber gefreut.
Sein Vater hatte schon recht früh sämtliche Bemühungen aufgegeben, sich seinem Sohn zu nähern. Aber er vernachlässigte darüber auch seine Frau Kareen, wie Arndt Soklund erst viel später bewusst wurde, während seiner Zeit im Schweizer Internat. Doch das war ihm gleichgültig. Er wäre niemals auf die Idee gekommen, seinen Eltern auch nur eine einzige Zeile zu schreiben. Seit vielen Jahren war er nicht mehr im Hauptsitz des Konzerns gewesen. Er lebte so, als würden seine Eltern nicht mehr existieren. Sie waren es ihm nicht einmal wert, sie auch nur zu erwähnen.
Und jetzt träumte er immer häufiger diesen Traum, um von Mal zu Mal mehr zu der Auffassung zu gelangen, dass es nicht wirklich sein Traum war, sondern in Wirklichkeit der Traum seines Vaters! Dafür sprach eigentlich alles.
Es kam die Zeit, da er sich endlich ein wenig näher mit dem väterlichen Konzern beschäftigte, zumindest aus der Distanz. Wie war das denn alles überhaupt so weit gekommen?
Es war kein Problem, das zu recherchieren. Man musste nur das Internet bemühen.
Schon in jungen Jahren hatte sich sein Vater intensiv mit Bionik beschäftigt. Er hatte seine spätere Frau kennengelernt – und beide teilten ihre Leidenschaft zur Bionik und ihre ungezügelte wissenschaftliche Neugierde. Sie war anscheinend die bessere Wissenschaftlerin. Dafür hatte er den größeren Geschäftssinn, mit dem es ihm gelang, sein erstes Unternehmen in Grönland zu gründen.
Seine Firma war die erste, der es wirklich gelang, echte Biochips herzustellen, die jedem zu diesem Zeitpunkt gängigen rein technisch basiertem Mikrochip weit überlegen waren. Aber das war nur der Beginn: Der organische Anteil wurde immer größer, bis diese Art der Technologie an ihre ersten Grenzen stieß.
Da wurde Mechanics Inc. erst recht darauf aufmerksam. Der wesentlich größere Konzern bot die Zusammenarbeit an, zu einer Zeit, da Bionic Inc. die erste Talsohle in der Entwicklung zu überwinden hatte. Mechanics Inc. erwarb 49 Prozent der Anteile an Bionic Inc. und rettete damit Bionic vor dem Untergang. Ausgerechnet der größte Konkurrent wurde somit zum größten Unterstützer. Der Gründer Berint Soklund behielt einundfünfzig Prozent. Eigentlich musste Mechanics einfach nur die Aktien aufkaufen, die von anderen gehalten wurden. Die Betreffenden hatten sich gern davon getrennt, denn es war die Pleite von Bionic Inc. zu befürchten.
Sogleich war es mit Bionic wieder aufwärts gegangen. Kareen Soklund war schwanger geworden, und sie schaffte es, ihren Mann zu überreden, den Hauptgeschäftssitz in die Antarktis zu verlegen. Niemand auf dieser Welt konnte das wohl nachvollziehen, am wenigsten ihr späterer Sohn Arndt Soklund, und er wunderte sich immer noch, jetzt, wo er die sonstigen Zusammenhänge besser begriff.
Der Umzug der Konzernzentrale in die Antarktis hatte eigentlich ausschließlich Nachteile für die Firma, nicht den geringsten Vorteil. Es sei denn, man berücksichtigte die Tatsache, dass sich Bionic Inc. verstärkt um die antarktische Forschung bemühte. Es war beispielswiese schon länger bekannt, dass sich unter dem kilometerdicken Eis eine weitverzweigte Seen- und Flusslandschaft befand. Eine Welt für sich, abgeschottet von der übrigen Welt. Der Eispanzer verhinderte jegliche Verbindung zu dieser Enklave der Natur, die immerhin die Größe eines eigenen Kontinents besaß.
Der Hauptsitz von Bionic Inc. war genau auf einer Senke im Eis errichtet, hoch über einem See, dem der Konzern seinen Namen gab – Bionic-See – und der diesen Namen weltweit auch durchsetzte. Egal, wie der See vorher genannt worden war.
Es gab vorsichtige Bohrungen, so hieß es. Vorsichtig deshalb, weil man unterhalb des Eises in Forscherkreisen mit einer Flora und Fauna rechnete, die einmalig war auf der Erde. Das da unten war wie ein anderer Planet. Die Mikrolebewesen, die sich hier hielten, brauchten keine Sonne. Sie profitierten von der Tatsache, dass es unterhalb des ewigen Eises angenehm warm war.
Über die Art des Lebens dort unten gab es größtenteils nur Spekulationen. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass Bionic im Laufe der Zeit wesentlich mehr in Erfahrung bringen konnte, doch dieses Wissen teilte Bionic ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr mit der Welt.
Seltsam, mehr als seltsam sogar!, wie nicht nur Arndt Soklund fand.
Und schon wieder hatte er einen triftigen Grund, seine Eltern ganz konkret zu fragen. Aber dafür hätte er über seinen eigenen Schatten springen müssen, was ihm völlig unmöglich erschien.
Er schloss sein Studium schließlich mit Auszeichnungen ab, promovierte anschließend – eigentlich nur, um seinen Aufenthalt in Paris zu verlängern – und stand eines Tages vor der Tatsache, dass er sich nicht mehr länger vor einer Rückkehr in die Antarktis drücken konnte. Seine Eltern erwarteten ihn bereits, wie man ihm hatte mitteilen lassen.
Was tun?
