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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. E-Book 1: Ich brauche euch beide! E-Book 2: Sommer, Sonne – Ferienspass! E-Book 3: Kaminkehrer im Glück E-Book 4: Ich will deine Mutter sein! E-Book 5: Leonies großer Weihnachtswunsch
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Seitenzahl: 685
Ich brauche euch beide!
Sommer, Sonne – Ferienspass!
Kaminkehrer im Glück
Ich will deine Mutter sein!
Leonies großer Weihnachtswunsch
In die Stille des Nachmittags drang das Motorengeräusch eines ankommenden Wagens, der durch das schmiedeeiserne Tor auf das Anwesen von Sophienlust fuhr und vor der Freitreppe des Herrenhauses anhielt.
»So, da wären wir. Das Kinderheim Sophienlust«, sagte Ulrich Olbert, Mitarbeiter des Jugendamtes, betont munter zu dem kleinen Mädchen im Fond des Wagens. Der ältere Herr saß am Steuer und dreht sich zu dem Kind um. Er lächelte zuversichtlich, aber sein Lächeln erstarb, als er sah, wie dem Kind stumme Tränen über das zarte Gesicht liefen. Er konnte ein Seufzen gerade noch unterdrücken. Das war kein einfacher Gang.
Er wusste um den guten Ruf von Sophienlust, und als er den Blick über das schöne Herrenhaus und das parkähnliche Anwesen schweifen ließ, wusste er auch, dass das Kind trotz allem Glück hatte. Zumindest was die Unterbringung und die Menschen, die sich um es kümmern würden, anbelangte. Ansonsten konnte man wohl kaum von Glück sprechen.
Ulrich Olbert stieg aus und ging zum Kofferraum, wo er die Habseligkeiten des Mädchens zusammensuchte.
»Guten Tag, ich bin Nick von Wellentin-Schoenecker«, erklang eine jugendliche Stimme.
Der Besitzer von Sophienlust war die Treppe hinuntergelaufen und mit wenigen Schritten am Wagen. Kurz darauf kamen auch Nicks Mutter, Denise von Schoenecker, und die Heimleiterin Else Rennert dazu.
Der Mitarbeiter des Jugendamtes stellte sich vor, während das Kind immer noch im Wagen saß.
»Ich würde vorschlagen, dass Nick und Frau Rennert sich um das Mädchen kümmern, und ich spreche mit Herrn Olbert«, schlug Denise vor. Diese Aufteilung schien ihr sinnvoll, da es mit Sicherheit Einzelheiten zu besprechen gab, die einer traurigen Kinderseele nicht zuträglich waren.
»Wie heißt das Mädchen, Herr Olbert?«, fragte Denise, während sie mit dem Mitarbeiter des Jugendamtes die Freitreppe hinauf und ins Herrenhaus ging.
»Das Mädchen heißt Jule. Jule Menzel«, antwortete Herr Olbert.
Nick schaute unterdessen in den Fond des Wagens. Jule saß bewegungslos in ihrem Kindersitz. Ein zartes Kind. Feines blondes Haar umrahmte ein blasses Gesichtchen mit blauen Augen. Sie hielt ein Bilderbuch umklammert.
»Hallo, ich bin Nick. Wollen wir uns mal anschauen, wo du in den nächsten Tagen wohnen wirst? Es gibt ganz viel zu sehen bei uns. Wir haben Pferde, Hunde und Papageien und natürlich viele Kinder«, sprach Nick ruhig zu dem Kind.
Jule nickte, und er nahm das als Aufforderung, den Sicherheitsgurt zu lösen und das Kind aus dem Sitz zu heben. Ein Federgewicht. Da wird unsere Magda etwas zu tun bekommen, schoss es ihm durch den Kopf. Magda war die Köchin von Sophienlust und eine gute Seele obendrein.
Während sich die Heimleiterin, die von den Kindern ›Tante Ma‹ genannt wurde, und Nick um das Mädchen bemühten und es mit dem Haus vertraut machten, saß Denise mit Herrn Olbert im Biedermeierzimmer. Das schönste Zimmer des Herrenhauses mit den wertvollen antiken Möbeln wurde als Empfangszimmer für Gäste und als Besprechungszimmer genutzt. Denise wollte von Ulrich Olbert Details über Jule erfahren, die man nicht vor dem Kind ausbreiten konnte, diese würde sie später an ihren Sohn und die anderen Verantwortlichen in Sophienlust weitergeben.
»Das ist so ein Fall, der einem das Herz brechen könnte«, begann Herr Olbert und sah Denise an. Sie nickte, um ihn zum Weiterreden zu ermuntern.
»Jules Mutter ist die Kinderbuchautorin Carla Menzel. Sie hatte einen Hirntumor. Ihre letzte Chance war eine riskante Operation. Sie wusste, dass etwas passieren konnte ... Sie hat drei Tage im Koma gelegen. Dann war es vorbei.« Herr Olbert wirkte mitgenommen.
»Wo war Jule in dieser Zeit?«, fragte Denise.
»Die Kinderärztin Dr. Frey hatte eine Einweisung in die Kinderklinik veranlasst. Zu Anfang gab es ja noch Hoffnung. Deshalb haben wir vom Jugendamt zugestimmt und nicht sofort nach einer besseren Lösung gesucht.«
»Es gibt also außer der Mutter niemanden?«
»Doch, es gibt eine Schwester. Und es gibt ein Testament. Carla Menzel hat es vor der Operation aufgesetzt – zur Sicherheit. Also, falls ihr etwas passieren würde ...«
»Wissen Sie, was sie verfügt hat?«, fragte Denise interessiert.
»Ja, sie möchte, dass ihre Schwester das Sorgerecht bekommt. Aber das ist nicht alles.« Herr Olbert schien es gern spannend zu machen. Denise hob fragend die Augenbrauen.
»Carla Menzel hat testamentarisch festgelegt, dass der Vater des Kindes sich mit der Schwester das Sorgerecht teilen soll«, erklärte er in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er diese Idee seltsam fand.
»Ach, und wo ist der Vater?«
»Das weiß niemand, und die Schwester, sie heißt übrigens Elena Menzel, sagt, dass der Vater vermutlich nichts von seinem Kind weiß«, schloss Ulrich Olbert mit einem Seufzer.
»Vermutlich?«, wiederholte Denise.
»Die Schwestern standen sich wohl nicht sehr nahe, aber das weiß ich nicht genau. In den letzten drei Tagen hat die Schwester an Carla Menzels Bett gesessen. Aber vorher war der Kontakt eher selten. Es ist ja normalerweise so, dass das Vormundschaftsgericht versucht, den Elternwillen zu berücksichtigen. Aber hier braucht es doch etwas Zeit, bis sich alle Beteiligten klar darüber sind, wie das gehen soll. Deshalb sind wir sehr froh, dass Jule zu Ihnen kommen kann«, sagte Herr Olbert mit einem Lächeln.
»Wir betreuen das Mädchen sehr gerne in Sophienlust, aber noch schöner wäre es, wenn es in eine intakte Familie käme. Ein unbekannter Vater und eine Tante, das hört sich etwas kompliziert an. Von einer intakten Familie kann man da wohl nicht sprechen«, meinte Denise.
Herr Olbert nickte. Schweigen breitete sich aus.
»Wer hat dem Kind eigentlich vom Tod der Mutter berichtet?«, fragte Denise leise und bemerkte, wie sich Kälte in ihr ausbreitete bei dem Gedanken daran, so eine Botschaft übermitteln zu müssen.
»Dr. Anja Frey hat uns geholfen. Ich glaube, sie hat es ganz gut gemacht. Sie hat Jule den Unterschied zwischen Koma und Tod erklärt und dass Sterben wie Weggehen und nicht mehr Wiederkommen ist.« Herr Olbert rieb sich mit beiden Händen die Stirn. Er war angegriffen. Dann sprach er weiter:
»Wir müssen beobachten, wie sich die Dinge entwickeln. Dazu bleiben wir in Kontakt. Wenn ernste Bedenken auftreten, dass die testamentarische Verfügung nicht dem Wohle des Kindes dient, wird sich das Vormundschaftsgericht dagegen entscheiden. Sie haben also eine sehr wichtige Aufgabe. Elena Menzel und der Vater, insofern er auffindbar ist, werden hier in Sophienlust aufeinandertreffen …«
»Ich weiß, was Sie meinen. Wir sollen den Umgang regeln und auch beobachten, ob die beiden geeignete Eltern wären. Keine leichte Aufgabe, aber das Kindeswohl steht immer an erster Stelle«, sagte Denise fest.
»Genau, Frau von Schoenecker. So ist es«, sagte Ulrich Olbert, erhob sich und reichte Denise zum vorläufigen Abschied die Hand. Denise stand ebenfalls auf und hatte das Gefühl, dass Herr Olbert erleichtert war. Er hatte die Verantwortung in die Hände von Sophienlust gelegt, und er wusste, dass jeder Einzelne hier sein Bestes tun würde, um dem Kind zu helfen.
Nick hatte derweil mit Else Rennert beschlossen, Jule bei Heidi einzuquartieren, damit die Kleine in den ersten Nächten nicht allein war. Er selbst wollte auch über Nacht in seiner Dachkammer schlafen und nicht zu Hause auf Gut Schoeneich, um im Bedarfsfall gleich vor Ort zu sein.
Die siebenjährige Heidi fand das natürlich großartig. Sie freute sich immer über neue Kinder in Sophienlust.
