5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen - Bronnie Ware - E-Book
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5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen E-Book

Bronnie Ware

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  • Herausgeber: Arkana
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

5 Dinge, die im Leben wirklich zählen.

Was zählt am Ende wirklich? Auf dem Sterbebett, wenn klar wird, dass das Leben sich dem Ende zuneigt? Nach vielen Reisen durch die ganze Welt, auf der Suche nach dem, was dem Leben Sinn gibt, findet die Australierin Bronnie Ware eine neue Aufgabe. Sie begleitet Sterbende in den letzten Wochen ihres Lebens. In ihrem Buch erzählt sie von wunderbaren Begegnungen und berührenden Gesprächen, die ihr Leben tiefgreifend verändert haben. Die Menschen, die sie trifft, stellen viel zu oft fest, dass sie ihre eigenen Wünsche hinten angestellt und zu viel gearbeitet haben, dass sie sich zu wenig Zeit für Familie und Freunde genommen und – vor allem – sich nicht erlaubt haben, glücklich zu sein. Es sind Erkenntnisse, die nachdenklich machen und in Erinnerung rufen, worauf es wirklich ankommt, wenn wir mit einem Lächeln aus dem Leben treten wollen. Für sich selbst hat Bronnie Ware nach diesen Erfahrungen entschieden, dass sie nur noch das macht, was sie wirklich will. Ihr ermutigendes Buch hat die Kraft, Veränderungen anzustoßen, um wirklich das Leben zu führen, das wir wollen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 513

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BRONNIEWARE

5 DINGE,

die Sterbende am

meisten bereuen

Einsichten, die Ihr Leben verändern werden

Aus dem Englischen von Wibke Kuhn

Die englische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »The Top Five Regrets of the Dying. A Life Transformed by the Dearly Departing« im Verlag Hay House Australia Pty. Ltd.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe

©2013 der deutschsprachigen Ausgabe

Arkana, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

©2011, 2012 der Originalausgabe Bronnie Ware

Lektorat: Gisela Fichtl

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®

978-3-641-09530-7

www.arkana-verlag.de

Vorwort

Eines lauen Sommerabends in einer kleinen Provinzstadt wurde eine Unterhaltung geführt, wie sie sicher in diesem Moment an vielen anderen Orten der Welt auch geführt wurde. Da tauschten sich zwei Leute aus und erzählten von ihren Plänen. Der Unterschied zu anderen Gesprächen lag jedoch darin, dass das Leben der einen Person hinterher eine völlig andere Wendung nahm. Und diese Person war ich.

Cec gibt in Australien eine tolle Zeitschrift für Folkmusik heraus mit dem Titel Trad and Now. Man kennt und liebt ihn für die Unterstützung, die er der australischen Folk-Szene zukommen lässt, und für sein breites, fröhliches Grinsen. Wir waren gerade auf einem Folk-Festival und plauderten passenderweise über unsere Liebe zur Musik. Das Gespräch kam auch auf die Herausforderungen, denen ich gerade gegenüberstand, nämlich einen Sponsor zu finden für das Gitarren- und Songwriting-Programm, das ich in einem Frauengefängnis abhalten wollte. »Sobald du die Sache am Laufen hast, gib mir Bescheid, dann bringen wir einen Artikel in unserer Zeitung.« Cec sprach mir Mut zu für mein Projekt.

Tatsächlich brachte ich die Sache ins Laufen, und nach einer Weile schrieb ich für die Zeitschrift eine Geschichte über meine Erfahrungen. Als ich fertig war, fragte ich mich, warum ich nicht mehr Geschichten schrieb. Schließlich hatte ich schon immer geschrieben. Als sommersprossiges kleines Mädchen hatte ich Brieffreunde in der ganzen Welt. Das war zu der Zeit, als die Menschen noch handgeschriebene Briefe schickten– so richtig mit Umschlag und Briefkasten.

Auch als Erwachsene schrieb ich weiter. Freunde bekamen noch immer handgeschriebene Briefe von mir, und ich führte jahrelang Tagebuch. Und jetzt war ich Songwriterin, schrieb also immer noch (obwohl ich jetzt neben dem Stift auch noch eine Gitarre in der Hand hatte). Aber als ich mit einem altmodischen Füller vor einem Blatt Papier am Küchentisch saß, um meine Erfahrungen mit dem Gefängnisprogramm festzuhalten, erwachte der Spaß am Schreiben neu. Ich bedankte mich bei Cec und beschloss wenig später, einen Blog zu beginnen. Was dann passierte, gab meinem Leben eine großartige Wendung.

»Inspiration and Chai« begann in einem gemütlichen kleinen Cottage in den Blue Mountains in Australien, bei einer Tasse Chai, versteht sich. Einer meiner ersten Artikel handelte von den Versäumnissen, die die Sterbenden, die ich gepflegt hatte, am meisten bereut hatten. Vor meinem Gefängnisjob hatte ich als Pflegerin für sterbende Menschen gearbeitet, das war also noch ziemlich frisch. In den folgenden Monaten gewann dieser Artikel eine Eigendynamik, wie sie die Dinge nur im Internet bekommen. Ich bekam Mails von wildfremden Leuten, die mir wegen dieses Artikels schrieben, aber auch wegen anderer Beiträge, die ich seitdem verfasst hatte.