In dieser Nacht, am Tag vor der Entscheidung, war der Traum am intensivsten. Nicht nur das: Er träumte ihn mehrmals in dieser Nacht, so oft, dass er es später nicht mehr zu zählen vermochte.
Dennoch erwachte er früh am Morgen. Von einer Sekunde auf die andere war er hellwach, und jetzt war er hundertprozentig sicher: Das war der Traum seines Vaters! Ursprünglich. Aber jetzt war er sein eigener Traum geworden. Seine Mutter Kareen spielte zwar im Traum noch dieselbe Rolle – als seine angebliche Ehefrau, obwohl er im wirklichen Leben bis heute jegliche engere Beziehung bewusst vermieden hatte –, aber es war wirklich nur ein Symbol. Genauso wie diese Raumfahrt. Irgendetwas oder irgendwer wollte ihm mit diesem Traum mitteilen:
»Suche den Baum, den du Yggdrasil nennst. Doch egal, welchen Namen du ihm gibst: Du musst ihn suchen. Es ist deine Lebensaufgabe!«
Aber wenn dieser Traum ursprünglich der seines Vaters war … Das hieß doch dann, dass sein Vater bei dieser Suche bislang gescheitert war! Sonst hätte es diesen Ruf nicht mehr gegeben.
Und was bedeutete das Symbol des Raumschiffs?
Plötzlich hatte er die Vision einer Art ausgehöhlter Riesenbaumstämme, die das All durcheilten. Er hatte die Vision von Bionik in der absoluten Vollendung: Keinerlei sterile Technik mehr, sondern gesteuertes Wachstum, in harmonischem Einklang mit der Natur. Häuser, die aus dem Boden wuchsen, bis sie bezogen werden konnten. Fahrzeuge, die pflanzlichen Ursprungs waren – vielleicht sogar Kreuzungen zwischen Pflanzen und Tieren? Nicht Pferde, auf denen man ritt, sondern Fahrzeuge mit Beinen anstelle von Rädern, in die man sich bequem hineinsetzen konnte.
Dann sogar fliegende Pflanzenkolosse. Nicht nur als Raumschiffe, sondern…
Eine Art Fieber packte ihn, und es wurde ihm bewusst, dass diese Vorstellungen, so absurd sie zunächst erschienen, Wirklichkeit werden könnten. Er musste es nur intensiv genug wollen. Und er hatte sogar ein Instrument dafür zur Verfügung: Bionic Inc.
Und da fiel es ihm sozusagen wie Schuppen von den Augen. Bei seinen Recherchen hatte er die eigene Firmengeschichte studiert. Ihm wurde bewusst, welche Fortschritte Bionic im Laufe der Zeit gemacht hatte. Ging das denn nicht längst genau in diese Richtung? Waren seine eigenen Visionen überhaupt seine eigenen – oder vielmehr bereits die seines leiblichen Vaters und vielleicht sogar … seiner Mutter?
Egal, ob das im Traum sein Vater Berint Soklund war oder er selber, Arndt Soklund: Er hatte ein Versprechen gegeben. Er hatte Yggdrasil – ein Name, den er nach wie vor bevorzugte – versprochen, zu ihm zu kommen! Und jetzt spürte er zum ersten Mal, dass ihn dieser Ruf in Richtung Antarktis zog! Wieso auch immer.
Das war für ihn der letzte Beweis, dass seine Eltern eben deshalb den Hauptsitz des Konzerns dorthin verlegt hatten!
Er bekam einen regelrechten Weinkrampf, als ihm das klar wurde: Er begriff nämlich, in welchem Maße er sein Leben lang seinen Eltern bitter Unrecht getan hatte! Und jetzt konnte er nicht mehr schnell genug heimkehren, um sich bei ihnen für alles zu entschuldigen und all die Fragen zu stellen, die ihn schon seit Jahren quälten. Sie hatten wirklich alles für ihn getan, hatten weder Kosten noch Mühen gescheut, und er hatte es ihnen niemals auch nur im Geringsten gedankt. Ganz im Gegenteil.
Aber er wollte sie nicht vorab von seinem Kommen in Kenntnis setzen. Er sagte der Aufforderung weder zu noch ab. Er packte ganz einfach nur seine Koffer, setzte sich in das nächste Flugzeug und machte sich auf den Weg.
Mit anderen Worten: Er machte sich endlich daran, sein Versprechen an Yggdrasil einzulösen. Ein Versprechen, eigentlich nur in einem immer wiederkehrenden Traum gemacht. Aber ihm war schon seit Jahren klar, dass dies mehr war als nur irgendein Traum. Zumal er niemals nach einer solchermaßen durchträumten Nacht unausgeruht aufgewacht war. Ja, trotz der Unruhe! Als würde ihm Yggdrasil jedesmal neue Kraft spenden.
*
Für die letzte Etappe musste er ein firmeneigenes Spezialflugzeug anfordern, das für das ewige Eis geeignet war. In Rekordzeit wurde ihm sein Wunsch erfüllt, und dann war er wieder auf dem Weg, und seine Nervosität wuchs…
Noch bevor die Küstenlinie der Antarktis vor ihm auftauchte, bemerkte er zum ersten Mal jenes Wispern – ganz am Rande seines Bewusstseins.
Erschreckt stellte er fest, dass dieses Wispern keineswegs neu war. Er »hörte« es bereits seit dem ersten Traum in Paris. Aber wieso wurde er sich jetzt erst darüber klar?
Einer inneren Eingebung folgend wandte er sich an den Piloten des Flugzeuges, neben dem er saß, und fragte ganz konkret nach seinen Eltern.
