7 Sorten Schnee - Juri Pavlovic - E-Book

7 Sorten Schnee E-Book

Juri Pavlovic

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Beschreibung

Wer ein Ritter wird, entscheidet die Herkunft.  Wer ein Ritter ist, entscheidet das Herz.  Idalir, die Stadt aus Stein und Schnee, ist seit tausend Jahren in einen Krieg mit den Drachen verstrickt. Flores, der junge Adelige mit der falschen Herkunft, wünscht sich nichts mehr, als seiner Familie Ehre zu machen. Inmitten eines Drachenangriffs taucht plötzlich ein Fremder auf: Raban, ein Arzt aus dem fernen Abrantes, den die Wissenschaft ins ewige Eis gelockt hat. Kaum angekommen, findet Raban sich in der Rolle des Lichtbringers wieder, eines göttlichen Gesandten, der den Drachenkrieg beenden soll. Flores ist bereit, für den Lichtbringer zu sterben. Doch der will das um keinen Preis zulassen. Ein queeres Fantasy-Epos vor einer Kulisse aus Eis und Schnee, Schlittenhunden und ritterlicher Ehre, voll großer Gefühle und diverser Lebensentwürfe.

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Seitenzahl: 837

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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Epilog
Danksagung

© 2024 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunsteinhttps://amrun-verlag.de

Umschlaggestaltung: Catrin Sommer – rausch-gold.comKarte: Martin LorberIllustration: Sarah Pilz

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95869-427-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

v1/24

Kurz vor dem Morgenläuten begann es zu schneien: dichter, feiner Staubschnee, der zwischen den Häusern aufstieg, getragen von einem eisigen Windhauch. Flores hielt die Kapuze unter dem Kinn zusammen und beeilte sich, über den Innenhof hinüber ins Küchenhaus zu kommen. Die Stufen waren schon wieder vereist. Auf dem Weg nach drinnen nahm er die Sandschaufel und streute, damit niemand ausrutschte.

Er rannte gegen die Wärme in der Küche wie gegen eine Mauer. Er schnappte nach Luft und schlug die Kapuze zurück.

»Seneschall!«, scholl es ihm entgegen. »Das zweite Frühstück vor oder nach der Zeremonie?«

»Stimmt es, dass der Exarch höchstpersönlich seinen Besuch angekündigt hat?«

»Die Herrin von Mailard verlangt Schafsmilch statt Ziege! Wo kriegen wir denn jetzt ein Schaf her?«

Flores hob abwehrend die Hände. »Danach, das glaub ich kaum, und gib ihr Ziege, rühr ein paar Gewürze rein und behaupte, es sei Schaf.«

»Tee?« Tia hielt ihm einen Becher hin, aus dem es dampfte. Sie war seit dem ersten Läuten auf den Beinen, genau wie die restliche Küchenbelegschaft. Ihre runden braunen Wangen glänzten vor Schweiß, und ihre Löckchen umgaben ihr Gesicht wie eine Wolke. Dankbar ergriff Flores den Becher.

»Das erste nette Wort, das ich heute höre.«

Sie lächelte ihm zu. »Der Tag ist ja noch jung.«

Flores trank einen Schluck – bitter und süß und so heiß, dass die Wohltat mit Schmerz vermischt war. Wenn die Welt heute freundliche Worte für ihn übrighatte, würde er keine Zeit haben zuzuhören.

»Habt ihr genug Torf, Tia? Wie sieht es mit Holz aus?«

»Holz ist knapp, aber der Torf reicht noch.«

»Sieh zu, dass es so bleibt. Wir feuern alle großen Kamine an, da kann ich kaum noch etwas abzweigen.« Flores gähnte verstohlen in seinen Pelzärmel.

»Hast du überhaupt geschlafen?«, fragte Tia prompt.

»Kann mich nicht erinnern«, murmelte Flores. »Aber egal. Schlafen kann ich, wenn der Kleine erleuchtet ist.«

»Ich wünsche euch allen eine erfolgreiche Zeremonie.«

»Danke. Ich uns auch.«

Er nahm den Tee mit hinüber ins Haupthaus. In der Großen Halle begegnete ihm Janes. Er trug bereits seine Festtagsgewänder und war von nervöser Anspannung umgeben.

»Du bist ja noch gar nicht umgezogen«, begrüßte er Flores.