Fast ein Jahr später wohnte ich in einem anderen kleinen Cottage, diesmal in einer ländlichen Gegend. Eines Montagmorgens, als ich schreibend auf der Veranda saß, beschloss ich, mal wieder die neuen Gastkommentare auf meiner Webseite zu checken. Ich war verblüfft, aber auch irgendwie amüsiert. Tags drauf sah ich noch mal nach und am nächsten Tag wieder. Da war tatsächlich etwas so richtig ins Rollen gekommen. Der Artikel mit dem Titel »Die fünf Dinge, die die Leute auf dem Sterbebett am meisten bereuen« hatte sich verselbstständigt.

Aus jedem Winkel der Welt kamen Mails, auch Anfragen von anderen Autoren, die den Artikel in ihren eigenen Blogs zitieren und in diverse Sprachen übersetzen wollten. Die Leute lasen meinen Blog in Zügen in Schweden, an Bushaltestellen in Alaska, in Büros in Indien, beim Frühstück in Irland und so weiter und so fort. Nicht alle stimmten dem Artikel zu, aber er bot genug Diskussionsstoff, um seine Reise um die Welt fortzusetzen. Und den wenigen, die nicht damit einverstanden waren, schrieb ich: »Ich habe mir das nicht selbst ausgedacht– ich gebe nur wieder, was diese Menschen mir anvertraut haben.« Mindestens 95Prozent des Feedbacks war jedoch wundervoll. Und es unterstrich auch, wie viel wir alle gemeinsam haben, ungeachtet kultureller Unterschiede.

Während der ganzen Zeit wohnte ich in meinem Cottage und freute mich an den Vögeln und Wildtieren, die von dem Bach vor meinem Haus angezogen wurden. Tag für Tag saß ich an dem Tisch auf meiner Veranda, arbeitete weiter und ergriff die Chancen, die sich mir boten. In den folgenden Monaten lasen über eine Million Menschen »Die fünf Dinge, die die Leute auf dem Sterbebett am meisten bereuen«. Innerhalb eines Jahres hatte sich diese Zahl mehr als verdreifacht.

Auf Grund der riesigen Menge von Menschen, die sich von diesem Thema angesprochen fühlten, und der Anfragen, die ich nach dem Artikel erhielt, beschloss ich, das Thema weiter auszuarbeiten. Wie so viele andere hatte ich schon immer ein Buch schreiben wollen. Und wie sich herausstellte, konnte ich erst hier formulieren, was ich bei der Pflege sterbender Menschen gelernt hatte. Jetzt konnte ich endlich das Buch schreiben, das ich schon immer hatte schreiben wollen. Dieses Buch.

Wie Sie beim Lesen merken werden, habe ich mich nie sonderlich an traditionelle Lebensentwürfe gehalten, wenn es so etwas denn gibt. Ich lebe, wie das Leben mich führt, und schreibe dieses Buch einfach als eine Frau, die eine Geschichte zu erzählen hat.

Um die Privatsphäre von Verwandten und Freunden zu schützen, habe ich fast alle Namen im Buch geändert. Nur mein erster Yogalehrer, meine Chefin im Zentrum für Pränataldiagnostik, der Besitzer des Campingplatzes, meine Mentorin im Gefängnis und einige Songwriter werden mit ihrem richtigen Namen genannt. Die chronologische Reihenfolge ist im Hinblick auf thematische Überschneidungen ebenfalls leicht verändert worden.

Spuren im Sand, Spuren im Schnee

»Ich kann meine Zähne nicht finden. Ich kann meine Zähne nicht finden.« Der vertraute Hilferuf drang bis in mein Zimmer, wo ich gerade versuchte, meinen planmäßigen freien Nachmittag zu genießen. Ich legte das Buch, in dem ich gerade las, aufs Bett und ging ins Wohnzimmer.

Wie erwartet, stand Agnes im Zimmer und grinste ihr zahnloses Grinsen, mit dem sie ebenso verwirrt wie unschuldig aussah. Wir mussten beide lachen. Inzwischen hatte der Witz ja wirklich schon einen Bart, aber alle paar Tage schaffte sie es doch wieder, ihre Prothese zu verlegen. Und es war tatsächlich immer wieder witzig.

»Ich bin sicher, du machst das bloß, damit ich wieder zu dir komme«, lachte ich, während ich an den üblichen Stellen zu suchen begann. Draußen hatte es angefangen zu schneien, was die kuschelige Wärme des Cottages noch erhöhte. Doch Agnes schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ganz bestimmt nicht, meine Liebe! Ich hab sie vor meinem Nickerchen rausgenommen, aber als ich aufwachte, konnte ich sie nicht mehr finden.« Abgesehen von ihrem Gedächtnisverlust war sie noch sehr klar im Kopf.