Der Pilot schaute ihn erschrocken an. Ein Erschrecken, das Arndt Soklund nicht verstehen konnte. Erschrak der Pilot deshalb, weil er wusste, dass Arndt Soklund nichts mit seinen Eltern zu tun haben wollte? Immerhin eine Tatsache, die weltweit bekannt war. Wahrscheinlich würde sich die Weltpresse die Mäuler darüber zerreißen, wenn bekannt würde, dass der verlorene Sohn freiwillig an den heimischen Herd zurückkehrte – vielleicht sogar noch reumütig.
Arndt Soklund bekam erst eine Antwort, als er nicht mehr lockerließ.
Der Pilot schaute ihn nicht an, als er sagte: »Ihre Eltern sind leider …« Er schüttelte den Kopf, wie um einen Albtraum loszuwerden. »Sie sind letzte Nacht…«
»Was ist los mit ihnen?«, schrie Arndt Soklund ihn an.
»Sie – sie sind tot! Man munkelt, sie hätten gemeinsam Selbstmord begannen. Man – man fand sie in den unterirdischen Labors, tief im Eis. Dort finden Experimente statt, wie man Tierisches mit Pflanzlichem verbinden kann. Ihre Eltern …« Die Stimme versagte ihm abermals den Dienst. Dann fuhr er stockend fort: »Ihre Eltern hatten sich mit Pflanzen verbunden, sowohl ihren Blut- als auch ihren Lymphkreislauf hatten sie … In ihren Adern kreisen jetzt nur noch Pflanzensäfte, wie ich hörte. Sie selbst sind…«
»Was ist denn das für eine Horrorgeschichte?«
Der Pilot duckte sich wie unter Hieben.
Erschüttert ließ sich Arndt Soklund in seinem Sitz zurücksinken. Ihm schwindelte.
»Deshalb also hat Yggdrasil seinen Ruf verstärkt!«, murmelte er. »Die beiden können ihm nicht mehr folgen. Aber – aber warum haben sie das getan? Selbstmord? Ausgerechnet eine Nacht vor meiner Heimkehr? Weshalb? Und weshalb auf diese Weise?«
»Es – es liegt in Ihrer Entscheidung, Sir, was Sie zu tun gedenken. Die Körper Ihrer Eltern sind noch vollständig erhalten. Irgendwie sind sie noch intakt. Sie sind nicht richtig tot, wie es scheint, sondern in einer Art Zwischenstadium. Jedenfalls hat man es mir so mitgeteilt. Ich sollte Sie ja abholen, und ich sollte, falls ich dazu Gelegenheit hätte, Sie sozusagen auf das vorbereiten, was Sie erwartet.«
»Aber Sie hätten mir dennoch kein Wort gesagt, nicht wahr? Wenn ich nicht gefragt hätte.«
»Ja, es tut mir leid. Ich bitte um Nachsicht, Sir, aber ich wusste doch, dass Sie … Nun, ich will Ihnen jetzt nicht zu nahe treten. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch.«
»Genug!«, herrschte Arndt Soklund ihn an. »Niemand macht Ihnen einen Vorwurf daraus. Ich weiß selber, wie ich zu meinen Eltern all die Jahre stand. Es ist nur logisch, dass Sie es nicht gewagt haben, das Thema selbständig anzugehen. Und jetzt will ich auf dem schnellsten Wege zu meinen Eltern!«
Es waren seine letzten Worte zu diesem Thema. Er sprach auch nicht, als er vor den leblosen Körpern seiner Eltern stand.
Sie waren beide nackt und sahen viel jünger aus als es ihrem wahren Alter entsprach. Sie wirkten, als würden sie tief schlafen. Ihre Gesichter wirkten entspannt und … irgendwie glücklich.
Arndt Soklund schaute sich suchend um. Er betrachtete die Pflanzenwurzeln, die allgegenwärtig schienen. Er sah die künstlichen Tageslicht-Lampen und fleischigen Blätter, die scheinbar gierig das Licht in sich aufnahmen.
Was war das überhaupt für eine Pflanze? Und dass es sich um eine einzelne handelte, daran zweifelte er keinen Augenblick.
»Yggdrasil?«, murmelte er unwillkürlich.
Der leitende Wissenschaftler an seiner Seite, der ihn hierher geführt hatte, sah ihn erstaunt an.
»Ihre Eltern haben diesen Begriff immer wieder genannt. Aber nein, das hier ist eine Fremdzüchtung. Es gibt eine Reihe von Experimenten, die leider allesamt schiefgingen. Bestenfalls könnte man diese Art von Vereinigung benutzen, um Leichname zu konservieren. Wenn wir Ihre Eltern in diesem Zustand lassen, werden ihre Körper jedenfalls auf Dauer erhalten.«
»Das ist nicht wahr!«, entfuhr es Arndt Soklund.