Nick überlegte kurz, ob er Heidi beiseitenehmen sollte, um ihr zu sagen, dass Jule etwas Ruhe brauchte und vielleicht nicht so gerne spielen würde, wie sie, Heidi, sich das wünschte. Aber dann unterließ er es, weil er die Erfahrung gemacht hatte, dass Kinder erstaunlich sensibel auf die Bedürfnisse anderer Kinder reagierten.
So erstaunte es ihn auch nicht, als er sah, wie besorgt sich Heidi um das Wohlbefinden von Jule kümmerte.
»Hast du denn auch ein Kuscheltier dabei?«, fragte sie.
Das Mädchen schüttelte den Kopf und zeigte ihr Buch, das sie immer noch fest umklammert hielt.
»Ein Buch? Aber damit kann man doch nicht kuscheln«, meinte Heidi. Darauf sagte Jule nichts, und Heidi überlegte, ob sie etwas Falsches gesagt haben könnte.
»Ich habe auch ein Lieblingsbuch. ›Der kleine Drache Kokosnuss‹«, versuchte sie es wiedergutzumachen.
»Wenn Jule so gerne Bücher mag, dann lesen wir heute Abend eine Gutenachtgeschichte«, schlug Else Rennert vor. »Und wenn Jule das Buch mit ins Bett nehmen möchte, ist das natürlich auch erlaubt«, sagte sie lächelnd.
Dann packten sie Jules Sachen aus und halfen ihr beim Einräumen in einen kleinen Schrank und eine Kommode. Jule hatte einige Bücher dabei. Die Bücher, die schon etwas abgegriffen waren, hatte ihre Mutter verfasst. Else Rennert kannte sie.
Heidi war genauso zappelig, wie Nick vermutet hatte. Sie wollte Jule alles zeigen, und das sofort. Nick ließ sie gewähren und begleitete Heidi und Jule auf ihrem Rundgang. Ihm ging durch den Kopf, was er in seinem Fernstudium der Kinderpsychologie über die Trauer von Kindern gelernt hatte, doch gerade erschien ihm das alles wie eine unverständliche Gebrauchsanleitung in Anbetracht des kleinen blonden Mädchens, das sein Buch nicht aus der Hand legen wollte. Immerhin lief sie Heidi brav hinterher. Inzwischen war auch der kleine vietnamesische Junge Kim dazugestoßen.
»Hallo, ich Kim bin. Und du?«, fragte er.
»Jule«, sagte die Kleine leise.
»Es ist schön hier, du brauchst keine Angst zu haben«, versprach Kim treuherzig.
Nick lächelte. Kinder und ihre Intuition. Es war faszinierend zu sehen, wie sie sofort erfassten, wie sich ein anderes Kind fühlte. Sie waren am Pferdestall angekommen, doch Jule wollte nicht mit hineinkommen. Offensichtlich hatte sie zuvor noch keinen Kontakt zu Pferden gehabt.
»Unsere Pferde sind ganz lieb«, behauptete Heidi, was zwar stimmte, Jule aber nicht überzeugte. Als dann auch noch Barri, der Bernhardiner, um die Ecke getrottet kam, umfasste das Mädchen Nicks Bein und klammerte sich ängstlich an ihn. Kim dagegen schlang seine Kinderärmchen um Barris Hals, was sich der gutmütige Hund geduldig gefallen ließ.
»Schau, Jule. Barri ist ganz lieb«, demonstrierte Kim. Jule lugte hinter Nicks Bein hervor und beobachtete Kim genau.
»Wir gehen mal weiter und zeigen Jule den Spielplatz«, schlug Nick vor. Damit waren Heidi und Kim sofort einverstanden und rannten los. Nick nahm Jules Hand und folgte den beiden. Barri blieb zurück und legte sich gemütlich in den Schatten.
Den Spielplatz mochte Jule. Ihr Gesichtchen hellte sich etwas auf, als sie Kim und Heidi beobachtete, wie sie die Klettergerüste erklommen und die Rutsche hinuntersausten.
»Willst du mitmachen? Ich passe solange auf dein Buch auf«, schlug Nick vor. Jule zögerte zuerst, doch dann gab sie Nick ihr Buch und lief den beiden nach. Er setzte sich auf eine Bank. Die Rutsche gefiel dem Mädchen, und als sie abgelenkt schien, warf Nick einen Blick in das Buch. ›Papa fährt zum Nordpol‹ war der Titel. Es handelte von einem Vater, der als Forscher unterwegs zum Nordpol war. Carla Menzel war eine ausgezeichnete Illustratorin. Das Bilderbuch war eine Mischung aus Sachbuch über den Klimawandel in kindgerechter Sprache und einer emotionalen Geschichte vom Abschiednehmen und Wiederkommen. Nick mochte das Buch, aber warum das Mädchen ausgerechnet dieses Buch so sehr in Herz geschlossen hatte, blieb ihm verborgen.
Plötzlich stand Jule wieder vor ihm und schaute ihn an. Er fühlte sich ertappt und gab ihr das Buch sofort zurück.
»Mein Papa ist am Nordpol, und er kommt mich holen, wenn er mit Forschen fertig ist«, sagte sie ernst.
Nick war sprachlos, was nicht oft vorkam. Was sollte er dazu sagen? In diesem Moment rief Heidi Jules Namen. Sie drehte sich um, gab Nick das Buch zurück und lief wieder los. Nick hatte das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein. Wenn sie diesem Kind, bei allem, was es zu bewältigen hatte, helfen wollten, dann mussten sie jedenfalls mehr von ihm wissen.
Vielleicht hat Mama schon mehr Hintergrundinformationen, dachte er und wandte sich automatisch zum Herrenhaus um. Seine Mutter war tatsächlich auf dem Weg zu ihm und hob kurz die Hand. Als sie neben ihm auf der Bank saß, teilte sie ihm mit, was sie von Herrn Olbert erfahren hatte. Nick hörte aufmerksam zu und fasste dann die Situation zusammen:
»Die Schwester von Carla Menzel und der noch unbekannte Vater sollen sich das Sorgerecht teilen. Und wir sollen mehr oder weniger beobachten, ob das gut gehen kann.« Nick schaute seine Mutter an, um in ihrem Gesicht zu lesen, was sie dazu dachte. Beide verstanden sie sich oft ohne Worte und vertrauten einander bedingungslos.
»Ja, ich finde das auch schwierig. Aber wir kennen weder die Schwester noch den Vater. Vielleicht hört es sich komplizierter an, als es dann ist«, meinte Denise.
»Ja, vielleicht«, stimmte Nick zu, und dann erzählte er seiner Mutter von dem Buch und was die kleine Jule darüber gesagt hatte.
»Ein Vater am Nordpol, der zurückkommt, um sein Kind zu holen. Das ist alles ziemlich rätselhaft, findest du nicht auch?«, fragte er sie.
»Ja, aber ich glaube nicht, dass alles reine Fantasie ist«, meinte Denise.
»Jule ist die Tochter einer Kinderbuchautorin. Ich könnte mir schon vorstellen, dass Jule sich mit der Geschichte identifiziert. Dass sie glaubt, der Vater in dem Buch ist ihr eigener Vater, um mit dem Verlust besser zurechtzukommen«, glaubte Nick.
»Auch möglich«, gab Denise zu. »Schau, im Moment spielt die Kleine. Das ist gut. Kinder sind leicht ablenkbar, aber man darf sich davon nicht täuschen lassen. Die Trauer kommt plötzlich mit Macht zurück. Das muss man wissen«, überlegte sie laut, und Nick dachte, dass sie auch über sich selbst sprach.
Er sah sie von der Seite an. Seine schöne Mutter hatte schwere Zeiten erlebt. Sie war verwitwet, viele Jahre alleinerziehende Mutter gewesen und hatte sein Erbe verwaltet. Seine Urgroßmutter Sophie von Wellentin hatte nämlich verfügt, dass das Herrenhaus Sophienlust zum Kinderheim umgestaltet werden sollte. Als der Gutsbesitzer Alexander von Schoenecker in das Leben seiner Mutter trat, wendete sich das Schicksal aller zum Besseren. Trotzdem blieb Sophienlust immer der Mittelpunkt von Denises und Nicks Leben, und ihre wichtigste Aufgabe war, Kindern in Not zu helfen, ihnen Zuversicht und Hoffnung zu geben.
*
Elena Menzel hatte das Gefühl, in einem Albtraum festzuhängen, aus dem es kein Erwachen gab. Sie wurde das Bild nicht los, wie ihre Schwester Carla ihre Hand gehalten, sie eindringlich angesehen und sie dann gebeten hatte, sich um Jule zu kümmern und den Vater ausfindig zu machen. Sie hätte alles handschriftlich festgehalten und ihr Testament unterschrieben.
Elena hatte keine Fragen gestellt, denn das hätte bedeutet, dass sie davon ausging, dass es nötig sein würde, so zu verfahren, wie Carla es sich wünschte.
»Na gut, Carla. Wenn du meinst, dann mach dein Testament, aber ich glaube, dass du darüber noch lachen wirst. Nach der Operation bist du bald wieder die gute alte Carla, du schreibst tolle Kinderbücher und bist eine großartige Mutter für Jule«, hatte sie ihrer Schwester geantwortet. Aber ihre Stimme hatte etwas gezittert. Dieses Testament hatte sie nervös gemacht. Ganz tief in ihrem Inneren hatte sich eine kalte Angst ausgebreitet.
Und dann war das Unvorstellbare passiert. Carla war nach der Operation nicht wieder aufgewacht. Der Tumor in ihrem Gehirn hatte so ungünstig gelegen, dass ein großes Blutgefäß verletzt wurde. Carla war ins Koma gefallen. Nach drei Tagen, die Elena zwischen Krankenbett und Kinderstation pendelte, wo ihre Nichte untergebracht war, war es vorbei gewesen.