Agnes und ich lebten seit vier Monaten zusammen. Ich hatte mich damals auf eine Anzeige gemeldet, in der eine Person gesucht wurde, die bereit war, bei der alten Dame einzuziehen. Als Australierin in England hatte ich zuvor schon in der Kneipe, in der ich arbeitete, gleichzeitig gewohnt, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Es war richtig lustig gewesen, und einige der Angestellten und ein paar Einheimische wurden Freunde. Jobs an der Bar waren leicht zu kriegen, und so hatte ich gleich nach meiner Ankunft im Land Arbeit gefunden. Dafür war ich auch dankbar, doch irgendwann wurde es Zeit, etwas anderes zu machen.

Die zwei Jahre, bevor ich Australien verließ, hatte ich auf einer tropischen Insel gelebt, die so malerisch aussah wie die klischeehafteste Postkarte. Nach über einem Jahrzehnt als Bankangestellte wuchs das Bedürfnis, eine Daseinsform auszuprobieren, in der ich mich nicht Montag bis Freitag von neun bis fünf abrackern musste.

Ich war mit einer meiner Schwestern auf eine Insel in North Queensland gereist. Wir wollten im Urlaub unseren Tauchschein machen. Während sie sich unseren Tauchlehrer aufriss– was im Hinblick auf unsere Prüfung recht nützlich war–, kletterte ich auf einen Berg auf der Insel. Als ich dort oben direkt unter dem Himmel auf einem Felsblock saß und vor mich hin lächelte, kam mir die Erleuchtung: Ich wollte auf einer Insel leben.

Vier Wochen später gab es meinen Bankjob nicht mehr, und meine Habe hatte ich entweder verkauft oder zu meinen Eltern verfrachtet, die sie in einer Scheune auf ihrem Bauernhof unterstellten. Dann suchte ich mir auf einer Landkarte zwei Inseln aus, die mir einfach von ihrer geografischen Lage her geeignet schienen. Ich wusste sonst gar nichts über diese Inseln, nur, dass mir ihre Lage gefiel und dass es auf jeder ein Urlaubsresort gab. Das war vor der Internet-Ära, in der man im Handumdrehen buchstäblich alles herausfinden kann. Nachdem ich ein paar Bewerbungen in die Post gesteckt hatte, brach ich auf Richtung Norden, Bestimmungsort unbekannt. Man schrieb das Jahr 1991, ein paar Jahre bevor Handys in Australien ihren Einzug feierten.

Unterwegs bekam meine Sorglosigkeit einen frühen Dämpfer, als ich nämlich beim Trampen eine so unangenehme Erfahrung machte, dass ich von dieser Fortbewegungsart wieder Abstand nahm. Irgendwo im Nirgendwo auf einer unbefestigten Straße, weit weg von meinem Ziel läuteten meine Alarmglocken laut genug, dass ich nie wieder am Straßenrand den Daumen hochhielt. Der Typ hatte behauptet, er wolle mir zeigen, wo er wohnte, und die Besiedelung wurde immer dünner und der Busch immer dichter. Gott sei Dank blieb ich stark und resolut, und es gelang mir, mich durch Reden aus der Situation herauszumanövrieren. Er versuchte dann nur noch ein paar sabbernde Küsse, bevor ich sehr schnell in der richtigen Stadt aus dem Auto stieg. Danach fuhr ich nie wieder per Anhalter.

Von nun an benutzte ich öffentliche Verkehrsmittel. Abgesehen von diesem einen unschönen Erlebnis war es ein tolles Abenteuer, nicht zu wissen, wo ich demnächst landen würde. In den diversen Bussen und Zügen lernte ich auf dem Weg in wärmere Gefilde viele tolle Leute kennen. Als ich schon ein paar Wochen unterwegs war, rief ich meine Mutter an, die tatsächlich einen Brief bekommen hatte, in dem man mir einen Job auf einer der Inseln in Aussicht stellte. Ich war so erpicht darauf gewesen, meine Tretmühle in der Bank hinter mir zu lassen, dass ich dumm genug war zu schreiben, ich würde jeden Job annehmen. Wenige Tage später lebte ich also auf einer wunderschönen Insel und steckte bis zum Ellbogen in dreckigen Töpfen und Pfannen.

Das Leben auf der Insel war jedoch ein großartiges Erlebnis, denn ich war nicht nur meinem aufreibenden Montag-bis-Freitag-Trott entkommen, sondern verlor langsam, aber sicher sogar das Gefühl dafür, welcher Wochentag gerade war. Das gefiel mir unglaublich gut. Nach einem Jahr auf meiner Stelle als Spülerin arbeitete ich mich in die Bar hoch. Die Zeit in der Küche hatte mir tatsächlich auch viel Spaß gemacht, und ich hatte wahnsinnig viel über kreatives Kochen gelernt. Trotzdem, es war eine schweißtreibende, schwere Arbeit in einer tropischen Küche ohne Klimaanlage. Meine freien Tage konnte ich immerhin mit Wanderungen durch den großartigen Regenwald verbringen, ich konnte mir ein Boot mieten und zu den Nachbarinseln fahren, tauchen gehen oder einfach nur im Paradies relaxen.

Nachdem ich ein paar Mal freiwillig Dienst an der Bar geleistet hatte, durfte ich irgendwann in diese begehrte Stellung aufrücken. Für den Blick auf das ruhige blaue Meer, den weißen Sand und die sanft schwingenden Palmwedel hätten andere eine Stange Geld gezahlt, deshalb fand ich es nicht besonders hart, hier zu arbeiten. Ich bediente fröhliche Kunden, die den Traumurlaub ihres Lebens machten, und lernte mit der Zeit, Cocktails zu mixen, die man auf Reiseprospekten hätte abbilden können. Das alles war Lichtjahre von meinem Leben in der Bank entfernt.