Der Wissenschaftler nickte ernst. »Oh doch, so weit jedenfalls sind unsere Forschungen bereits gediehen. Allerdings nur inoffiziell. Niemand außerhalb dieser Labors weiß davon.«
»Ich habe Bionik studiert und mit Auszeichnungen abgeschlossen. Es erscheint mir völlig unmöglich, gerade deshalb. Aber ich sehe es hier mit eigenen Augen. Es ist in der Tat nicht zu leugnen. Und Sie sagen, dass es eigentlich ein sinnloses Ergebnis ist? Aber wieso haben meine Eltern das überhaupt getan?«
Der Wissenschaftler zuckte hilflos die Achseln und wich seinem forschenden Blick aus. »Niemand weiß das. Ich habe sie zufällig hier gefunden, aber da war es bereits zu spät. Ich konnte nur noch den Piloten in Kenntnis setzen, der Sie abholen sollte.«
Arndt Soklund legte schwer die Hand auf die Schulter des Wissenschaftlers und sagte bewegt: »Ich danke Ihnen jedenfalls für alles, was Sie für meine Eltern getan haben! Und ich schlage vor, dass wir sie hierlassen.«
»Keine Beerdigung? Aber was werden wir offiziell verlautbaren lassen?«
»Offiziell werden sie eben tot sein. Ich werde mich jetzt darum kümmern, mein Erbe anzutreten. Die Verhältnisse an der obersten Spitze des Konzerns müssen geklärt sein, ehe Schaden entsteht.«
»Und – und die Todesursache? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Sir, aber…«
»Was schlagen Sie vor?«
»Ein – ein Unfall, Sir?«
»Und welcher Art?«
»Es – es gibt immer wieder Bohrungen. Inzwischen haben wir sehr viel erfahren über die Mikroorganismen unter dem Eis. Die Kollegen gehen sehr vorsichtig vor, um keine Kontaminierung der unberührten Flora und Fauna zu riskieren. Das ist auch der Grund, wieso noch niemand persönlich da hinuntergestiegen ist.«
»Ah, ich verstehe: Meine Eltern wollten es als Erste wagen. Dabei kam es zu diesem tragischen Unfall!« Er nickte heftig. »Ja, das ist gut. Ich werde es sogleich veranlassen.«
Ohne ein weiteres Wort verließ er die unterirdischen Labors, unterhalb der Konzernebene. Dabei hatte er das Gefühl, als würde er niemals mehr in seinem ganzen Leben diese Labors betreten.
*
In der Folgezeit blieb Arndt Soklund nichts anderes übrig, als sich um seinen Konzern zu kümmern, zumal ihm ständig Mechanics Inc. im Nacken saß. Zwar hielt er zwei Prozent mehr Anteile und hatte somit die alleinige Entscheidungsgewalt über den Konzern Bionic Inc., aber die neunundvierzig Prozent des faktischen Mutterkonzerns waren mehr als erdrückend. Er verfluchte jeden Tag aufs Neue, dass sein Vater jemals sich auf diesen Deal eingelassen hatte.
Aber wenigstens gab es keine echten Geschäftseinbußen. Zwar entstand vorübergehend Unruhe unter den Wirtschaftsexperten, und auch die WWF schickte den einen oder anderen Beobachter vorbei, als habe sie Angst, durch Fehlentscheidungen an der neuen Konzernspitze Geld zu verlieren, doch Arndt Soklund meisterte sämtliche Hürden besser, als er es sich selber je zugetraut hätte.
Er setzte sogar noch eins drauf, indem er aus der Konzernzentrale eine regelrechte Stadt entstehen ließ – eine Stadt, die vorbildlich sein sollte für die ganze Welt und die er Atlantis City taufte.
Dann endlich konnte er sich anderem widmen:
Ja, er hatte begriffen, dass der Weg zu »seinem« Yggdrasil nur über das ferne Wispern am Rande seines Bewusstseins zu finden war. Er musste jetzt endlich lernen, dem Ruf zu lauschen und zu folgen.
Schließlich war er auf dem Weg. Allein, nur begleitet von Yggdrasils Wispern. Er lenkte seinen Spezialgleiter, der im letzten Jahr gemäß seinen Vorstellungen entstanden war, tiefer. Es sah so aus, als wolle er auf dem ewigen Eis landen. Doch sein Blick glitt suchend über die Eisdecke hinweg, die keinerlei Abschmelztendenzen aufwies, obwohl dies vor Jahrzehnten bereits prognostiziert worden war.
Fieber glänzte plötzlich in seinen Augen. Ein Fieber besonderer Art, gegen das kein Medikament der Welt half, sondern nur die Befreiung durch Erfolg.
Arndt Soklund suchte endlich. Immer wieder hatte er dem fremden Wispern widerstanden, weil ihm ganz einfach nichts anderes übrig geblieben war.
Und jetzt…
Er flog weiter und glaubte auf einmal, dem Ziel näher gekommen zu sein, aber dann … verlor sich die Spur wieder in der Einöde.
Er musste zurückkehren in seine neue Stadt…
*
Arndt Soklund interessierte sich seitdem für nichts anderes mehr. Das Fieber war nur noch schlimmer geworden.
Und abermals war er auf dem Weg. Inzwischen lief der Konzern sozusagen von selbst. Man benötigte ihn nicht mehr unbedingt. Er musste sich auf nichts anderes mehr konzentrieren, konnte dieses Fieber vorbehaltlos wirken lassen.
Und jetzt glaubte er sich wieder einmal ganz nah an seinem Ziel. War dies wirklich die letzte Etappe seiner Suche?
Dabei ging er von durchaus kühlen und sachlichen Überlegungen aus. Yggdrasil rief nach ihm. Ein zweifelsohne einmaliger Vorgang. Wieso eigentlich? Wieso hatte Yggdrasil, der Urbaum, die Weltesche, die es eigentlich nur in den Sagen und Mythen des Altertums geben durfte, ausgerechnet ihn zu sich gerufen? Und warum konnte er ihren Ruf zwar empfangen, verstärkt im Bereich der Antarktis, aber konnte sie hier nicht finden?
Dafür gab es seines Erachtens nur noch eine einzige Erklärung: Sie war über einen unschätzbaren Zeitraum von der Außenwelt abgeschnitten gewesen, hatte die Jahrtausende vielleicht in einer Art Koma verbracht, um nunmehr zu neuem Leben zu erwachen, unter dem ewigen Eis!
Dies war das Entscheidende. Deshalb war es ihm jetzt erst möglich, den konkreten Standort unterhalb des Eises auszumachen, ihn zu orten, als habe er eine Art Radar in seinem Schädel.
