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Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. E-Book 31: Wo das Grauen herrscht... E-Book 32: Die gefährliche Rivalin E-Book 33: Die Schöne und der Vampir E-Book 34: Rendezvous mit dem Teufel E-Book 36: Nur der Tod lebt ewig E-Book 37: Drohung der Geister E-Book 38: Die satanische Gräfin E-Book 39: Das Geheimnis des versunkenen Kastellans E-Book 40: Wenn der Racheengel kommt E-Book 41: Gefahr um Mitternacht E-Book 1: Wo das Grauen herrscht... E-Book 2: E-Book 3: Die gefährliche Rivalin E-Book 4: E-Book 5: Die Schöne und der Vampir E-Book 6: E-Book 7: Rendezvous mit dem Teufel E-Book 8: E-Book 9: Nur der Tod lebt ewig E-Book 10: E-Book 11: Drohung der Geister E-Book 12: E-Book 13: Die satanische Gräfin E-Book 14: E-Book 15: Das Geheimnis des versunkenen Kastellans E-Book 16: E-Book 17: Wenn der Racheengel kommt E-Book 18: E-Book 19: Gefahr um Mitternacht E-Book 20:
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Seitenzahl: 1532
Wo das Grauen herrscht...
Die gefährliche Rivalin
Die Schöne und der Vampir
Rendezvous mit dem Teufel
Nur der Tod lebt ewig
Drohung der Geister
Die satanische Gräfin
Das Geheimnis des versunkenen Kastellans
Wenn der Racheengel kommt
Gefahr um Mitternacht
Während ihres Fluges nach London und der Wartezeit, bis sie den Anschlußflieger zum Weiterflug nach Cardiff in Wales besteigen konnte, hatte Sabrina, Baronesse von Rottenstein, genügend Muße, um sich die letzten Tage und Stunden durch den Kopf gehen zu lassen.
Die 23jährige Kunststudentin mit dem Berufswunsch Malerin und Bildhauerin, war von ihren Eltern quasi abkommandiert worden, um ihren Vetter in Wales, den 30 Jahre alten Sir Michael Carmarthen, dreizehnter Earl of Milford-Pembroke, aufzusuchen, der völlig überraschend seine Ehefrau und die Mutter seiner beiden Kinder verloren hatte. Der walisische Edelmann war ein ziemlich weit entfernter Verwandter ihrer Mutter, der Baronin Mary-Anne von Rottenstein-Flowery, die sich just zu diesem Zeitpunkt zu ihrem Leidwesen einer längst überfälligen Operation zu unterziehen hatte.
»Warum kann Felix nicht fliegen?« hatte Nathalie wissen wollen und dabei ihren feixenden Zwillingsbruder angesehen, aber die Mutter hatte abgewinkt. »Quatsch«, hatte die elegante 46jährige Grande Dame, die eine wichtige Rolle in der High Society der bayrischen Landeshauptstadt spielte, salopp gemeint. »Nur eine Frau kann Cousin Michael jetzt Trost spenden, und du wirst mich würdig vertreten.«
Auch bei ihrem Vater, Baron Hubert von Rottenstein, dem 55 Jahre alten Betreiber eines exklusiven Geldinstituts, der »Rottenstein-Flowery-Private Bank« in München – einem der ganz wenigen Bankhäuser, die sich noch in Privathand befanden – hatte sie auf Granit gebissen.
»Wie stellst du dir das vor, Sabrina? Ich muß dringend geschäftlich nach New York fliegen und von da aus nach Hongkong und Singapur.«
So hatte sich Sabrina eben »geopfert«. Im geheimen argwöhnte sie, daß es ihren Eltern ganz recht war, sie eine Weile von München fernzuhalten. Es war ihr nicht verborgen geblieben, wie wenig erfreut diese waren, daß sie so »unpassenden« Umgang pflegte.
Wolf Hausmann, ihr Freund seit zwei Jahren, war in ihren Augen ein junger Habenichts, ein ewiger Student dazu, der sich für vieles schnell begeisterte und nichts zu Ende brachte.
Er war intelligent, besaß aber keinerlei Ehrgeiz, und Herr von Rottenstein verspürte keine Lust, mit seinem sauer verdienten Geld diesen Luftikus irgendwann einmal durchzufüttern.
Der so überraschend verwitwete Graf aus Wales war immens reich – seine Familie hatte ihr Vermögen unter anderem durch die Ausbeutung von Kohlebergwerken gemacht – und sah aus wie eine Mischung von jungem Richard Burton und Sean Connery – wobei letzterer allerdings ein Schotte war.
Sabrina traute ihrer Mutter ohne weiteres zu, daß diese sich bereits eine Ehe zwischen ihrer Tochter und Sir Michael ausmalte – ihre Verwandtschaft bestand sozusagen nur um hundert Ecken herum und bildete daher kein Hindernis.
Ihm würde sie ihre bildschöne, groß gewachsene, schlanke und mit schulterlangen rotblonden Haaren ausgestattete Tochter jedenfalls viel lieber als Gattin überlassen, als Wolf, diesem Bruder Leichtfuß, der außer gutem Aussehen, einer sportlichen Figur und witzigen Einfällen nichts Handfestes vorzuweisen hatte.
Ihr Zwillingsbruder Felix hatte noch zusätzlich Öl aufs Feuer gegossen durch seine süffisante Bemerkung: »Vor zehn Jahren, als Michael uns in München-Grünwald besucht hat, warst du doch ganz verschossen in den Herrn von der Insel. Er hat sich deiner kaum erwehren können, so hast du ihn angehimmelt. Einen regelrechten Starkult hast du um ihn veranstaltet.«
Die Eltern hatten gelacht, und Sabrina war sehr verlegen geworden. »Ach, was! Blödsinn! Kindereien! Damals war ich dreizehn und er zwanzig und noch ledig. Ich habe halt ein bißchen für ihn geschwärmt. Aber das ist lange vorbei.«
Eben wurde ihr Weiterflug von Chadwick nach Wales aufgerufen, und sie setzte sich zu dem betreffenden Gate in Bewegung. Bald würde sie Michael, ihrem Verwandten gegenüberstehen: er hatte versprochen, sie mit seinem Jeep abzuholen, da er in der Nähe des Flughafens etwas zu erledigen hatte.
Felix, den sie über alles liebte – wenn er nicht gerade so furchtbar eklig zu ihr war –, hatte sie später noch einmal auf das Thema Michael Carmarthen angesprochen, bis sie ärgerlich ausgerufen hatte:
»Laß mich zufrieden mit ihm! Inzwischen sind wir beide erwachsen; Michael war verheiratet und hat einen Sohn und eine Tochter.«
»Sehr richtig, Schwesterchen! Michael war verheiratet. Er ist nun Witwer und damit wieder frei. Seinen beiden Kindern wird er bestimmt bald wieder eine Mutter geben wollen, und er selbst ist mit dreißig im besten Alter, um sich erneut nach einer Frau umzusehen!«
Da war sie beinahe ernstlich böse geworden. »Tu mir den Gefallen, Fex, und tu nicht so, als würde ich, wenn ich nach Wales fliege, auf ›Bräutigamschau‹ gehen wollen. Ich tue lediglich – auf Wunsch der Familie – Michael einen Gefallen. Verstanden?«
»Aber klar doch, Schwesterherz! Niemand behauptet etwas anderes.«
Felix – oder »Fex«, wie Sabrina den Bruder meistens nannte, lag nichts daran, es sich mit »Sabby«, wie er sie als kleiner Junge gerufen hatte, zu verderben. Dazu mochte er seine Zwillingsschwester viel zu sehr – wenn er sie auch liebend gerne auf den Arm nahm.
*
Sabrina machte es sich in ihrem Sitz am Fenster so bequem wie möglich. Das Flugzeug war nur halbvoll, und sie konnte die Beine sogar hochlegen – ein Luxus, den sie nur zu gern in Anspruch nahm. Dann überließ sie sich erneut ihren Gedanken.
Die so plötzlich verstorbene Frau ihres Cousins, Lady Eleanor Carmathen-Wakefield, war dem Vernehmen nach und wie sie sich auf Fotos präsentiert hatte, atemberaubend schön gewesen, mit tiefschwarzem, hüftlangem Haar, weißer Haut und strahlend grünen Augen… daß sie vier Jahre älter als ihr Ehemann gewesen war, hätte kein Mensch vermutet.
So hatten sie jedenfalls ihre Eltern beschrieben, als sie sie kennengelernt hatten anläßlich des Begräbnisses von Sir Randolph Carmarthen, zwölfter Earl of Milford-Pembroke, und Vater von Sir Michael. Der alte Herr, seit fünfzehn Jahren verwitwet, war, kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag, vor zwei Jahren bei einem Jagdunfall tödlich verunglückt.
Hubert von Rottenstein und seine Gattin Mary-Anne waren damals nach Wales geflogen, ohne Sabrina, die gerade ihren Wolf kennengelernt hatte und mit ihm einen Urlaub auf den Malediven verbrachte und ohne Felix, der mit einem Freund per Fahrrad in Bulgarien oder Rumänien unterwegs gewesen war.
Regelrecht geschwärmt hatten ihre Eltern von Michaels Frau, von ihrem Aussehen, ihrem Charme, ihrer Warmherzigkeit und ihrem Witz. »Sie könnte Französin sein«, hatte Sabrinas Vater gesagt und das bedeutete für ihn ein Riesenkompliment. Vor allem aber war beiden aufgefallen, wie sehr sie ihre zwei Kinder liebte, die damals vierjährige Mary-Helen und den zwei Jahre alten Charles.
Sabrina empfand auf einmal heftiges Mitleid mit den Kleinen, die so unvermittelt zu Halbwaisen geworden waren. Um der Kinder willen nahm sie gerne die Reise nach Wales auf sich – obwohl es ihr ungeheuer schwer gefallen war, sich von Wolf, mit dem sie neuerdings zusammen mit noch einem Pärchen in einer WG in München-Schwabing lebte, zu trennen.