Jetzt gab es so viel zu organisieren und neu zu regeln, aber sie war wie gelähmt. Ein Mitarbeiter des Jugendamts hatte ihr von einem Kinderheim erzählt, in dem Jule untergebracht worden war. Sollte sie zuerst dort vorbeifahren oder diesen Mann aufsuchen – oder Carlas Wohnung auflösen? Und wo sollte sie überhaupt mit Jule wohnen? Sie brauchte Hilfe. Sie schaffte das nicht alleine. Immer wieder wurde sie von Weinkrämpfen geschüttelt.
Elena durchsuchte ihre Manteltaschen nach einem Taschentuch und fand eine Visitenkarte von Sophienlust. Die musste ihr der nette Mann vom Jugendamt zugesteckt haben. Sie empfand diese Karte wie einen Auftrag, setzte sich in ihr Auto und fuhr nach Wildmoos.
*
Jule hatte die Nacht in Heidis Bett verbracht. Heidi hatte das gut gefallen. Sie spielte gerne die große Schwester, und Jule ließ sich gerne umsorgen. Aber trotz aller Fürsorge hatte sie heute Morgen Bauchschmerzen.
Während alle anderen im Esszimmer um den großen runden Tisch sitzend ihr Frühstück einnahmen und der helle Raum von lebhaften Gesprächen erfüllt war, saß Jule schweigend mit ihrem Bilderbuch an ihrem neuen Platz.
Magda behielt das Mädchen im Auge. Kinder, die nicht richtig aßen, alarmierten die Köchin sofort. Die Kleine war sehr zart. Ihre blasse Haut schien fast durchsichtig zu sein.
Magda tauschte einen Blick mit Nick, der ihr wortlos mitteilte, erst einmal nichts zu unternehmen. Das konnte sie nicht gut aushalten und ging zurück in die Küche. Nick folgte ihr.
»Jule hat heute Morgen über Bauchschmerzen geklagt. Ich weiß, dass Sie es gut meinen, Magda, aber mit Bauchschmerzen kann man nichts essen. Ich glaube, die Bauchschmerzen sind ein Ausdruck von Jules Trauer«, erklärte Nick.
»Ja, das glaube ich auch. Ich versteh schon. Ich wollte ihr eine heiße Schokolade machen«, erwiderte die Köchin.
»Das ist eine gute Idee, Magda«, freute sich Nick. Magda war einfach die Beste.
Wieder zurück im Esszimmer hörte er, wie sich Martin mit Fabian und Simon über die Schule unterhielten.
»Wir haben einen neuen Referendar in Bio. Ich finde den eigentlich ganz nett. Aber viele machen nur Quatsch bei ihm, weil der nicht schimpft. Das finde ich richtig doof«, berichtete Martin.
»Ein Lehrer darf nicht zu nett sein. Er muss auch mal streng sein«, gab Fabian etwas altklug zurück.
»Ja, genau, die netten Lehrer haben oft schlechte Karten«, ergänzte Simon.
»Nächste Woche will er mit uns eine Exkursion machen«, berichtete Martin.
»Was denn für eine Exkursion?«, fragte Magda, die mit der heißen Schokolade zurück war und sie vor Jule platzierte.
»Na ja, ein Ausflug halt«, erklärte Martin.
»Aha, und wohin geht es?«, fragte Magda.
»In den alten Steinbruch. Wie sollen Pflanzen untersuchen, die unter besonderen klimatischen Bedingungen wachsen. Und wir werden nach Fossilien suchen.« Man konnte hören, dass Martin sich auf diese Exkursion freute.
Denise hatte bei der Unterhaltung ebenfalls zugehört und fragte sich, ob die Exkursion gut gehen konnte, mit einem Lehrer, der sich nicht durchzusetzen vermochte. Dann fiel ihr Blick auf Jule, die vorsichtig an ihrer heißen Schokolade nippte. Magda hatte mal wieder die richtige Idee gehabt.
Kurz darauf machten sich alle Kinder, außer Jule, die erst nach den Sommerferien eingeschult werden würde, fertig, um pünktlich mit dem roten Bus zur Schule zu fahren. Die größeren Kinder fuhren nach Maibach und die jüngeren Kinder nach Bachenau in die Grundschule. Es kam aber auch vor, dass diese den kurzen Weg nach Bachenau mit dem Fahrrad zurücklegten. Im Moment aber war der rote Bus mehr angesagt, was vor allem am netten neuen Fahrer, Harald Franke, lag, der manchmal auch seinen kleinen Hund Fietje dabeihatte.
Es war üblich, dass immer jemand aus Sophienlust die Kinder verabschiedete und wartete, bis der Bus das Grundstück durch das schmiedeeiserne Tor verlassen hatte. Heute waren das Denise und Nick. Jule stand bei ihnen und schaute gespannt dem Treiben zu.
»Regine kommt heute gegen elf«, informierte Nick seine Mutter. Die Kinderschwester Regine Nielsen hatte für ein verlängertes Wochenende freigenommen und war mit ihrem Freund Dr. Gerlach, der Arzt an der Klinik in Maibach war, und dessen kleinen Sohn Leon weggefahren.
»Gut. Wir müssen dann noch besprechen ...«, begann Denise, hielt aber inne, denn durch das Tor kam in diesem Augenblick ein Wagen gefahren, der sich dem Herrenhaus näherte.
»Hast du heute einen Termin?«, fragte Nick seine Mutter. Doch noch ehe Denise verneinen konnte, rief Jule:
»Das ist Tante Elena!« Sie wollte sofort loslaufen, aber Nick hielt sie sanft zurück.
»Warte mal, bis deine Tante ausgestiegen ist«, schlug er vor.
Als das geschehen war, rannte das Kind die Freitreppe hinunter und warf sich in die Arme der Angekommenen. Denise und Nick beobachteten die Szene und ließen den beiden etwas Zeit.
Mit Jule auf dem Arm stieg die Frau schließlich die Freitreppe empor.
»Guten Tag, ich bin Jules Tante. Elena Menzel«, stellte sie sich vor.
Denise und Nick erblickten eine junge Frau, der man die durchwachten Nächte am Bett ihrer Schwester deutlich ansah. Sie hatte wie ihre Nichte blonde Haare und einen blassen Teint. Tiefe Schatten lagen unter den blauen geröteten Augen. Sie wirkte müde, erschöpft und ratlos. Doch für Jule war sie ein Rettungsanker. Die Kleine hielt sich an ihrer Tante fest – oder die Tante an dem Kind? Genau konnte man das nicht sagen.
Denise überlegte, wie man jetzt am besten miteinander sprechen konnte. Vielleicht gab es etwas, das für Jules Ohren nicht bestimmt war.
»Können wir Ihnen ein Frühstück anbieten?«, fragte sie dann.
»Ach, das wäre wunderbar. Ich weiß gar nicht, wann ich zuletzt etwas gegessen habe«, antwortete Elena Menzel dankbar.
Kurz darauf saßen sie bei Magda in der Küche, die sich nicht lange bitten ließ, der erschöpften Frau ein Frühstück zu servieren.
Denise und Nick tranken eine zweite Tasse Kaffee. Als Elena etwas aß, griff Jule auch endlich zu. Sie saß bei ihrer Tante auf dem Schoß, mümmelte an einem Brötchen, und langsam fielen ihr die Augen zu und sie schlief ein.
Magda holte eine Decke, und mit Nick zusammen betteten sie Jule auf die Küchenbank. Elena Menzel sah so aus, als wollte sie sich gleich dazulegen, aber der Kaffee hatte sie etwas belebt, und sie begann zu erzählen.
»Ich sage es Ihnen ganz offen: Ich bin geschockt. Von allem. Ich hätte nie gedacht, dass …«, sie konnte nicht weitersprechen, weil ihr wieder die Tränen kamen, »… sie sterben würde«, flüsterte sie. »Natürlich kümmere ich mich um Jule, aber ich muss ja auch arbeiten. Ich lebe allein. Und dann diese Idee meiner Schwester mit dem Vater von Jule ... Ich kenne den Mann nicht. Ich weiß nicht, warum Carla auf einmal wollte, dass er sich mit mir das Sorgerecht teilt. Sie wissen vielleicht, dass sie einen Hirntumor hatte. Ganz ehrlich, also das hört sich jetzt schrecklich an, aber ich glaube, sie konnte nicht mehr klar denken. Wenn Sie wissen, was ich meine ...«
Denise und Nick sagten erst einmal nichts dazu und warteten. Elena schüttelte stumm den Kopf.
»Wissen Sie, wie der Vater heißt, wo er lebt, oder sonst irgendetwas von ihm?«, fragte Nick.
»Malte Haberkorn. Er ist Geologe und arbeitet an einem wissenschaftlichen Institut. Carla hat ihn gegoogelt und mir die Kontaktdaten gegeben. Das ist nicht das Problem«, sagte sie.
»Was ist denn das Problem?«, fragte Nick gerade heraus.
»Meinen Sie nicht, dass es einen Grund hat, warum der Mann nichts von Jule weiß?«, fragte Elena Menzel zurück.
Das war eine rhetorische Frage, und weder Nick noch Denise wussten, wie sie zu beantworten war. Elena Menzel war misstrauisch, was den Vater ihrer Nichte betraf. Das konnten sie ihr nicht verübeln.