Und in den letzten Jahren, als er sich um den Konzern und seine neue Stadt gekümmert hatte, trotz des Wisperns in seinem Schädel – oder vielleicht sogar dadurch angespornt …? Es wurde ihm jetzt endlich bewusst, dass er das in Wahrheit nur getan hatte, um Zeit zu gewinnen und genügend Wissen zu speichern, damit er etwas mit seiner Entdeckung anzufangen wusste, falls sie ihm wirklich gelang!
Um seine Geschäfte kümmerte sich Arndt Soklund nicht mehr. Leider hatte er es bislang auch kein einziges Mal geschafft, seinen toten Eltern einen Besuch abzustatten, die immer noch mit der künstlich erzeugten Pflanze in den Labors verbunden waren. Er wusste: Solange diese Pflanze lebte, blieben auch die Körper seiner Eltern erhalten.
Er wollte nicht mehr dorthin, weil er den Anblick nicht ertragen konnte, denn dieser Anblick erinnerte ihn daran, wie schäbig er sich gegenüber den beiden sein Leben lang verhalten hatte. Obwohl er selber bis jetzt nicht einmal ahnte, was sein Motiv dafür gewesen war.
Er verdrängte sämtliche Gedanken daran. Arndt Soklund hatte sein Ziel seiner Meinung nach direkt vor Augen und folgte seiner Bestimmung.
»Ich bin zum Entdecker Yggdrasils bestimmt, obwohl vor dem Zeitpunkt des ersten Kontaktes der Begriff Yggdrasil nur im Zusammenhang eben mit den nordischen Mythen und Sagen zu sehen war. Doch damals, beim ersten Mal, als der Traum entstand, grub er sich unauslöschlich in mein Bewusstsein und bleibt dort bis zu meinem Ende! Yggdrasil ist kein Name, von Menschen ersonnen. Dies ist ein Symbol aus einer Vergangenheit, als es noch keine Menschen gab. Ich weiß es, obwohl es mir nicht gelingt, mich mit Yggdrasil zu unterhalten. Wir sind uns zu fremd. Ich bin zu sehr Mensch, und er ist zu sehr Pflanze, zu neuem Leben erwacht und deshalb jung und vielleicht ein wenig unbeholfen, obwohl in ihm die Erinnerung an die vergangene Ewigkeit schlummert. Er muss erst verarbeiten, was das Erbe der Vergangenheit ihm beschert. Und er versteht es lediglich, sich mir mittels eines immer wiederkehrenden Traumes zu offenbaren. Und über dieses Wispern, das jetzt so stark ist wie nie zuvor. Deshalb muss ich glauben, dass Yggdrasil jetzt endgültig erwacht ist.«
Der Gleiter raste über die schier endlose Eiswüste dahin, nur von Arndts Eingebungen geführt.
»Yggdrasil, du hast deine ganze Kraft dazu verwandt, mir deinen Namen einzuprägen, um mich jetzt endgültig auf deine Spur zu locken!«, krächzte er.
Ein Beben durchlief seinen Körper. Ja, er spürte wirklich die Nähe seines Ziels! Es vernebelte seine Sinne und beeinträchtigte die Konzentration, die er als Pilot benötigte.
Gewaltsam riss er sich zusammen.
»Und du, Yggdrasil, weist mir den Weg. Es muss dich viel Kraft kosten, den Unwürdigen zu locken, doch der Unwürdige kommt.«
Er brüllte es in die Kanzel des Gleiters: »Er kommt!«
Und in diesem Augenblick sah er den See. Seine Farbe war milchig-hellblau. In der Mitte des Sees war eine Insel von mindestens zehn Quadratkilometern Größe, in der sich erneut ein See befand und in ihm eine weitere Insel. Das Land Irminsul der Sage?
Der innere See war mehr eine Mulde aus weißlichen Kalkablagerungen. Die innere Insel erblühte in bizarrer Pracht: Eine seltsame Mischung von ineinander verflochtenem, morschem Gehölz, auf dem exotische Blüten wie Schmarotzer wucherten.
Auf dem Inselring zwischen Außensee und Innensee befanden sich mehrere steile, bis zu etwa einhundert Meter hohe Felsringe mit Tälern wie gewaltsame Einkerbungen.
Doch darauf achtete Arndt Soklund nicht mehr. Er war tiefer gegangen und hatte nur noch Augen für die innere Insel und deren Pflanzenbewuchs.
»Yggdrasil, ich habe dich gefunden!«
Eine schwarze Hand wischte sein Bewusstsein mit brutaler Härte hinweg, und er hatte nicht einmal mehr Zeit zu begreifen, dass dies alles nur eine Vision war und der Gleiter sich in Wirklichkeit immer noch über der Eiswüste befand – kurz vor dem tödlichen Absturz…
*
Gegenwart
Nestor Hagen, der ehemalige Sicherheitschef des zerschlagenen Konzerns WWF (World Wide Finance) hatte sich mit Survival-Spezialist Heiko Chan an Bord des Spezialgleiters als Pilot immer wieder abgewechselt. Bis sie ihr Ziel erreichten, nämlich die ewige Eiswüste der Antarktis.
Mit an Bord waren der Exterrorist Liberanto, alias Arndt Soklund, und Heikos Freund Don Jaime. Liberanto kümmerte sich die ganze Zeit über rührend um die kleine Lisa.
Das vierjährige Mädchen hatte sich inzwischen an alle gewöhnt, aber gegenüber Don Jaime hatte es eine besondere Zuneigung entwickelt. Zwar gab es sich überwiegend mit Liberanto ab, mit dem es die gemeinsame PSI-Begabung verband, aber zwischendurch hatte es sich mit Don Jaime angefreundet.