Der Bursche sah einfach zu gut aus, war charmant und liebenswürdig, und die Mädels in der Uni liefen ihm scharenweise hinterher.
»Die Versuchungen für einen gutaussehenden Mann sind in München tausendfach«, hatte sie geseufzt, aber Fex hatte schulterzuckend gemeint: »Betrachte es einfach als Prüfung, ob eure Liebe diese Zeit der Trennung übersteht. Wenn ja, ist sie es wert, weiter gepflegt zu werden. Tut sie es nicht, war es eine schöne Zeit, die ihr miteinander verbracht habt, und ihr könnt euch ohne Groll trennen und anderen Partnern zuwenden.« Er hatte leicht reden…
*
Ihre Maschine der British Airways kam mit etwa zwanzig Minuten Verspätung an – ein Umstand, der Sabrina leicht nervös machte, obwohl sie daran keinerlei Schuld traf. Aber ihre Erziehung, die stets sehr locker und überhaupt nicht restriktiv von ihren Eltern gehandhabt worden war, hatte ihr in dieser Beziehung einen wahren Horror anerzogen.
»Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige«, hatte ihre Mutter immer gesagt, und ihr ansonsten sehr toleranter Vater konnte ausgesprochen ungnädig werden, falls sich eines seiner Kinder verspätete. Auch als Felix und sie erwachsen geworden waren und studierten, hielt der Baron von Rottenstein von der sogenannten »akademischen Viertelstunde« überhaupt nichts.
Die junge Frau war froh, als sie endlich mit ihrem Gepäck dem Ausgang zustreben konnte und ihren Cousin Michael unter den vielen Wartenden erspähte. Auf den ersten Blick hatte sie ihn wiedererkannt. Da stand er, breitschultrig, hochgewachsen, die meisten der anderen Leute überragend, lässig in einem praktischen, aber eleganten Freizeitoutfit.
Sein schwarzes Haar trug er kürzer als vor zehn Jahren, außerdem hatte er sich einen niedlichen, schmalen Oberlippen- und Kinnbart zugelegt, aber seine blaugrünen Augen funkelten unternehmungslustig wie eh und je.
Als er seine hübsche junge Verwandte im Visier hatte, schien er angenehm überrascht zu sein; sein Mund mit den vollen Lippen verzog sich zu einem breiten Grinsen und ließ eine Reihe von strahlend weißen Zähnen erkennen.
Nein, Michael hatte sich kaum verändert – und wenn, dann war er höchstens noch attraktiver geworden. ›Wie ein trauernder Witwer, der sich wegen des erst kürzlich erfolgten Ablebens seiner Gattin grämt, sieht er keineswegs aus‹, dachte sie unwillkürlich, verbat sich diesen unfreundlichen Gedanken aber sofort. Nicht jeder konnte oder wollte schließlich seinen Kummer vor sich hertragen und aller Welt seinen Schmerz präsentieren.
Aber immerhin war es Sabrina nicht möglich, ihn bei der sehr herzlichen Begrüßung auf Lady Eleanors Tod anzusprechen. Es hätte einfach nicht gepaßt. Später würden sie noch viel Zeit haben, um über alles zu reden, dachte die junge Frau und überließ sich der stürmischen Umarmung durch Sir Michael.
»Laß’ dich anschauen, liebste Cousine! Wie schön du geworden bist. Aus dem mageren staksigen Teenager mit der Zahnspange hat sich eine attraktive junge Dame entwickelt. Wie lange ist es eigentlich her, daß ich bei euch in Deutschland war? Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor – und ich bin inzwischen ein alter Mann geworden.«
Damit sie merkte, daß er letzteres nur als Scherz gemeint hatte, zwinkerte er ihr zu, als er freundschaftlich seinen Arm um sie legte.
»Komm, laß uns gleich fahren, Sabrina. Es sind ungefähr 150 Kilometer bis Pembroke Castle, und der größte Teil davon sind kleine, äußerst schmale Straßen mit endlosen Kurven. Aber ich denke, die Landschaft wird dir gefallen. Wir haben natürlich keine Alpen wie ihr in Bayern – eher ein sanftes Mittelgebirge – aber trotzdem wunderschön.«
Draußen führte er sie zu einem riesigen Parkplatz, auf dem er seinen Jeep abgestellt hatte. Der dreizehnte Earl of Milford-Pembroke verstaute Sabrinas Gepäck, dann fuhr er los. Es war Freitag und früher Nachmittag, und es herrschte ziemlich lebhafter Verkehr.
»Alle wollen rasch nach Hause«, lachte Sir Michael, »um das Wochenende zu genießen; aber ich denke, ich werde ein wenig gemächlicher fahren, damit du mehr von der hübschen Landschaft sehen kannst.«
Sie verließen Barry, wo sich der Flughafen befand. Und als Sabrina mühsam den Namen der nächsten Stadt auf dem Ortsschild radebrechte: »Caerdydd«, da lachte der Earl nur.
»Das ist walisisch, meine Liebe, und bedeutet ›Cardiff‹. Du wirst hier viele seltsame Wörter entdecken – mach dir nichts draus. Wir sprechen eben eine etwas andere Sprache als die Leute in Oxford oder Cambridge.«
Sabrina lehnte sich zurück. Ganz entspannt war sie jedoch nicht. ›Wenn Michael seinen momentanen Fahrstil tatsächlich »gemächlich« nennt – mit welcher Geschwindigkeit fährt er denn dann normalerweise?‹
Wie stets auf den Britischen Inseln irritierte sie außerdem, daß hier die Leute sozusagen auf der »falschen« Straßenseite fuhren.
Die Straße zog sich am Fluß Severn entlang nach Newport, dann in nördlicher Richtung nach Abertillery bis Hereford, wo der Earl nach Osten abbog und nun seinen Weg am Fluß Wye entlang nahm.
»Wären wir von Hereford aus weiter nach Norden gefahren, wären wir nach Worcester gelangt, einer kleinen Stadt, die eigentlich nur durch den Namen einer würzigen Sauce bekannt ist. Hereford und Umgebung ist übrigens englisch«, meinte der charmante Chauffeur der jungen Frau. »Sobald wir aber die Black Mountains, eine Erhebung von stattlichen 811 Metern erreichen, befinden wir uns wieder auf walisischem Boden.«
Die Fahrt am Wye entlang kam Sabrina von Rottenstein höchst romantisch vor – vor allem in Gesellschaft des gutaussehenden Earls, der entfernt mit ihrer Mutter Mary-Anne verwandt war. Er machte sie laufend auf markante Punkte in der Landschaft oder auf historische Bauten aufmerksam.
Über die arme Eleanor oder seine beiden Kinder verlor Michael nach wie vor kein Wort…
»Du wirst ein wenig Hunger haben, denke ich«, meinte er schließlich. Es war jetzt früher Nachmittag, und was sie zu Mittag im Flugzeug serviert bekommen hatte, war nicht der Rede wert gewesen.
»Ja, laß uns Rast machen, bitte«, stimmte Sabrina, die auf einmal tatsächlich Appetit bekommen hatte, zu.
In Builth Wells ließen sie sich in einem malerischen Gasthof, einem Fachwerkbau aus dem 15. Jahrhundert, nieder, der den Namen »King’s Head« trug – zur Erinnerung an den geköpften englischen König Charles I.
Michael bat um einen Platz, von dem aus sie den imposanten Gebirgsriegel der Cambrian Mountains vor sich hatten, ein zwar nur flaches Gebirge, dessen Berg Mynydd Preselli im Süden gerade mal 536 Meter mißt, während in der Mitte Plynlimon Fawr genau 753 Meter hoch aufragt und im Norden der Berg Snowdon es immerhin auf 1085 Meter bringt.
Sabrina hatte diese Angaben dem Deckblatt der Speisekarte entnommen, welche aber ansonsten wenig ergiebig war. Kein Wunder, fürs Mittagessen war es zu spät und für den Tee noch etwas zu früh. Schließlich konnte Sir Michael den Wirt wenigstens dazu überreden, daß er ihnen einen Teller Suppe aufwärmte.
Sabrina schaute aus dem Fenster. Die Gegend gefiel ihr ausnehmend gut. In diesem Teil der Britischen Insel war sie noch nie gewesen. London kannte sie ganz gut, und in Schottland und Irland war sie auch schon gewesen, aber in Wales war es ihr erster Aufenthalt.
»Die Cambrian Mountains bilden quasi eine Nord-Süd-Barriere gegen den St. George’s Channel, einen Meeresarm, der Irland von Wales, England und Schottland trennt«, unterbrach Michael die Gedanken seiner Cousine.
»Wir fahren noch ein Stück nach Llandrindod Wells und von da aus, auf halbem Weg nach Devil’s Bridge, der ›Teufelsbrücke‹ – auf einer kleinen Anhöhe in einem Seitental – liegt Pembroke Castle, meine bescheidene Hütte aus dem 14. Jahrhundert, die ich dir so lange als deine neue Heimat anbiete, wie du Lust hast zu bleiben – und sollte es auch für immer sein.«
»Ich danke dir für die liebenswürdige Einladung, Cousin Michael, aber allzu lange werde ich leider nicht bleiben können. Mein Studium…«
»Klar, verstehe!«
Sir Michael zwinkerte seiner hübschen Verwandten zu. »Und, wie ich vermute, zieht dich die Liebe zu diesem Wolf Hausmann ebenfalls wieder mit Macht nach München zurück.«
»Also, woher weißt du denn das schon wieder? Hat meine Mutter…?«
»Natürlich! Was glaubst du, wie sehr mir Tante Mary-Anne in den Ohren gelegen hat mit ihrem Herzenskummer, daß du ihr einen nicht standesgemäßen Schwiegersohn ins Haus bringen könntest.«
»Ach! Das ist ja interessant. Mutter streitet mir gegenüber immer ab, daß sie der fehlende Stammbaum von Wolf stört, aber vermutet habe ich immer schon, daß es das in Wahrheit ist, was sie an ihm nicht mag.«
»Dies und die Tatsache, daß er anscheinend ein Windhund ist – wenn auch zugegebenermaßen ein sehr liebenswürdiger – aber nichtsdestotrotz ein Luftikus, bar jeglichen Verantwortungsgefühls«, erwiderte trocken der Earl.