»Wenn eine Mutter den Vater des Kindes nichts von dessen Existenz erzählt und nie zu ihm Kontakt aufnimmt, muss das einen Grund haben, denken Sie. Und Sie vermuten, dass der Vater nichts taugt«, interpretierte Denise die Frage von Elena.
»Ja, irgendwie schon. Oder das irgendetwas vorgefallen ist …«, überlegte Elena.
»Ihre Schwester hat mit Ihnen nie über Malte Haberkorn gesprochen?«, fragte Nick.
»Nein, ich habe den Namen vor wenigen Tagen das erste Mal gehört. Aber wir standen uns nicht immer nahe. Wir sind sehr verschieden«, versuchte sie zu erklären.
»Inwiefern verschieden?«, fragte Nick.
»Carla war ein Bücherwurm, sie war super in der Schule. Sie hat schon früh Literaturwettbewerbe gewonnen. Sie war natürlich der Liebling unserer Eltern, die leider früh verstorben sind. Ich war anders. Ich wollte immer etwas Praktisches machen und draußen in der Natur arbeiten. Deshalb habe ich Gartenarchitektur studiert und an vielen Orten auf der Welt gearbeitet; und wenn ein Projekt beendet war, bin ich weitergezogen. Ich habe ein ziemlich unstetes Leben geführt. Jule habe ich erst kennengelernt, als sie drei wurde. Ich habe Carla nie gefragt, wer denn eigentlich der Vater von Jule ist. Ich fand, dass mich das nichts anging. Klingt seltsam, oder?«
»Wir hören viele seltsame Geschichten. Ihre Geschichte ist vor allem traurig«, erwiderte Denise.
Elena nickte, und wieder flossen Tränen. Denise dachte, dass man einen Plan bräuchte, wie weiter vorzugehen sei.
»Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Ihnen der Wunsch Ihrer Schwester wichtig. Sie möchten sich so verhalten, wie es im Testament steht und wie Sie es Ihrer Schwester versprochen haben«, fasste Denise zusammen.
»Ja, natürlich. Es war ihr letzter Wille. Das ist mir heilig.«
»Gut. Wie können wir Sie unterstützen? Wollen Sie den Kontakt zu Herrn Haberkorn selber herstellen, oder sollen wir ihn hierher einladen …«, schaltete sich Nick wieder ein.
»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie den Vater kontaktieren würden, denn das geht zurzeit über meine Kräfte. Aber ich will auf keinen Fall, dass er hier einfach auftaucht, sich sein Kind anschaut und wieder geht, weil ihm einfällt, dass er lieber keinen Kontakt will. Zwingen können wir ihn aber natürlich nicht, seine Vaterrolle anzunehmen.« Elena hatte sich mit der Situation, in der sie sich befand, bereits auseinandergesetzt, und sie hatte recht: Niemand konnte sagen, wie Malte Haberkorn auf die Nachricht reagieren würde und in welcher aktuellen Lebenssituation er sich befand. Für Jule aber wäre es katastrophal, wenn er hier in Sophienlust auftauchte, sich zu erkennen gab und dann wieder verschwand.
»Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen, Frau Menzel«, sagte Nick und holte das Bilderbuch ›Papa fährt zum Nordpol‹, das zu Häupten der schlafenden Jule auf der Küchenbank lag.
»Jule trägt dieses Buch andauernd mit sich herum. Es scheint eine Art Talisman für sie zu sein. Schauen Sie bitte mal hinein«, bat er.
Elena blätterte das Bilderbuch durch und sah Nick dann fragend an. »Ja, das ist ein typisches Carla-Buch. Sehr nett, aber …«
»Wissen Sie, was mir Jule darüber gesagt hat?«, fragte er die junge Frau.
Elena schüttelte den Kopf.
»’Mein Papa ist am Nordpol, und er kommt mich holen, wenn er mit Forschen fertig ist’«, zitierte Nick die Kleine.
»Sie meinen …« Elena versagte die Stimme. Denise half ihr weiter:
»Wir wissen nicht, was wir dazu meinen sollen. Es könnte Fantasie sein. Kinder in dem Alter erfinden manchmal Fantasiefreunde, die ihnen in schwierigen Situationen helfen. Es könnte aber auch sein, dass Carla ihrer Tochter doch etwas von ihrem Vater erzählt hat. Wir wissen es nicht.«
Elena nickte wieder. Sie war auf einmal unendlich müde.
»Ich kann nicht mehr …, ich muss schlafen«, murmelte sie matt.
»Sie können bei uns auf Gut Schoeneich bleiben. Wir haben dort Gästezimmer. Dort können sie sich hinlegen, und wir sprechen heute Nachmittag oder heute Abend weiter«, schlug Nick vor.
Denise stimmte zu. Das war eine gute Idee. Wenn Jule aufwachte, konnten sie dem Kind sagen, dass seine Tante ganz in der Nähe wäre.
Elena bedankte sich und fühlte sich für einen Moment erleichtert und gut aufgehoben. Sie strich Jule sanft übers Haar und ließ sich dann von Nick nach Gut Schoeneich hinüberfahren.
*
Einige Stunden später, ins Biedermeierzimmer schien bereits die Nachmittagssonne, besprachen Elena Menzel, Denise und Nick weitere Details.
Es gab noch andere Dinge, die geregelt werden mussten, außer der Frage, wer Malte Haberkorn informieren sollte und wann das geschehen konnte. Denise brachte Elena auf den Gedanken, dass sie sich Unterstützung von einem Nachlassverwalter holen könnte.
»Mir scheint, dass Sie über die Vermögensverhältnisse Ihrer Schwester nicht unterrichtet sind. Ihre Schwester war eine erfolgreiche Kinderbuchautorin. Ihre Werke werden über ihren Tod hinaus noch Vermögen erwirtschaften, welches Jule zugutekommen wird.«
»Carla war in finanzieller Hinsicht nicht gerade gut organisiert«, gab Elena zu bedenken. »Sie haben recht, ich muss mir einen Überblick verschaffen, und ich muss mich auch um die Beerdigung kümmern, die Wohnung auflösen … Ich kann mir eine so große Wohnung nicht leisten.«
»Wo wollen Sie denn mit Jule wohnen?«, fragte Nick.
»Ich weiß es nicht. Ich habe nur ein winziges Appartement in Weilenberg. Wenn ich irgendwo einen Auftrag annehme, lebe ich in dieser Zeit dann vor Ort. So sah mein Leben bisher aus. Das muss ich jetzt natürlich ändern. Kann Jule denn erst mal hierbleiben, bis ich weiß, wie es weitergeht?«, fragte Elena und schien schon wieder erschöpft von den Aufgaben, die vor ihr lagen.
»Ja, darüber machen Sie sich keine Sorgen. Sie kann hierbleiben, solange es nötig ist. Am besten gehen Sie Schritt für Schritt vor«, riet Denise der jungen Frau.
Sie saßen noch eine Weile zusammen, bis sie gemeinsam einen Plan für die nächsten Tage entworfen hatten. Elena bekräftigte noch einmal, dass sie sich wünschen würde, dass Denise oder Nick Jules Vater informierten. »Wenn Sie sich darum kümmern könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar«, erklärte sie. »Mir ist schon klar, dass ich diesen Mann irgendwann mal treffen muss, aber das ist mir jetzt noch zu viel. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er gar keinen Kontakt zu Jule haben will, und ich bin überfordert von der Vorstellung, mir mit einem Fremden das Sorgerecht teilen zu müssen.«
Denise und Nick konnten diesen Zwiespalt nachfühlen, und als hätte Jule bemerkt, dass von ihr die Rede war, stand die Kleine plötzlich im Biedermeierzimmer.
»Oh, das ist aber ein schönes Zimmer«, sagte sie und schaute sich bewundernd um. Dann ging sie zu Elena und kletterte auf ihren Schoß.
»Hast du schon das Spielzimmer gesehen, Tante Elena? Schwester Regine hat es mir gezeigt. Es gibt auch viele Bücher. Einige kenne ich schon.«
»Nein, Jule. Das musst du mir mal zeigen«, antwortete Elena lächelnd.
»Dann komm«, sagte die Kleine und rutschte vom Schoß der Tante.
Elena ließ sich von Jule mitziehen.
Sie gingen auch die breite helle Treppe in den ersten Stock hinauf. Jule zeigte Elena ihr Zimmer, das eigentlich Heidis Zimmer war. Dort stand jetzt ein Aufklappbett für Jule. Wenn sich die Kleine an ihren neuen Aufenthaltsort gewöhnt hatte, würde sie auch ein eigenes Zimmer bekommen können. Im Moment war es aber genau richtig für sie, mit Heidi zusammen ein Zimmer zu bewohnen.
Im Spielzimmer im Erdgeschoss fanden sie einen kleinen schwarzhaarigen Jungen und ein blondes, etwa sieben Jahre altes Mädchen vor.
»Das sind Kim und Heidi«, stellte Jule ihre neuen Freunde vor.
»Wer bist du?«, fragte Kim.
»Ich bin Jules Tante. Ich heiße Elena«, antwortete sie und schaute sich in dem großen hellen Zimmer um. Es gab nicht übermäßig viel, aber sehr qualitätvolles Spielzeug sowie Material zum Bauen, Basteln und Malen. In einem Regal standen Bücher, und Jule hatte sofort eines entdeckt, das ihre Mutter verfasst hatte.
»Hier, das kenne ich. ›Lina und Flori bauen ein Baumhaus‹«, las Jule vor.