Heiko hatte das eher schmunzelnd verfolgt. Anfangs hatte Don Jaime nicht leugnen können, Probleme im Umgang mit Kindern zu haben. Er hatte selber nie welche gehabt, wie er bekannte, genauso wenig wie alle anderen an Bord. Aber dieses Defizit war ziemlich rasch überwunden.
Lisa war ja auch kein gewöhnliches kleines Mädchen. Sie behauptete immer noch, ihre verstorbene Mutter sei bei ihr, und wann immer sie irgendetwas nicht verstand, fragte sie deren Geist.
Liberanto hatte den anderen erklärt, dass seiner Meinung nach die Kleine im Augenblick des Todes irgendwie die Erinnerungen ihrer Mutter übernommen hatte. Aber ein vierjähriges Kind konnte die Gedanken eines Erwachsenen eben noch nicht begreifen. Deshalb projizierte sie diese Erinnerungen als den Geist ihrer Mutter.
Ob das wirklich so war oder ob der Geist des ehemals weltberühmten Mediums Maria Scott, geborene Gaapa, in irgendeiner Form »lebendig« geblieben war, das konnte niemand sagen, und Lisa durfte man nicht fragen, denn sie reagierte darauf äußerst empfindlich.
Letztlich war es allen egal. Sie nahmen Lisa und alles, was mit ihr zusammenhing, einfach als gegeben hin.
Dass sie überhaupt ihrer Mission beiwohnte, war auf ihren eigenen ausdrücklichen Wunsch hin erfolgt. Sie hätten sie schon mit Gewalt davon abbringen müssen, und genau das hätte keiner von ihnen über das Herz gebracht.
Aber sie war nicht etwa eine zusätzliche Belastung für die zusammengewürfelte Gruppe, die eigentlich nur deshalb zusammenhielt, weil die Umstände es erforderten, sondern auch eine echte Hilfe. Sie hatte nämlich die Begabung, sich gewissermaßen unsichtbar zu machen. Diese Tarnbegabung, wie Liberanto es nannte, teilte sie mit diesem. Gemeinsam waren sie bemüht, den Gleiter so zu tarnen, allein nur kraft ihrer Gedanken, dass die Besatzungsmacht der Kyphorer, die den ganzen Planeten im eisernen Griff hatte, sie unterwegs nicht bemerkte.
Liberanto hatte ihnen erklärt, dass es kein vollkommener Schutz sei. Falls sie unterwegs eine zufällige Begegnung haben würden, flögen sie auf. Allerdings war die Wahrscheinlichkeit, dass dies auf dem Weg von Südafrika bis zur Antarktis geschähe, äußerst gering.
Und jetzt waren sie hier, und es hatte keinerlei Störungen unterwegs gegeben. Beinahe hätten sie aufgeatmet, aber schließlich hatten sie die letzte Etappe noch nicht überwunden. Nestor Hagen hatte ihnen erklärt, was ihr eigentliches Ziel war: Nicht die vereiste Stadt, die Arndt Soklund damals Atlantis City genannt hatte, sondern in deren Nähe eine als Forschungsstation getarnte Bastion des Konzerns WWF, entstanden noch vor der Invasion durch die Kyphorer.
Seitdem war Liberanto klar, wieso die heimliche Konzernführerin Genieve Clouzot ihn hatte durch Nestor Hagen aus den Kerkern von Luna befreien lassen: Eben damit er mit diesem hierher flog. Allerdings hüllte sich Nestor Hagen in Schweigen, was die ursprünglichen Pläne anbetraf. Sie waren auch längst hinfällig, denn die Invasion der Kyphorer hatte wirklich alles geändert.
Liberanto kam nach vorn und fragte Hagen: »Du hast doch nur vom Mond fliehen können, weil du mit den Besatzern gewissermaßen gemeinsame Sache machtest, nicht wahr?« Es war eine rein rhetorische Frage, die keinerlei Antwort bedurfte. Deshalb fuhr er ohne Pause fort: »Aber fällt das nicht auf, wenn du so lange unerreichbar bleibst?«
Nestor Hagen lachte leise. »Nein, natürlich nicht. Ich habe entsprechend vorgesorgt.«
Liberanto verkniff sich eine weitere Frage in dieser Richtung, weil klar war, dass es darauf keine ehrliche Antwort geben würde.
Er unterdrückte den ausgeprägten Widerwillen, den er gegenüber Nestor Hagen empfand. Es war nicht förderlich in ihrer Situation, wenn sie sich gegenseitig ihre Abneigung zeigten. Er wandte sich wieder ab.
Da fiel ihm noch etwas ein. »Ist es eigentlich noch nötig, den Ortungsschutz aufrechtzuerhalten?«
Nestor Hagen überlegte kurz. Dann antwortete er: »Meines Erachtens: Nein! Ich wüsste nicht, dass die Antarktis überwacht wird. Ich meine, es gibt eine weltweite Überwachung, sowieso, aber für die Besatzer ist diese ewige Eiswüste völlig uninteressant. Sie wissen ja nicht, was wir wissen.«
»Zu wissen glauben!«, widersprach Liberanto.
»Wir werden sehen«, knurrte Nestor Hagen und konzentrierte sich wieder auf die Lenkung.
Liberanto nickte Lisa zu, die ihn mit großen, runden Augen beobachtete. Sie nannte ihn immer noch den »seltsamen Mann«, nicht mit seinem Namen. Obwohl sie nichts dagegen gehabt hatte, als er sie mit väterlicher Fürsorge vor ihrem Abflug bei Alt-Kapstadt getröstet hatte. Sie begegnete ihm nicht wirklich misstrauisch, aber irgendwie schien Liberanto ihr nicht ganz geheuer zu sein.
