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»Was auch immer mir auf dieser Reise begegnet - jeder Moment, jede Begegnung zählt.« (Andrew Forsthoefel)
Viel Wissen hatte er angehäuft nach seinem College-Abschluss, vom Leben selbst wusste er aber nichts. Um das zu ändern, begann Andrew Forsthoefel direkt hinter dem Haus seiner Mutter eine Wanderung, die ihn 4.000 Meilen durch die USA führte. Auf seinem Rucksack ein Schild: Walking to listen. So machte er sich auf den Weg zu den Menschen und ihren Geschichten, durch ein Amerika der Vielfalt – landschaftlich wie menschlich.
Auf seine Fragen nach dem, was wirklich wichtig ist im Leben, erhält er vielfältige Antworten – philosophische, pragmatische, humorvolle, nachdenklich stimmende. Dieses außergewöhnliche und farbenreiche Porträt erlaubt einen ganz neuen Blick auf die Vereinigten Staaten.
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Seitenzahl: 554
Andrew Forsthoefel
4.000 Meilen durch die USA
Meine Reise zu den
großen Fragen des Lebens
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Monika Köpfer
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
© Andrew Forsthoefel, 2017
Originalausgabe: »Walking to Listen. 4.000 Miles Across America –
One Story at a Time«, Bloomsbury USA, 2017
Copyright © 2017 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Karte / Kartenausschnitte: © Peter Palm, Berlin
Umschlagmotiv: © privat
ISBN 978-3-641-20865-3V001
www.gtvh.de
Für meine Mutter, Therese Jornlin.
Es ist unmöglich aufzuzählen, was ich dir schulde,
daher kann ich dir nur danken.
Deine Gebete werden mich immer begleiten.
Inhalt
Prolog
»Denken Sie an mich.«
1. »Vertraue niemandem.«
2. »Ich glaube, du solltest dir besser einen anderen Job suchen.«
3. »Ich war in einer anderen Welt.«
4. »Du musst noch viel lernen.«
5. »Sie hat Sie noch eine ganze Weile am Wickel.«
6. »Warum interessieren Sie sich wirklich für die Geschichten anderer Menschen?«
7. »Man hat keine Kontrolle mehr über sich, darüber, ob man weiterlebt oder stirbt.«
8. »Du kannst nur bis zu einem gewissen Punkt high werden.«
9. »Auch du wirst viel trauern müssen.«
10. »Ich habe keine Ahnung, wo ich hin soll, aber hier bleibe ich jedenfalls nicht.«
11. »Und das ist real.«
12. »Ich denke immer an den großen Tag, der da kommen wird …«
13. »Schlaf schön.«
14. »Für Angst ist kein Platz.«
15. »Eigentlich machen Sie nichts anderes, als ein Buch zu lesen, halt nur mit den Füßen.«
16. »Dann würdest du alles stehen und liegen lassen und sofort nach Hause zurück wollen.«
17. »Ich spar ihn mir lieber auf, dann habe ich länger was davon.«
18. »Dieses Gefühl, dieses kleine Wesen ist dein eigen Fleisch und Blut, unglaublich!«
19. »Sie werden schon merken, wenn es soweit ist.«
20. »Schau genau hin.«
21. »Die Zeit vergeht wie im Flug.«
22. »Er ist glücklich damit, ein Stein zu sein.«
23. »Wir haben auf Sie gewartet.«
24. »Wie stellst du dir das perfekte Leben vor?«
25. »Ich hoffe, Sie finden, wonach Sie suchen.«
26. »Man vergisst mit der Zeit.«
27. »Deine Wanderung wird weitergehen.«
Danksagung
Vorbemerkung des Autors
Während meiner Wanderung quer durch die Vereinigten Staaten habe ich 85 Stunden lang Interviews geführt, auf denen der Großteil der in diesem Buch enthaltenen Dialoge basiert. Viele Gespräche konnte ich im Lauf meines Fußmarsches jedoch nicht aufzeichnen, kurze Gespräche, die viel zu schnell abliefen, um festgehalten zu werden, oder Begegnungen, die den Gebrauch eines Aufnahmegeräts aus verschiedenen Gründen ausschlossen. Auch einige dieser Momente habe ich szenisch in diesem Buch dargestellt, indem ich mithilfe der Notizen in meinem Reisetagebuch das jeweilige Gespräch rekonstruierte. Bei allen Dialogen habe ich meine Bearbeitung der einzelnen Stimmen auf das Nötigste beschränkt und versucht, mich an das zu halten, was die Menschen gesagt und wie sie es gesagt haben.
Bis auf folgende Ausnahmen habe ich in den meisten Fällen die richtigen Namen benutzt: »Dan«, »Frank«, »Simon«, »Don«, »Mae«, »Eric«, »Manny«, »Jay«, »Maia«, »Veronica«, »Bea«, »Mayor Rousseau«, »Phil« und »Henry«.
Nun will ich nichts tun als lauschen,
um aufzufangen in diesem Gesang,
was ich höre, um Laute herbeizulocken für ihn.
Walt Whitman
Du, gestern Knabe, dem die Wirrnis kam:
dass sich dein Blut in Blindheit nicht vergeude.
Rainer Maria Rilke
War ich es, der sprach? War ich nicht auch ein Zuhörer?
Kahlil Gibran
Prolog
»Denken Sie an mich.«
Die Hügel des nordöstlichen Georgias schimmerten im Morgengrauen meergrün, wie aufgereiht an dem schwarzen Faden der Fernstraße. Wieder befand ich mich auf dieser Straße, schritt allein durch die winterliche Landschaft, schmutzig und weit weg von zu Hause, ohne die geringste Ahnung, was vor mir lag. Aber an diesem Tag schien das völlig okay zu sein. Das hier war auf gewisse Weise auch eine Art Zuhause, dieses Gefühl der Vertrautheit, dass ich tatsächlich dorthin gehörte, wo ich mich gerade befand. Es wurde beständiger, dieses Gefühl, und mit jedem weiteren Tag, den ich unterwegs war, glaubte ich ein bisschen mehr daran. Vielleicht würde ich eines Tages unerschütterlich sein, eine Art Wissen besitzen, das über diesen Glauben hinausging. Ich wanderte eine weitere Meile in der ungewöhnlich warmen Dezemberluft und noch eine und noch eine, und es fühlte sich an, als würde ich von zwei riesigen Händen gehalten werden – über mir der Himmel und rings um mich herum die fruchtbare Erde. Es kostete mich keine Anstrengung an diesem Morgen, ich ließ mich einfach treiben. Wer bin ich heute?, fragte ich mich. Wer will ich sein? Die Antwort hätte alles sein können, so groß war der Raum um mich herum, so groß das Unbekannte.
Ich war nun schon seit zwei Monaten auf Wanderschaft, aber es war, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Alles, was davor war, verschmolz mit meinen Schritten: meine Kindheit, kaum mehr als ein Flüstern und ein paar Erinnerungsblitze; meine Pubertät, eine verschwommene Tünche durchzogen von einem grellen Wischer, der Scheidung meiner Eltern; College-Erinnerungen wie aus einer fernen Vergangenheit, von einem Vorfahren oder anderen längst Verstorbenen an mich weitergereicht; und dann mein zum Scheitern verurteilter Job auf dem Hummerboot, eine wie zu später Stunde erzählte Geschichte, die ebenso gut ein Traum hätte sein können. Alles fühlte sich weit entfernt an, beinahe vergessen. Nur die Autos waren jetzt nah und die Lastwagen, und wenn mir einer zu nahe käme, würde er mich töten. Der von ihnen erzeugte Fahrtwind, riesige unsichtbare Zungen, die mich von früh bis spät wieder und wieder im Vorbeifahren leckten.
Ungefähr um acht Uhr morgens landete ein handgeschriebener Liebesbrief auf meiner Schulter, Fernstraßenabfall. Ich hob ihn auf und las ihn. »Lieber Caleb, herzlichen Glückwunsch zu unseren zwei Monaten! Ich liebe dich sehr! Es ist echt großartig mit dir. Ich bin sicher, wir werden noch jede Menge großartige Dinge zusammen erleben.«
Das war etwas, worüber ich nachdenken konnte. Nicht, dass ich es gebraucht hätte. Es gibt viel, worüber man nachdenken kann, wenn man den lieben langen Tag allein an der Fernstraße geht. Ich neige seit jeher dazu, über Menschen zu grübeln – die Menschen, denen ich bislang begegnet war, die Menschen, die ich liebte. Und über Essen. Ich dachte viel an Essen. Aber nun dachte ich über Caleb und seine Freundin nach und darüber, dass zwei Monate ein ganzes Leben sein können, wenn man verliebt ist oder quer durch ein ganzes Land wandert, und dass alles so schnell geht, bis keine Wegstrecke mehr übrig und es auch schon wieder vorbei ist. »Du bist mein Ein und Alles. Ich sitze hier und vermisse dich wie immer. Ich hoffe, dir geht es genauso.« Was einmal ein Liebesbrief war, war jetzt Abfall, der sich bald in Erde zurückverwandelt haben würde. Darin unterschied er sich kaum von mir: geboren, um zu vergehen. Ich legte den Liebesbrief auf das Gras zurück. Es erschien mir nicht richtig, ihn zu behalten.