»Also, also, das ist doch…! Das muß ich mir aber ernsthaft verbitten, Michael, daß du so über meinen Freund herziehst!«
Die junge Frau war im Gesicht krebsrot vor Empörung und ihre meergrünen Augen – ähnlich denen des Earls – funkelten wütend.
»Reg’ dich nicht auf, Sabby.«
Er benützte denselben Kosenamen wie ihr Bruder, mit dem er sie vor zehn Jahren als Dreizehnjährige auch schon bedacht hatte. »Was ich eben gesagt habe, war Originalton Tante Mary-Anne. Ich würde so etwas nie behaupten, wenn ich die betreffende Person überhaupt nicht kenne.«
Sabrina beruhigte sich zwar, aber Sir Michael bemerkte sehr wohl, daß die gute Stimmung seiner jungen Verwandten einen empfindlichen Dämpfer erhalten hatte. ›Anscheinend liebt sie diesen Burschen wirklich‹, dachte er bei sich und nahm sich vor, in Zukunft sensibler mit dem »Thema Wolf« umzugehen – am besten erwähnte er ihn überhaupt nicht mehr.
Auch Sabrinas Mutter hatte gemeint, durch schlichtes Ignorieren ihre Tochter dazu zu bringen, diesen Studenten zu vergessen – eine Hoffnung, die Sir Michael allerdings sehr fraglich erschien, nachdem er eben erlebt hatte, mit welcher Vehemenz seine Cousine den jungen Mann verteidigte… Es würde wohl anderer Mittel bedürfen.
*
Nicht weit vor »Devils Bridge«, der Teufelsbrücke also, bog der Earl of Milford-Pembroke nach rechts in ein schmales Seitental, zu dessen beiden Seiten sich etliche hundert Meter hohe Hügel erhoben, auf denen Schafe in großer Anzahl weideten. Da man sich nahezu auf Meereshöhe befand, ragten die bescheidenen Buckel der Cambrian Mountains ziemlich majestätisch in den blauen, walisischen Himmel.
Etliche der weißen, wolligen Tiere hatten schwarze Gesichter, wie Sabrina sofort auffiel. Ihre letzte Schur mußte schon länger zurückliegen, denn ihr dicht gekräuseltes Fell war bereits wieder stark nachgewachsen.
»Gleich sind wir da«, unterbrach Sir Michael die etwas peinliche Stille, die zwischen ihnen seit ihrem Gespräch im »King’s Head« vorgeherrscht hatte. Ein wenig mühsam hatte sich ihre Unterhaltung seither dahingeschleppt.
Die kleine Straße wand sich bergauf, und nach einigen steilen Kehren lag ein Plateau vor ihren Augen, auf dem seit dem frühen 14. Jahrhundert das weitläufige Stammschloß der Herren von Milford thronte.
»In seinen ältesten Teilen existiert das Gebäude bereits seit dem Anfang des 12. Jahrhunderts. Wie du vielleicht weißt, sind unsere Vorfahren mit Wilhelm dem Eroberer auf die Insel gekommen…«
»Ich weiß«, erwiderte Sabrina etwas kurz angebunden. »Im Jahr 1066 haben sie ihm geholfen, den englischen König Harald zu schlagen und haben sich anschließend hier auf der Insel breit gemacht. Ich kenne die historischen Fakten, Cousin Michael.«
An ihrer immer noch verschlossenen Miene, sowie an ihrem etwas brüsken Tonfall erkannte der Earl, daß seine junge Verwandte immer noch »verschnupft« war wegen seiner Äußerungen über ihren Liebsten. Er überlegte, wie er seine schöne Cousine versöhnen konnte.
»Meine Güte! Was für ein prachtvolles Anwesen, Michael!« hörte er im gleichen Augenblick Sabrina ausrufen. Ihre Begeisterung klang echt; und eigentlich war der Hausherr es auch gar nicht anders gewöhnt von Gästen, die das erste Mal des Gebäudes ansichtig wurden.
Von der ursprünglichen Anlage her war es eine mittelalterliche Ritterburg mit Ringmauer, Burggraben, Zugbrücke, Torturm mit Wächterhäuschen, Bergfried, einer Kapelle, sowie den unumgänglichen Neben- und Wirtschaftsgebäuden. Aber im Laufe der Jahrhunderte hatte jeder Besitzer – von denen alle aus ein und derselben Familie stammten, nur im 17. Jahrhundert war eine Nebenlinie zum Zuge gekommen – das Schloß nach seinem persönlichen Geschmack erweitert, umgebaut, modernisiert oder einfach renoviert.
Sie überquerten die Zugbrücke, die zum letzten Mal vor etwa zweihundert Jahren hochgezogen worden war, und fuhren rasant durch den Torturm; dann hielt Sir Michael seinen Jeep im Schloßhof am alten Brunnen an, der noch wie im Mittelalter ein überdachter Ziehbrunnen mit Eimer und Winde war.
»Funktioniert der noch?« war Sabrinas erste Frage, als sie behende aus dem Wagen gesprungen war und sich neugierig im Schloßhof umsah. Sie und Michael waren nicht allein; etliche Männer und Frauen liefen geschäftig umher, und bei den Wirtschaftsgebäuden herrschte lebhaftes Kommen und Gehen.
»Aber ja! Wir können heute noch aus etwa einhundert Metern Tiefe frisches Quellwasser schöpfen. Es schmeckt wunderbar. Möchtest du versuchen?«
Der Earl griff nach einer Schöpfkelle und einem der Tonbecher, die am gemauerten Brunnenrand für diesen Zweck bereitgestellt waren.
Da trat ein älterer Mann in einem blauen Overall aus Jeansstoff auf den Schloßherrn zu und wurde vom Earl, der die Kelle jetzt in die Linke nahm, mit Handschlag begrüßt.
»Darf ich dir meinen Verwalter, Mr. David Breckenridge, vorstellen, Sabby? Dies ist meine Cousine, die Baronesse Sabrina von Rottenstein aus Deutschland, die hoffentlich recht lange bei uns bleiben wird.«
Der Mann, etwa Mitte fünfzig, mit schütterem grauem Haar und hellwachen, blauen Augen, musterte die junge Dame neugierig, aber ohne die dreiste Unverschämtheit, die manchen Domestiken, die sich für unersetzlich halten, zu eigen ist. Sabrina stellte es mit Genugtuung fest. Der Verwalter verbeugte sich mit feinem Anstand.
»Lassen Sie mich Ihnen helfen, Sir.«
Ganz selbstverständlich bediente Mr. David die Kurbel an der Winde, und der Eimer senkte sich in die Tiefe. Als er den gefüllten Wassereimer hochgezogen hatte, nahm er ihn vom Haken und schöpfte mit der ihm von seinem Herrn überlassenen Kelle einen Becher zu Dreivierteln voll.
»Kosten Sie unser hervorragendes Brunnenwasser, Mylady«, sagte er lächelnd und reichte Sabrina den Trunk.
»Mr. David hat schon für meinen Vater gearbeitet und ich bin glücklich, daß er auch mir hilft, die Wirtschaft hier am Laufen zu halten«, hörte sie Michael sagen. Dieser Angestellte mit seinem gelassenen Blick schien sich seines Wertes bewußt, war aber offenbar weder ein Duckmäuser, noch ein penetranter Kriecher.
»Es war mir immer ein Vergnügen, Sir Michael, dem alten Earl, Sir Randolph, zu dienen, und genauso gern arbeite ich für seinen Sohn.« Er nickte seinem Arbeitgeber zu.
»Das Wasser schmeckt köstlich. Ich danke Ihnen, Mr. David«, sagte Sabrina und stellte ihren leer getrunkenen Becher auf ein Brett mit offenbar benutzten Trinkgefäßen.
»Seien Sie herzlich willkommen auf Pembroke Castle, Lady Sabrina. Ich soll Sie im Namen aller übrigen Angestellten auf dem Schloß begrüßen und Ihnen eine gute Zeit wünschen.«
Die junge Frau war beinahe gerührt über diesen bemerkenswert liebenswürdigen Empfang, und als Cousin Michael ihr seinen Arm um die Schulter legte, um sie ins Wohnhaus – ein großes Gebäude neben dem altertümlichen und sicher sehr unbequemen Bergfried, auch »Palas« genannt – zu führen, war sie beinahe wieder versöhnt mit ihrem Verwandten. Sicher hatte er es nicht so böse gemeint, und seine Kritik an Wolf war in der Tat nur den abfälligen Bemerkungen ihrer Mutter geschuldet.
»Erhole dich erst einmal von der Reise, Sabby«, meinte ihr Vetter fürsorglich und geleitete sie, da er nicht wußte, ob ihre Suite schon gerichtet war, in ein riesiges Wohnzimmer, wo er sie nötigte, sich auf einer wirklich superbequemen Couch niederzulassen, in deren weichen Daunenpolstern sie geradezu versank.
»Herrjemineh! Ich fühle mich wie auf Wattewolken gebettet! Himmlisch, dieses Sofa! Du bist schuld, Michael, wenn ich überhaupt nie mehr aufstehen will.«
»Fühle dich wie daheim, liebe Cousine«, gab der Schloßherr lächelnd zur Antwort, und Sabrina ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie schlüpfte aus ihren Sandaletten, zog die schlanken Beine in ihren Röhrenjeans an, schwang sie auf die Couch und fühlte sich sofort pudelwohl.
Während der Earl ihr und sich ein nichtalkoholisches Erfrischungsgetränk mixte, ließ sie ihre Blicke interessiert in dem edel eingerichteten Raum schweifen. Das Mobiliar und die sonstige Ausstattung waren erlesen und gewiß sündhaft teuer gewesen, zeigten aber keine Spur von protzigem Prunk.