»Kommt noch. Ich hatte alle Hände voll zu tun.«

Janes stöhnte auf. »Kannst du glauben, dass die Mailard schon Sonderwünsche äußert, ehe ihr der Schnee von den Schuhen geschmolzen ist?«

»Keine Sorge. Ich kümmere mich um die Herrin.«

Janes nickte. »Der Midarch kommt jeden Moment. Ist der Raum der Ahnen schon geheizt?«

»Längst. Bruder, beruhige dich. Alles wird gut. Tee?«

Flores hielt ihm den Becher hin, aber Janes schüttelte den Kopf. »Ich bin so froh, wenn das vorbei ist. Es hängt so viel davon ab.«

»Ich weiß.«

»Wir brauchen für Remi einen guten, soliden Schicksalsspruch. Er muss der Familie Ehre machen.«

»Er ist ein Säugling, Janes. Lass ihn doch erst mal groß werden.«

»Ja, natürlich. Was hast du da? Tee?«

»Wie soeben erwähnt.«

Janes griff nach dem Becher und nahm einen großen Schluck.

»Jetzt geh und kümmere dich um Birka«, sagte Flores. »Wenn du schon so aufgeregt bist, muss sie ein Wrack sein. Ich nehme es inzwischen mit der Herrin von Mailard auf.«

Auf dem Weg zum Kaminzimmer, wo die städtische Prominenz bereits fast vollzählig versammelt war, kontrollierte er den Raum der Ahnen. Alles war bereit – Stühle, Pelze, die Heilige Schrift auf dem Altar. Stumm sahen die Ahnen von ihren Gemälden auf ihn hinunter. Generationen von Männern und Frauen mit Erzas breiter Statur und dem energischen Kinn der Tempeste. Keiner davon mit Flores‘ hellblonden Haaren oder der schmalen, scharf gekrümmten Nase, keiner so groß und schlaksig wie er. Die Natur hätte nicht deutlicher zeigen können, dass er keiner von ihnen war.

Er wich den gemalten Blicken aus und verließ den Raum.

Im Kaminzimmer herrschte reges Geplauder. Man tauschte Neuigkeiten und hielt das Personal beschäftigt. Die Herrin von Mailard lobte die vorzügliche Schafsmilch und ließ es sich nicht nehmen, den neuesten Klatsch und Tratsch aus den Zwölf Häusern mit Flores zu teilen. Flores lauschte geduldig, ergriff aber die erste Gelegenheit beim Schopf, um zu seinen Pflichten zurückzukehren.

In den privaten Räumen der Familie war das Frühstück bereitet, erfuhr aber wenig Aufmerksamkeit. Nur Lisanne saß auf einer Stuhlkante und nippte an einem Becher mit heißer Milch. Nebenan schrie Remi.

»Das geht schon den ganzen Morgen so«, beschwerte Lisanne sich. »Warum können die nicht woanders wohnen?«

»Willst du deinen Bruder rausschmeißen, nur weil er jetzt Familie hat? Das Haus ist groß genug für uns alle.«

Lisanne verdrehte die Augen. Einer ihrer Strümpfe warf Falten, ihre Kotta war fleckig und ihre Haare hatten heute noch keinen Kamm gesehen.

»Geh dich präsentabel machen«, sagte Flores. »Die Lyell kommen gleich, und dann ist Zeremonie.«

»Sind Albi und Loki dabei?«

»Davon gehe ich aus.«

»Toll!« Lisanne hüpfte vom Stuhl. »Dann können wir Drachenkrieg auf dem Dachboden spielen.«

»Nach der Zeremonie«, mahnte Flores, aber Lisanne winkte nur ab und sauste davon.

Die Lyell verspäteten sich. Sogar der Midarch war schon da und trank Tee mit den Eltern der kleinen stimmgewaltigen Hauptperson, und man war gerade übereingekommen, die Zeremonie eben mit denen abzuhalten, die zugegen waren, als der Schlitten endlich vorfuhr.

Erza Tempeste, der Erste seines Hauses, schritt zur Begrüßung. Man hatte das zweiflügelige Portal und die Stufen zum Eingang verschwenderisch beleuchtet, und Flores spürte beinahe körperlich, wie hier Geld verbrannte. Er trug immer noch seine Alltagskleidung, wohingegen Erza alles aus den Truhen hatte holen lassen, was dem festlichen Anlass gerecht wurde: das zeremonielle Kettenhemd, den schwarz-roten Wappenrock darüber, die Schärpe, sogar das alte Familienschwert hatte er gegürtet, obwohl er mit der rechten Hand den Knauf seines Gehstockes umklammerte.