Die vorige Nacht hatte ich in einer Scheune zugebracht, die einer Geflügelfarmerin namens Diane gehörte. Ihr kieferngesäumtes Haus lag am Ende einer langen unbefestigten Auffahrt. Eine Reihe bunter Weihnachtszuckerstangen wies mir den Weg zur Eingangstür. Es war kurz vor Einbruch der Dunkelheit als ich anklopfte, und wie immer wurde mein Atem flach. Wer wird öffnen? Das war der schwierigste Teil, einen sicheren Ort zum Übernachten zu finden. Werden sie mich anschreien? Die Hunde herausrufen? Eine ältere Frau öffnete die Tür. Ich redete gleich drauflos, damit sie mir nicht sofort die Tür vor der Nase zuschlug.
»Hallo, ich heiße Andrew. Ich gehe zu Fuß durch Amerika und lasse mir von den Menschen ihre Geschichten erzählen. Vor zwei Monaten bin ich in Pennsylvania aufgebrochen, und ich habe vor, bis nach Kalifornien zu wandern. Ob Sie mir wohl erlauben würden, auf Ihrem Vorplatz zu zelten?«
Ich versuchte immer so zu tun, als wäre nichts Ungewöhnliches daran, wenn ein Fremder abends an jemandes Tür klopfte – 2011 wohlgemerkt. In einer Zeit, in der man online mit anderen Menschen in Kontakt trat, sicher vor physischer Verletzbarkeit. Aber mit Fremden in der wirklichen Welt zu interagieren, jenseits des Reichs oberflächlicher Floskeln, war eine vom Aussterben bedrohte Erfahrung. Vielleicht wird sie eines Tages gänzlich ausgerottet sein, und wir müssen nie mehr die Unsicherheit empfinden, die ich in diesem Moment empfand, diese Nacktheit. Nie fühlte ich mich so unbehaglich, wie wenn ich an eine fremde Tür klopfte, aber zugleich auch nie so lebendig, elektrisiert von der unbekannten Welt auf der anderen Seite, die darauf wartete, sich mir bekanntzumachen, sobald die Tür aufging, und das konnte jeden Moment passieren. Verhalte dich einfach normal. Lächle. Diesmal funktionierte es. Diane, die noch immer in der Tür stand, sagte, okay, ich könne auf dem Rasen vor dem Haus zelten.
Auf der Zeltwand zerflossen die rotweißen Streifen der Weihnachtszuckerstangen wie Wasserfarben. Das winterliche Gras unter mir war weich, die Nachtluft beinahe warm. Meine Anspannung löste sich allmählich – der Stress, der damit einherging, den ganzen Tag auf einer Fernstraße zu wandern, der Muskelkater –, doch plötzlich rief Diane von draußen nach mir.
»Andrew? Sind Sie da drin? Tut mir leid, aber Sie können doch nicht hier übernachten.«
Ich streckte den Kopf hinaus, und Diane erklärte mir, sie habe ihren Mann angerufen, um ihm von mir zu erzählen, und er habe diese Nachricht gar nicht wohlwollend aufgenommen. Er wolle, dass ich umgehend das Grundstück verlasse.
»Früher war er nicht so«, sagte Diane. »Er ist ein Veteran, müssen Sie wissen, und seine Erfahrungen in Vietnam haben ihn argwöhnisch gemacht. Wahrscheinlich hat er Angst, Sie könnten heute Nacht ins Haus einbrechen und ihn in Stücke schneiden.«
Ich hasste es, dermaßen verkannt, als eine Art Bedrohung wahrgenommen zu werden. Im Grunde hätte es nur eines winzigen Maßes an Offenheit bedurft, eines Austauschs weniger Worte, und schon hätten ihr Mann und ich uns ohne Angst begegnen können. Diese Erfahrung hatte ich schon häufig mit Fremden gemacht, seit ich von zu Hause aufgebrochen war. Aber diesmal sollte es nicht so sein, und ich konnte es dem Mann nicht verübeln. An die Tür eines Fremden zu klopfen ist nicht einfach, aber die Tür einem Fremden zu öffnen erst recht nicht. Und diesen Fremden dann auf dem Rasen vor dem eigenen Haus nächtigen lassen? Oder gar auf der eigenen Couch, während die Kinder im Zimmer daneben schlafen und der liebste Mensch neben einem, hilflos und ohnmächtig im Schlaf? Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich hereingelassen hätte. Und konnte es kaum glauben, dass es schon so viele Menschen getan hatten.
Diane war das Ganze peinlich. Sie bot mir an, mich zu einer Scheune zu fahren, die eine Meile weiter in der Richtung lag, aus der ich kam. Ich ging nach Westen, daher würde ich am nächsten Tag eine Meile mehr gehen müssen, aber das war mir egal. Ich baute mein Zelt ab, und während ich meinen Rucksack auf dem Rücksitz von Dianas Wagen verstaute, machte ich mich darauf gefasst, dass ihr Mann gleich die Auffahrt heraufgebraust käme, aber das tat er nicht.
Die Scheune stand direkt neben der Straße. Diane ließ mich aussteigen und fuhr wieder davon. Ich setzte mich ins Stroh und fühlte mich in der dunklen warmen Nacht geborgen. Meine Anspannung löste sich, während die Autos ungefähr im Abstand von einer Minute an mir vorbeiflogen. Ich war den ganzen Tag gegangen, und jetzt konnte ich ausruhen. Ich war bereits etlichen Gefahren ausgesetzt gewesen, aber jetzt war ich unsichtbar, geschützt. Plötzlich, unerwartet, fühlte sich alles einfach und zutiefst schön an: der Mond, die Scheune, die Bananen, die mein Abendessen waren. Irgendwie behagten mir selbst der Schweiß und Schmutz auf meiner Haut. Woher kam dieser zarte Frieden? Wie konnte ich ihn bewahren? »Zufrieden«, schrieb ich in mein Tagebuch. »Ich kann es nicht erklären, warum, aber ich bin unglaublich zufrieden.« Ein Vers aus Walt Whitmans Gedichtband Grashalme kam mir in den Sinn: »Ich kann mir nicht erklären, warum ich so zufrieden bin … und doch ist es so, / Ich kann mein Leben nicht beschreiben … und doch ist es so.«
Mein Atem ging gleichmäßig. Ohne mein Zutun. Alles geschah einfach so, und ich dachte, vielleicht bräuchte ich gar nicht mehr werden, als ich schon war. Dass alles von allein geschehen würde, wie mein Atmen. Dass es schon passierte. Während ich im Stroh saß, war klar, dass es keinen anderen Ort als diesen gab, an dem ich hätte sein können, und dass es nichts anderes zu tun gab als das hier – zu atmen und die Nacht zu erleben, allein und doch auch nicht allein.
Dieses Gefühl dauerte nicht an. Am nächsten Morgen wachte ich unruhig auf und konnte es nicht erwarten weiterzugehen, wohin genau, wusste ich nicht, nur, dass das Ziel weit weg schien.
Nach ein, zwei Stunden gelangte ich in die Kleinstadt Royston, wo ich mit meinem Freund Penn zum Frühstück in einem Diner verabredet war. Er war der erste meiner alten Freunde, den ich, seit ich von zu Hause losgegangen war, treffen würde, und ich freute mich sehr darauf. Während wir in unserer Nische frühstückten, lachten wir viel so wie früher in der Highschool, und ich bekam eine Ahnung davon, wie es sein könnte, würde ich diese Wanderung mit einem anderen Menschen unternehmen, statt allein. Es tat weh, ihm nachzublicken, als er wieder wegfuhr.
Dennoch fühlte sich die Einsamkeit wichtig an. Sie machte mir Angst, aber genau deshalb hatte ich mich dafür entschieden. Ich wollte keine Angst vor dem haben, den ich mein Leben lang am Hals haben würde: mir selbst. Viel lieber wollte ich Freude daran haben, und deshalb, schien es mir, müsste ich ihn richtig gut kennenlernen. Einsamkeit war dafür die beste Möglichkeit.
Am Stadtrand von Royston hielt mich ein alter Mann auf dem Gehsteig vor seinem Antiquitätenladen auf. Er hatte goldene Backenzähne. Ein rotes Poloshirt spannte sich um seine breite Brust – in seinen besten Jahren musste er ein Bulle von Mann gewesen sein –,sein schlohweißes Haar war ordentlich zurückgekämmt.
»Wohin des Weges?«, fragte er mich und deutete mit einem Nicken auf meinen Rucksack.
Ich erwiderte, ich würde immer weiter Richtung Westen gehen, wahrscheinlich quer durch die Vereinigten Staaten, aber ganz sicher sei ich mir noch nicht. Ich zeigte ihm das Schild an meinem Rucksack mit der Aufschrift »Walking-to-Listen« – »Gehen, um zuzuhören« und erklärte, dass ich die Geschichten und Ratschläge von den Menschen sammelte, denen ich auf meinem Weg begegnete. Der alte Mann war fasziniert, und wir unterhielten uns eine geraume Weile auf dem Gehsteig. Ich genoss die Unterhaltung sogar noch mehr als das Frühstück vorher, Essen für eine Seele, die nach Gesellschaft lechzte, seit Penn weg und ich wieder allein war, und für Letzteres war ich noch nicht bereit. In der letzten Nacht war die Einsamkeit unglaublich befriedigend, aber jetzt bescherte sie mir eine leise Panik. Das passierte mir hin und wieder, wenn ich mich danach sehnte, mit jemandem zu reden oder einfach nur zuzuhören; egal wem. An diesem Morgen war es dieser alte Mann. Wir sprachen über nichts Bestimmtes, aber das war in Ordnung, es ging mir nicht wirklich um den Inhalt. Einfach um das Zusammensein – zwei Amerikaner in einer Kleinstadt in Georgia; zwei Menschen auf einem großen, blauen Planeten; zwei Erdlinge in einem riesigen Kosmos.