Alles, die Teppiche, die Vorhänge, Lampen, Bilder und Vasen, das gesamte Interieur waren nobel und gediegen und zeugten vom erlesenen Geschmack seiner Bewohner. Ein intensiver Blick galt auch ihrem Cousin, der sich noch am Barschrank zu schaffen machte.
›Wenn ich nicht bereits in festen Händen wäre, könnte dieser Typ mich wirklich nervös machen‹, gab sie ehrlich vor sich selbst zu. Er sah in der Tat umwerfend aus – ein Mann zum Verlieben…
»Meine leider schon vor zwei Jahrzehnten verstorbene Mama, Lady Camilla – deren Porträt du über dem Kamin siehst – hat das Haus noch kurz vor ihrem Tod komplett neu eingerichtet«, hörte sie die wohlklingende Stimme des Grafen.
»Ich habe weder deinen Vater, noch deine Mutter jemals kennengelernt – als Lady Camilla starb, war ich drei Jahre alt – aber du warst immerhin zehn und hast sie gewiß noch in guter Erinnerung.«
Sabrina betrachtete das gegenüber der Couch über dem weißen Marmorkamin hängende Bildnis der ehemaligen Schloßherrin genauer. Die Ähnlichkeit mit ihrem Sohn war verblüffend.
»Deine Mama war eine auffallende Schönheit. Dein Vater muß sie sehr geliebt haben.«
»Ja, das hat er wohl. Für ihn wäre eine zweite Ehe niemals in Frage gekommen.«
Der jungen Frau kam diese Bemerkung ein klein wenig seltsam vor. Wollte Michael ihr damit irgend etwas sagen? Hatte er ausdrücken wollen, daß für ihn selbst – der ja ebenfalls Witwer geworden war – eine weitere Heirat sich sehr wohl im Bereich des Möglichen befand?
Eigentlich war dieser Standpunkt sehr vernünftig, fand Sabrina. Das Leben mußte schließlich weitergehen. Aber war es nicht noch etwas sehr früh für derartige Überlegungen? Lady Eleanor war erst seit etwas mehr als drei Wochen tot…
›Vermutlich hat er gar nichts andeuten wollen, sondern nur betonen, wie sehr sein Vater seine Frau geliebt hatte‹, dachte sie dann. Man durfte nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Außerdem unterhielten sie sich auf Englisch, und gar so sattelfest war Sabrina in dieser Sprache nun auch wieder nicht, daß sie alle Nuancen verstand.
Ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, hatte ihr Michael einen Drink zur Erfrischung angeboten.
»Getränke mit Prozenten gibt es auf Pembroke Castle erst nach Sonnenuntergang«, scherzte der Hausherr und ließ sich seiner Cousine gegenüber in einen ebenfalls sehr komfortabel aussehenden Sessel fallen; sein Glas mit dem Drink – Grapefruitsaft mit Wasser und Eiswürfeln gemischt – hielt er in der Hand. Er erhob es jetzt:
»Auf deine glückliche Ankunft auf Pembroke Castle, Sabby«, rief er gerade aus, als es an der schweren, mit Schnitzereien versehenen Eichentüre leise klopfte, und auf sein promptes »come in« eine Frau von etwa Ende vierzig den Raum betrat, an der linken Hand ein kleines, zierliches Mädchen mit blondem Lockenkopf und in einem rosageblümten Hängerkleidchen führend, während ein noch jüngerer Knabe sich am Rock der freundlich lächelnden Frau festhielt.
»Guten Abend, Sir Michael, guten Abend, Mylady. Die Kinder, Lady Mary-Helen und Master Charles, möchten Sie und ihren lieben Gast begrüßen.«
Die in ein schlichtes Leinenkostüm gekleidete Frau trat näher, knickste und schob dabei die Sprößlinge ihres Arbeitgebers nach vorne. Sowohl das niedliche, etwa sechsjährige Mädchen, sowie der ungefähr vier Jahre alte Junge, stürzten sich mit Freudengeheul auf ihren Papa, den sie den ganzen Tag über noch nicht gesehen hatten.
Als der Earl sich schon frühmorgens – da er noch einiges zu erledigen gehabt hatte, ehe er Sabrina vom Flughafen abholte – auf den Weg gemacht hatte, waren beide Kinder noch in tiefem Schlaf gelegen. Am vergangenen Abend hatte ihnen ihr Vater noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen – ein geheiligtes Ritual, das bisher immer eingehalten worden war.
Selbst am Tage der Beisetzung ihrer Mutter Eleanor war der Earl im Kinderzimmer erschienen und hatte ihnen vor dem Einschlafen eine Geschichte, die von Engeln handelte, vorgelesen…
»Danke, Mrs. Sarah.«
Sir Michael stellte die ein wenig rundliche, mütterlich wirkende Frau als die Ehefrau von Mr. David Breckenridge und als die großartige und verläßliche Wirtschafterin von Pembroke Castle vor. Sabrina gefiel sie wie ihr Mann David auf Anhieb. Ihr dichtes, widerspenstiges, grau gesprenkeltes Kraushaar trug Sarah Breckenridge als Kurzhaarfrisur, aber dennoch hingen ihr etliche Strähnen ins rötliche, gutmütige, aber intelligent erscheinende Gesicht.
Michael wehrte inzwischen vorsichtig die allzu stürmischen Liebkosungen seiner Kinder ab. »Wollt ihr jetzt nicht so höflich sein und unseren lieben Gast, Cousine Sabrina, begrüßen?«
Sofort besannen sich sowohl das Mädchen, wie der kleine Junge – für welche die Wirtschafterin seit kurzem als Erzieherin eingesprungen war – an ihre gute Kinderstube.
Bisher hatte es auf Pembroke Castle keine Gouvernante gegeben – die Aufgabe der Erziehung hatte sich ihre Mutter, Lady Eleanor, bis zu ihrem Tod nicht nehmen lassen, wie Sir Michael seiner Cousine erklärte.
Hand in Hand standen Bruder und Schwester vor dem Sofa, auf dem Sabrina es sich bequem gemacht hatte. Master Charles machte einen formvollendeten Diener, und das Mädchen versuchte sogar einen richtigen Hofknicks vor ihr.
»Willkommen, liebe Cousine, in unserem Haus, auf Schloß Pembroke«, sagten sie artig im Duett. »Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise, Mylady«, fügte die kleine Mary-Helen ernsthaft hinzu, und Bruder Charles mit seinen gerade mal vier Jahren echote: »Ich hoffe auch, Mylady, daß Sie eine gute Reise hatten.«
»Ihr Lieben, ich grüße euch sehr herzlich. Ja, ich hatte eine wundervolle Reise. Aber, seid doch so gut und laßt die »Lady« draußen. Ich bin eure Cousine und heiße Sabrina. Ihr dürft aber Sabby zu mir sagen – wie euer Papa es auch tut.
Und jetzt kommt her zu mir, Kinder, und gebt mir einen Kuß. Ich schaffe es nämlich nicht alleine, aus diesem Monstrum von Daunensofa aufzustehen. Wahrscheinlich muß ich für immer hier liegenbleiben.«
Bei der Vorstellung, daß die junge Dame für immer auf dem Diwan liegenbleiben müßte, glucksten die Kleinen vor Vergnügen und stürzten sich mit Hallo auf die hübsche und offenbar humorvolle Verwandte. Für die nächsten Minuten herrschte auf der weichen Couch ein wahres Getümmel von kleinen und großen Armen und Beinen, immer wieder unterbrochen von Gekicher und Gequieke, denn Sabrina kitzelte die beiden ordentlich durch, und die fanden es herrlich.
»Jetzt gebt aber langsam mal Ruhe, ihr zwei«, hörte Sabrina ihren Cousin die kleinen Racker ermahnen. »Sabby ist sicher noch ein wenig müde von der Reise, und ihr solltet sie jetzt in Frieden lassen. Sie bleibt ja noch länger bei uns.«
»Das ist gut. Du mußt ganz lange hier bleiben.« Der kleine Charles blickte sie ernst an. »Du bist sehr schön«, fügte er dann hinzu. »Und du riechst so gut«, fiel seiner älteren Schwester auf. »Unsere Mummy hat auch immer so ein tolles Parfüm benutzt.«
»Ja, mit Rosenduft«, behauptete der Junge, aber das Mädchen lachte ihn aus. »Was verstehst du denn davon? Das waren ganz andere Blumen – solche mit furchtbar schwierigen Namen.«
»Aber jetzt ist unsere Mummy tot«, klärte der Vierjährige seine Cousine aus Deutschland auf. Seine blauen Augen füllten sich auf einmal mit Tränen.
»Ich weiß, Charles. Das ist sehr, sehr traurig für uns alle. Aber deine Mum hat es sicher sehr gut, da, wo sie jetzt ist.« Sabrina war in der Eile nichts Besseres eingefallen.
»Sie ist jetzt bei den Engeln. Das sagen Papa und Mrs. Sarah.«
Der jungen Frau schien es fast so, als glaube der kleine Bursche nicht so recht daran. »Ich finde, Mummy hätte lieber bei uns, bei Daddy, Mary-Helen und mir bleiben sollen.«
Dem Jungen liefen die Tränen über die kindlich runden Wangen. Er verzog sein kleines, unglückliches Gesichtchen, und auch seine Schwester schniefte verdächtig. »Ja, ich finde auch«, meinte das Mädchen, »daß Mummy bei uns auf Pembroke hätte bleiben sollen – und bei Onkel Jeremiah.«
Aha, offensichtlich lebte noch ein – Sabrina bisher unbekannter – Verwandter hier im Schloß.
»Man kann sich leider nicht immer aussuchen, was man gerne möchte, mein Sohn«, versuchte der Earl den Knaben abzulenken, und Mrs. Sarah meinte: »Der Liebe Gott hat es anders gewollt und dem müssen wir uns fügen. Und jetzt kommt mit mir, ihr beiden, es ist Zeit für euer abendliches Bad.«
»Aber anschließend kommst du zu uns, Papa, und liest uns wieder eine Geschichte vor, ja?« bettelte Mary-Helen, und Michael versprach es seinem Töchterchen.