An der Bar lernte ich eines Tages einen Europäer kennen, der mir einen Job in seiner Druckerei anbot. Ich hatte schon immer große Reiselust verspürt, und nach über zwei Jahren auf der Insel sehnte ich mich langsam nach ein bisschen Veränderung und hätte ganz gern auch wieder ein etwas anonymeres Dasein geführt. Wenn man Tag für Tag in derselben kleinen Siedlung lebt und arbeitet, kann einem ein bisschen Privatsphäre im Alltag plötzlich heilig werden.

Nach ein paar Jahren Inselleben musste man bei der Rückkehr aufs Festland mit einem gewissen Kulturschock rechnen. Aber sich gleich noch in ein fremdes Land zu begeben, dessen Sprache ich nicht einmal verstand, war schon eine Herausforderung, um es milde auszudrücken. Im Laufe der Monate lernte ich dort einige nette Leute kennen, und ich bin froh, dass ich auch diese Erfahrung gemacht habe. Aber ich brauchte doch wieder ein paar gleichgesinnte Freunde, also machte ich mich irgendwann auf nach England. Bei meiner Ankunft hatte ich gerade noch genug Geld, um das Ticket zu lösen, mit dem ich zu meinem einzigen Bekannten dort fahren konnte. Ich hatte noch 1Pfund66 in der Tasche, als ich ein neues Kapitel aufschlug.

Nev hatte ein wunderbares, breites Lächeln und spärliche weiße Locken auf dem Kopf. Außerdem war er Weinexperte und -aficionado und arbeitete passenderweise in der Weinabteilung bei Harrod’s. Am ersten Tag des Sommerschlussverkaufs marschierte ich in das gut besuchte Nobelkaufhaus– ich kam direkt von der Nachtfähre und sah wahrscheinlich so obdachlos aus, wie ich war. »Hallo, Nev. Ich bin’s, Bronnie. Wir haben uns vor ein paar Jahren mal kennengelernt, ich bin eine Freundin von Fiona. Du hast damals eine Nacht auf meinem Sitzsack gepennt«, eröffnete ich ihm mit einem strahlenden Lächeln.

»Ja, klar, Bronnie«, kam es zu meiner Erleichterung zurück. »Na, was ist mit dir los?«

»Ich bräuchte einen Schlafplatz für ein paar Nächte«, begann ich hoffnungsvoll.

Nev zog seinen Wohnungsschlüssel aus der Tasche. »Klar, kein Problem. Hier.« Er gab mir noch eine Wegbeschreibung zu seiner Wohnung, und damit hatte ich ein Dach über dem Kopf und ein Sofa zum Schlafen.

»Könntest du mir vielleicht auch noch zehn Pfund leihen?«, fragte ich optimistisch. Ohne zu zögern, zog er zehn Pfund aus der Tasche. Ich bedankte mich, strahlte ihn an und war endgültig aus dem Schneider. Jetzt hatte ich ein Bett und Essen.

Die Traveller-Zeitschrift, auf deren Jobteil ich meine Hoffnungen setzte, kam genau an diesem Tag heraus, also kaufte ich mir das Heft, ging in Nevs Wohnung und führte drei Telefonate. Am nächsten Morgen hatte ich ein Vorstellungsgespräch für einen Job in einem Pub in Surrey, in dem ich gleichzeitig auch wohnen sollte. Und am nächsten Nachmittag wohnte ich auch schon dort. Perfekt.

Ein paar Jahre lang lief mein Leben so dahin, mal fand ich neue Freunde, mal verliebte ich mich. Ich hatte viel Spaß damals. Das Dorfleben gefiel mir gut, manchmal erinnerte es mich an das Dasein auf der Insel, und ich war umgeben von Menschen, die mir ans Herz gewachsen waren. Außerdem waren wir nicht allzu weit entfernt von London, so dass ich problemlos öfters in die Stadt fahren konnte, was ich absolut genoss.

Aber dann meldete sich die Reiselust wieder. Ich wollte mal ein bisschen in den Nahen Osten hineinschnuppern. Die langen englischen Winter waren toll, und ich war auch froh, ein paar davon erlebt zu haben. Es war der totale Kontrast zu den langen, heißen Sommern in Australien. Doch ich beschloss, nur noch einen Winter zu bleiben. Ich wollte Geld zusammensparen, um dann weiterzuziehen. Dazu musste ich den Pub verlassen und der Versuchung widerstehen, jeden Abend mit Freunden auszugehen. Besonders viel getrunken hatte ich nie (und inzwischen trinke ich überhaupt keinen Alkohol mehr), aber wenn man jede Nacht um die Häuser zieht, kostet das doch Geld. Und mit diesem Geld wollte ich lieber verreisen.