Als ich meine Wanderung quer durch die Vereinigten Staaten begann, wusste ich nicht, wohin ich gehen würde, wie lange ich unterwegs sein oder was alles passieren würde. Ich wusste nur, wie ich zu meinem unbekannten Ziel gelangen würde: durch Gehen. Und ich wusste, warum ich zu Fuß ging: Ich wollte erfahren, was es wirklich hieß, erwachsen zu werden, mich in den Erwachsenen zu verwandeln, der mich durch mein restliches Leben tragen würde. Diesem Menschen wollte ich begegnen. Wer war er? Was wusste er? Wie würde er schließlich er selbst werden, und wohin gehörte er?
Manchmal fühlte sich diese Suche besonders dringend an. Ich war 23. Bald würde ich 24 sein und dann 43, und ich hatte keine Ahnung, wie ich dorthin gelangen würde, obwohl ich ja schon dorthin unterwegs war. Die Möglichkeit zur Umkehr gab es nicht. Ich brauchte Informationen und Erfahrung, eine Art Steuerrad, das mir bei meiner Navigation helfen würde, egal, was vor mir lag.
Ich trug das Walking-to-Listen-Schild, weil ich hoffte, die Menschen würden mir helfen, mich durch meine Fragen zu geleiten. Jeder würde auf gewisse Weise mein Lehrer sein. Die Wanderung sollte eine Initiation ins Erwachsensein sein, worin ich mich immer noch nicht zu Hause fühlte. Ich hatte ein Aufnahmegerät mitgenommen, um aufzuzeichnen, was die Menschen mir zu sagen hatten. Immer wieder fragte ich: »Was würden Sie Ihrem 23-jährigen Selbst sagen?« Ich dachte, wenn ich gut voranschritte und gut zuhörte, hätte ich eine gute Chance, herauszufinden, was ich wissen wollte. Ich war mehr als eine Million Schritte gegangen, um nach Royston, Georgia, zu gelangen, und ich würde noch viele Millionen Schritte gehen, wenn es sein musste.
Als ich mich von dem Mann verabschieden wollte, bat er mich, kurz zu warten. Er eilte in seinen Laden und kam ein paar Sekunden später mit einem glänzenden Spazierstock zurück, der aussah wie aus dunklem Bernstein. »Er ist robust«, sagte er. »Aus Hickory-Holz. Damit können Sie sich lästige Hunde vom Leib halten.« Er hielt ihn mir hin. »Behalten Sie mich in Erinnerung.«
Ich stellte mir vor, wie der alte Mann an diesem Morgen im Dämmerlicht aufgewacht und mit einer Tasse dampfendem schwarzen Kaffee auf seine Veranda hinausgegangen war. Im Geiste sah ich ihn schweigend auf die winterliche Hügellandschaft blicken. Mit welchen Gedanken erwachte er morgens? Vielleicht hatte er das Gefühl, dass er vor nicht allzu langer Zeit noch ein junger Mann war und dass alles furchtbar schnell vergangen und so vieles in Vergessenheit geraten war. Vielleicht dachte er, dass auch er vergessen würde.
Sein Name war Ernest Jackson. Vier Jahre später erinnere ich mich an ihn, aber sein Bild ist schon fast verblasst. Es wird immer verschwommener vor meinem geistigen Auge, und bald werde ich mich nicht mehr erinnern, wie er ausgesehen hat. Dieses Vergessen beunruhigt mich – dieses »Auf Wiedersehen«, das bereits im »Hallo« enthalten ist, das unvermeidliche Gehenlassen, das Sterben, das das Leben erst möglich macht. Also besser, ich erinnere mich an alles, solange ich noch kann, vor allem an all diese Menschen, denen ich auf meiner Wanderschaft begegnete, und an die, die vor mir waren und nach mir kommen werden. Indem ich mich an sie erinnere, erinnere ich mich an mich selbst – wie sie dazu beigetragen haben, mich zu formen, und wie wir einander selbst jetzt, in diesem Moment formen. Ich erinnere mich, wie unmöglich es ist, wirklich allein zu sein, dass nichts ganz allein für sich existiert. Ich erinnere mich, dass ich nichts bin, wenn ich nicht mit all diesen Menschen verbunden bin und mit Ihnen, wer immer Sie sind, und dass wir alle einen gemeinsamen Weg haben, ob es Ihnen gefällt oder nicht, und dass dies zu leugnen eine weitere Art des Vergessens ist. Aber vielleicht ist das Vergessen Teil des Erinnerns. Denn wie kann ich mich erinnern, wenn ich zuvor nicht vergessen habe?
»Behalten Sie mich in Erinnerung«, sagte Ernest Jackson, und das will ich hiermit tun. Mich erinnern.
Kevon Jornlin, Gebietsverkaufsleiter von Wells Fargo und einer meiner Onkel, am Küchentisch im Haus meiner Mutter
Chadds Ford, Pennsylvania, kurz vor meinem Aufbruch
Oktober
»Du kannst unterwegs in der Wildnis zur Not auch Maden essen, weißt du. Die haben viel Protein. Und deinen eigenen Urin trinken. Damit du nicht austrocknest. Ich würde jedenfalls lieber Maden essen und meinen Urin trinken, als umzukommen.«
1. »Vertraue niemandem.«
Ich ging auf den Bahngleisen in der Nähe von Kennett Square, Pennsylvania, da sah ich in der Ferne vier Männer auf den Gleisen sitzen. Ich blickte mich um: im Norden Wald, im Süden brachliegendes Industriegelände, sonst weit und breit niemand zu sehen, niemand, den ich um Hilfe hätte rufen können. Was sind das für Typen, die außerhalb einer Kleinstadt auf Bahngleisen herumhängen? Zwei Gehstunden und sieben Meilen von zu Hause weg würde ich ausgeraubt, erschossen und hier liegengelassen werden, ob tot oder nicht. Das schien mir ziemlich sicher. Vielleicht sollte ich umkehren, dachte ich, aber meine Füße gingen einfach weiter.
Auf diesen Bahngleisen war ich losgewandert, denn sie führten hinter unserem Haus vorbei, und ich hatte vor, ihnen 25 Meilen bis nach Maryland zu folgen. Das war besser, als auf der Straße zu gehen. An meinem ersten Tag war ich noch nicht bereit für die Straße. Zu viele Gefahren. Zu viel Lärm. Währenddessen schlängelten sich die Bahngleise durch eine ruhige Märchenwelt – durch Wälder, Farmland und an Vorstadthinterhöfen vorbei. Nur hin und wieder zerriss ein Güterzug die Stille, der jedoch so langsam fuhr, dass ich fast neben ihm herlaufen konnte. Es hatte sich gut angefühlt, hier meine Wanderung zu beginnen. Selbst die Industriebrache vor den Toren der Stadt hatte bis jetzt friedlich gewirkt – bis ich diese vier Männer vor mir erblickte. Einer bemerkte mich ebenfalls, und dann drehten auch die anderen drei die Köpfe in meine Richtung. Mist.
Nicht ganz zwei Stunden zuvor war mir Bob, der Vermieter meiner Mutter, im Wagen nachgefahren, um mich von meinem Vorhaben abzubringen. Als er einige Meter entfernt an den Straßenrand fuhr, hatte ich ihn zunächst nicht erkannt. Vermutlich jemand, der mein Walking-to-Listen-Schild an meinem Rucksack bemerkt hatte, dachte ich. Allem Anschein nach wollte er mir etwas Wichtiges mitteilen, denn er bahnte sich einen Weg durch das dichte Unterholz, um zu mir zu gelangen.
Dann sah ich, dass es Bob war – Motorradfahrer, Inhaber einer kleinen Baufirma, Veteran der Polizei von Philadelphia. Er hatte einen Spitzbart und blickte wie immer grimmig drein. Bob hatte einen alten Wohnwagen in unserem Hinterhof stehen – seinem Hinterhof, im Grunde –, und oft hielt er sich dort auf, machte sich zwischen kaputten Maschinen zu schaffen und stapelte immer mehr Äste auf einen Haufen, den er eines Tages verbrennen wollte. Meistens winkten wir einander nur kurz zu, ohne viel zu reden.
»Hallo, Bob«, sagte ich, als er zu mir auf das Gleis trat. »Was für ein Zufall.«
»Nein, kein Zufall«, erwiderte Bob. Er klang wie gewöhnlich recht finster. »Deine Mutter ist am Boden zerstört. Du musst das hier doch nicht tun.«
Ich blickte auf seine Füße hinab, unsicher, ob ich ihm für sein Kommen danken oder mich entschuldigen sollte. Stattdessen beließ ich es bei einem vagen »Hmm.«
»Das, was du da vorhast, kann sechs Monate oder auch nur sechs Stunden dauern, weißt du.« Er sah mich unverwandt an. Vielleicht handelte er aus einer Art väterlichem Verantwortungsgefühl heraus, weil mein eigener Vater nicht da war und mich nicht von meinem Plan abbringen konnte. Er wohnte am anderen Ende von Pennsylvania, sieben Fahrstunden entfernt. Ich sah ihn nur noch wenige Male im Jahr.