Nachdem die Wirtschafterin mit den Kindern ihres Herrn an der Hand den Raum verlassen hatte, war es erst einmal mäuschenstill. Sowohl der Earl wie seine Verwandte schienen ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Durch die Kinder der Verstorbenen war das Thema »Eleanors Tod« zum ersten Mal laut und deutlich zur Sprache gekommen.
Als Sabrina ihren Vetter auf dem Flughafen begrüßt hatte, hatte sie es aus gewissen Gründen vermieden, ihm ihr Beileid auszudrücken; bisher hatten sie den traurigen Vorfall nicht auch nur mit einer einzigen Silbe gestreift. Es schien der jungen Frau, als vermeide es Sir Michael, auch nur den Namen seiner unglücklichen Gemahlin auszusprechen.
Dieses merkwürdige Verhalten mochte verschiedene Gründe haben. Vielleicht war seine Trauer noch so groß, daß er es einfach nicht ertrug, über die Umstände dieses unerwarteten tragischen Ereignisses zu sprechen, oder aber…?
Bei Sabrina war es hingegen schlichte Unsicherheit gewesen; sie wußte nicht, was sie hätte sagen sollen, um ihm ihr Mitgefühl auszudrücken – ohne aufdringlich zu wirken. Ihr fehlte dafür einfach die Erfahrung. Sie war noch so jung, und bisher war ihr dieses Leid noch nicht unmittelbar begegnet: ihre Eltern und Felix erfreuten sich zum Glück bester Gesundheit, und noch war keiner ihrer Freunde gestorben.
So hatte sie es im Verlaufe der stundenlangen Fahrt ebenfalls vermieden, auf Michaels tote Ehefrau zu sprechen zu kommen, obwohl ihr viele Fragen geradezu auf den Nägeln brannten.
Weshalb hatte sie sich bloß so zurückgehalten? Sie kannte nicht einmal andeutungsweise die genauen Umstände, die zu Eleanors Ableben geführt hatten. Ihr Tod war für die ganze Familie völlig überraschend erfolgt. Woran war die junge Ehefrau und Mutter denn nun wirklich gestorben? Sabrina erinnerte sich vage, daß in der Todesnachricht, die ihre Eltern in Grünwald erreicht hatte, von einem »tragischen Unfall« die Rede gewesen war.
»Ist deine Frau eigentlich durch einen Autounfall ums Leben gekommen, Michael?«
Unvermittelt richtete Sabrina, die sich inzwischen mit der Hilfe des Grafen aus der daunenweichen Couch und ihrer sanften Umklammerung befreit hatte und jetzt in einem nicht minder bequemen Schaukelstuhl saß, diese Frage an ihren Cousin.
Es schien der jungen Frau, als schrecke Sir Michael auf, ja, er schien sogar bleich zu werden. Aber ihre Frage war doch verständlich – oder nicht? Was war daran verwerflich, als Familienangehörige erfahren zu wollen, weshalb eine blühende, kerngesund erscheinende, junge Frau mit nur vierunddreißig Jahren urplötzlich aus dem Leben gerissen wurde?
Der Graf räusperte sich umständlich; die Beantwortung fiel ihm sichtlich schwer, aber Sabrina war nicht gewillt, aus Gründen einer falsch verstandenen Rücksichtnahme darauf zu verzichten. Der Earl sah seiner Cousine nun gerade in die Augen.
»Der Tod Eleanors hat sogar die Polizei beschäftigt«, sagte er dann leise.
Die junge Frau erschrak.
»Aber, um Himmels Eillen, wieso?« Sie geriet beinahe ins Stottern. »Was war denn für die Polizei an Eleanors Unfall so interessant?«
Sir Michael sah seine Cousine mit schmerzlichem Ernst aus umdüsterten, ausdrucksvollen Augen an. »Es war kein Unfall, der meine Frau das Leben gekostet hat.« Zuletzt hatte er nur noch geflüstert, und Sabrina war es eiskalt den Rücken herunter gelaufen. Sie fühlte, wie ihre Nackenhaare sich aufrichteten – ein Gefühl, das sie so noch niemals empfunden hatte.
»Aber, wie…?« Sie stockte und sah den Grafen hilflos an.
Der Earl schien sich mittlerweile wieder gefangen zu haben. Er wanderte ruhelos in der riesigen Wohnhalle hin und her und schien mit sich zu ringen, ob er seine Verwandte mit der schrecklichen Wahrheit konfrontieren sollte oder nicht. Dann gab er sich einen innerlichen Ruck – hatte er doch bereits zu viel verraten. Abrupt blieb er vor dem Kamin stehen und faßte Sabrina fest ins Auge.
»Eleanor hat sich umgebracht«, sagte er dann ruhig, und seine Stimme klang dabei seltsam kalt und teilnahmslos, ganz so, als spräche er über eine völlig fremde Person.
»Um Gottes Willen!« Sabrina wurde leichenblaß. »Weshalb denn nur? Wie konnte sie das ihren beiden Kleinen antun und dir? War sie vielleicht schwer krank und wollte sich dadurch ein qualvolles Siechtum ersparen?«
»Eleanor war kerngesund; auch von einer seelischen Störung hat man nie etwas an ihr bemerkt. Wenn je eine Person zufrieden und ausgeglichen war, dann war es meine Frau. Jedenfalls bis einige Monate vor ihrem Tod.«
Der Earl setzte sich wieder und strich sich müde über die Augen.
»Nie werde ich ihr Handeln verstehen«, sagte er nach einer Weile dumpf und schüttelte resigniert seinen Kopf.
»Wie hat sich Eleanor das Leben genommen?« wollte Sabrina wissen, als sie das Gehörte einigermaßen verdaut hatte, »und wer hat ihre Leiche entdeckt?«
»Sie ist von der obersten Plattform des alten Bergfrieds in die Tiefe gesprungen, auf jener Seite, die dem Bergabhang zugewandt ist. Einer unserer Schäfer hat sie erst nach zwei Tagen mitten in einem Wacholdergestrüpp liegend gefunden – eigentlich war es einer seiner Hunde, der den Leichnam aufgespürt hatte.
Oben auf dem Turm war tags zuvor ihr langer, gelber Chiffonschal gefunden worden, den sie immer so gerne getragen hat. Mister David, unserem Verwalter, war das federleichte Tuch, das sich offenbar an der rauhen Mauer des Palas verfangen hatte und über eine Zinne flatterte, von weitem aufgefallen. Die Suche nach Eleanor begann, als sie an diesem Tag nicht zum Dinner erschienen war.
Beim Sturz vom Turm mußte sich der Schal von Eleanors Hals gelöst haben und am Bergfried hängengeblieben sein. Die Suche nach ihr war schier endlos. Erschwert wurde sie dadurch, daß das Gelände unterhalb des Bergfrieds sehr unübersichtlich und schwer zugänglich ist.
Kleine Felsgrotten, überwuchert mit Brombeerbüschen, Krüppelkiefern und Wacholdersträuchern machen eine Erkundung auf dem zudem recht steilen Abhang äußerst schwierig. Eleanor lag hier mit zahlreichen Knochenfrakturen, von denen eine – der Genickbruch nämlich – tödlich gewesen war.«
»Du Ärmster!«
Sabrina hielt es nicht mehr aus. Von Mitleid überwältigt, mußte sie den völlig gebrochenen Mann trösten. Sie fühlte sich irgendwie schuldig: durch ihre Frage nach dem Hergang des Unglücks hatte sie in ihm offenbar alles wieder aufgewühlt.
»Mein Lieber, laß dich umarmen. Es ist einfach schrecklich, was du durchmachen mußtest. Es tut mir ja so leid.«
Sabrina hatte ihre Arme um Cousin Michael gelegt, der seinerseits seinen Kopf auf ihre Schulter sinken ließ. Sie spürte, wie Nässe ihren Hals benetzte. Da konnte auch sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
Gemeinsam vergossen jetzt beide Tränen. Sabrina weinte um das Leben Lady Eleanors, das so unvermittelt geendet hatte. Würde man jemals den Grund für diese Verzweiflungstat herausfinden? Offenbar war kein Abschiedsbrief gefunden worden…
»So schlimm es ist, daß meine Kinder nun Halbwaisen sind, so gut ist es trotz allem, daß sie noch so jung sind und die ganze Tragödie noch nicht begreifen. Sie nehmen es glücklicherweise noch einfach so hin, daß ihre schöne Mum einfach zu den Engeln gegangen ist und nun vom Himmel aus auf sie herunterschaut und auf sie aufpaßt.«
Sir Michael hatte sich inzwischen von seiner Cousine gelöst und sich die verweinten Augen mit einem Taschentuch getrocknet.
Sabrina war skeptisch.
»Ich weiß nicht, ob sie es wirklich so problemlos verdauen, Mike.« Unwillkürlich redete auch sie ihn nun mit der Kurzform seines Vornamens an, wie sie es vor zehn Jahren getan hatte. »Ich zweifle sehr daran! Sie wissen doch, daß andere Mütter ihre Kinder auch nicht im Stich lassen, um es sich im Himmel gutgehen zu lassen.«
»Du meinst, Mary-Helen und Charles könnten denken, ihre Mum hätte sie nicht genug liebgehabt, um bei ihnen zu bleiben? Und sie hat es daher vorgezogen, sie zu verlassen?
Das wäre allerdings fatal. Das würde den Kleinen ein schlechtes Gewissen verursachen. Sie könnten glauben, es wäre ihre Schuld gewesen, etwa, weil sie Eleanor geärgert haben und ihre Mutter deshalb lieber mit den Engeln als mit ihnen spielt?
Ich werde versuchen, auf sie einzuwirken und ihnen diese Angst zu nehmen. Aber, ob es mir gelingt, weiß ich nicht. Ich fühle mich regelrecht hilflos, Sabby!«
»Ich bin froh, daß du es jedenfalls versuchen willst, Mike. Ich bin überzeugt, daß du viel bei ihnen bewirken kannst, und ich verspreche dir, daß ich meinerseits alles tun werde, um sie in diesem Sinne zu beeinflussen.«
»Ja, bitte, mach das, Sabby! Ich habe bemerkt, daß dich die zwei bereits in ihr Herz geschlossen haben und…«
Ehe der Earl weiter sprechen konnte, klopfte es erneut an der Türe zum Salon, und Mrs. Sarah Breckenridge, die tüchtige Haushälterin, stand gleich darauf erneut im Türrahmen.