»Helenne.« Er schloss die Schwägerin herzlich in die Arme. »Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.«

»Die Zeit rast, mein Guter, du kennst das ja. Und, seid ihr schon aufgeregt?«

»Wir erwarten ergeben den Schicksalsspruch der Hüterin.«

»Ja, was bleibt euch auch anderes übrig.«

Hinter Helenne waren ihre von Lisanne so heiß ersehnten Söhne vom Schlitten gesprungen. Sie waren gewachsen, seit Flores sie zuletzt gesehen hatte, und bei Albirich meinte er sogar eine erste Anwandlung von Stimmbruch zu hören. Dann war Helenne bei ihm, und er sank in ihre warme Umarmung.

»Geht’s dir gut, Flores?«

»Ich kann nicht klagen, Tante.«

Sie nahm ihn bei den Armen, schob ihn von sich und musterte ihn prüfend.

»Gut siehst du aus, Junge. Sag mir das Wichtigste zuerst – werden wir heute das Vergnügen haben, deinen Zukünftigen kennenzulernen?«

»Ich verstehe nicht?«

»Nicht so schüchtern, mein Lieber. Die Hunde heulen es in den Himmel. Du und Regis Chastel? Das wäre eine gute Partie, für euch beide.«

»Ich – was? Tante, wir waren ein einziges Mal zusammen tanzen!«

»Amie von Chastel erzählt überall, sie hätte euch auf dem Balkon gesehen, wie ihr euch geküsst hättet.«

Flores spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. Hoffentlich hatte Amie von Chastel nicht gesehen, was noch alles auf diesem Balkon passiert war. Und in der Fensternische ganz hinten im Festsaal. Und unter dem Tisch im Vorbereitungsraum.

»Es war ein netter Abend, aber wir haben uns seither nicht gesehen und wir werden ganz bestimmt nicht heiraten!«

Helenne sah ein bisschen enttäuscht aus. »Ich hatte mich schon gewundert, warum dein Vater nichts erzählt hat. Aber ich hätte das Gerücht gerne geglaubt. Ein bisschen Glück für dich, wo du doch immer so viel arbeitest.«

»Danke, Tante. Der Richtige kommt schon noch.«

»Na hoffentlich!«

Helenne rauschte an ihm vorbei, zitierte ihre Kinder zu sich, die begonnen hatten, auf die Säulen der Eingangshalle zu klettern, und verschwand im Haus.

Erza rückte die Schärpe über der Brust zurecht und atmete eine knisternde Wolke vor sich in die Luft.

»Bringen wir es hinter uns. Möge Skadi, die allmächtige Hüterin, uns gnädig sein.«

»Das wird sie. Mach dir keine Sorgen.«

Erza lächelte müde. Er sah aus, als hätte er jetzt schon Schmerzen, dabei hatte der lange Tag kaum begonnen.

»Du musst während der Zeremonie nicht stehen, Vater. Ich kann dir einen Stuhl bringen lassen.«

»Um der ganzen Stadt zu demonstrieren, dass der alte Tempeste sich nicht mehr auf den Beinen halten kann? Nein, bestimmt nicht.«

Erza drehte sich um und humpelte ins Haus. Flores blieb draußen stehen. Ein Schleier aus Staubschnee legte sich auf sein Gesicht. Der Platz der Demütigen erstreckte sich vor ihm. Werktätige gingen ihren Geschäften nach, ein Fackelträger lobte lautstark seine Dienste aus. Rundum ragten die Häuser wie Gebirge in den schwarzen Himmel. Stein und Schnee, Schnee und Stein. Flores hatte Lust, die Hunde anzuspannen und raus aufs Eis zu fahren, bis seine Pflichten sich im allgegenwärtigen Weiß auflösten.

Er riss sich zusammen. Alle warteten auf ihn, und er war noch nicht einmal umgezogen.

Als er kurz darauf in seinen hastig übergeworfenen Festtagsgewändern den Gang zum Raum der Ahnen entlangeilte, erkannte er, dass zumindest die letzte Sorge unbegründet gewesen war – niemand hatte auf ihn gewartet. Musik und Gesang drangen durch die Tür. Er schob sie vorsichtig auf und schlich sich ins Innere. Alle waren auf den Knien, und er ließ sich neben der Tür nieder und stimmte in die Lobpreisung ein. Auf der anderen Seite der Tür, in der letzten Reihe, rangelte Lisanne verstohlen mit Loki, und er starrte so lange strafend hinüber, bis sie es ließen.