»Ich weiß«, sagte ich zu Bob. »Wir werden sehen, was passiert.«
»Hast du ein Messer dabei?« Ehe ich seine Frage beantworten konnte, fischte er ein schweres Winchester-Taschenmesser aus seiner Jackentasche.
»Hier, nimm das. Du bist jetzt ganz auf dich gestellt. Vertraue niemandem.«
Ich erwiderte nicht, dass es bei meinem Vorhaben genau darauf hinauslief, den Menschen zu vertrauen, ihnen zuzuhören; mich von ihnen abzuschotten wäre kontraproduktiv. Aber ich dankte ihm nur und meinte, ich würde unterwegs an ihn denken.
»Denk nicht an mich«, sagte er. »Denk an deine Mutter.«
Als ich jetzt, sechs Meilen später, außerhalb von Kennett Square auf die vier Männer zuging, tastete ich nach Bobs Messer in meiner Jackentasche. Vielleicht würde ich es ja doch benutzen müssen. Abgesehen vom Wrestling-Unterricht in der Highschool, hatte ich noch nie mit jemandem gekämpft. Und obwohl damals durchaus so etwas wie ein urzeitlicher Kampfinstinkt im Spiel war, gab es einen Schiedsrichter, außerdem trugen die Wrestler glitzernde Hemden, die eher an Turner denken ließen. In einem Gymnastiktrikot fällt es einem ziemlich schwer, den nötigen Kampfgeist zu entwickeln. Aber das hier war etwas anderes. Würde ich tatsächlich mit dem Messer auf einen dieser Kerle einstechen, wenn es darauf ankäme?
Körperlich war ich noch frisch und bereit, die Flucht zu ergreifen; noch hatte ich keinen Muskelkater. Nur merkwürdig fühlte sich alles an. Mein Rucksack wog an die 50 Pfund, und dieses Gewicht hing jetzt an meinem Rücken. Aus einer Seitentasche hing ein schlabbriger Trinkbeutel. Mein Kochtopf schwang mit jedem Schritt hin und her und schepperte gegen den Blechbecher. Meine Mandoline verrutschte immer wieder. Auf der rechten Seite stach mir eine kleine amerikanische Flagge in die Hüfte und auf der linken eine Erdflagge. Ich kam mir wie ein Clown vor, wie ein Möchtegern-Bergsteiger, der durch einen Randbezirk von Philadelphia stapft. Ich hatte keine Ahnung, was ich hier tat. Und die vier Männer sahen mir das ganz offensichtlich an.
Auf den letzten Metern starrten mich alle vier schweigend an, während ich mich ihnen näherte. Einer hatte einen großen Schmerbauch, zwei hatten Schnurrbärte. Sie waren Latinos und möglicherweise obdachlos, und plötzlich war ich mir meiner hellen Hautfarbe überaus bewusst und dass meine Bewegungsfreiheit hauptsächlich darauf gründete. Und meine geistige Freiheit auch. Was für einen Unterschied würde es machen, wäre ich jemand mit einer anderen Hautfarbe und würde in die Ungewissheit der amerikanischen Weite hinausmarschieren? Oder eine Frau? Nicht, dass es unmöglich gewesen wäre. Vielleicht war die berühmteste aller Personen, die zu Fuß die USA durchquert hatten, sogar eine Frau – Mildred Normann, auch bekannt als »Peace Pilgrim«, die Friedenspilgerin –, und einer meiner Helden, John Francis, der »Planetwalker«, war ein schwarzer Umweltschützer, der 22 Jahre lang gegangen war, 17 davon unter einem Schweigegelübde. Auf dem College hatte ich eine Vorlesung von Dr. Francis über seinen langen Marsch gehört, die mich unter anderem zu meinem eigenen Abenteuer inspiriert hatte. Man musste gewiss kein Weißer sein, um im Jahr 2011 quer durch Amerika zu wandern, aber jeder, der nicht mit Blindheit gegenüber den Vorurteilen in diesem Land geschlagen war, musste erkennen, dass es half, ein Weißer zu sein. Noch bevor ich von zu Hause losgegangen war, hatte sich das Privileg, in der Haut eines weißen Mannes zu stecken, positiv auf meine Psyche ausgewirkt: Ich wurde nicht von Albträumen geplagt, in denen ich auf der Straße vergewaltigt oder entführt wurde; ich war nicht vor Angst gelähmt – vor der Polizei oder vor Horden von Amerikanern, die noch immer die konföderierten Flagge schwenkten. Klar, ich würde auf meiner Wanderung nicht vor Gewalt gefeit sein, aber ich hatte gute Chancen, sie heil und erfolgreich zu überstehen, darauf vertraute ich irgendwie. Das war der Rassismus und Sexismus heutiger Prägung – diese versteckte, aber überwältigend einseitige Verteilung der Privilegien. Was bedeutete das? Es bedeutete, dass es noch einige Generationen nach mir brauchte, bis ein männlicher Schwarzer so unbeschwert von zu Hause losgehen konnte wie ich, oder bis eine junge Frau furchtlos und frei auf einer Fernstraße dahinspazieren konnte. Wo war dieses Amerika? Das, welches ich mich soeben zu durchqueren aufgemacht hatte, war es jedenfalls nicht, so sehr ich es mir auch wünschte.
Gleichzeitig konnte meine helle Haut mich an manchen Orten natürlich auch zur Zielscheibe machen. Und das hier war womöglich ein solcher Ort, die Bahngleise außerhalb einer Kleinstadt, auf denen ich mich diesen Latinos näherte. Ich fragte mich, ob diese Männer womöglich keine Weißen wie mich mochten. Was dachten sie, während ich auf sie zukam?
Ich nickte ihnen zu und sagte »Hallo«. Die Männer wirkten verwirrt. Ich sicherlich auch. Vielleich sogar klinisch verwirrt. Eine Sekunde standen wir wortlos da und sahen einander an, dann fragte mich einer der Männer mit schwerem Akzent: »Was machen Sie hier?«
Ich erwiderte, ich würde Amerika durchqueren. Was in meinen Ohren lächerlich klang, schließlich hatte ich noch keine zehn Meilen zurückgelegt, aber das wussten sie ja nicht. »Unterwegs lasse ich mir von den Menschen ihre Geschichten erzählen«, fuhr ich fort, »daher das Motto Walking to Listen.« Ich deutete auf mein selbstgebasteltes Schild, als würde mir das irgendeine Art von Glaubwürdigkeit verleihen.
Sie schienen indes nicht überzeugt zu sein. Der Mann, der die Frage gestellt hatte, sah einen seiner Kumpel an, der auf einem Stoß Bahnschwellen saß. Er sagte etwas auf Spanisch – zweifelsohne mein Todesurteil –, woraufhin der Typ auf den Bahnschwellen in einer Plastiktüte neben sich zu kramen begann. Vielleicht sollte ich jetzt besser gehen, dachte ich.
Doch bevor ich wegrennen konnte – oder besser gesagt weggehen, denn rennen konnte ich mit meinem Rucksack nicht –, brachte der Kerl eine ungeöffnete Schachtel Plätzchen und ein Apfelsaft-Päckchen zum Vorschein. Er hielt mir beides hin und forderte mich auf, mich neben ihn auf die Bahnschwellen zu setzen. Ich tat das, und die anderen drei gesellten sich zu uns. Sie hießen Martín, Sergio, Pedro und Gabriel. Ich spielte etwas auf meiner Mandoline, dann holte Martín eine kleine Wodkaflasche heraus und ließ sie reihum gehen.
»Hast du eine Kreditkarte dabei?«, fragte Martín irgendwann.
»Ja«, sagte ich, »Bargeld habe nur wenig mitgenommen.«
»Gut, sonst wir dir wegnehmen«, sagte er in schlechtem Englisch. Er tat, als zielte er mit einer Pistole auf mich. »Aber wir nicht so. Freunde, wir sind Freunde.«
Irgendwie fühlte sich die Szene surreal an. Seit ich mich erinnern kann, wollte ich diese Geschichte schon erleben, in der ein Reisender ins Unbekannte aufbricht, mit nichts als einem Rucksack, und unterwegs Fremde trifft und mit ihnen sein Brot teilt, während er sich von ihnen ihre Lebensgeschichten erzählen lässt, ehe er seine Reise ins Unbekannte fortsetzt. Es war eine uralte menschliche Erfahrung, die des Pilgers, aber als Mensch, der kurz vor der Jahrtausendwende geboren war, fühlte es sich wie eine verlorengegangene Tradition an. Wander- oder Pilgerschaften waren in der amerikanischen Mittelschicht nicht weit verbreitet. Sie bedurften eines Katalysators, einer existentiellen Dringlichkeit oder einer ausgeprägten Neugier, die ein auf permanenten Komfort und Konsum ausgerichteter Lebensstil unterdrückte. Ich hatte es ebenfalls sicher und komfortabel genug gehabt. Es hatte einen Grund dafür gegeben, mich auf Wanderschaft und die Suche nach meinem persönlichen Glück zu machen, befand ich mich doch bereits auf einem gut ausgeschilderten Weg, der mich mit großer Wahrscheinlichkeit auch dorthin führen würde.