»Jule schon kann lesen. Dabei noch nicht geht sie in die Schule«, sagte Kim verwundert und vergaß mal wieder die Wortstellung deutscher Sätze. Elena wunderte sich nicht über diese Fähigkeit ihrer Nichte, denn auch Carla hatte früh lesen können. Plötzlich tauchte ein Bild aus Kindertagen in ihrer Erinnerung auf: Sie und Carla in einem Zelt aus Decken, und die große Schwester las ihr vor ... Sie kämpfte mit den Tränen.
»Du bist traurig wegen Mama«, stellt Jule fest und kuschelte sich an ihre Tante.
»Ja, das stimmt«, sagte Elena.
»Ich bin auch traurig, und dann geht es wieder. Manchmal habe ich nur Bauchschmerzen«, beschrieb Jule ihre Gefühle.
Kim und Heidi spielten leise weiter. Auch sie hatten die veränderte Stimmung wahrgenommen und waren intuitiv verstummt.
»Kannst du uns das Buch vorlesen, Tante Elena?«, fragte Jule und hielt ihr das Buch hin. Elena nickte. Sie musste sich kurz sammeln, aber dann kuschelten sich alle zusammen, und Elena las vor.
*
Ungefähr anderthalb Wochen später stand Denise von Schoenecker zusammen mit dem Nachlassverwalter Dr. Kuhn vor dem Haus von Malte Haberkorn.
In der Zwischenzeit hatte die Beerdigung von Carla Menzel unter großer Anteilnahme vieler Menschen stattgefunden, und Dr. Kuhn hatte seine Arbeit aufgenommen.
Jule hatte sich etwas eingelebt. Es gab gute und weniger gute Tage, sodass Regine Nielsen die Kinderärztin Frau Dr. Frey eingeschaltet hatte.
Regine hatte der Kinderärztin von Jules Bauchschmerzen berichtet. Von ihr hatte Regine wichtige Ratschläge bekommen, wie man mit einem trauernden Kind umgehen sollte.
Elena pendelte zwischen ihrem kleinen Appartement in Weilenberg und Sophienlust hin und her. Manchmal blieb sie auch auf Gut Schoeneich. Auch sie hatte gute und schlechte Tage.
Dr. Kuhn war eine große Hilfe. Ein älterer Herr in seinen Sechzigern, seriös und sachlich. Es wurde schnell klar, dass sich Elena zumindest in finanzieller Hinsicht keine Sorgen zu machen brauchte. Carlas Wohnung war eine Eigentumswohnung. Sie konnte sich also Zeit lassen bei der Auflösung. Das war schon mal eine Erleichterung.
Dr. Kuhn war dann auch der Ansicht gewesen, dass Denise und er zusammen zu Malte Haberkorn fahren sollten. Sie hatten sich telefonisch bei ihm angemeldet. Er wohnte zum Erstaunen aller gar nicht weit, in Igelshofen.
Auf dem Klingelschild standen zwei Namen: Dr. Malte Haberkorn und Saskia Haberkorn. Dr. Kuhn klingelte.
Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann stand im Rahmen. Denise schätzte ihn auf Ende dreißig oder Anfang vierzig. Er hatte sich nicht um ordentliche Kleidung bemüht, trug Jeans, ein altes verwaschenes T-Shirt und stand auf Socken vor ihnen. Dunkelblonde Haare, ein kurzer Bart, wache blaue Augen. Sie sah eine gewisse Ähnlichkeit zu Jule, war sich aber nicht sicher.
»Guten Tag, Herr Haberkorn«, begann Denises Begleiter. »Kuhn, wir hatten telefoniert. Ich bin der Nachlassverwalter von Carla Menzel, und das ist Frau von Schoenecker aus dem Kinderheim Sophienlust«, stellte Dr. Kuhn sie beide vor.
»Guten Tag, kommen Sie bitte herein«, sagte Malte Haberkorn.
Denise ließ den ersten Eindruck auf sich wirken. Als würde dem Mann jetzt erst auffallen, dass er einen offiziellen Besuch empfing und nicht einen Kumpel aus der Eckkneipe, fuhr er sich durch die Haare und grinste verlegen.
»Mir war nicht bewusst, dass hier so etwas Offizielles stattfindet … Na ja, ich glaube, meine Schwester hat uns einen Kaffee gemacht.«
Denise und Dr. Kuhn wechselten einen schnellen Blick. Auch Denise hatte sich nicht besonders schick gemacht, aber sie war eine elegante Frau, die immer passend zum Anlass gekleidet war, und Dr. Kuhn trug wie immer einen gut sitzenden Anzug in einer gedeckten Farbe.
Malte Haberkorn ging mit den Besuchern ins Wohnzimmer und bat sie, Platz zu nehmen. Dr. Kuhn blickte sich um und fragte sich im Stillen: Wo denn bitte? Auch Denise war nicht klar, wohin sie sich setzen sollten, denn überall auf den etwas schäbigen Sitzmöbeln lag etwas herum: Zeitschriften, Prospekte, Wurfsendungen und Kleidung.
Malte schickte sich an, die Sachen wegzuräumen, wusste aber offenbar nicht, wohin damit. Dann bat er seine Gäste an den Esstisch, der wohl selten zum Einsatz kam, denn hier waren die Stühle nicht zweckentfremdet.
»Was hatten Sie denn erwartet, Herr Haberkorn, wenn nicht etwas Offizielles?«, fragte Dr. Kuhn, als sie am Tisch saßen.
»Na ja, Sie sagten ja, dass Sie ein Nachlassverwalter sind. Ich dachte, tja, ich habe vielleicht etwas geerbt?«, sagte er und lachte, als hätte er einen Witz gemacht.
»Sie haben also von Frau Carla Menzel gehört? Es ging ja durch die Presse«, fragte Dr. Kuhn nach.
»Ja, schon. Ich lese normalerweise keine Traueranzeigen, aber ich habe davon gehört«, räumte Malte ein.
Denise wurde es unbehaglich zumute. Das fing ja gut an. Er wollte also etwas erben.
»Saskia, ist der Kaffee fertig?«, rief Malte unvermittelt.
»Komme«, hörten sie eine Stimme, und kurz darauf erschien eine Frau Anfang fünfzig, die dann wohl Maltes Schwester sein musste. Eine Ähnlichkeit zwischen ihr und ihm war auf den ersten Blick nicht zu sehen.
Sie brachte ein Tablett mit vier verschiedenen Bechertassen, Kaffee und eine kleine Schale mit billigem Gebäck.
»Guten Tag zusammen. Da sind wir ja gespannt, was Sie uns zu erzählen haben«, sagte Saskia Haberkorn, stellte das Tablett ab und nahm ebenfalls Platz.
»Wir haben etwas mit Herrn Haberkorn zu besprechen. Ihre Anwesenheit ist nicht erforderlich«, sagte Dr. Kuhn kühl. Der hemdsärmelige Auftritt der beiden gefiel dem Nachlassverwalter nicht. Das war deutlich zu spüren. Denise hielt die Luft an. Auch sie war unangenehm überrascht. Während Malte Haberkorn etwas zu lässig daherkam, machte Saskia Haberkorn auf Denise einen direkt ungepflegten Eindruck. Das lag nicht nur an ihrer Kleidung, sondern vor allem an ihren langen, strähnigen graubraunen Haaren, die sie offen trug.
»Mein Bruder und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Ich …«, begann sie zänkisch.
»Das haben nicht Sie zu entscheiden«, sagte Dr. Kuhn streng. »Aber solange wir uns nur allgemein unterhalten, um uns etwas kennenzulernen, dürfen Sie gerne bleiben.«
»Das ist ja…«
»Lass gut sein, Saskia«, unterbrach Malte seine Schwester.
»Herr Haberkorn, könnten Sie uns kurz etwas über Ihre aktuelle Lebenssituation verraten?«, begann Dr. Kuhn.
»Nun, ich bin promovierter Geologe. Ich arbeite seit zwei Jahren in einem Forschungsinstitut in Maibach. Vorher war ich auf verschiedenen Expeditionen in der Arktis unterwegs. Klimaforschung ist mein Schwerpunkt.«
Denise stockte der Atem. Jules Vater war tatsächlich auf einer Expedition am Nordpol beteiligt gewesen. Aber unter einem Nordpolforscher hatte sie sich etwas anderes vorgestellt als diesen Sockenmann, der da vor ihnen saß.
Plötzlich traf sie sein Blick. »Habe ich das eben richtig verstanden, Frau von Schoenecker, Sie arbeiten in einem Kinderheim?«, fragte er.
»Mein Sohn Dominik ist der Besitzer des Kinderheims Sophienlust«, antwortete sie.
Malte Haberkorn sah Denise unverwandt an. Man sah ihm an, dass etwas in ihm arbeitete und er sich fragte, was das alles zu bedeuten hatte.
»Könnten Sie uns etwas über Ihre frühere Beziehung zu Frau Carla Menzel sagen?«, fragte Dr. Kuhn.
Noch ehe Malte antworten konnte, schaltete sich seine Schwester ein:
»Also, die haben gar nicht zusammengepasst. Der Malte hatte die einmalige Chance auf der ›Voyager‹ mitzufahren, und diese Bilderbuchautorin wollte ihn davon abhalten. Er sollte nur zu Hause sitzen und Bücher lesen. Das war nichts für Malte.«
»Saskia, bitte. Ich würde jetzt doch gerne mit unseren Gästen allein sprechen«, bat Malte seine Schwester.
Saskia stand umständlich und geräuschvoll auf und rauschte dann wortlos aus dem Raum.
»Entschuldigen Sie. Meine Schwester hat mich nach dem Tod unserer Eltern aufgezogen. Sie ist zehn Jahre älter als ich. Das ist nicht immer einfach, jetzt, da ich auf mich selbst aufpassen kann«, sagte er und lachte, peinlich berührt vom Verhalten seiner Schwester.