Der Raum der Ahnen war voll. Schulter an Schulter knieten die Gäste, ihre Gesänge untermalt vom Rascheln edler Roben und Schmuckgeklimper. Das Haus Mailard war vollzählig zugegen, das Haus Conte ebenfalls, und auch die Wichtigen der Stadt hatten sich versammelt – der Oberste Wächter, die Schlüsselmeisterin, die Seele der Gärten. Freunde der Familie, Nachbarn. Das Haus Paragon. Gersande war auch dabei. Er fing ihren Blick ein und deutete eine Verbeugung an, und sie winkte ihm fröhlich zu.

Der Gesang verebbte. Die Musikgruppe zog sich unauffällig in den Hintergrund zurück und machte dem Midarchen Platz, der nach vorne trat und in großer Geste die Arme ausbreitete. Alle standen auf. Erza hatte sichtlich Mühe, in die Höhe zu kommen, und Flores wollte ihm schon beispringen, aber Helennes Kinder unternahmen gleichzeitig einen Fluchtversuch durch die Tür. Flores fing sie im letzten Augenblick ab und scheuchte sie zurück auf ihre Plätze.

Der Midarch begann zu predigen. Flores schielte an ihm vorbei zur Heiligen Schrift, die bereits auf dem Altar bereitlag. Es war die Prachtausgabe, seit Generationen im Familienbesitz, beschlagenes Leder, feinstes Pergament, Malereien in sprühenden Farben. Auf einer dieser Seiten gab es ein Bild, wie Skadi schützend den Schild zwischen die Stadt und einen Ansturm von Drachen hielt. In seinen Kindertagen hatte Flores dieses Bild geliebt. So stark war sie, Skadi, die Hüterin, so gütig, Flores hatte sich behütet gefühlt in ihrem Schatten. Heute wusste er, wie teuer diese Sicherheit erkauft war, und dass immer wieder Söhne und Töchter der Stadt ihr Blut dafür vergossen.

Die Anspannung stieg. Der Säugling schrie, und Birka schaukelte ihn auf dem Arm und steckte ihm den kleinen Finger in den Mund. Klein-Remi begann hingebungsvoll zu saugen. Janes war nervös, das sah Flores ihm an. Erza, der sich neben dem Altar postiert hatte, ließ sich nichts anmerken, aber Flores entging nicht, wie schwer er sich auf seinen Stock stützte.

Endlich war der Midarch mit seiner Ansprache fertig. Er drehte sich zum Altar und hob die Hände.

»Skadi, Hüterin, Große Mutter, Licht unserer Dunkelheit, nimm dich dieses unschuldigen Kindes an. Leite ihn auf seinem Weg. Zeige ihm, was du für ihn vorgesehen hast, auf dass er seinem Haus Ehre bringen möge.«

Erza beugte sich zu der Truhe, die neben dem Altar bereitstand, und holte vorsichtig den Lichtfänger heraus – eine zarte, filigrane Kuppel auf einem fein geschmiedeten Gestell, die er nun über dem Heiligen Buch platzierte. Janes zündete mit gemessenen Bewegungen eine kleine weiße Kerze an und setzte sie in eine Halterung im Inneren des Lichtfängers. Der Midarch stimmte einen Lobgesang an, und Janes gab der Kuppel einen vorsichtigen Schubs, sodass sie begann, sich um sich selbst zu drehen. Unzählige Kristalle im Inneren fingen das Licht ein und überschütteten das heilige Buch mit einem Funkenschauer, und Flores war so fasziniert, dass er beinahe seinen Einsatz verpasst hätte. Eilig nahm er seiner Schwägerin den kleinen Remi ab, damit sie die Hände freibekam. Birka zog ein rotes, kostbar besticktes Tuch unter ihrem Gürtel hervor und verband dem Midarchen behutsam die Augen. Dann leitete sie seine Hände zum Buch.

Der Midarch schlug es auf. Satt fiel der schwere lederne Buchdeckel auf den Stein. Der Midarch blätterte blind, während die Lichtfunken über das Papier glitten, langsamer wurden und sich zu einem hellen Lichtstrahl vereinten.

Der Lichtstrahl zitterte und kam dann zum Stillstand. Eine Glocke gab einen einzelnen, hellen Ton von sich.

»Die Hüterin hat gesprochen.«

Flores drückte den Säugling so fest an sich, dass der erschrocken quäkte.