»Mrs. Sarah, was gibt es?« erkundigte sich Sir Michael.
»Pembroke Castle erhält zusätzlichen Besuch, Sir. Ihre Schwiegermutter, Lady Fedora Wakefield, wird in etwa einer Stunde hier eintreffen. Ich habe gerade den Anruf ihres Chauffeurs, Mister James Brown, entgegengenommen.
Ihre Ladyschaft möchte mindestens einen Monat bleiben, um ihren lieben Schwiegersohn zu trösten in seinem Schmerz; vor allem aber möchte Lady Fedora sich als liebende Großmutter um ihre Enkelkinder kümmern, läßt sie Euer Lordschaft ausrichten. Ich habe Anweisung erteilt, die Blaue Suite im ersten Stock für Lady Fedora herzurichten, Sir.«
»Ich danke Ihnen, Mrs. Sarah. Die Blaue Suite, sagten Sie? Aber, wieso? Meine Schwiegermutter hat bei ihren bisherigen Besuchen immer die Grüne Suite bewohnt; die Blaue hingegen…«
»Ja, Sir, ich weiß. Die Blaue Suite gehörte zum Reich Lady Eleanors. Aber die Lady hat ausdrücklich um die Räume ihrer Tochter gebeten, und ich dachte…«
»Aber natürlich. Sie haben recht daran getan, Mrs. Sarah. Wenn es Lady Fedoras Wunsch ist, dann wollen wir ihn der trauernden Mutter natürlich erfüllen. Das ist das Mindeste, was wir für sie tun können.«
Die Haushälterin knickste und entfernte sich wieder lautlos aus dem Salon.
»Die Arme! Für eine Mutter muß es furchtbar sein, wenn ihre Tochter Selbstmord begeht.« Sabrina schauderte, und Sir Michael nickte gedankenschwer.
»Ja, es war in der Tat entsetzlich für sie. Lady Fedora hat sich auch umgehend nach Eleanors Beisetzung in der Familiengruft wieder auf den Nachhauseweg gemacht. Wakefield House befindet sich etwa drei Autostunden von hier entfernt. Sie hat während der Trauerfeierlichkeiten so gut wie kein einziges Wort mit mir oder den Kindern gesprochen. Kein einziges Mal hat sie den dichten, schwarzen Schleier gelüftet, womit sie ihr Gesicht verhüllt hatte.
Wenn man bedenkt, daß Fedora nur die Stiefmutter von Eleanor gewesen ist, war ihre überaus schmerzliche Trauer doch äußerst bemerkenswert.«
Scharf beobachtete Sabrina daraufhin ihren Cousin. Hatte sie es sich nur eingebildet – oder hatte bei seinen Worten etwas mitgeschwungen, ein winziger Hauch von irgend etwas?
Aber nein, das hatte sie sich gewiß nur eingebildet. Sie fing doch wohl nicht etwa an, Gespenster zu sehen? Allerdings hatte sie nicht gewußt, daß Lady Fedora, Lord Jonathan Wakefields Witwe, gar nicht die leibliche Mutter von Sir Michaels Ehefrau gewesen war.
Sabrina dämmerte nicht zum ersten Mal, daß es so manches in ihrer Familie gab, worüber man sie bisher im unklaren gelassen hatte.
*
Nachdem die junge Frau sich in ihre entzückende Suite im zweiten Stock begeben hatte, mit Ausblick auf die Hügelkette der Cambrian Mountains – ganz weit entfernt glaubte sie, Wasser zu erkennen – fragte sie sich im stillen, warum ihr Vetter den Leichnam seiner Gemahlin sofort nach Freigabe durch die Polizei in der Gruft im Park von Pembroke Castle hatte beisetzen lassen – ohne die restliche Familie zur Trauerfeier einzuladen.
Sabrina erinnerte sich, daß die Todesnachricht zusammen mit der Mitteilung von Eleanors bereits erfolgter Beerdigung bei ihren Eltern in Grünwald eingetroffen war. Weshalb diese ganz und gar unübliche Eile? Hatte Michael sich geschämt, daß seine Frau diesen endgültigen Ausweg gewählt hatte, um sich von ihm zu trennen? Hatte er Eleanor die Selbsttötung übelgenommen? Oder hatte er sich einfach gescheut, über die Motive zu sprechen, die seine Gemahlin zu diesem unwiderruflichen Schritt getrieben hatten – und die er angeblich nicht kannte?
Sabrina ging auf, daß sie über die Ehe der beiden so gut wie nichts wußte. Außer, daß die Herrin auf Pembroke Castle wunderschön gewesen war und äußerst liebenswürdig. Als charmante Gastgeberin hatte sie, soweit man dies im fernen München-Grünwald erfahren hatte, einen ausgezeichneten Ruf genossen. Und ihren Kindern sollte sie eine vorbildliche Mutter gewesen sein.
Lady Eleanor war außerdem für ihre Reitkünste berühmt gewesen. Sabrinas Eltern – ihre Mutter Mary-Anne, eine entfernte Tante von Sir Michael und ihr Vater, Hubert von Rottenstein, hatten ihr und ihrem Bruder Fex von Eleanors Pokalen, Silberschalen und Medaillen vorgeschwärmt, welche die Lady im Laufe der Jahre bei Reitturnieren errungen hatte.
Üblicherweise wurden solche Trophäen auf dem ausladenden Kaminsims im Salon zur Schau gestellt, aber Sabrina konnte keine einzige derartige Auszeichnung, die ihre Eltern erwähnt hatten, bisher im Schloß entdecken.
Kein einziges Porträt, keine noch so kleine Fotografie, überhaupt nichts erinnerte an die frühere Hausherrin. Es schien beinahe so, als hätte Lady Eleanor niemals existiert…
›Vermutlich hat Mike diese Dinge vom Personal wegräumen lassen, weil ihm die dauernde Erinnerung an die Tote noch zu weh tut‹, dachte sie, und ihr Herz zog sich vor Mitleid zusammen.
Die junge Frau hegte die Hoffnung, mit Eleanors Stiefmutter über die Verstorbene sprechen zu können, denn sie hatte bemerkt, daß sie ebenfalls so gut wie nichts über die Frau ihres Cousins wußte. Das fand sie schade. Wie sollte man den Kindern, Mary-Helen und Charles, dabei helfen, die Mutter in Erinnerung zu behalten, wenn man selbst jeglicher Kenntnisse über sie entbehrte?
Sabrina war gespannt auf Lady Fedora Wakefield, die seit etwa fünfzehn Jahren die Witwe von Lord Jonathan Wakefield war und jetzt ungefähr neunundvierzig Jahre alt sein müßte. Mit fast fünfzig hatte sie seinerzeit der alte Edelmann als seine dritte Ehefrau geheiratet, als blutjunges Mädchen von ungefähr sechzehn Jahren. Die Ehe hatte ganze achtzehn Jahre gedauert.
Sabrina und auch ihre Eltern waren bisher der Meinung gewesen, Fedora wäre die leibliche Mutter von Lady Eleanor; aber anscheinend war diese die Tochter der zweiten, ebenfalls jung verstorbenen, Gattin Lord Jonathans gewesen.
›Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr‹, dachte Sabrina. ›Tatsache ist, daß Lady Fedora Eleanor geliebt hat wie ihr eigenes Kind und jetzt um ihre Tochter trauert.‹
Als hätte der Earl ihre vorigen Gedanken erraten, verriet er ihr, daß sämtliche Erinnerungsstücke auf Wunsch Lady Fedoras weggeräumt worden waren, die es nicht ertrug, diese Sachen vor Augen zu haben...
Sabrina schaute auf ihre Armbanduhr. Die Zeit vor dem Abendessen reichte noch leicht für eine ausgiebige Dusche mit anschließender Haarwäsche. Unwillkürlich fiel ihr Wolf ein, der es liebte, in ihren duftenden, frisch gewaschenen Haaren zu wühlen…
Die junge Frau begab sich in das zu ihrer Suite gehörende Badezimmer, wo dienstbare Geister im Schloß bereits ihre Wasch- und Kosmetikutensilien, sowie einen flauschigen Bademantel, nebst schicken Badesandalen und einem hohen Stapel von Frottéhandtüchern für sie bereit gelegt hatten.
Sogar ein Haarfön mit Stylingbürste war vorhanden, sowie eine große Schale in Muschelform mit allerlei wohlriechenden Seifen, duftenden Duschgels, Bodylotions und Handcremes.
»Wie im Grandhotel«, lächelte sie und überlegte noch, was sie nachher zum Dinner anziehen sollte von ihren Sachen, die eines der Dienstmädchen bereits ordentlich im Kleiderschrank verstaut hatte.
›An diesen Service könnte ich mich glatt gewöhnen‹, dachte sie und mußte beim Gedanken an die leicht verlotterte Schwabinger Wohngemeinschaft ihres Freundes Wolf schmunzeln, wo sich vier junge Leute – zwei Pärchen – eine riesige, renovierte Fünfzimmeraltbauwohnung mit großer Wohnküche, Speisekammer, Abstellraum, Bad und zwei WC’s teilten.