Sie richtete ihren Blick jetzt auf Don Jaime, auf dessen Beinen sie saß. Er lächelte sie an, und sie erwiderte sein Lächeln.
»Du bist kein böser Mann«, sagte sie leise. »Du bist ein guter Mann! Ich wollte, du wärst mein Papa. Ich glaube, meine Mama mag dich auch sehr. Es ist nur schade, dass du sie nicht sehen kannst, denn meine Mama ist eine ganz schöne Mama, wirklich.«
Don Jaime lächelte stärker. »Ja, ich weiß, Lisa, denn ich habe Bilder von deiner Mama gesehen, als sie noch als Medium ganz berühmt war.«
»Aber du darfst sie nicht mehr Hexe nennen!«
»Nein, natürlich nicht, weil ich weiß, dass deine Mama nicht nur eine wunderschöne, sondern vor allem auch eine gute Mama ist. Es ist mir egal, was andere über sie geschrieben haben. Ich mag deine Mama sowieso.«
Worte, die das Kind offensichtlich glücklich machten.
Lisa versuchte, ihn mit ihren kleinen Ärmchen zu umarmen, was natürlich nicht klappen konnte.
Er legte seine starken Arme um sie und drückte sie sanft.
Liberanto unterbrach die Idylle, indem er sagte: »Hast du gehört, Lisa, wir müssen die Tarnung nicht mehr länger aufrechthalten.«
Lisa wandte ihm das Gesicht zu und nickte. »Ja, ich weiß.«
»Aber ich spüre doch, dass du immer noch…«
»Jetzt nicht mehr!«, versicherte sie.
Liberanto meinte erstaunt: »Tatsächlich!«
»Und du … spürst so etwas?«, vergewisserte sich Heiko, der neben Don Jaime saß. »Ich jedenfalls konnte die ganze Zeit über keine Änderung feststellen.«
»Womit bewiesen wäre«, rief Nestor Hagen nach hinten, »dass du zwar ein überragender Survival-Spezialist bist, Heiko Chan, aber keineswegs ein PSI-Mensch.«
»Immerhin habe ich bis vor ziemlich kurzer Zeit nicht einmal für möglich gehalten, dass es so etwas wirklich geben könnte. Das war allerdings, bevor ich Lisa kennengelernt habe«, gab Heiko zu.
Prompt sah Lisa ihn an und fragte: »Magst du mich deshalb jetzt nicht mehr, Chef?«
»Du sollst doch nicht immer Chef sagen, sondern Heiko«, tadelte sie Heiko gutmütig.
»Ja, Chef!«
Er winkte ab. »Ach was, Lisa, wieso sollte ich dich deshalb weniger mögen? Du bist doch ein liebes Mädchen. Ich glaube, es bringt nur ein böser Mensch fertig, dich nicht zu mögen.«
Lisa schaute zu Nestor Hagen und sagte etwas Bedeutsames: »Es gibt auch böse Menschen, die mich mögen!«
Nestor Hagen tat so, als habe er es nicht gehört. Die anderen erschraken über diese Worte.
*
Der Fluggleiter landete bei der getarnten Forschungsstation.
»Es gibt wohl auch noch einen kleineren Gleiter im Hangar der Forschungsstation«, erläuterte Nestor Hagen missmutig. »So ist jedenfalls mein Kenntnisstand.«
»Ist die Station überhaupt besetzt?«, wunderte sich Heiko Chan, weil er nicht gesehen hatte, dass sich Nestor Hagen etwa per Funk ankündigen musste.
»Natürlich, aber die wissen schon, dass wir kommen. Wer sollen wir denn sonst sein? Und du weißt ja selber, dass auch geschützte Funkverbindungen nicht ungefährlich sind. Die Besatzer gehen zwar ziemlich nachlässig mit ihrer Besatzungswelt um, wie ich euch versichern kann, aber sie sind dermaßen überlegen, dass sie sich das durchaus leisten können.« Er zog plötzlich eine Waffe und zeigte sie den anderen. »Das beinhaltet auch solche Handfeuerwaffen. Es ist ein Blaster aus ihrem Arsenal. Es war gar nicht so leicht, ihn zu erbeuten. Verständlicherweise würde es den Kyphorern ganz und gar nicht gefallen, wenn sie davon wüssten. Ein Risiko, das ich mit dem Leben bezahlen könnte, aber ich ging es gern ein. Immerhin bin ich damit auch der Spezialanfertigung im Besitz von Liberanto überlegen.« Er steckte die Waffe genauso schnell wieder weg, wie er sie gezogen hatte.
Heiko Chan konnte er damit jedoch in keiner Weise beeindrucken. »Wie soll es jetzt weitergehen?«
Anstelle von Nestor Hagen antwortete Liberanto: »Ich ging eigentlich davon aus, dass wir direkt dorthin fliegen, wo es vielleicht eine Möglichkeit gibt, in die Tiefe zu steigen. In die Stadt selbst, das geht ja nicht. Das Eis verhindert es.«
»Wie hast du das eigentlich erzeugt?«, fragte Nestor Hagen und wandte sich ihm zu. »Ich weiß, dass es praktisch nicht zu knacken ist. Da sind Energien im Spiel, die niemand kennt. Seltsamerweise wurden bis jetzt die Kyphorer nicht darauf aufmerksam. Sonst könnten wir nicht hier sein. Sie können diese Energien also nicht orten.«
»Du wirst es erleben!«, wich Liberanto aus. Er deutete auf die Forschungsstation. »Was ist nun? Wollen wir hinüber? Und wie soll es dann weitergehen? Von hier aus werden wir keinen Zugang finden, fürchte ich.«
Nestor Hagen schaute sich in der Runde um. »Wir müssen ja nicht alle gehen. Vielleicht sollten nur wir beide …?« Er deutete in den Hintergrund des Gleiters. »Im Laderaum befinden sich Spezialanzüge für draußen. Wir sind schließlich in der Antarktis. Das wird kein Spaziergang, obwohl es sich nur um wenige Schritte handelt.«
Heiko Chan überlegte kurz. Dann fiel sein Blick auf Lisa. Diese erwiderte ihn mit ihren großen, schwarzen Augen.