Kaum hatte ich diese Entscheidung getroffen, fiel mir die Jobanzeige bei Agnes ins Auge, gleich in der nächsten Grafschaft. Schon beim ersten Bewerbungsgespräch wurde mir die Stelle angeboten, weil der Bauer Bill dahinterkam, dass ich selbst auf einem Bauernhof groß geworden war. Seine Mutter Agnes war Ende achtzig, hatte schulterlanges graues Haar, eine fröhliche Stimme und einen riesigen, kugelrunden Bauch, über den sich fast jeden Tag dieselbe rot-graue Strickjacke spannte. Ihr Hof war nur ungefähr eine halbe Stunde Fahrzeit entfernt, so dass es für mich leicht einzurichten war, an meinen freien Tagen meine Freunde zu treffen. Aber solange ich dort war, fühlte ich mich wie in einer anderen Welt. Ich war sehr isoliert, da ich rund um die Uhr bei Agnes sein musste, von Sonntagabend bis Freitagabend. Meine zwei freien Stunden am Nachmittag gestatteten mir kein großes Sozialleben, obwohl ich diese Zeit doch manchmal nutzte, mich mit meinem englischen Freund zu treffen.

Dean war ein wundervoller Mensch. Von Anfang an hatte uns unser Humor verbunden, gleich in den ersten Momenten unserer Bekanntschaft. Dazu kam unsere Liebe zur Musik. Wir hatten uns einen Tag nach meiner Ankunft in England kennengelernt, direkt nach meinem Bewerbungsgespräch im Pub, und bald merkten wir, dass unser Leben schöner und lustiger war, seit wir einander kannten. Doch leider war ich von nun an die meiste Zeit nicht mit Dean, sondern mit Agnes zusammen, und half ihr, ihre Zähne zu suchen. Es war schon ein Wunder, wie man in einem so kleinen Haus so viele Plätze finden konnte, an denen sich eine Prothese verstecken ließ.

Sie hatte eine zehn Jahre alte Deutsche Schäferhündin namens Princess, die überall Haare ließ. Sie war ein ganz lieber Hund, nur leider verlor sie durch die Arthritis jede Kraft in den Hinterbeinen, was bei dieser Rasse offenbar nicht ungewöhnlich ist. Nachdem ich schon mehrfach unter Princess fündig geworden war, hob ich auch jetzt ihr Hinterteil hoch und sah nach. Leider hatte ich heute kein Glück, aber es war die Mühe wert. Princess wedelte mit ihrem großen Schwanz, kehrte wieder zu ihren Träumen am Feuer zurück und vergaß die kurze Störung sofort wieder. Ab und zu kreuzten sich Agnes’ und meine Wege, während wir das Haus absuchten. »Hier sind sie nicht«, rief sie aus dem Badezimmer.

»Hier auch nicht«, antwortete ich aus der Küche. Irgendwann suchte ich im Schlafzimmer und Agnes in der Küche. Es gibt nicht so viele Räume, die man in so einem kleinen Haus durchsuchen kann, also sah jeder überall nach, um wirklich ganz sicherzugehen. An diesem Tag waren ihre Dritten in ihren Handarbeitsbeutel neben dem Wohnzimmersessel gerutscht.

»Ach, du bist einfach ein Schatz«, sagte sie und setzte die Prothese wieder ein. »Komm, schau ein bisschen Fernsehen mit mir, jetzt wo du schon mal hier bist.« Diese Strategie wendete sie oft an, und ich folgte ihrem Wunsch lächelnd. Sie war eine alte Dame, die lange allein gelebt hatte, und jetzt genoss sie die Gesellschaft. Mein Buch konnte warten. Mein Job war nicht unbedingt der anstrengendste– ich musste ihr einfach nur Gesellschaft leisten, und wenn sie außerhalb meiner Arbeitsstunden den Wunsch danach verspürte, war das für mich auch in Ordnung.

Ihre Zähne hatten wir im Laufe der Zeit schon unter dem Sofakissen gefunden, im Badezimmer am Waschbecken, in einer Teetasse im Küchenschrank, in ihrer Handtasche und an diversen anderen, fast schon unglaublichen Orten. Auch hinter dem Fernseher, im Kamin, im Mülleimer, auf dem Kühlschrank oder in einem ihrer Schuhe. Und natürlich unter dem Hintern von Princess, der großen Deutschen Schäferhündin.

Viele Leute kommen mit Routine gut zurecht. Ich persönlich habe es lieber abwechslungsreich. Aber Routine ist nicht ganz unberechtigt, und sie hilft vor allem, wenn die Menschen älter werden. Bei Agnes gab es Dinge, die jede Woche gemacht wurden, und solche, die jeden Monat einmal drankamen. Jeden Montag gingen wir zu den Ärzten, denn Agnes musste sich regelmäßigen Bluttests unterziehen. Der Termin war jede Woche genau um dieselbe Zeit. Eine Sache am Tag reichte jedoch, sonst wäre ihre nachmittägliche Gewohnheit, zu stricken und ein Nickerchen zu halten, gestört worden.