Und doch hatte ich das Gefühl, dass etwas fehlte auf diesem Weg, und das hatte nichts mit Geld oder Erfolg zu tun. Es hatte mit der Tatsache zu tun, dass ich ein lebendes Mysterium war, ebenso wie all die Nachbarn, die ich nie kennengelernt hatte, mit denen ich nie die Gelegenheit gehabt hatte, über dieses erstaunliche Phänomen zu diskutieren, das Phänomen unserer Existenz und all der damit zusammenhängenden Fragen. Niemand schien es zu interessieren. Niemand schien es auch nur zu bemerken. Jeder von uns war eine kosmische Unwahrscheinlichkeit, zum Leben verdammt und hin und wieder auch dazu, es zu erleiden. Im Allgemeinen wird darüber herzlich wenig reflektiert, und man bekommt ebenso herzlich wenig Unterstützung bei all dem. Und wenn man Hilfe braucht, stimmt etwas nicht mit einem, dann ist man schwach, krank oder ein bisschen unterbelichtet. Vielleicht sind wir Menschen zu beschäftigt, um füreinander da zu sein, zu beschäftigt mit uns selbst. Oder aber wir sehnen uns nach Kontakt, danach, die Schönheit und das Leid dieses flüchtigen Lebens zu teilen, offline wohlgemerkt, von Angesicht zu Angesicht, aber wir wissen einfach nicht wie, und bleiben uns deshalb fremd und tun so, als sei das ganz normal.
Ich jedenfalls konnte mein Leben auf diese Weise nicht führen, aber vielleicht war ich ja schon dabei. Als ich meinen College-Abschluss machte, hatte ich das Gefühl, etwas Drastisches tun zu müssen, um einen Gegenpol zu haben. Ich musste einfach losgehen, pilgern, wandern. Es fühlte sich ein bisschen künstlich an, fast wie ein Klischee, aber es war zwingend nötig. Das System brauchte unbedingt einen Schock, etwas, was mich aus der Gewohnheit zu vergessen herausriss, aus dem Glauben, dass das Leben für immer beliebig oder banal sei.
»Jeder von uns hat eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen, die es wert ist, sie anzuhören, und ich wandere durch das Land, um den Menschen zuzuhören.« Ein paar Wochen nachdem ich aufgebrochen war, schrieb ich diesen Satz auf meinem Blog. »Otto Normalverbraucher gibt es nicht und auch kein langweiliges, uninteressantes, gewöhnliches Leben.« Das wurde zum Motto meiner Wanderschaft, aber das Problem dabei war, ich glaubte selbst nicht daran. Nicht wirklich. Bob, Moms Vermieter, hätte es nicht besser auf den Punkt bringen können: Du musst das doch nicht tun. Als er das zu mir sagte, dachte ich, jaja, aber jetzt glaube ich, ihn besser zu verstehen. Er wollte sagen: »Du musst das nicht tun, um irgendetwas zu beweisen.« Aber damals hörte ich das trotz meines Schildes an meinem Rucksack, auf dem stand, dass ich zuhören wollte, nicht. Also ging ich einfach weiter.
Der Himmel verdüsterte sich, und von Westen zogen Gewitterwolken auf, als ich noch immer mit den vier Männern auf den Eisenbahnschwellen saß. Während ich auf meiner Mandoline klimperte, nippte ich hin und wieder an der Wodkaflasche, die reihum ging. Doch plötzlich schob sich eine neblige graue Wand heran.
»Los, wir müssen uns beeilen!«, sagte Martín. »Es kommt! Es kommt!« Pedro war bereits losgelaufen. Gabriel und Sergio taten es ihm gleich und rannten über das Feld neben dem Bahngleis auf die Bäume zu. Die Gewitterwolken über uns entluden sich, und binnen weniger Sekunden war ich platschnass.
»Komm mit uns«, sagte Martín. »Wir nehmen dich mit zu uns.«
Ich spürte Bobs Messer in meiner Tasche. Aber die Plätzchen und der Apfelsaft schienen mir ein gutes Omen zu sein. Und der Wodka auch, oder vielleicht auch nicht, aber bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, folgte ich auch schon Martín über das Feld und in den Wald hinein. Ich wandere quer durch Amerika, dachte ich. Warum also nicht, verdammt?
Es waren nur ein paar 100 Meter bis zu der Lichtung, wo die Männer ein Lager hatten. Jeder hatte seine eigene Hütte. Die Dächer bestanden aus blauen Abdeckplanen, die Wände aus Holzpaletten, und die ganze Konstruktion wurde von Gummiseilen und dagegen gelehnten Fahrrädern zusammengehalten. Wir befanden uns nahe der Rückseite eines Einkaufszentrums, wo ich schon viele Male gewesen war. Wie oft hatte ich dort, völlig ahnungslos, ein Sandwich zu Mittag gegessen?
Martín lud mich in seinen Unterstand ein. Zu zweit passten wir kaum hinein. »Setz dich, setz dich«, sagte er und deutete auf seine Matratze. Er stöberte in mehreren Kisten herum, bis er fand, wonach er suchte: eine Jogginghose, trocken und sauber. Er hielt sie mir hin. Als ich dankend ablehnte, zog er sich bis auf die Unterwäsche aus, sodass eine Sekunde lang sein behaarter dicker Bauch zu sehen war, und schlüpfte dann selbst in die Jogginghose und in ein neues T-Shirt.
Unsere Unterhaltung war sehr einfach, denn sein Englisch war schlecht und mein Spanisch noch miserabler, und doch hatten wir sofort einen Draht zueinander. Martín zeigte mir seine Habseligkeiten: Fotos von seiner Tochter, die im Teenageralter war, ein gemaltes Bild von »Unserer lieben Frau von Guadeloupe«, ein Poster mit drei halbnackten Budweiser-Models. Im Gegenzug zeigte ich ihm ein Foto meiner Familie. »Deine Schwester sehr schön«, sagte er, »sehr schön.« Dann machten wir es uns bequem und warteten darauf, dass es aufhörte zu regnen, während ich auf meiner Mandoline zupfte und wir hin und wieder an seinem Wodka nippten. Der Wodka brannte mir in der Kehle.
»Sturm draußen und Sturm drinnen«, sagte Martín, als ich husten musste.
Der Regen dauerte nicht besonders lang, sodass ich nur ein bisschen beschwipst war. Als wir nach draußen traten und es ans Auf-Wiedersehen-Sagen ging, schien keiner von uns zu wissen, wie man das machte nach unserem kurzen, ungewöhnlichen Treffen. Ich wollte diesen Moment gern noch ein bisschen hinauszögern. Martín schien es ähnlich zu ergehen.
»So, so, gehen, um zuzuhören«, sagte er. »Okay, okay.«
»Was hältst du davon?«, fragte ich.
»Musst du wissen.« Er zuckte die Schultern.
»Und wie denkst du über Amerikaner?«, fragte ich, obgleich Martín ja ebenfalls US-Amerikaner war. Er hatte mir seinen Ausweis gezeigt, nachdem ich in seiner Hütte mein Aufnahmegerät herausgenommen hatte, vielleicht weil er fürchtete, ich sei ein Undercover-Cop.
»Manche gut, manche schlecht«, sagte er. »Wie Mexikaner. Wie alle Menschen.«
Ich schaute mich in dem behelfsmäßigen Camp um. Die harte, nasse Erde war mit zusammengeknüllten Bierdosen übersät, und die notdürftig zusammengebauten Hütten standen windschief da. Ein Grill rostete auf wackeligen Beinen vor sich hin. Ein Ort des Exils, und er hätte nicht verschiedener sein können von dem Ort, wo ich an diesem Morgen aufgebrochen war: in einem Wohnhaus mit Heimbüro einer alleinerziehenden Mutter / Yogalehrerin / Massagetherapeutin. Und trotzdem fühlte sich das hier fast wie ein Zuhause an, ein sicherer Zufluchtsort, an den ich notfalls zurückkehren könnte am Anfang meiner Wanderschaft, da ich noch nicht so recht wusste, wie diese Art Wandern ging.
Zum Abschied gab mir Martín eine orangene Pfefferschote, die ein Feuer auf meiner Zunge entfachte, und schnitt dazu eine selbstgezüchtete Kaktusfeige auf. Tuna, nannte er sie. Sie war süß und löschte den Brand auf meiner Zunge.
»Gott segne dich«, sagte er und schüttelte mir die Hand. »Und vorsichtig sein. Immer mit Messer schlafen, oder eine Pistole.« Wieder machte er eine Geste mit der Hand, als zielte er mit einer Pistole.
Zurück auf dem Bahngleis setzte ich meinen Weg durch einen Tunnel aus Ahorn-, Walnussbäumen und Buchen fort, deren Blätter in Herbstfarben erstrahlten. Ich kam an übel riechenden Pilzplantagen und Düngemittelfabriken vorbei. Ich war schon früher auf diesen Gleisen gegangen, aber noch nie so weit, und alles sah jetzt anders aus, wie mit einer unerklärbaren, aber nicht zu leugnenden Bedeutung angereichert. Auf einer Koppel standen drei Pferde, sie drehten sich um und sahen mich an. Ein Mennonit mit einer Kinderschar im Schlepptau pflügte sein Feld. Ein totes Tier lag auf den Schienen, von einem Zug zweigeteilt und bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht. Die Blätter von Sojabohnenstauden zitterten im Wind.