Don Jaime enthielt sich seiner Meinung. Nur Liberanto hatte etwas zu sagen: »Ich gehe mit dir. Ich will wissen, wer oder was uns in der Forschungsstation erwartet. Wenn du schon nicht die Zähne auseinander machst, um uns über die Zusammenhänge aufzuklären…«
Der Seitenhieb saß, aber Nestor Hagen ignorierte ihn einfach. Er drückte einen Knopf. Der Laderaum öffnete sich.
Schweigend zogen er und Liberanto sich an. Sie stiegen über den Laderaum und die angeschlossene Schleuse nach draußen. Erst jetzt wurde ersichtlich, dass sich diese Schleuse dort befand. Dadurch ging im Innern des Gleiters keinerlei Wärme verloren.
Heiko schauderte es dennoch, wenn er nur nach draußen blickte. Aber er hatte gesehen, dass es im Laderaum noch weitere dieser Spezialanzüge gab. Wenn er also den Gleiter verlassen musste, brauchte er nur einen davon anzuziehen.
Nur für Lisa gab es natürlich keinen passenden Schutzanzug. Hieß das, dass sie auf jeden Fall an Bord bleiben musste?
Heiko schaute nach Don Jaime. Dieser schien gerade zu demselben Schluss gekommen zu sein, denn er sagte: »Keine Bange! Wenn es darauf ankommt, bleibe ich hier bei Lisa.«
Die Kleine sagte gar nichts. Sie schaute nur groß. Es war ihr nicht anzumerken, was sie von der Situation verstand.
*
Die beiden vermummten Gestalten staksten zur Forschungsstation hinüber und betraten dort die Schleuse, die sich ihnen bereitwillig öffnete. Der schneidende Wind, der Schneekristalle wie blitzende Nadeln vor sich hertrieb, machte ihren Spezialanzügen nichts aus. Trotzdem waren sie beide froh, in das schützende Innere zu gelangen. Die eisige Umgebung hatte nicht nur etwas Unwirtliches, sondern regelrecht Lebensfeindliches an sich.
Kaum hatte sich das Außenschott wieder geschlossen und das Innenschott geöffnet, gewann Liberanto den Eindruck, ein Raumschiff zu betreten.
»Scheiße!«, entfuhr es Nestor Hagen.
»Wieso?«, erkundigte sich Liberanto.
»Es ist noch gar keiner da. Wo, zum Teufel, bleiben die denn?«
»Wer?«
»Du wirst es sehen.«
»Was haben wir eigentlich vor? Ich fragte es schon einmal.«
»Erst einmal hier warten.«
»Auf was oder auf wen?«
»Herrgott, habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Ich habe meine Order, mein Lieber. Doch das sagte ich bereits. Lass dich einfach überraschen. Wie wär's?«
Liberanto schnitt eine Grimasse. Er folgte Hagen in die Zentrale.
Auch hier sah es eher aus wie in einem Raumschiff als in einer Forschungsstation. Sekundenlang erlag Liberanto der Illusion, dass es sich in Wahrheit sogar um ein Raumschiff handelte. Aber dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Klar, um hier draußen überleben zu können, musste eine Station so ausgerüstet sein. Vor allem konnte sie nicht starr montiert werden, denn das Eis befand sich ständig in Bewegung: Es floss. Zwar äußerst langsam, aber dem musste man Rechnung tragen. Wer wusste das besser als er, Liberanto? Hatte er nicht aus dem Hauptsitz seines ehemaligen Konzerns eine ganze Stadt werden lassen, die er Atlantis City genannt hatte?
Eine Stadt, die ebenfalls nicht völlig starr hatte bleiben können. Er hatte das Problem gelöst, indem er einen künstlichen See geschaffen hatte, nach einem bestimmten Vorbild…
Er sah zu, wie Hagen dem Gleiter, mit dem sie gekommen waren, ein Zeichen gab, damit Heiko Chan, Don Jaime und Lisa nicht ungeduldig wurden.
Liberanto lehnte sich zurück. Nachdenklich blickte er auf das Eis hinaus. Er sah vor seinem geistigen Auge die Stadt Atlantis City durch die riesige Eisdecke schimmern wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Gewiss hatten die Schergen von Mechanics alles versucht, den Eispanzer zu knacken. Viel Erfolg war ihnen offensichtlich nicht beschieden gewesen. Aber davon war er damals ausgegangen.
Nach einer halben Stunde des Schweigens deutete Hagen kurz hinaus. »Du warst doch unterhalb der Stadt Atlantis City, nicht wahr?«
»Klar«, entgegnete Liberanto einsilbig.
»Ich meine, du warst in der Stadt, auch nach der Vereisung – und vorher darunter, he?«
»Nur darunter!« Liberanto nickte.
»Na, wer wird denn so zugeknöpft sein?« Hagen gab sich redselig und freundlich. Wahrscheinlich hatte er einen Scherz machen wollen, aber Liberanto blickte nur gelangweilt drein.
Inzwischen hatte er schließlich reichlich Zeit gehabt, über seine persönliche Situation nachzudenken. Selbst wenn er sämtliche Ungereimtheiten wegließ, blieb immer noch die Frage, welche Chance er bei einer Flucht gehabt hätte.
Keine!, entschied er.