Und ob es regnete oder stürmte, Princess begleitete uns überall hin. Dazu wurde zuerst die Klappe hinten an der Ladefläche des Pick-ups heruntergelassen. Die alte Hündin wartete geduldig und schwanzwedelnd. Sie war einfach großartig. Dann hob ich ihre Vorderpfoten auf die Ladefläche, fasste rasch ihr Hinterteil und hob sie ganz hinauf, bevor ihre Hinterbeine unter ihr nachgeben konnten und wir von vorne anfangen mussten. Danach war ich zur Erinnerung mit sandfarbenen Hundehaaren bedeckt.

Rausspringen war einfacher, obwohl sie auch dabei Hilfe benötigte. Princess schaffte es zwar, die Vorderpfoten auf den Boden zu bringen, wartete dann aber, bis ich ihre Hinterbeine hinterherholte. Wenn Agnes mich in der Zwischenzeit aus irgendeinem Grund brauchte, blieb die Hündin in ihrer Position, mit dem Hinterteil in der Höhe, bis ich zu ihr kam. Sobald ich ihr geholfen hatte, trottete sie glücklich und schmerzfrei davon, wobei sie unablässig mit dem Schwanz wedelte.

Dienstags fuhren wir zum Einkaufen ins Nachbardorf. Viele ältere Leute, für die ich gearbeitet habe, lebten sehr bescheiden. Nicht so Agnes. Sie versuchte ständig, mir irgendetwas zu kaufen, vorzugsweise Sachen, die ich weder brauchte noch wollte. In jedem Gang blieben wir stehen und stritten uns. Wir lächelten, manchmal lachten wir auch richtig, aber wir waren beide stur. Am Ende schenkte mir Agnes die Hälfte der Dinge, die sie für mich ausgesucht hatte. Irgendwelche vegetarischen Köstlichkeiten, Importmangos, eine neue Haarbürste, ein Unterhemd oder irgendeine schrecklich schmeckende Zahnpasta.

Mittwochs war Bingoabend im Dorf. Da sie immer schlechter sah, ersetzte ich Agnes die Augen. Die Zahlen konnte sie zwar einigermaßen sehen und hören, aber sie vergewisserte sich vorsichtshalber immer noch einmal bei mir, bevor sie ihre Zahlen durchstrich. Ich liebte die alten Leute, die dort spielten. Ich war die einzige junge Teilnehmerin, so dass Agnes sich als etwas ganz Besonderes fühlte. Vor den anderen bezeichnete sie mich als »meine Freundin«.

»Meine Freundin und ich waren gestern einkaufen, und ich hab ihr eine neue Unterhose gekauft«, verkündete sie ernst und stolz ihren älteren Bingofreundinnen.

Dann nickten alle und lächelten mich an, während ich nur dasaß und mir dachte: »Oh Mann!«

Und sie machte munter weiter: »Diese Woche hat ihr ihre Mutter aus Australien geschrieben. Da ist es im Moment sehr heiß. Außerdem hat sie noch einen kleinen Neffen bekommen.« Abermals Nicken und Lächeln.

Nach einer Weile fing ich an zu zensieren, was ich ihr über mich erzählte. Sonst hätten die anderen noch sehr viel mehr über mein Leben erfahren, vor allem wenn meine Mutter mir hübsche Unterwäsche oder andere Geschenke schickte, um mich aus der Ferne zu verwöhnen. Aber mein Verhältnis zu Agnes war unschuldig und liebevoll, deswegen ertrug ich es auch, dass ich mich manchmal innerlich krümmte oder rot wurde, wenn sie vor anderen über mich sprach.

Donnerstag war der einzige Tag, an dem wir über Mittag wegblieben. Ein großer Tag für uns drei (Princess mitgezählt). Dann fuhren wir nämlich immer in eine Stadt in Kent, wo wir mit Agnes’ Tochter zu Mittag aßen. An englischen Maßstäben gemessen sind fünfzig Kilometer eine ganz schöne Entfernung, während es für einen Australier so gut wie um die Ecke ist. Unsere Sicht auf Distanzen ist definitiv ein kultureller Unterschied.

In England kann man drei Kilometer fahren und in einem ganz anderen Dorf landen. Der Akzent kann völlig anders sein als im vorherigen Dorf, und selbst wenn man sein ganzes Leben im Nachbarort verbracht hat, kennt man hier nicht jeden. In Australien kann es einem passieren, dass man schon für einen Laib Brot achtzig Kilometer fahren muss. Die nächsten Nachbarn können so weit weg wohnen, dass sie einen anrufen oder anfunken müssen, um Hallo zu sagen, aber sie betrachten sich immer noch als Nachbarn. Ich habe einmal in einem Gebiet im Northern Territory gearbeitet, das derart abgelegen war, dass Flugzeuge zum nächsten Pub verkehrten. Auf der kleinen Landebahn standen am frühen Abend Ein- und Zweisitzer-Maschinen, und am nächsten Morgen war sie leer, wenn alle– immer noch halb abgefüllt– zu ihren riesigen Viehfarmen zurückgeflogen waren.

Der große Ausflug am Donnerstag war also wirklich ein großer Ausflug für Agnes, während ich ihn als kleine Fahrt empfand. Ihre Tochter war eine freundliche Frau, und unsere Treffen waren jedes Mal richtig nett. Die beiden aßen immer den Ploughman’s Lunch: Rindfleisch, Käse und Eingelegtes. Die englische Vorliebe für Eingelegtes hat mich immer wieder erstaunt. Aber es war schon ein ganz gutes Land für Vegetarier, ich hatte immer genügend Auswahl. Da es so kalt war, gönnte ich mir meistens eine wärmende Suppe oder ein herzhaftes Nudelgericht.