»Gut, Herr Haberkorn. Kommen wir zur Sache. Sie haben nichts geerbt. Aber aus Ihrer Beziehung mit Carla Menzel ist eine Tochter entstanden. Frau Menzel hat testamentarisch verfügt, dass Sie und Frau Menzels Schwester Elena sich das Sorgerecht für das Mädchen teilen sollen.«
Nach dieser Information trat erst einmal Stille ein. Denise beobachtete Malte. Sie hatte zunächst das Gefühl, dass die Nachricht bei ihm gar nicht angekommen war. Er schaute Dr. Kuhn an, als wartete er auf eine Erklärung, wie es zu dieser Tochter hatte kommen können.
»Herr Haberkorn, es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen zu erklären, wieso Sie eine Tochter haben …«, sagte der Nachlassverwalter.
»Ist das sicher?«, fragte Malte ruhig.
»Sie meinen, ob durch einen Gentest die Vaterschaft bestätigt wurde?«, fragte Dr. Kuhn ungläubig.
»Ja, genau, das meine ich.«
»Das müssten Sie doch selbst am besten wissen. Ich denke, nein.«
»Ja, dann weiß ich nicht, wieso Sie hier aufkreuzen«, sagte der Mann und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Stuhllehne.
Denise war sich in diesem Moment sicher, dass Malte nicht der Vater sein konnte, den sich Carla für Jule gewünscht hätte, und Elena tat ihr einfach nur leid. Dr. Kuhn blieb jedoch völlig ruhig und professionell.
»Carla Menzel war sich ganz sicher, dass Sie der Vater sind. Sie wird wohl ihre Gründe gehabt haben, Sie in ihrem Testament zu nennen, und offenbar hatte sie Vertrauen in Sie …«
»Ihr Vertrauen hat aber nicht ausgereicht, mir von der Schwangerschaft, der Geburt und dem Kind zu erzählen. Finden Sie das nicht seltsam? Und jetzt soll ich mich plötzlich um ein Kind kümmern, das ich gar nicht kenne?« Maltes Stimme blieb ruhig, aber seine Körperhaltung verriet Abwehr.
»Das Testament verpflichtet Sie zu nichts. Sie können ablehnen. Außerdem wird das Vormundschaftsgericht prüfen und entscheiden, ob Sie überhaupt geeignet sind, das Sorgerecht übertragen zu bekommen. Sie sollten den Wunsch der Mutter als Chance begreifen und nicht als Zumutung«, sagte der Nachlassverwalter ruhig und sachlich.
»Ich soll mich wohl auch noch geehrt fühlen?«, fragte Malte spöttisch.
Denise wurde es langsam unangenehm, den Worten des Mannes weiter zuzuhören. Sie musste sich zusammenreißen und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall.
»Herr Dr. Haberkorn, Ihre Tochter ist bei uns in Sophienlust. Sie ist ein wunderbares Kind, aber ich werde nicht zulassen, dass Sie zu diesem Kind irgendeinen Kontakt aufnehmen, wenn Sie nicht dazu bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Jule hat einen schweren Verlust zu verkraften. Sie braucht keinen Vater, der nicht ihr Vater sein will.«
»Verstehe. Aber ohne einen Gentest, der meine Vaterschaft bestätigt, mache ich gar nichts«, sagte er trotzig.
»Wir können das natürlich veranlassen, aber vielleicht sollten Sie auch noch einmal in sich gehen«, sagte Dr. Kuhn. »Denken Sie bitte in Ruhe nach, was das Ergebnis eines Gentests für Sie bedeuten würde. Denken Sie darüber nach, warum Carla Menzel Sie als Vater genannt hat und warum Sie erst jetzt davon erfahren. Dann lassen Sie uns wissen, wie wir weiter verfahren sollen.«
Dann bedeutete Dr. Kuhn, indem er aufstand, dass das Gespräch beendet wäre. Er gab Malte Haberkorn seine Karte.
»Bestellen Sie Ihrer Schwester einen Gruß und danke für den Kaffee.«
Denise grüßte ebenfalls, und die beiden verließen die Wohnung und gingen zum Wagen des Nachlassverwalters. Auf der Fahrt Richtung Wildmoos schwiegen sie beide, jeder hing seinen Gedanken nach. Dann richtete Dr. Kuhn das Wort an Denise:
»Ich vermute, dass Sie sich einen anderen Verlauf des Gesprächs gewünscht hätten. Ich denke, dass Sie den Mann für nicht geeignet halten.«
Denise seufzte. »Sie vermuten richtig«, antwortete sie.
»Wir müssen Haberkorn etwas Zeit lassen. Ich halte ihn nicht für ungeeignet. Er ist tatsächlich nicht unser Problem«, sagte der Nachlassverwalter.
»Nein? Wer ist dann unser Problem, wenn nicht dieser Mann, den nur interessiert, ob er wirklich der biologische Vater ist …?«
»Das kann man ihm nicht verübeln. Er war mit der Situation überfordert. Aber die Schwester ist unser Problem, glauben Sie mir.«
»Könnte es denn sein, dass er nicht der Vater ist?«, fragte Denise.
Dr. Kuhn sah sie von der Seite an. »Meine liebe Frau von Schoenecker. Meine Aufgabe ist es, die Vermögensverhältnisse von Carla Menzel zu sichten. Ich lese nicht ihr Tagebuch.«
Denise musste wider Willen lächeln. »Entschuldigen Sie. Natürlich. Das war eine dumme Frage.«
»Ich habe diesen Beruf gewählt, weil ich gerne Ordnung in verzwickte Angelegenheiten bringe. Ich versuche, dabei Gefühle außen vor zu lassen. Für mich zählen Fakten. Aber ich glaube nicht, dass wir den falschen Mann vor uns haben«, sagte er bestimmt.
*
Denise hätte gegenüber Elena am liebsten von dem unerfreulichen Besuch bei Malte Haberkorn geschwiegen. Aber natürlich war Elena gespannt zu erfahren, welchen Eindruck Denise gewonnen hatte.
»Frau von Schoenecker bitte seien Sie ehrlich. Was denken Sie über Malte Haberkorn?« Sie saßen im sonnigen Wintergarten bei einer Tasse Tee. Über ihnen in luftiger Höhe hörte man die beiden Papageien Habakuk und Hugo leise krächzen.
Denise hatte sich zuvor schon Gedanken darüber gemacht, was sie Elena erzählen konnte. Sie begann mit den Fakten.
»Er war tatsächlich am Nordpol. Er ist promovierter Geologe, er hat also einen Doktortitel, und sein Schwerpunkt ist Klimaforschung. Er hat eine Schwester, Saskia. Sie ist zehn Jahre älter als er. Sie hat ihn aufgezogen, als die Eltern verstarben.«
»Er wohnt bei seiner Schwester?«, fragte Elena nach.
»Ja. Mir schien es aber eher so, als wohnten die beiden schon immer zusammen. Jedenfalls hat diese Schwester von Carla gewusst.«
»Und was denken Sie über ihn?«, forschte Elena.
Denise wollte der jungen Frau gegenüber ehrlich sein, dass der Mann keinen guten Eindruck auf sie gemacht hatte. Aber die Worte von Dr. Kuhn hatten ihre Wirkung auch nicht verfehlt.
»Er möchte erst wissen, ob er wirklich der Vater ist. Dr. Kuhn meinte, dass man ihm das nicht verübeln sollte. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Carla mit ihrer Entscheidung, ihn nicht über seine Tochter in Kenntnis zu setzen, die Situation, wie sie jetzt ist, erst herbeigeführt hat.«
Elena sah Denise an und nickte. »Sie denken, dass meine Schwester eine Mitschuld trägt?«
»Von Schuld würde ich niemals sprechen, Elena. Carla wird ihre Gründe gehabt haben, aber wir kennen diese Gründe nicht. Und wir sollten Malte Haberkorn nicht dafür verurteilen, dass er Gewissheit haben möchte«, versuchte Denise ihren Standpunkt zu erläutern. Elena schwieg und suchte nach Worten, ihre widersprüchlichen Gefühle auszudrücken.
»Ich bin etwas enttäuscht. Irgendwie habe ich wohl doch gehofft, dass er Jule sofort sehen möchte. Dass er sofort Vatergefühle entwickelt …«, sagte sie leise.
»Ja, das habe ich auch gehofft. Ich weiß genau, was Sie meinen. Aber das Wichtigste ist doch, dass Jule keine neue Enttäuschung erleben darf. Sie hat ihre Mutter verloren. Bevor ihr Vater hier auftaucht, sollte er sich sicher sein, dass er der Vater ist und dass er ihr Vater sein will.«
»Ja, da haben Sie recht. Er sollte den Gentest machen, damit die Zweifel aus der Welt sind«, bestätigte Elena.
»Haben Sie schon angefangen, Carlas persönliche Dinge zu sichten?«, erkundigte sich Denise.
»Nein, noch nicht. Es ist eine große Herausforderung für mich. Aber es wird langsam Zeit. Jule braucht ihre vertrauten Dinge um sich. Und ich möchte nicht in Carlas Wohnung leben. Das weiß ich inzwischen. Ich brauche einen Neuanfang.«
In dem Moment klopften Kim und Heidi an die gläserne Gartentür des Wintergartens. Gedämpft hörte man die Kinder rufen: »Tante Elena, komm mal gucken.« Die beiden hatten sich die Anrede ›Tante‹ von Jule abgehört. Elena gefiel das. Sie bedankte sich bei Denise für den Tee und ging hinaus zu den beiden.