Bis zur Abenddämmerung hatten die Schlaufen meines Rucksacks meine Schultern wundgescheuert, und die Blasen an meinen Fersen pulsierten, als führten sie ein Eigenleben. Aber ich bemerkte es kaum. Die Sonne versank in strahlendes Gold getaucht hinter dem Horizont, und die Schienen vor mir glühten.
Ich dachte an meine Mutter. Sie war bestimmt nicht am Boden zerstört wie Bob gemeint hatte. Weit gefehlt. Mom selbst hatte einmal gesagt, sie sei eine Wölfin, wenn es um ihre drei Kinder ginge. Mit anderen Worten, sie verliert nicht so schnell die Nerven. Andererseits konnte sie mich jetzt nicht mehr beschützen, und das fiel ihr vermutlich schwer. Bestimmt wusste sie, wie schwer mir diese Reise ohne sie fallen würde. Wir waren uns so nah, dass es manchmal schien, sie könnte meine Gedanken lesen. Ich war der Älteste von uns dreien, und sie hatte zu jedem ihrer Kinder eine enge Verbindung. Nach der Scheidung wurde unsere Beziehung noch enger. Mein Vater dagegen wurde uns in kürzester Zeit zu einem Fremden. Ich war 15, alt genug für die Auseinandersetzung mit dieser schmerzlichen menschlichen Erfahrung. Ein Großteil meiner »Wanderlust« rührte von diesem Schmerz. Doch diesen Gedanken verdrängte ich gern, und genau das war der Trick: Bloß nicht darüber nachdenken. Lieber wandern. Lieber gehen.
Nach der Trennung meiner Eltern ließen wir Dad in Erie, Pennsylvania, zurück und zogen ans andere Ende des Bundesstaates in Bobs Mietshaus in einem Vorort von Philadelphia ein. Dad kam uns so oft er konnte besuchen und brachte den Kummer mit, dem ich doch so gern ausgewichen wäre. Es war immer die gleiche Szene: Stundenlange Diskussion und Streiterei, gefolgt von langem Schweigen, wenn keiner von beiden mehr wusste, was er sagen sollte. Moms schneidende Stimme. Dads verbitterte Blicke. Caitlin, meine drei Jahre jüngere Schwester, die für mich mitweinte. Luke, neun Jahre jünger, der sich in seinem Zimmer versteckte. Ich verschwand stundenlang, aus Angst, dass ich das Haus zerlegen würde, wenn ich bliebe, oder aber Dad. So viele Familien zerbrechen heutzutage; da müsste man doch meinen, man sei gefasst auf den Schock, wenn es einen selbst trifft. Aber auf so etwas kann man sich nicht vorbereiten, nicht wirklich, vor allem dann nicht, wenn alles in bester Ordnung zu sein scheint, bis zu dem Moment, in dem die Eltern sagen, dass sie sich trennen werden. Ich jedenfalls war nicht darauf vorbereitet und wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, also versuchte ich es gar nicht erst. Stattdessen stapfte ich stundenlang auf den Schienen dahin, aber es war nie weit genug. Die Züge fuhren so langsam, dass ich einfach nicht widerstehen konnte, vor allem, wenn Dad zu Besuch war. Es wäre so einfach gewesen, sich an einen Zug zu hängen und mit ihm davonzufahren, egal wohin.
Die Gleise waren jedoch nicht nur eine Möglichkeit, vor dem Schmerz zu fliehen, sondern auch aus der Vorstadt. Dieser Ort fühlte sich für mich nicht wie zu Hause an. Ich wusste gar nicht mehr, wo das war, und diese innere Leere war der Ausgangspunkt für meine Wanderlust. Der Wortteil »Wander«, entdeckte ich, war ein Anagramm meines Vornamens. Wander. Mein eigener Name war ein Befehl. Ich wusste nicht, was dieses Wandern genau bedeutete, aber der Klang des Wortes gefiel mir. Es hörte sich nach einer gewissen Leichtigkeit des Seins an, nach einer Offenheit für jeden neuen Moment, der einen überallhin führen konnte. Hindernisse gab es nicht, weil man ja nicht an einen bestimmten Ort gelangen wollte. Jeder Ort war ebenso gut wie der nächste. Der Wanderer verweilt nie zu lange, stets geht er weiter und ist doch immer im Hier und Jetzt. So wollte ich leben, nach Wandererart, also wanderte ich über die Gleise hinter dem Haus meiner Mutter. Oder versuchte es zumindest. Doch nie gelang es mir, ganz loszulassen und mich von allem zu befreien.
Eines Sommers entdeckte ich in einem Dickicht ein verlassenes Lager in der Nähe der Gleise. Auf dem Boden aus blanker Erde lagen verstreut die Überbleibsel von jemandes Leben: eine schmutzige Steppdecke, ein verrußter Kochtopf, eine schäbige Öljacke. Das erschien mir wie eine vollkommen neue Welt, und ich wollte gern Teil davon sein und sei es nur für einen Moment. Ich wollte wissen, wer hier gelebt hatte und woher er kam, was er erlebt hatte. Ich fragte mich: Wenn es im Umkreis einer Meile in einem Vorortbezirk von Pennsylvania zwei so verschiedene Welten wie mein Zuhause und dieses notdürftige Vagabundenlager gab, wie viele verschiedene Welten musste es dann auf dem ganzen Kontinent geben?
Und dann entdeckte ich auf dem College Walt Whitman, und Zeilen wie »Hast du 1.000 Äcker für viel gehalten? Hast du die Erde für viel gehalten?« brannten sich in mein Bewusstsein ein. Nachdem ich das gelesen hatte, ließen mich diese Fragen nicht mehr los. Jack Kerouac goss ebenfalls Öl ins Feuer. Aber da er die meiste Zeit betrunken und durchgeknallt war, war er für mich keine verlässliche Quelle. Auch Whitman war ein bisschen durchgeknallt: »Ich tobe und schäume in der Krisis meines Wahnsinns …« Der Dichter war zweifelsohne verwirrt, aber nicht im selben Maß, wie Kerouac es gewesen zu sein schien, also machte ich Ersteren zu meinem Mentor.
Auch meine Mutter war in solchen Fragen immer für mich da, begleitete und beobachtete meine Gedanken und wartete ab. Daher war sie keineswegs erstaunt, als ich ihr eröffnete, ich würde eine Zeit lang auf Wanderschaft gehen, aber begeistert war sie auch nicht.
»Ich bin wütend auf dich«, sagte sie, bevor ich sie zum Abschied an mich drückte. »Dieser Trennungsschmerz fühlt sich fast an wie der Dammriss bei deiner Geburt.«
Wir frühstückten zusammen im Wohnzimmer, nur wir beide. Caitlin und Luke schliefen noch. Zum Abschied überraschte sie mich mit einem ihrer Spezialgerichte: mit Marshmallows gefüllte Croissants, die im heißen Backofen zu einem sirupartigen Herzen schmolzen. Überraschungen dieser Art waren die verlässlichen Dinge, die sie bei all unseren Umzügen aufrechterhalten hatte – in die verschiedenen Wohnungen in Chicago, die gemieteten Häuser in den Vororten von Philly, in das Haus, das sie und Dad ein paar Jahre vor ihrer Scheidung gekauft hatten. Da wir nie wirklich ein beständiges Heim gehabt hatten, sorgte sie auf diese Weise dafür, dass wir uns dennoch zu Hause fühlten.
Und Latte Macchiato gab es auch an diesem Morgen. Sie hatte sich wie immer nicht die Mühe gemacht, die Milch richtig aufzuschäumen, sondern sie einfach in der Mikrowelle aufgewärmt. Das hatte mich immer ein bisschen irritiert, aber als ich ihr jetzt am Tisch gegenübersaß, wurde mir klar, dass mir auch das von ihr fehlen würde. Ich sah sie an und wusste schon jetzt, wie sehr ich sie vermissen würde. Ihr langes Haar war ergraut, fast weiß geworden, ihr Gesicht faltig. Die letzten acht Jahre hatten ihr ziemlich zugesetzt. Sie hatte so sehr abgenommen, dass sie fast hinfällig wirkte. Dennoch fühlte ich mich bei ihr geborgen. Der Gedanke, sie womöglich nie wiederzusehen, war völlig unvorstellbar.
Beim Frühstück las sie mir ein Gedicht des islamischen Mystikers Rumi vor: »Sei nicht ängstlich. Belade dein Boot und setze Segel. Auch wenn es ungewiss ist, ob es sinken oder sicher den Hafen erreichen wird.«
Ich fragte mich, wie das Untergehen in meinem Fall vonstattengehen würde. Und der Hafen, wie sollte ich mir den vorstellen?