Zu viert konnten sie sich die astronomisch hohe Miete des Appartements mit dem wunderschönen, alten Parkett, den hohen Stuckdecken und den Türen mit den Glasfüllungen im Jugendstil, gerade mit Ach und Krach leisten. Für eine Putzhilfe reichte ihr Geld allerdings nicht – und das sah man der Wohnung auch meistens an…
Auf einmal empfand Sabrina unbändige Sehnsucht nach ihrem Liebsten daheim und beschloß spontan, ihn anzurufen. Es täte gut zu hören, daß auch er sie vermißte…
Aber wie sich gleich darauf herausstellte, grämte sich der junge Mann ihretwegen nicht etwa, sondern nützte das auch in München herrliche Spätsommerwetter aus. Er saß mit einem Teil »der Clique« – einer Gruppe von etwa fünfzehn Studenten und Studentinnen – im Gartenlokal »Seehaus« im Englischen Garten am Kleinhesseloher See. Heute wären sie allerdings nur zu sechst, die sich Bier und Bratwürste vom Grill schmecken ließen und nebenbei die Enten auf dem See mit Stückchen von knusprigen Laugenbrezeln fütterten, berichtete er. Die meisten Freunde waren zum Starnberger See hinausgefahren, um eine Regatta zu beobachten.
»Ich vermisse dich schrecklich, Wölfchen«, gestand Sabrina, wobei ihr das ausgelassene Kichern im Hintergrund einen leichten Stich versetzte. Es hörte sich verdächtig nach Sandy Weinfeld an, einer Studentin aus Wisconsin, ebenso verwöhnte wie vermögende Deutschamerikanerin, die beschlossen hatte, in München ein paar Semester Kunstgeschichte dranzuhängen und die hinter Wolf Hausmann her war, »wie der Teufel hinter der armen Seele.«
»Sag’ Sandy einen schönen Gruß von mir und richte ihr aus, daß ich ihr aus Wales einen echten Lord mitbringe. Aber nur, wenn sie verspricht, brav zu sein und ihre Krallen von dir zu lassen«, sagte Sabrina aufs Geratewohl.
Wolf war so verdutzt, daß er der jungen Amerikanerin tatsächlich brühwarm die Worte seiner Freundin ausrichtete.
Sabrina konnte förmlich sehen, wie Sandy ihr hübsches Puppengesicht mit dem herzförmig geschminkten Mund unwillig verzog; aber als sie deren »ok, Darling, but don’t forget the Lord« – »ist recht, Liebling, aber vergiß den Lord nicht« – hörte, mußte sie lachen.
»Nein, den vergesse ich bestimmt nicht.«
Nach einem Gruß an alle anderen und einem gehauchten Kuß für Wolf unterbrach Sabrina die Verbindung. Ein wenig ärgerte sie sich über sich selbst. Hätte sie bloß nicht angerufen! Wolf hockte mit dieser angemalten Ziege aus Wisconsin im Biergarten und amüsierte sich – wer sagte ihr denn, daß die beiden nicht allein waren? Außerdem: ihr Herzallerliebster hatte nicht einmal danach gefragt, wie es ihr ging, wie sie sich fühlte, wie es auf dem Schloß war, wie Michael sie empfangen hatte.
Nichts, rein gar nichts, was sie anbetraf, interessierte ihn! Unwillkürlich nahm sie sich erneut vor, ihren Aufenthalt in Wales nicht über Gebühr auszudehnen – die Sandys dieser Welt machten einem wahrlich das Leben schwer…
*
Zum Dinner um 19 Uhr waren drei Gongschläge zu hören. Daraufhin kamen aus verschiedenen Gebäudetrakten die Mitglieder der Familie zusammen, um sich pünktlich im Speisesaal, der im Erdgeschoß gegenüber dem Eingangsportal lag, einzufinden.
Der Hausherr, Sir Michael, stand in weißem Dinnerjackett, schwarzer, enger Hose und schwarzem Seidenrolli vor der geöffneten, zweiflügeligen Tür, um seine derzeitigen Gäste auf Pembroke Castle zu begrüßen.
»Wenn ich nicht schon in festen Händen wäre, könnte ich mich glatt in Mike verlieben«, dachte sie erneut und wurde rot dabei. Sie wurde Zeugin, wie der Earl eine Dame von geradezu atemberaubendem Aussehen umarmte und auf beide Wangen küßte.
Die Fremde ihrerseits deutete ihren Willkommenskuß nur an, um Michael nicht mit ihrem Lippenstift zu beschmutzen. Sabrina wollte es scheinen, als würde ihr Cousin die schöne Unbekannte eine Spur zu lange und eine winzige Idee zu eng an sich drücken.
Aber da ließ dieser die gertenschlanke Frau mit der rabenschwarzen Aufsteckfrisur und einem ziemlich weit ausgeschnittenen, langen, engen Kleid aus schwarzem Seidenkrepp auch schon los und stellte Sabrina, als die Jüngere, der äußerst bemerkenswerten Dame vor.
»Liebe Fedora, das ist meine Cousine Sabrina, Baronesse von Rottenstein, die heute kurz vor dir aus München bei uns angekommen ist und hoffentlich, ebenso wie du, liebe Schwiegermama, recht lange bleiben wird – mindestens einen Monat. Ich nenne sie übrigens Sabby – vielleicht erlaubt sie auch dir, sie so zu nennen.«
Sabrina glaubte sich verhört zu haben. Die da sollte Eleanors Stiefmutter, Lady Fedora, sein? Unmöglich! Die Dame mit der zarten hellen Haut, dem makellosen, völlig faltenlosen Oval ihres Gesichts mit der feinen, ein ganz klein wenig zu langen Nase, den vollen jugendlichen Lippen und den interessant schräg gestellten, riesigen grünen Katzenaugen – die sollte die ungefähr fünfzig Jahre alte Witwe Lord Jonathans sein?
Himmel! Sie sah keinen Tag älter aus als Anfang dreißig. Vermutlich hatte man sie immer für die Schwester ihrer Stieftochter gehalten…
Wie Sabrina allerdings gleich darauf mit raschem Kennerblick erspähte hatte, sahen wenigstens die Hände der Lady wie die einer älteren Frau aus: bräunliche Flecken, sowie hervorstehende Adern und Sehnengeflecht auf dem Handrücken zeugten davon, daß ihre Besitzerin sich rasant dem halben Jahrhundert an Lebensjahren näherte.
Daran änderten auch ihre langen, ovalen, altmodisch spitz gefeilten und blutrot lackierten Fingernägel nichts…
»Mein liebes Kind! Schön, daß du kommen konntest, um Michael und mir in diesen traurigen Tagen beizustehen.«
Die Stimme Fedoras klang dunkel, samtig weich und einschmeichelnd. Obwohl die Worte ehrlich klangen, glaubte die junge Frau aus ihnen dennoch einen falschen Unterton herauszuhören. Spontan beschloß Sabrina, sich vor diesem zauberhaften Geschöpf in acht zu nehmen.
Ohne, daß sie wußte weshalb, war ihr diese schöne Frau von Herzen unsympathisch. Sie vermittelte ihr außerdem das Gefühl, neben ihrer strahlenden Person klein, unbedeutend, plump und unansehnlich zu sein…
Kühler als es sonst ihre Art war, begrüßte Sabrina demnach die Stiefmutter der toten Eleanor. »Lady Fedora, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte sie unpersönlich und nur mit der knappen Andeutung eines Lächelns.
Aber die Ältere hatte offenbar nicht die Absicht, die ihr bis dato unbekannte Verwandte aus Deutschland so einfach davonkommen zu lassen.
»Lasse dich umarmen, mein Kind«, murmelte sie und drückte dabei die vollkommen überraschte Sabrina an sich, so daß diese deren schweres Parfüm einatmen mußte – ein intensiver Duft, der sie beinahe schwindelig machte. Es war ein Geruch, den die junge Frau auf Anhieb – ebenso wie seine Trägerin – verabscheute. Vorsichtig machte sie sich los.
»Wie nennt Michael dich, mein Kind? Sabby?
Hübsch, sehr hübsch. Es paßt zu dir; so werde ich auch zu dir sagen.«
Das nun paßte der Studentin überhaupt nicht. Sie war kein kleines Kind mehr! Nur gute Freunde durften sie so nennen oder Mitglieder ihrer engsten Familie. Was verband Lady Fedora mit ihrer, Sabrinas, Kindheit und Jugend? Nicht das geringste.
Aber ehe sie noch Protest einlegen konnte, hörte sie ihren Cousin sagen: »Wir haben das Glück, meine Damen, seit längerem noch einen weiteren Gast auf Pembroke zu beherbergen: darf ich dir, liebe Mama, und dir, liebe Cousine, unseren verehrten Onkel Jeremiah vorstellen, einen sehr lieben Verwandten meiner seit langem verstorbenen Mutter, Lady Camilla?«
Überrascht wandte Sabrina von Rottenstein sich um. Vor sich sah sie einen uralten Mann – sie schätzte ihn auf Ende achtzig – dessen gebrechliche Erscheinung in auffälligem Gegensatz zu seinen lebhaft funkelnden Augen, die in einem strahlenden Blaugrau leuchteten, zu stehen schien.
›Alle in meiner Familie besitzen solche strahlend blauen Augen‹, dachte sie unwillkürlich, ›wenn die Irisfarbe auch bei manchen mit Grün, Grau oder sogar Violett und Braun gemischt ist.‹
Der überschlanke, hochgewachsene, fast magere alte Herr war in einen eleganten, dunkelgrau gestreiften Abendanzug mit passendem Hemd gekleidet, der hervorragend zu seinem vollen schneeweißen Haar und dem gebräunten Gesicht paßte. Sabrina gefiel dieser Onkel Jeremiah auf den ersten Blick.
Er machte auf sie den Eindruck eines gütigen, erfahrenen Mannes, der viel erlebt hatte – auch Bitteres – und sich trotz allem seinen Humor nicht hatte nehmen lassen. Dunkel glaubte sie sich daran zu erinnern, daß ihre Mutter diesen Verwandten bereits einige Male erwähnt hatte.
»Welche Freude für mich alten vertrockneten Burschen, so eine bezaubernde junge Base begrüßen zu dürfen«, sagte er zu Sabrina zur Begrüßung, worauf diese ihn spontan umarmte und auf die runzeligen, glattrasierten Wangen küßte, die einen feinen Duft seines Rasierwassers nach Sandelholz verströmten. »Schön, dich kennenzulernen, Onkel Jeremiah.«
Der alte Edelmann, Jeremiah Flowery, fünfundneunzig Jahre alt, Count of Montmorency-Stillwell, wechselte den Gehstock aus Ebenholz mit dem Silberknauf in die linke Hand, um seiner so unerwartet aufgetauchten Verwandten galant den rechten Arm zu reichen.