»Was wollt ihr mir denn zeigen?«, fragte sie.
»Nick hat Jule auf Pando gesetzt«, riefen die beiden, wie aus einem Mund.
»Wer ist Pando?«
»Unser Tigerscheckpony«, sagte Heidi, erstaunt darüber, dass Elena das nicht wusste.
»Komm gucken, Tante Elena«, rief Kim und rannte schon los in Richtung Paddock.
Tatsächlich saß die kleine Jule auf einem Pony, das von Nick geführt wurde. Jules zarte, fast durchscheinende Haut zeigte ein zartes Rosa auf ihren Wangen, und ihre Augen strahlten.
Elena traten die Tränen in die Augen, als sie das Kind sah. Jule war glücklich und hatte für den Moment alle Traurigkeit vergessen. Kinder trauerten anders als Erwachsene. Man durfte ihre leichte Ablenkbarkeit nicht als fehlende Trauer missverstehen. Schwester Regine hatte ihr gegenüber erwähnt, das Kinder in Schüben trauerten und Jules Bauchschmerzen Teil der Trauer um ihre Mutter waren.
Sie, Elena, sollte deshalb mit Jule über die Mutter sprechen, aber auch Möglichkeiten der Ablenkung schaffen. Nun hatte Nick so eine Möglichkeit gefunden, und Elena war unendlich dankbar für diesen Augenblick der Leichtigkeit.
»Schau mal, Tante Elena. Ich kann reiten«, rief Jule. Elena lachte. Sie war früher auch geritten. Bis zur Könnerschaft war es noch ein weiter Weg, aber darauf kam es jetzt nicht an. Nick zwinkerte Elena zu, als er mit Pando an ihr vorbeikam.
Die rotblonde Angelina, die wegen ihrer vielen Sommersprossen von allen ›Pünktchen‹ genannt wurde, gesellte sich zu Elena. Pünktchen war als Kind nach Sophienlust gekommen und mochte jetzt sechzehn Jahre alt sein. Ihre ganze Liebe galt den Pferden, und mit Nick verband sie eine besondere Freundschaft. Nick hatte sie gerettet, als ihre Eltern bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen waren.
»Pferde sind für alles gut. Sie helfen dir, wenn du traurig bist, und sie tun dir gut, weil sie dich erden«, sagte Pünktchen. Elena sah das junge Mädchen an. Sie wusste nicht, was diese damit sagen wollte.
»Auf einem Pferderücken musst du immer voll konzentriert sein. Deshalb kann man alles andere für den Moment vergessen. Das wollte ich sagen«, erklärte Pünktchen und lachte.
Elena lächelte das Mädchen an. Alle Kinder in Sophienlust hatten ein trauriges Schicksal, aber sie waren nicht daran zerbrochen. Darauf kam es an im Leben: nicht zu zerbrechen. Sophienlust gab den Kindern neue Hoffnung und Zuversicht.
Elena blickte zu Jule, die auf Pando ihre Runden drehte. Nick sprach mit ihr, doch der Wind trug seine Worte fort. Sie sah nur Jules fröhliches Gesicht, und für den Moment glaubte auch sie an eine glückliche Zukunft.
*
Elena stand vor Maltes Haberkorns Haus und zögerte. Sie hatte sich nicht angemeldet, aber einige schlaflose Nächte hatten den Plan in ihr reifen lassen, dass sie den Mann endlich kennenlernen wollte. Tatsächlich hatte sie auch einen Plastikbeutel mit einer von Jule benutzten Zahnbürste und einige Haare aus ihrer Haarbürste dabei. Je nachdem, wie das Gespräch verlief, würde sie ihm die Dinge für einen Gentest überlassen.
Sie drückte auf den Klingelknopf, aber nicht Malte, sondern seine Schwester Saskia öffnete die Tür.
»Guten Tag, ich bin Elena Menzel«, stellte sie sich vor.
»Ja, und zu wem wollen Sie?«, wurde sie unfreundlich gefragt.
»Zu Malte Haberkorn«, sagte sie bestimmt.
Ohne auch nur einen Zentimeter von der Türschwelle zu weichen, rief Saskia Maltes Namen. Dann musterte sie Elena von oben bis unten. Diese bemühte sich um Gelassenheit. Aber in Wahrheit war sie sehr angespannt.
»Mein Bruder hat nicht viel Zeit«, hörte sie seine Schwester sagen.
»Ich auch nicht«, gab sie kühl zur Antwort.
Dann kam Malte an die Tür und bat Elena, hereinzukommen. Doch Saskia wich nicht von der Schwelle. Eine absurde Situation, die zu einem Gedränge hätte führen können, wenn Malte seine Schwester nicht weggeschickt hätte.
»Saskia, das ist mein Besuch. Ich komme schon zurecht«, sagte er ruhig, und seine Schwester verzog sich nach drinnen.
»Das war Saskia, meine Schwester«, erklärte er. Elena nickte nur. Seine Schwester war ihr erst mal egal. Sie sah Malte Haberkorn offen ins Gesicht.
»Sie brauchen keinen Gentest. Sie sind es«, sagte sie geradeaus.
»Ich bin was?«, fragte er, obwohl er wusste, um was es ging.
»Der biologische Vater von Jule.« Sie sah ihn herausfordernd an, aber er hielt ihrem Blick stand.
»Ich sehe dem Kind also ähnlich?«, fragte er.
»Ja, sehr«, bestätigte Elena noch einmal und wusste im Moment nicht, wie sie diese Tatsache bewerten sollte. War das gut? Hatte sie es erwartet?
»Und Sie glauben, damit sei alles geklärt?«, fragte er gelassen.
»Nein, das glaube ich keineswegs.«
Sie waren im Wohnzimmer angekommen, und Malte zeigte auf einen Sessel, in dem Elena Platz nehmen sollte.
»Danke. Ich bleibe lieber stehen«, sagte sie.
»Wie Sie wollen. Warum sind Sie hier?« Er setzte sich und nahm Elena in Augenschein. Sie sah Carla nicht ähnlich, aber man sah trotzdem, dass sie Schwestern waren. Elena war blonder und hatte hellere Haut. Sie ist sehr hübsch, stellte er überrascht fest.
»Ich dachte, sie wüssten von dem Testament. Ich wollte Sie kennenlernen. Ich möchte den Mann kennenlernen, mit dem ich mir das Sorgerecht teilen soll«, erklärte sie.
»Sie scheinen genau so begeistert von dieser Aufgabe zu sein wie ich«, bemerkte er mit einem ironischen Unterton.
»Nein, es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen uns. Ich liebe meine Nichte.« Elena schaute Malte aus funkelnden Augen an. Sie konnte gar nicht sagen, warum dieser Mann sie so auf die Palme brachte.
»Ich hatte bisher nicht die Gelegenheit, Gefühle zu entwickeln. Dazu müsste ich das Kind wohl erst mal zu Gesicht bekommen. So funktioniert das normalerweise. Man weiß, dass man Vater wird. Man stellt sich darauf ein. Man zieht ein Kind gemeinsam groß. In meinem Fall liegen die Fakten etwas anders, würde ich sagen.«
»Und Sie wissen sicher überhaupt nicht, warum das so gekommen ist«, sagte sie ironisch.
»Nein, das weiß ich tatsächlich nicht. Ich dachte, dass Carla und ich uns im Guten getrennt hätten. Wir haben nicht zueinander gepasst. Ich wollte auf Forschungsreise gehen. Wir hätten eine Fernbeziehung führen können, aber das wollten wir nicht, weil wir wussten, dass wir zu verschieden waren. Ich habe dann nie wieder von Carla gehört«, berichtete er ruhig.
»Und das soll ich jetzt glauben?«, fragte Elena herablassend.
»Für mich spielt das gar keine Rolle, ob Sie mir glauben oder nicht. Mir sind Fakten wichtiger als Glaubensfragen. Ich bin Wissenschaftler. Deshalb bin ich auch an einem Gentest interessiert.«
Elena kramte in ihrer Handtasche und zog den Plastikbeutel hervor.
»Das habe ich Ihnen mitgebracht«, sagte sie und legte die Plastiktüte auf den Tisch.
»Danke. Sie wollen also auch wissen, mit wem Sie es zu tun haben«, sagte er mit einem kleinen Lächeln.
Elena taxierte ihn und sagte: »Ich glaube, das weiß ich jetzt schon.«
»Na, das scheint mir ja dann die perfekte Basis für eine gute Zusammenarbeit zu sein. Wenn ich Sie zur Tür begleiten dürfte«, sagte er und stand auf.
»Danke, ich finde den Weg allein«, antwortete Elena und verließ ohne Zögern das Haus. Als sie ihr Auto aufschloss, glaubte sie seinen Blick im Rücken zu spüren, aber sie irrte sich. Es war Saskia, die sie aus dem ersten Stock beobachtete.
*
Elena war nach dem Gespräch mit Malte so in Gedanken vertieft, dass sie später nicht mehr wusste, wie sie überhaupt nach Wildmoos zurückgelangt war. Erst als sie das schmiedeeiserne Tor durchfuhr und das schlossähnliche Herrenhaus von Sophienlust sah, wurde ihr das bewusst.
Ihre Gedanken kreisten um die Frage, ob es sein konnte, dass Carla ihre Schwangerschaft gegenüber Malte verheimlicht hatte, und wenn ja, warum. Maltes Wunsch nach Gewissheit konnte sie zwar nachvollziehen, aber sie wusste, dass der Gentest überflüssig war. Ihre Schwester war kein Partygirl gewesen. Es hatte nicht viele Männer in ihrem Leben gegeben, und gleichzeitig schon einmal gar nicht. Außerdem sah Malte Jule ähnlich. Das war unübersehbar.