»Ob es dir gefällt oder nicht, Andrew, es geht darum, die Angst vor dem Tod abzuschütteln«, fuhr Mom fort. Ich hatte mein Aufnahmegerät eingeschaltet – das erste Interview. »Auch wenn es dir vielleicht nicht bewusst ist, ein Risiko gehst du schon ein, und das macht mir Angst.«
Nach dem Frühstück schulterte ich den Rucksack, dann gingen wir zusammen zum Bahngleis hinter dem Haus. Caitlin und Luke sahen uns, noch in Pyjamas, von der hinteren Veranda aus zu. Mom bestand darauf, noch ein Foto von mir zu machen. Aus einem wurde ein Dutzend, und ich fühlte mich allmählich wie ein Sechsjähriger an seinem ersten Schultag – eine Art Schulranzen trug ich ja auch.
»O Mann, könntest du jetzt vielleicht endlich losstapfen? Aber zuerst müssen wir noch ganz viele Fotos von dir machen!«
Das war der Kommentar von Luke, meinem 13-jährigen Bruder, der schlecht gelaunt war, weil man ihn so früh aus dem Bett geholt hatte. Mit einem Schlag war die romantische Atmosphäre meines Abschieds dahin. Ich hätte zurückrufen können, dass er ein Arschloch sei, aber ich war ihm dankbar, dass er mir eine Entschuldigung lieferte, endlich aufbrechen zu können.
Ich drückte Mom zum Abschied noch einmal ganz fest. Als ich ein paar 100 Meter auf dem Gleis gegangen war, rief sie mir zu, ich solle die Arme für ein letztes Foto heben. Ich blieb nicht stehen und drehte mich nicht um, aber ich hob die Arme, und erst da musste ich weinen, aber ich lachte auch.
Woody Curry, Vietnam-Veteran und Psychotherapeut
Baltimore, Maryland, vor dem Mittagessen in seinem Büro in einem Behandlungszentrum am Bahnhof von Baltimore
Oktober, eine Woche nach meinem Aufbruch
»Wie, glauben Sie, fühlt es sich an, wenn man, nachdem man zweieinhalb Jahre lang sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, zurückkommt und alle sagen einem, dass es falsch war, was man getan hat? Was meinen Sie, richtet das bei einem an, nach der ganzen Scheiße, die man erlebt hat? Wenn man als Heimkehrer von allen für einen gottverdammten Geistesgestörten oder Drogenabhängigen oder so was Ähnliches gehalten wird? Das hat mich verdammt noch mal ganz schön wütend gemacht. Hat mir glatt den Boden unter den Füßen weggezogen. Hatte nichts mehr, woran ich mich festhalten konnte. Die nächsten sechs, sieben Jahre verbrachte ich mit Unterbrechungen in Nervenkliniken, Entzugsanstalten, hinter Gittern oder obdachlos auf der Straße und versuchte die ganze Zeit herauszufinden, was Wirklichkeit war und was nicht. Ich brauchte unbedingt etwas, woran ich glauben konnte, etwas, was ich kontrollieren konnte, zum Beweis, dass ich real war. Erst als ich all das loslassen konnte, hörte dieser ganze Mist auf. Und mir wurde allmählich wieder klar, dass ich der war, der ich mir zum Teufel einbildete zu sein. Real ist, was ich erlebe und fühle, das ist real, und meine Wahrnehmung ist nicht real. Aber wer ist dann derjenige, der alles wahrnimmt, hm? Tatsache ist, da ist nichts.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich bin einfach nur eine Aktivität. Es gibt nur eine einzige Sache. Und ich bin nur ein Teil davon und tue genau das, was diese Sache tut.«
»Diese Woody-Curry-Sache?«
»Ja, so nenne ich es, aber es ist nichts anders als das, was jeder tut. Ich habe einfach nur meinen eigenen Stil. Und das ist das Spaßige daran. Für mich ist das Universum mein Spielplatz. Die Welt ist für mich wie Disneyland, und das meine ich ernst. Ich setze mich in eins dieser Fahrgeschäfte und mache mir schier in die Hose dabei, dann steige ich aus und entspanne mich, setze mich verdammt noch mal in ein anderes, und genau darum geht es. Ich fahre durch das Universum. Aber die meisten Leute fühlen sich ohnmächtig, weil sie meinen, sie würden von der Außenwelt kontrolliert.
Aber ich sage ihnen: ›Was kontrollieren sie? Deine Entscheidungen haben sie nicht unter Kontrolle. Das, was du für dich annimmst oder zurückweist. Du hast das Gefühl, dein Leben hängt von den Launen einer größeren Macht ab, aber ich will wissen, welche Macht gibt es da draußen im Universum, die verdammt noch mal größer ist als du, wo du doch selbst entscheiden kannst, was du annimmst oder ablehnst? Nun, das ist die allerhöchste Macht.‹ Ich frage die Leute, wovor sie Angst haben, aber sie wissen es nicht. Sie wissen nur, dass sie Angst haben. Ich sage ihnen: ›Hab keine Angst, dieses Phänomen nennt man generalisierte Angststörung. Such dir irgendeinen Mist, woran du sie festmachen kannst.‹
Ihnen geht es jetzt genau so, wie ich mich in Ihrem Alter gefühlt habe, dieses ›Ich muss das unbedingt wissen, muss wissen, warum und was das alles zu bedeuten hat.‹ Nun, es bedeutet, was immer zum Teufel Sie wollen, dass es bedeutet. Wonach Sie suchen, ist nicht da draußen. Es ist in Ihnen. Es war schon immer dort. So, wie es in Genesis geschrieben steht: ›Gott hat den Himmel und die Erde erschaffen und alles, was darinnen ist, und dann hat er den Menschen nach seinem Bild geschaffen.‹ Wenn Sie sein Ebenbild sind, dann ist es doch logisch, dass Sie den Himmel und die Erde und alles was darin ist, erschaffen. Sie tun das. Also sind Sie der Schöpfer dieser Sache, die Sie die Welt nennen.
Wo ist das Problem? Warum suchen Sie nach dem, was passiert? Es passiert, verdammt noch mal. Nichts passiert Ihnen. Sie sind es, das passiert. Sie wissen nicht, wer Sie sind, und darin besteht Ihre Suche. Sie werden es erfahren. Wenn Sie ankommen, wo immer Sie auch hingehen, werden Sie es erkennen, genau so wie es mir ergangen ist. Sie werden herausfinden, dass überall die gleiche Scheiße stattfindet. Aber Sie werden dann wesentlich weiser sein. Und ich glaube, Sie werden sehr viel weniger Stress und Fragen haben, wenn Sie fertig damit sind. Ja, Sie werden es wissen. Sie werden wissen, wer Sie sind, weil Sie genau nach dieser Antwort suchen. Diese Wanderung, zu der Sie sich aufgemacht haben, ist einfach nur das Fahrgeschäft, das Sie ausgewählt haben für Ihre Suche.«
2. »Ich glaube, du solltest dir besser einen anderen Job suchen.«
Ein paar Monate bevor ich mich auf meine Wanderschaft machte, stand ich kurz vor meinem Abschluss am Middlebury College im Bundesstaat Vermont, wo die Flüsse im Lauf der Jahrtausende schroffe Felsen in die Green Mountains gemeißelt haben. Meine Freunde und ich fuhren oft zu diesen Klippen hinaus, kletterten hinauf und sprangen in den Fluss. Dieser entscheidende Schritt – vom festen Grund in die klaffende Leere – hatte für mich etwas Unwiderstehliches. Der Absprung. Dieses Gehenlassen. Es fühlte sich an wie die Schwelle zwischen Leben und Tod, und ein-, zweimal war es das auch. In diesen wenigen Sekunden des freien Falls spürte ich überaus intensiv die Schwerkraft und fühlte mich so lebendig wie nie und war mir der Tatsache bewusst, dass ich es meist nicht war.
Gut möglich, dass ich mich beim freien Fall über einem kalten Gebirgsfluss lebendiger fühlte als während der meisten College-Seminare oder wenn ich einen Handstand auf einem Bierfass machte und gleichzeitig versuchte, so viel Bier wie möglich zu trinken, während meine Rugby-Buddys mich anfeuerten: »Acht! Neun! Zehn! Elf! Elf! Elf!«. Gewiss, es gab auf dem College viel zu lernen, und vieles davon hatte nichts mit dem Studienplan zu tun. Zum Beispiel war es für mich eine Offenbarung, als ich erlebte, dass es okay war, eine Freitagnacht allein in dem wogenden Wipfel einer Fichte zu verbringen und am Himmel zu segeln – dass das nicht automatisch bedeutete, ich sei traurig oder krank oder verpasste etwas. Im Gegenteil. Aber diese Erfahrung machte ich erst kurz vor dem Examen. Zuerst musste ich mich im Bierdosenstechen üben, lernen, wie man sich einen Apple-Pie-Cocktail im Mund mixt, wie viele Cocktails ich brauchte, um mich zu übergeben, und so zu tun, als wollte ich nichts anderes, als mich an den Wochenenden zu übergeben. Bis ich damit aufhörte.
Auch die Liebe lernte ich ein bisschen kennen. Und als sie nach zwei Jahren Schluss mit mir machte, erfuhr ich auch, was Liebeskummer ist. Das war zu der Zeit, als ich gern nachts auf Bäume kletterte und bemerkte, dass es keinen Grund gab, in der Dunkelheit allein dort oben Angst zu haben.