Birka entfernte die Augenbinde des Midarchen, ihre Hände zitterten sichtlich.

»Lasst uns vernehmen, was die Zukunft für den kleinen Remi bereithält«, sagte der Midarch und beugte sich etwas kurzsichtig über das Heilige Buch.

»Die Reinheit des Geistes leite dich, dann wirst du den Begierden des Fleisches nicht anheimfallen«, las er vor, dann blickte er auf. »Nun, das ist sehr deutlich. Die Hüterin möchte Euren Enkel, Herr Erza, als Diener in ihrem Haus. Wenn er das rechte Alter erreicht, wird er den Schwur ablegen.«

Erleichterung durchflutete den Raum. Erza strahlte wie ein Kaminfeuer. »Das ist gut. Ein Geistlicher wird der Familie Ehre bringen.«

Flores gab seinen Neffen an Birka zurück. Es war nur zu hoffen, dass der Kleine eine spirituelle Neigung entwickelte.

Die allgemeine Anspannung löste sich in Geplauder und Gelächter. Dienstboten kamen mit Tee und heißer Milch herein. Musik spielte auf. Die Erleichterung stand Janes und Birka deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Ein Geistlicher«, sagte Birka. »Nun, das ist zumindest eine sichere Sache. Und ungefährlich. Nicht auszudenken, es wäre etwas mit Kämpfen oder Schwertern gewesen.«

»Ist die Große Halle vorbereitet?«, fragte Janes. »Können wir die Gäste hinübergeleiten?«

»Ich denke schon«, sagte Flores. »Vorhin sah alles ganz gut aus.«

»Du denkst, oder du weißt?«

Flores seufzte. »Ich gehe nachsehen.«

Auf dem Weg nach draußen schnappte er sich einen Becher Tee von einem Tablett. Lisanne schwenkte neben ihn ein und hüpfte neben ihm her.

»Gibt es gleich die Geschenke?«, fragte sie aufgeregt.

»Für dich sowieso nicht«, sagte Flores. »Das ist schließlich nicht deine Erleuchtung.«

»Aber der Kleine kann doch noch gar nicht spielen! Ich kann seine Sachen behalten, bis er groß genug ist.«

Flores lachte. »Das könnte dir so passen.«

Die Große Halle war makellos geschmückt, die lange Tafel perfekt eingedeckt mit den guten Zinntellern, fein geblasenem Glas, Silberbesteck und kunstvollen Gestecken aus zarten Gespinstblumen. Flores hatte die Rechnungen für den Tafelschmuck in der Hand gehabt. Wenn das hier vorbei war, musste er ein ernstes Wort mit seinem Vater reden.

Tia kam auf ihn zu. »Und?«

»Alles gut. Er soll ein Geistlicher werden.«

»Ein Glück, und Glückwunsch an euch alle.«

Die Gäste kamen vom Raum der Ahnen herüber und bekamen ihre Plätze zugewiesen. Flores rückte Stühle, nahm Mäntel entgegen, die in der gut geheizten Halle nicht benötigt wurden, und versuchte gleichzeitig zu verhindern, dass die Gäste mit dem Gesinde zusammenstießen, das die letzten Handgriffe verrichtete.

»Du hast mich ja noch gar nicht richtig begrüßt.«

Ein Hauch von teurem Kräuterduft. Eine leichte Hand auf seinem Arm.

»Gersande. Wie schön, dich zu sehen. Tut mir leid. Ich wollte nicht, dass deine Eltern ungehalten werden, wenn du dich mit dem Personal abgibst.«

Gersande winkte ab. »Sie sind so schrecklich altmodisch. Aber, hast du schon das Neueste gehört? Sie haben einen Keller gefunden, unterhalb unseres Kellers! Er stammt vielleicht aus der Gründungszeit! Es gibt einen Gang, der in Richtung der Kurie führt. Vielleicht ein ehemaliger Fluchttunnel. Stell dir vor, wie es wäre, wenn ...«

»Seneschall!« Ein Sackpfeifer tauchte vor Flores auf, sein Instrument im Arm. »Die Herrin sagt, wir sollen nicht spielen, weil es zu laut für das Kind sei, aber Ihr habt uns doch beauftragt! Was ist mit dem Geld, wenn wir nicht spielen?«

Flores atmete tief durch, hieß den Sackpfeifer warten, geleitete dann Gersande zu ihrem Platz, kehrte zu dem Musiker zurück und beruhigte ihn, die Bezahlung würde jedenfalls entrichtet, egal wie viel oder wenig musiziert würde.