Am Freitag blieben wir immer in der Gegend. Wir lebten auf einer Rinderfarm mit einem eigenen Metzgerladen. Den Hof betrieben zwei Söhne von Agnes. Am Freitagmorgen ging ich mit ihr immer zum Metzger. Obwohl sie darauf bestand, alles ganz genau und in aller Ruhe in Augenschein zu nehmen, kaufte sie jede Woche haargenau das Gleiche. Der Metzger bot ihr sogar an, ihr den Einkauf nach Hause zu liefern, aber nein. »Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich muss herkommen und mir das Fleisch selbst aussuchen«, erwiderte sie jedes Mal höflich.

Damals war ich Vegetarierin, heute bin ich Veganerin. Trotzdem wohnte ich auf einer Rinderfarm, fast so wie der Hof, auf dem ich groß geworden bin. Obwohl ich von Fleischverzehr nichts hielt, verstand ich doch das Geschäft und die Lebensweise, weil sie mir vertraut waren.

Auf dem Rückweg vom Metzger nahmen wir grundsätzlich den Weg durch den Stall, wo wir mit den Landarbeitern und den Kühen redeten. Agnes mit ihrem Stock ging dicht neben mir, Princess trottete hinter uns her. Dabei war es ganz egal, wie kalt es war, wir zogen einfach ein paar Schichten mehr an. Und so verbrachten wir den Freitag: mit einem Besuch im Metzgerladen und hinterher bei den Kühen.

Ich staunte, wie anders die englischen Kühe behandelt wurden als unsere australischen– hier hatten sie warme Ställe, und man schenkte jedem einzelnen Tier Aufmerksamkeit. Andererseits mussten die australischen Tiere ja auch keine englischen Winter aushalten. Es machte mich immer noch schrecklich traurig, nachdem ich ja nun jede Kuh einzeln kannte, zu wissen, dass wir irgendwann ihr Fleisch im Metzgerladen kaufen würden. Das Ganze fiel mir furchtbar schwer, und irgendwie wollte es mir nie recht gelingen, den Gedanken zu unterdrücken.

Das Vegetarierthema wurde zu Hause viel diskutiert, obwohl ich schwieg und den Lebensstil meiner Familie respektierte. Ich gehörte nie zu den Vegetariern oder Veganern, die ein besonderes Bedürfnis haben, über ihre Lebensform zu sprechen. Da ich jedoch in meiner Kindheit das eine oder andere zu sehen bekommen hatte und zu guter Letzt noch einen Schaden fürs Leben davontrug, als wir auf einem Schulausflug ein Schlachthaus besuchten, verstehe ich durchaus, warum Vegetarier und Co. bei diesem Thema so leidenschaftlich werden können. Es kann einem schier das Herz zerreißen, wenn man sich einmal genau ansieht, was hinter den Kulissen dieser ganzen Fleischindustrie abläuft.

Mir war es jedoch lieber, mein Ding in aller Stille durchzuziehen und das Recht meiner Mitmenschen zu respektieren, sich eine Lebensform auszusuchen, die für sie sinnvoll ist. Nur wenn man mich darauf ansprach, wenn mein Gegenüber also wirklich Interesse bekundete, redete ich über meine Entscheidung. Nichtsdestoweniger ist es interessant, wie mich zum Teil wildfremde Menschen von der Fleischverzehrerfraktion ohne jede Provokation angingen, einfach nur, weil ich mich dafür entschieden hatte, keine Tiere zu essen. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ich über mein Vegetariertum lieber schwieg– ich wollte einfach nur meine Ruhe.

Als Agnes also anfing, mir Fragen zu stellen, warum ich Vegetarierin sei, zögerte ich. Ihre eigene Existenz hing von den Einkünften aus der Rinderzucht ab. Meine irgendwie ja auch, obwohl ich mir das wohl nicht so bewusst gemacht hatte. Ich hatte diesen Job einfach angenommen, weil ich Geld brauchte und gerne ein bisschen Freude in das Leben einer alten Dame bringen wollte.

Doch sie fragte beharrlich weiter. Also erzählte ich ihr, wie ich mich als Kind gefühlt hatte, wenn ich bei der Schlachtung von Schafen und Rindern zusah, wie mir das unter die Haut gegangen war, wie sehr ich Tiere liebte und wie ich bemerkt hatte, dass Kühe anders muhen, wenn sie wissen, dass sie gleich sterben müssen. Dieses angsterfüllte, panische Brüllen klingt mir heute noch in den Ohren.

Und das reichte. Agnes erklärte sich auf der Stelle zur Vegetarierin. »Puh«, dachte ich. »Wie soll ich das ihrer Familie beibringen?« Ihr Sohn wollte natürlich, dass sie weiter Fleisch aß, und nach langem Hin und Her willigte sie ein, zumindest einmal die Woche rotes Fleisch zu essen, einmal Fisch und einmal Geflügel. Wenn ich einen freien Tag hatte, aß sie bei ihrer Familie, dann bekam sie auch Fleisch.