In einem Semester hörte ich von einem Historiografie-Seminar, das einer der beliebtesten Professoren des Colleges leitete. Es wurde gemunkelt, es verändere einen für immer. Das wollte ich, verändert, auf nachhaltige Weise erleuchtet werden. Diese Art von Seminar war der Grund, warum ich aufs College ging; ich wollte Lehrer haben, die mir zeigten, wie man die Aufgabe, Mensch zu sein, meisterte. Ein paar solcher Lehrer hatte ich gefunden, und wir hatten diese Frage indirekt behandelt, durch Mittelsmänner wie Dichter, Philosophen und durch kreatives Schreiben. Aber ich wollte richtig eintauchen, nicht diesen ganzen theoretischen Überbau, wollte eine praktische Lehre zum Thema Lebensnavigation, kein Seminar darüber, wie ein Haufen längst gestorbener Künstler es gemacht hatten. Wenn man die alten Dichter, Philosophen und Schriftsteller las, kam man nicht über einen gewissen Punkt hinaus. Man musste es selbst erleben, was immer es war, worüber sie sprachen, es für sich selbst herausfinden. Vielleicht, dachte ich, würde dieses Historiografie-Seminar mir zeigen, wie es ging. Da es sehr viele Interessenten dafür gab, musste man ein Bewerbungsessay schreiben. Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich darin eine Metapher gebrauchte – ich sei ein Bleistift, aber mit einer stumpfen Spitze. Versteht sich von selbst, dass ich von diesem Professor keine Antwort erhielt.
Obwohl die Bleistift-Metapher im Nachhinein betrachtet wirklich blöd war, meinte ich sie damals ernst, und in meinem letzten Semester in Middlebury hatte ich noch immer dieses Gefühl der Stumpfheit. Ich betrieb diese unglaublich komplexe biochemische, psychoemotionale Maschine, die dachte und fühlte, und wollte verdammt noch mal einfach nur wissen, wie genau sie funktionierte. Ich war diese Maschine, aber ich hatte keine Betriebsanleitung und noch immer kein Seminar gefunden, das mir die Bedienung beibrachte. Falls es solche Seminare gab, war ich zu dumm, sie zu entdecken, oder aber ich hatte noch nicht die richtigen Fragen gestellt.
Ein paar Monate vor meinem Examen begann ich, für meine Abschlussarbeit eine Reihe von Männern zu interviewen, und zwar zum Thema, was es hieß, erwachsen zu werden. Ich interviewte nur Männer, weil man von mir erwartete, ein Mann zu sein, ich mich aber nicht so fühlte. Und mit meinem Vater konnte ich nicht darüber reden. Auf ihn konnte ich mich nicht mehr verlassen, nachdem er einige in meinen Augen fragwürdige Entscheidungen getroffen hatte.
»Erwachsen zu werden heißt für mich zu versuchen, ein Gleichgewicht zu finden«, sagte Marc Lapin. Er war einer meiner Professoren im Fach Umweltwissenschaften. »Es geht darum, Teile Ihrer Persönlichkeit, die Ihnen fremd vorkommen, zu integrieren, und ich glaube, es heißt auch zu erkennen: ›Ich muss mich anstrengen, der zu sein, der ich bin.‹ Warum gibt es heute so viel Angst und Unsicherheit? Was macht den Menschen Angst? Die Vorstellung, dass das, was sie tun, nicht richtig ist. Der Grund ist mangelndes Selbstvertrauen.«
Als Nächstes setzte ich mich mit Greg Sharrow, einem Volkskundler, zusammen. »Ich beschäftige mich zurzeit sehr mit Empathie«, sagte er. »Ich möchte in der Lage sein, mir vorzustellen, welche Erfahrungen andere gemacht haben, verstehen, wo sie herkommen, und selbst wenn sie sich mir gegenüber verletzend verhalten, möchte ich sie aufgrund ihrer schmerzvollen Erfahrungen lieben können. Fast jedem wird als Kind die ein oder andere Art Schaden zugefügt, und dieser Schaden erschwert es den Menschen, sich selbst zu erkennen. Folglich stecken sie fest in ihrem eigenen Schmerz. Erwachsenwerden heißt quasi, in sich selbst hineinzuwachsen.«
Dann traf ich mich mit Jonathan Miller-Lane, einem Aikido-Meister und Pädagogikprofessor. »Idealerweise heißt erwachsen zu werden, dass einem als junger Mensch von der Gemeinschaft gezeigt wird, wie wichtig man für sie ist. Nicht nur, dass die Gemeinschaft diesen jungen Menschen als ein Mitglied anerkennt, sondern der Jugendliche sollte eines Tages aufblicken und erkennen: ›Oh, ich bin Teil von dem hier. Ich wusste ja gar nicht, dass sich all diese Menschen so um mich sorgen.«
Während dieser Interviews wuchs mein Gefühl der Bedrängnis. Das Examen saß mir im Nacken. Ich hatte mich um ein Auslandsstipendium der Watson-Stiftung beworben, um den Prozess des Erwachsenwerdens weiterstudieren zu können, aber mein Projektvorschlag fiel bereits in der ersten Runde durch. Mein Plan war es, indigene Völker auf der ganzen Welt zu besuchen, um zu untersuchen, wie diese ihre Jugendlichen in das Erwachsenendasein geleiteten, und die verschiedenen Traditionen mit der Situation in den USA zu vergleichen, wo die meisten meiner Fragen immer noch auf eine Antwort warteten. Meiner Erfahrung nach wurden in den Familien keine nachhaltigen Gespräche über das Erwachsenwerden geführt. Es gab keine Rituale, die den Übergang markierten. Die einzige Station, die ich erlebt hatte, war die zur Aufnahme in einen Männer-A-cappella-Chor in meinem ersten Studienjahr. Dazu musste ich einen BH und einen Rock anziehen, mich mit Fischöl übergießen und mit Gewürzen bestreuen lassen und vor einem aufgedrehten Publikum ein Lied singen; anschließend hätte ich mich besaufen können, was ich nicht tat. Es war eine wilde Nacht, aber vielleicht nicht gerade ein vorbildliches Ritual des Erwachsenwerdens. Wir waren eine wilde Horde unreifer Jungen. Und einige der älteren Semester waren es auch noch. Einmal kam ein mittelalter Tenor zu einer unserer Partys in meinem ersten Studienjahr. Wir waren beide betrunken. »Vögel alles, was sich bewegt«, riet er mir, »solange du noch kannst.« Ein Blinder, der einem Blinden einen Ratschlag erteilte.
Kurz vor dem Examen beschloss ich, mein Forschungsprojekt auch ohne Stipendium durchzuführen. Zuvor trat ich in Kontakt mit Malidoma Somé, einem Schamanen vom Stamm der Dagara in Burkina Faso, der an der Brandeis University promoviert hatte; ich hatte eines seiner Bücher gelesen und seinen Wohnort im Bundesstaat New York ausfindig gemacht. Er sagte mir, ich könne bei seinem Onkel in dem Dorf, wo er aufgewachsen war, wohnen und Nachforschungen betreiben. Das hörte sich perfekt an. Bestimmt würde ich etwas Wichtiges entdecken, sagte ich mir, etwas völlig Neuartiges.
Mein letztes Interview für meine Abschlussarbeit führte ich mit Jeff Howarth, einem Geografieprofessor.
»Beim Prozess des Erwachsenwerdens sollte man die Fähigkeit erlangen, den Fokus von sich weg auf andere zu richten«, sagte er. »Es scheint, dass es einen öffnet, wenn man nicht mehr so auf sich selbst konzentriert ist. Es hat damit zu tun, die Bedürfnisse anderer Menschen ebenso zu erkennen wie seine eigenen. Als Erwachsener gelangt man irgendwann an einen Punkt, an dem man nicht mehr so schnell von anderen Menschen enttäuscht ist. Es ist ähnlich wie bei einem Kind, das Elternliebe entwickelt. Das ist der Zeitpunkt, an dem man merkt, dass auch Autoritätspersonen Fehler haben, und dass man nicht länger gegen diese Fehler rebelliert.«
Jeff sagte mir also, ich solle den Fokus auf mich selbst richten. Wie sähe ich das Erwachsenwerden? Wie passte ich in diese Geschichte hinein? Da wurde mir klar, dass ich vielleicht doch meinen Vater interviewen sollte. Wir hatten noch nie zuvor ein solches Gespräch geführt. Doch ich beschloss, damit zu warten, bis ich dazu bereit war.
Ein paar Tage nach meinem College-Abschluss befand ich mich auf einem Hummerboot in der Bucht von Cape Cod und stopfte Fischhäute in die Köderbeutel. Mein Plan war, so schnell wie möglich viel Geld zu verdienen, um nach Westafrika zu fliegen. Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Die Rückzahlung meines Studienkredits würde ich nur für eine gewisse Zeit aufschieben können.
Ich hatte noch nie zuvor auf einem Fischerboot gearbeitet. Es war ganz anders als das College, und ich liebte es. Dan, der Kapitän, war ein korpulenter, wortkarger Mann. Meistens war er gutgelaunt, konnte manchmal aber auch mürrisch sein. Bei unserer ersten Begegnung fragte ich ihn, ob ich in Captain Dan oder einfach nur Captain nennen solle.
»Ich bin alles, aber bestimmt kein Captain«, sagte er, wobei das nicht stimmte, »sondern einfach nur ein Typ mit ’nem Boot. Nenn mich Dan.«