Inzwischen saßen alle, und die Dienerschaft begann, die Gastgeschenke hereinzutragen. Eine Gabe nach der anderen nahmen die glücklichen Eltern des Erleuchteten entgegen, bedankten sich mit vollendeten Verbeugungen und zeigten das Geschenk herum. Schmuck und Ballen feiner Stoffe wurden auf dem Gabentisch abgelegt, eine kostbare, mit silbernen Spangen beschlagene Ausgabe des Gedichtzyklus der Zölestine, Pelze und Felle und ein handliches Schwert, das der kleine Erleuchtete zum Glück niemals würde führen müssen. Das Haus Conte schoss den Vogel ab, indem dessen Bedienstete eine lebende und sichtlich erboste Eiskatze in einem prächtigen Käfig in den Saal trugen.

Dann erhob sich Eos Kalei, die Seele der Gärten. Stille kehrte ein. Flores reckte den Hals. Dass eine so einflussreiche Person die Familienfeier der Tempeste besuchte, war vermutlich auf Janes‘ Einfluss im Rat zurückzuführen. Flores hätte gerne ein paar Worte mit hem gewechselt, er interessierte sich schon lange für die komplizierte Vorrichtung, die die unterirdischen Gärten mit Licht und Wärme versorgte, aber mutmaßlich würde sich heute keine Gelegenheit für eine Plauderei ergeben.

Eos Kalei winkte einen Diener heran. Der überreichte hem eine Schatulle, die hen wiederum Janes und Birka darbot. Birka klappte den Deckel auf – ein halbes Dutzend Äpfel waren darin auf feinem Samt gebettet. Die Gäste murmelten beeindruckt.

»Das ist ein äußerst großzügiges Geschenk«, sagte Janes ergriffen. »Habt Dank, gnädige Seele der Gärten.«

»Es ist der bescheidene Versuch der Anerkennung«, sagte Eos Kalei, hens Stimme füllte mühelos den Saal. »Das Haus Tempeste ist seit tausend Jahren Schwert und Schild dieser Stadt, und möge es weiterhin im Lächeln der Hüterin gedeihen.«

Die Festgesellschaft applaudierte. Eos Kalei nickte zufrieden und nahm wieder Platz. Janes wiederum wusste, was vom Haus Tempeste erwartet wurde. Er ließ die Früchte aufschneiden und austeilen. Die Scheiben mussten blattdünn sein, damit es für alle reichte, dennoch wurde die Gabe allseits mit Ehrfurcht entgegengenommen.

Tia kam zu Flores und hielt ihm den Servierteller unter die Nase. Gerade noch ein schmaler Apfelspalt lag darauf.

Er nahm die Leckerei und atmete den frischen, blumigen Duft. Vor Jahren hatten sie zum Lichterfest einen Apfel in der Familie geteilt. Janes hatte gelacht, als Flores vor lauter Überwältigung die Tränen in die Augen gestiegen waren. Vorsichtig biss er ab und hielt die zweite Hälfte Tia hin. Das Fruchtfleisch knirschte leise zwischen seinen Zähnen und entließ einen Schwall an Aromen in seinen Mund – eine unvergleichliche Süße, eine feine Säure, und etwas, wofür Flores keine Worte hatte.

»Das kann ich nicht annehmen«, flüsterte Tia hingerissen.

»Schnell«, sagte Flores. »Sonst verschlinge ich es selbst, so gut ist es.«

Tia nahm den Apfelspalt und steckte ihn sich in den Mund. Sie kaute andächtig und sah so überwältigt aus, wie er sich gerade gefühlt hatte.

»Unglaublich«, flüsterte sie. »Danke, Flo.«

Das Essen wurde aufgetragen. Obwohl Flores jedes Detail der Beschaffung und Vorbereitung überwacht hatte, fühlte er sich geradezu erschlagen ob der Massen an Leckereien: gebackene Flundern, Lammsuppe, gefüllte Pilze, eingelegtes Schwammholz, Milchpudding, Kraut mit einer verschwenderischen Menge an Sauerbeeren, in Fett gebackene Fischhaut, dicke Würfel von Walfett, hauchdünn geschnittener Seejäger auf Eis, Seekuh in Wacholder, über dem Holzfeuer gebratene Seeschlange. Honigtee, Milchtee, Nadeltee, Scharfes Wasser, Goldene Milch.