Als Elena aus dem Wagen stieg, lief ihr Jule entgegen und warf sich ihr in die Arme.
»Wo warst du, Tante Elena?«, fragte die Kleine. Zum Glück kamen Barri, der Bernhardiner, und Anglos, die Dogge, angelaufen, um Elena zu begrüßen. Sie konnte somit der Frage ausweichen, denn Jule hatte immer noch etwas Respekt vor den großen Hunden und wollte auf Elenas Arm. Fabian, dem die Dogge gehörte, war in der Nähe und kam dazu.
»Anglos, sitz«, rief er. Der Hund hörte sofort.
»Sorry, die Hunde sind total kinderlieb, aber sie sind auch echt groß. Als ich so klein war wie du, Jule, hätte ich auch Respekt gehabt«, sagte er zu dem Mädchen. Sie lächelte. Der Fabian war mit seinen dreizehn Jahren schon ein großer Junge, und Jule fand es toll, dass er sie überhaupt beachtete.
»Wollen wir mit den Hunden spazieren gehen? Dann gewöhnst du dich schneller an sie«, schlug er vor. Jule nickte verlegen. Das fand sie toll, aber Tante Elena sollte auch mitkommen. So drehten die drei mit den beiden Hunden eine Runde durch den Park. Fabian erzählte Elena und Jule von seiner Zeit in dem exklusiven Schweizer Internat, das er auf Betreiben seiner Großtante besuchen musste. Nach ihrem Tod hatte der neue Vormund erlaubt, dass Fabian gänzlich nach Sophienlust übersiedeln durfte. Zuvor war er nur in den Ferien dort gewesen.
»Es gab alles, was man sich nur vorstellen kann. Ein Hallenbad, Tennisplätze, ein Golfplatz. Natürlich eine riesige Bibliothek, Computerräume, Labore. Wirklich irre. Das war keine Schule. Das war eine kleine Stadt.«
»Und was hat dir da nicht gefallen?«, fragte Elena.
»Es war alles so steif. Ich musste einen Anzug mit Hemd und Krawatte tragen. Ich habe da kaum Freunde gefunden. Die Lehrer waren sehr streng. Anglos durfte ich auch nicht bei mir behalten. Und stellen Sie sich vor: Die großen Kinder mussten einmal pro Woche zum Drogentest. Sie haben das P … test genannt.«
»Was sind Drogen?«, fragte Jule.
»Das ist so etwas Ähnliches wie ein Medikament, aber man darf Medikamente nur einnehmen, wenn man krank ist, nicht einfach nur so. Dann wird man davon krank«, erklärte Elena.
»Und hier in Sophienlust hast du Freunde gefunden?«, fragte Jule.
»Ja, hier habe ich viele Freunde. Martin und Simon sind meine besten Freunde. Aber alle anderen sind auch sehr nett. Vor allem Nick. Wenn ich groß bin, will ich so werden wie er«, schwärmte Fabian, ein bisschen stolz auf sein Vorhaben. Elena lächelte. Sie konnte Fabian gut verstehen. Man brauchte als Kind Vorbilder. Auch wenn man sich dann später doch in eine andere Richtung entwickelte.
Barri und Anglos liefen nach Hundeart mal vor und dann wieder zurück. Der schwere Bernhardiner blieb aber bald an ihrer Seite, und Jule traute sich immer öfter, ihn zu streicheln.
Als sie wieder am Herrenhaus angekommen waren, war Teezeit in Sophienlust. Magda hatte im Esszimmer Gebäck bereitgestellt und wahlweise Tee, Kaffee oder Kakao. Diese Mahlzeit wurde nicht gemeinsam eingenommen, sondern als Buffet serviert. Einige griffen zu, weil sie Magdas kleinen Törtchen nicht widerstehen konnten, andere verzichteten und warteten lieber bis zum Abendessen.
Jule liebte die Törtchen und hatte sich mit dieser Vorliebe schnell einen Platz in Magdas Herz erobert. Martin und Simon waren auch im Esszimmer und unterhielten sich. Martin sprach von der Exkursion, die morgen stattfinden sollte.
»Wer kommt denn außer dem Referendar noch mit?«, fragte Denise und goss sich eine Tasse Tee ein.
»Unser Referendar hat einen Bekannten. Der ist Geologe. Der kommt mit, Tante Isi«, berichtete Martin. Denise und Elena wurden hellhörig.
»Weißt du, wie der Geologe heißt, Martin?«, fragte Denise nach.
»Nee. Aber morgen weiß ich es bestimmt.«
»Ja, versuch dir bitte zu merken, wie er heißt«, sagte sie und wechselte mit Elena einen Blick. Als die Kinder später wieder nach draußen liefen, sprachen die beide Frauen über die Möglichkeit, dass Malte Haberkorn der Geologe sein könnte, der die Exkursion begleitete.
»Die Welt ist klein. Das wäre schon möglich«, meinte Denise.
»Ja, möglich wäre das«, bestätigte Elena.
*
Herr Scholz, der Referendar, war mit seiner Klasse im alten Steinbruch angekommen, wo schon lange nichts mehr abgebaut wurde. Er konnte sich noch schlechter als sonst Gehör verschaffen, und Martin litt mit dem Lehrer. Er könnte ein Megafon gebrauchen, dachte der Junge.
Herr Scholz hatte keine durchdringende Stimme, und hier unten im Steinbruch verlor sie sich vollends. Die Mädchen alberten herum, und die Jungen schubsten sich gegenseitig. Aber Tobias Scholz hatte eine Geheimwaffe – nämlich seinen Bekannten Dr. Haberkorn.
»Hört jetzt bitte alle einmal zu. Ich möchte euch Herrn Dr. Haberkorn vorstellen. Er ist Geologe und war schon zu Forschungszwecken am Nordpol.« Nach dieser Ansage übergab er an seinen Bekannten.
Malte stellte sich auf einen kleinen Felsen. Das verschaffte ihm schon mal einen guten Überblick. Er war in seinem Element und durfte über sein Fachgebiet sprechen. Hier draußen im Steinbruch fühlte er sich wohl. Für geschlossene Räume war er nicht gemacht. Er brauchte Wind in den Haaren. Dementsprechend war er angezogen, und er hätte gut als Model für Outdoorkleidung durchgehen können.
»Hallo zusammen. Wir wollen heute untersuchen, was Steine und Pflanzen uns über unsere Erde und unser Klima verraten. Vielleicht finden wir hier in dem alten Steinbruch Fossilien. Wer weiß, was Fossilien sind?«
Martin meldete sich als Einziger. »Das sind Überreste von Tieren oder Pflanzen, die sehr alt sind.«
»Richtig. Überreste von Tieren oder Pflanzen, die vor mindestens zehntausend Jahren gelebt haben. Das kann der Abdruck eines Blatts, eine Fußspur oder ein vollständiges Tier-Skelett sein. Diese Spuren und Überreste sind nicht verwest oder zerfallen, sondern zu Stein geworden. Steine sind nicht einfach totes Material, sondern sie können uns wichtige Hinweise über das Leben auf unserer Erde geben.«
»Der ist aber cool«, hörte Martin ein Mädchen neben sich flüstern.
»Ja, nicht so langweilig wie der Scholz«, flüsterte ein anderes Mädchen zurück.
Malte teilte die Klasse in Kleingruppen auf. Die Kinder bekamen kleine Hämmer, Beitel und Meißel und den Auftrag, Steine abzuschlagen und zu untersuchen. Malte Haberkorn ging von Gruppe zu Gruppe und besprach mit den Kindern ihre Fundstücke. Alle waren begeistert bei der Sache. Herr Scholz atmete auf. Vielleicht konnte er Malte auch noch dazu überreden, in der Schule einen Vortrag über seine Expedition zum Nordpol zu halten ...
»Herr Dr. Haberkorn, schauen Sie mal, was ich gefunden habe«, sprach Martin den Geologen an und zeigte ihm einen Stein mit einer besonderen Färbung.
»Ach, interessant, das ist ein Granat. Ein gesteinsbildendes Mineral aus einer Verbindung von Eisen, Magnesium und Kalzium. Typisch für den Granat ist seine rötlich-braune Tönung«, erklärte Malte dem Jungen.
»Wie wird man eigentlich Geologe?«, fragte Martin daraufhin.
»Man studiert Geologie. Im Studium beschäftigst du dich mit dem Aufbau und der Struktur der Erdoberfläche. Du lernst alles über die Gesteine und Böden der ganzen Welt. Man sollte sich aber generell für Naturwissenschaften interessieren. Chemie und Physik sind wichtig, wenn man Geologe werden will«, erklärte Malte.
»Ich möchte aber eigentlich Tierarzt werden. In Sophienlust gibt es viele Tiere, und der Tierarzt Dr. von Lehn ist oft bei uns. Ich darf ihm schon mal assistieren«, erklärte Martin stolz.
»Tierarzt ist auch ein toller Beruf«, bestätigte Malte. Seltsam, innerhalb kurzer Zeit hatte er zweimal von Sophienlust gehört. Er schaute den Jungen neugierig an. Er war ihm schon vorher aufgefallen, weil er so interessiert und aufgeweckt wirkte. Gern hätte er ihm noch Fragen zu Sophienlust gestellt. Aber da riefen schon andere Kinder nach ihm, um ihre Fundstücke zu präsentieren.