»Machst du mir die Freude und läßt mich dich zu Tisch führen, Cousine Sabrina?« fragte er und lächelte sie offen an.
»Aber mit Vergnügen, Onkel Jeremiah«, antwortete diese, und Sabrina hörte, wie Sir Michael hinter ihnen seinerseits seine schöne Schwiegermutter in den Speisesaal geleitete.
Es war ihr nicht entgangen, daß der alte Herr Lady Fedora nur mit einem äußerst knappen Kopfnicken begrüßt hatte. Die Abneigung, die er gegen sie zu hegen schien, war beinahe mit Händen zu greifen gewesen – eine Tatsache, die Sabrina zu denken gab.
Ihr Aufenthalt versprach schon zu Anfang, einigermaßen spannend zu werden, denn sie war gewillt, unbedingt herauszufinden, weshalb Jeremiah Flowery, der Großonkel ihrer Mutter Mary-Anne, die strahlendschöne Schwiegermutter ihres Cousins Michael nicht leiden konnte.
›Mein Gefühl scheint mit seinem deckungsgleich zu sein – auch ich lehne innerlich Lady Fedora ab – ohne freilich zu wissen, warum dies so ist‹, dachte sie und hatte dabei ein schlechtes Gewissen. Die Dame hatte ihr doch nichts getan – im Gegenteil, sie verdiente ihr Mitgefühl.
Als sie am festlich gedeckten, ovalen Tisch neben Onkel Jeremiah Platz genommen hatte, blickte sie auf und schaute geradewegs in Fedoras leicht schräg gestellte, mandelförmige Augen, die tatsächlich denen einer Katze glichen. Sir Michael hatte ihr gerade den Stuhl zurechtgerückt, ehe er sich an ihrer linken Seite niederließ.
»Ich sehe nirgends deine Kinder, Mike«, sagte Sabrina, und es klang schroffer, als sie es eigentlich gewollt hatte. Als ihr Cousin nicht darauf reagierte, insistierte sie: »Ich vermisse Charles und Mary-Helen.«
»Das tue ich auch, Mike.«
Zu ihrer Überraschung war es Onkel Jeremiah, der ihr sekundierte. Sir Michael, dem die Situation sichtlich peinlich war, wollte gerade den Mund aufmachen, als die betörende Schwiegermutter, die eher wie eine gleichaltrige Schwägerin aussah, das Wort ergriff.
»Ich habe Michael gebeten, davon Abstand zu nehmen, die Kleinen abends am Dinner im Speisesaal teilnehmen zu lassen. Alle wissen, ich liebe die Kinder über alles, aber ich schätze es auch, mich in Ruhe dem Mahl widmen zu können, ohne durch infantiles Geplapper gestört zu werden.
Eleanor, meine Tochter, hat erst im Alter von zwölf Jahren bei allen Mahlzeiten der Familie mit am Tisch gesessen. Bis dahin pflegte sie mit ihrer Gouvernante zu speisen. Ich habe Michael das gleichfalls empfohlen – auch im Interesse der Kinder. Sie fühlen sich gewiß bei den Unterhaltungen der Erwachsenen nicht sehr wohl.«
»Dann gehe ich wohl recht in der Annahme, Lady Fedora, daß Ihre Stieftochter Eleanor das bisher anders gehalten hat, nicht wahr? Um so schmerzlicher wird es für die Kleinen sein, nach dem Verlust der Mutter nun auch noch vom Rest der Familie ausgegrenzt zu werden«, entgegnete Sabrina, die bereits innerlich vor Wut kochte, ohne über ihre Worte groß nachzudenken.
Ihre Miene und ihr Tonfall hatten sehr deutlich ihr Mißfallen zum Ausdruck gebracht, und der verärgerte, verschlossene Gesichtsausdruck ihres Cousins Michael vermittelte ihr deutlich, was er von ihrer Einmischung hielt.
Hilfesuchend wandte sie sich daher an ihren Tischherrn. »Onkel Jeremiah, was hältst du von dieser Neuerung, daß die Kinder jetzt vom gemeinsamen Abendessen ausgeschlossen werden?«
»Gar nichts, mein liebes Kind«, antwortete er so laut, daß alle im Raum ihn hören konnten. »Dieser Standpunkt ist längst veraltet. Zu Zeiten von Queen Victoria mag es üblich gewesen sein, sich den Nachwuchs möglichst vom Hals zu halten – heutzutage macht das kein vernünftiger Mensch mehr. Vor allem niemand, der seine Kinder liebt.
Aber ich bin nur ein dummer alter Mann und werde mich nicht in die Erziehung von Michaels Kindern einmischen.«
Er entfaltete seine Serviette, legte sie auf seinen Schoß und bedeutete dem Diener, der ihm Weißwein in eines der Gläser einschenken wollte, daß er darauf verzichtete.
»Abends vertrage ich keinen weißen«, erklärte er Sabrina, »aber ein Gläschen Roten werde ich nicht verschmähen.«
Damit hatte er geschickt das Thema gewechselt.
›Ein schlauer Fuchs‹, dachte die junge Frau. ›Er hat deutlich seine Meinung zum Ausdruck gebracht, aber gleichzeitig mir zu verstehen gegeben, daß es angebracht und klüger ist, sich mit Kritik zurückzuhalten. Ein interessanter, alter Knabe, dieser Jeremiah.‹
Lady Fedora dominierte eindeutig das Gespräch bei Tisch. Sie unterhielt sich dabei vornehmlich mit ihrem »lieben Schwiegersohn«, der kaum ein Wort an Sabrina richtete. Auch mit seinem alten Verwandten wechselte er gerade mal ein paar Sätze, um nicht allzu unhöflich zu erscheinen.
Ehrlicherweise mußte Sabrina jedoch zugeben, daß ihr Cousin eigentlich kaum zu Wort kam. Ständig mußte er seiner charmanten Tischdame zuhören, die ununterbrochen auf ihn einredete.
Fedora überzog den jungen Mann mit einem wahren Feuerwerk an spritzigem Geplauder. Sabrina kam nicht umhin, der anderen Intelligenz, Wissen, Charme und Witz zuzugestehen; Fedora war eine höchst gebildete Frau. Aber eines war nur allzu deutlich:
›Sie spricht kein einziges Mal von ihrer angeblich so sehr geliebten Tochter, um die sie doch so sehr trauert. Es ist gerade so, als möchte sie jeden Gedanken an die Verstorbene bereits im Keim ersticken. Das werde ich jetzt ändern.‹
Sabrina legte ihr Besteck beiseite und richtete den Blick auf ihr perfekt hergerichtetes Gegenüber, das im Augenblick damit beschäftigt war, die Hand ihres Schwiegersohnes in der ihren zu halten und seine Handlinien zu studieren.
Als sie bemerkte, daß sie beobachtet wurde, ließ sie die Hand Sir Michaels los, warf ihren schönen Kopf zurück und ließ ihr perlendes Lachen hören.
»Nach der Länge deiner Lebenslinie müßtest du leicht hundert Jahre schaffen, Michael, und was deine Liebeslinie anbetrifft…«
»Wirst du mich nach dem Essen zur Familiengruft begleiten, lieber Cousin?« platzte die junge Frau dazwischen. »Ich finde, es ist an der Zeit, daß ich deiner verstorbenen Frau die letzte Ehre erweise. Dazu bin ich eigentlich hergekommen. Und dazu, daß ich dir in deiner Trauer ein wenig beistehe, Mike.«
Allen am Tisch war klar, welche Kritik hinter ihren Worten steckte, und selbst die beiden Bediensteten, die mit dem Abräumen des Geschirrs beschäftigt waren, verhielten den Atem.
»Wir könnten deine Kinder mitnehmen; vielleicht möchten sie für ihre Mum ein kleines Gebet sprechen?«
Michael war rot angelaufen, und in den grünen Augen seiner Schwiegermutter stand der blanke Haß. Was unterstand sich dieses unbedeutende Ding aus Deutschland – eine kleine Baronesse – die mit jeder Äußerung, die sie absonderte, Spitzen verteilte und Kritik an Personen übte, die älter, bedeutender und viel erfahrener waren als sie?
Lady Fedora beschloß, dem unverschämten Frauenzimmer eine Lektion zu erteilen. Ehe sie aber den Mund auftun konnte, war es Sir Michael, der seine Cousine abwimmelte.
»Tut mir leid, meine Liebe, das hättest du früher ankündigen müssen. Jetzt habe ich Fedora bereits den Schlüssel zur Gruft ausgehändigt. Sie hat mich gebeten, allein und in aller Ruhe ungestört die Grabstätte ihrer Tochter aufsuchen zu dürfen. Sie möchte sich dort ohne jegliche Begleitung ganz ihrem Schmerz und ihrer tief empfundenen Trauer hingeben. Ich denke, du hast Verständnis für diesen Wunsch, Cousine.«
›Merkt er eigentlich nicht, wie lächerlich er sich anhört?‹ schoß es Sabrina durch den Kopf. ›Gestelzt und unecht. Was er da von sich gibt, klingt hohl, aufgesetzt und verlogen. Ausgerechnet Fedora möchte in Ruhe trauern! Den Eindruck macht diese aufgetakelte, gewiß x-mal geliftete Person nun wirklich nicht.
Eine liebende Mutter – selbst eine einigermaßen betroffene Stiefmutter – würde sich an diesem Abend anders verhalten haben! Was hat sie denn die ganze Zeit über getan – außer mit ihrem attraktiven Schwiegersohn regelrecht zu flirten? Und der Narr scheint gar nicht zu merken, was für eine falsche Schlange neben ihm sitzt! Immerhin hat sie es bereits geschafft, ihre Enkel aus dem Speisezimmer der Familie zu verbannen.‹
Sabrina war kurz vor dem Explodieren. Und wieder war es Onkel Jeremiah, der die angespannte Situation rettete.