Zwischen dem zweiten und dritten Hauptgang gab es Tumult, weil die Eiskatze zwischen den Gitterstäben hindurch Lisanne am Arm erwischt und übel zerkratzt hatte. Flores tröstete seine Schwester und koordinierte den Abtransport des Geschenkes in Richtung der Stallungen. Dann wurde er von einer langen Reihe an Verpflichtungen eingesogen und erst wieder ausgespuckt, als das Essen vorbei war und man die Tische zur Seite rückte, um zu tanzen.

»Keine Sorge«, sagte Tia hinter ihm. »Es ist genug von allem übrig. Ich mache dir später warm, was du willst.«

»Lieb von dir, Tia. Kannst du dafür sorgen, dass das Personal später die Reste bekommt? Also, bis auf das, was du mir warmmachst.«

»Sehr wohl, Seneschall.« Sie salutierte spielerisch und marschierte davon.

Es war Spätnachmittag, und er war müde und überwach zugleich. Er spürte die durchgearbeitete Nacht, die Aufregung, die Erleichterung, dass alles sich zum Guten gefügt hatte. Das Schlimmste war überstanden, den Rest würden die Bediensteten ohne ihn bewältigen.

Er hatte sich eine Pause verdient.

In der Eingangshalle schlüpfte er in seine Stiefel, hüllte sich in Mantel und Pelzumhang, zog sich die Kapuze über den Kopf und den Schal ins Gesicht, streifte sich die Fellhandschuhe über und stahl sich ins Freie.

Die Kälte schnitt ihm in die Lungen und klärte seinen Kopf. Eilig überquerte er den Platz der Demütigen, stieg die Himmelstreppe hinauf, bog vor der Basilika rechts ab und verlor sich in dunklen Gassen, trabte eine schmale und brüchige Treppe hinunter und über eine Brücke und erreichte schließlich das Nordviertel.

Flores sah nach oben. Feuerbecken waren wie kleine, warme Punkte auf der mächtigen Mauerkrone verteilt. Im Osten, das mussten die Waffenleute der Tempeste sein. Flores beschloss, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, und erklomm die eisigen Stufen. Der Frost biss ihm durch die Kleider in die Haut. Oben angekommen, nahm er sich einen Augenblick und ließ den Blick schweifen. Der Mond war fast voll, die Ebene leuchtete unwirklich blau. Schneeschleier tanzten über der Oberfläche wie kleine Geister.

»Seneschall?«

Flores zuckte zusammen und nahm unwillkürlich Haltung an.

»Ungewöhnliche Tageszeit«, sagte Hauptmann Kallik. »Kann ich irgendwie zu Diensten sein?«

Flores erkannte ihn nur an der Stimme, so vermummt war der alte Kämpe.

»Nein, nein«, beeilte er sich zu versichern. »Ich bin nur auf dem Weg zum Einsamen Ritter und wollte gerne zwischendurch meine Hände an ein Feuer halten.«

Kallik machte eine einladende Geste. »An unserem Feuer seid Ihr immer willkommen, Seneschall.«

Flores trat näher. Die Männer und Frauen machten ihm Platz. Das Feuer rauschte und spie Funken in den dunklen Himmel. Jemand reichte Flores einen Becher Tee, und er schloss dankbar die Hände darum.

»Und?«, erkundigte sich Soldatin Ivrene. »Wie lief’s?«

»Gut«, sagte Flores. »Priester soll er werden.«

»Na, zumindest landet er nicht auf der Mauer.«

Kallik lachte heiser. »Als würde jemals einer aus den Häusern seinen Arsch hier raufbemühen, egal mit welchem Schicksalsspruch. Nichts für ungut, Seneschall. Euch meine ich nicht.«

»Schon gut, Hauptmann. Skadi setzt uns alle an unseren Platz, und alles geschieht nach ihrem göttlichen Plan.«

»Komisch nur, dass sie die aus den Zwölf Häusern immer auf die besonders bequemen Plätze setzt«, murrte Kallik und fing sich einen Rippenstoß von Ivrene ein.

»Du hörst dich schon an wie ein Häretiker!«

»Ist doch wahr. Die erzählen nicht nur Mist, die Häretiker.«

»Wie ist die Lage auf der Ebene?«, fragte Flores, der nicht die geringste Lust auf eine riskante religiöse Diskussion hatte. »Immer noch diese ungewöhnlichen Aktivitäten?«

»Jawohl, Seneschall. Vor ein paar Längen haben wir sie ziehen sehen, einen ganzen Schwarm. Einen davon konnten wir runterholen.« Er wandte sich zu einem jungen Wachmann, Uki, erst seit ein paar Monden dabei, wenn Flores sich richtig erinnerte. »Großartiger Schuss, Junge! An der Armbrust ist er ein Naturtalent.«

Uki strahlte.