Im Laufe der Zeit haben sich meine Ansichten zum Fleischverzehr nur gefestigt. Heute würde ich nicht im Traum daran denken, eine Arbeit anzunehmen, bei der ich Fleischgerichte kochen muss. Damals habe ich es noch gemacht, doch dieser Teil meines Jobs ging mir ganz schön gegen den Strich. Ich konnte nie Fleisch zubereiten, ohne traurig daran zu denken, dass das mal ein schönes Lebewesen gewesen war, das Gefühle und ein Recht auf Leben gehabt hatte. Also gefiel mir das neue Arrangement mit Agnes, obwohl meiner Meinung nach auch Fische und Geflügel Tiere waren.

Wie sich jedoch herausstellte, hatte Agnes nur eingewilligt, um ihre Ruhe zu haben. Sie hatte nämlich gar nicht vor, unter der Woche Fleisch zu essen. Also kochte ich uns die restlichen Winter- und Frühjahrsmonate köstliche vegetarische Leckereien wie deftige Nussstollen, göttliche Suppen, bunte Gemüsepfannen und Gourmetpizzas. Ich glaube, ansonsten hätte Agnes sich auch jederzeit gern von gekochten Eiern und Baked Beans ernährt. Immerhin war sie Engländerin, und die Engländer lieben ihre Bohnen.

Der Schnee schmolz, und die Märzenbecher begannen zu blühen. Die Tage wurden länger, der Himmel war wieder blau. Als der Bauernhof aus seinem Winterschlaf erwachte, liefen die neugeborenen Kälbchen auf ihren wackligen dünnen Beinen herum. Die Vögel waren wieder da und begrüßten uns jeden Tag mit ihren Liedern. Princess haarte noch mehr als sonst. Agnes und ich packten unsere Wintermäntel und Mützen weg, genossen die Frühlingssonne und führten unser gewohntes Leben noch ein paar Monate so weiter. Wir gehörten zwei grundverschiedenen Generationen an, gingen aber Tag für Tag untergehakt spazieren, erzählten uns Geschichten und hatten viel zu lachen.

Doch für mich wurde es Zeit für die Abreise. Wir hatten beide von Anfang an gewusst, dass ich wieder weiterziehen würde. Außerdem fehlte mir Dean. Unsere Wochenenden reichten mir nicht, und wir wollten unbedingt zusammen reisen. Also wurde meine Stelle neu ausgeschrieben, und unsere gemeinsame Zeit lief ab. Die Monate mit Agnes waren ein wunderbares, ganz besonderes Erlebnis für mich. Obwohl ich diese Arbeit vor allem angenommen hatte, um meine Reiselust befriedigen zu können, war es doch eine schöne Arbeit, jemandem Gesellschaft zu leisten.

Ich genoss es jedenfalls sehr viel mehr, als Bier zu zapfen. Lieber stütze ich einen alten Menschen, der gebrechlich ist, als einen jungen, der zu betrunken ist. Oder einen alten betrunkenen. Beide hatte ich in meiner Stelle auf der Insel und in dem englischen Pub zur Genüge gehabt. Ich suchte viel lieber die Prothese einer alten Dame, als schmutzige Aschenbecher und leere Biergläser einzusammeln.

Dean und ich reisten in den Nahen Osten, wo wir völlig andere, aber faszinierende Kulturen bestaunten (und jede Menge Köstliches aßen). Nach einem wunderbaren Jahr im Ausland fuhr ich zurück, um Agnes zu besuchen. Meine Nachfolgerin war auch Australierin, und wir plauderten angeregt, nachdem die alte Dame in ihrem Lehnstuhl weggedöst war. Wir erzählten uns so einiges, und irgendwann gestand mir das Mädchen, dass sie doch etwas überrascht gewesen war von Bills erster Frage bei ihrem Vorstellungsgespräch. Ich wollte wissen, was das denn für eine Frage gewesen sei, und musste losprusten, als sie es mir verriet.

Seine erste Frage war gewesen: »Du bist doch keine Vegetarierin, oder?«

Unerwartete Karriere

Nach den Jahren in England und im Nahen Osten kam ich schließlich nach Hause in mein geliebtes Australien. Ich war ein völlig anderer Mensch geworden, wie es eben so ist nach langen Reisen. Ich begann wieder in der Bankbranche zu arbeiten, doch mir wurde bald klar, dass mich diese Arbeit nie wieder würde ausfüllen können. Der Kundenkontakt wardas einzige Highlight, und auch wenn es einfach war, an jedem beliebigen Ort eine Stelle zu finden, fühlte ich mich rastlos und war schrecklich unglücklich mit meiner Jobsituation.

Immer häufiger versuchte ich, meiner Kreativität Ausdruck zu verleihen. Eines Tages saß ich am Swan River in Perth– damals lebte ich in Western Australia– und stellte zwei Listen auf. Die eine umfasste alles, was ich gut konnte. Auf der anderen stand, was ich am liebsten machte. Dabei wurde mir klar, dass in mir irgendwie eine Künstlerin steckte, denn das Einzige, was in beiden Listen auftauchte, waren meine kreativen Talente.

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