»Sie waren auf Schussweite heran?«, fragte Flores erschrocken. »Das ist neu, oder?«

»In dieser Menge, allerdings«, erklärte Ivrene. »Wir hatten es immer mal, dass ein einzelner sich in die Nähe verirrt. Aber ein ganzes Rudel?«

»Welche Art?«

»Frostgeflügelte, am wahrscheinlichsten. Wir gehen nach­sehen, sobald es hell ist.«

»Bringt euch nicht in Gefahr. Letztlich ist es egal, was ihr da abgeschossen habt. Soll der Schnee es holen.«

Kallik nickte. »Wo Ihr schon mal hier seid, Seneschall ... Uns gehen ein paar Vorräte aus. Walfleisch, Grütze, Salz. Und wenn Ihr einen Krug Goldene Milch auftreiben könntet, oder zwei ...«

»Mach ich. Torf habt Ihr noch?«

»Für zwei, drei Tage.«

»Dann lasse ich Euch gleich ein paar Säcke mitschicken.«

Flores trank seinen Becher leer und lauschte den Gesprächen der Besatzung. Es fiel ihm schwer, das Feuer zu verlassen und sich wieder in die eisige Umklammerung der Nacht zu werfen, aber der Einsame Ritter würde nicht zu ihm kommen, und so gab er schließlich den Becher zurück, verabschiedete sich und machte sich auf den Weg.

Der Einsame Ritter empfing ihn mit der vertrauten Mischung aus Gerüchen – Tabak, Küchengerüche, Duftwasser, Schweiß – und Lärm. Musik spielte auf, es wurde getanzt. Eine Bedienstete nahm ihm Mantel, Umhang und Handschuhe ab. Eine andere hielt ihm eine Schale voller Gespinstblüten hin, weiße, blaue und rosafarbene, und zog einen neckischen Schmollmund, als er eine weiße Glockenblume wählte. Er steckte sich die Blume an den Kragen und sah sich nach einem bekannten Gesicht um.

Der Winterstein hatte offenbar Fronturlaub gegeben. Ein Dutzend Soldaten und Soldatinnen drängte sich um den Spieltisch, sie trugen noch ihre beschlagenen Stiefel und die wattierten dunkelgrünen Wappenröcke, und jeder Gewinn oder Verlust beim Würfeln wurde gleichermaßen begeistert begrüßt. Zwischen den Tanzenden und Feiernden schob sich das Personal des Ritters hindurch, Bretter balancierend, die mit Schüsseln und Bechern beladen waren. Pärchen schäkerten in schummerigen Ecken. Bekannte entdeckte Flores keine, aber einen hübschen Jüngling mit brauner Haut und üppigen dunklen Locken, der am Tresen stand und sich ein bisschen hilflos an seinem Becher festhielt. An seinem Kragen blitzte ein weißes Blümchen. Flores schob sich neben ihn und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das dem Jüngling das Blut in die Wangen trieb. Der Schenk kam und fragte nach seinen Wünschen. Flores ließ sich Weißen Tee bringen. Während er darauf wartete, sah er sich nach der Schankmaid mit den Glücklichmachern um, entdeckte sie schließlich und winkte sie heran.

»Was darf’s sein, Hübscher?«, fragte sie und setzte sich, ungeachtet seines weißen Blümchens, auf sein Knie.

»Ich weiß nicht«, sagte er und schaute an ihr vorbei den jungen Mann an. »Etwas, um die Stimmung ein bisschen zu heben?«

Der Jüngling drehte sich eine Locke um den Finger. »Ich bin nicht abgeneigt, aber ich habe wenig Erfahrung mit Glücklichmachern.«

»Etwas ganz Zartes dann«, sagte Flores zu der Glücklichmacherin. »Keine Trugbilder, kein Rausch. Ich habe morgen ohnehin einen langen Arbeitstag vor mir.«

»Ich mische dir etwas, das nicht nur deine Stimmung hebt. Trichterschirm und ein bisschen Schwefelblatt. Es macht dich glücklich, ohne dich gänzlich zu entführen.«

»Klingt gut«, sagte Flores, ohne die Augen von seinem Gegenüber zu nehmen. »Doppelt, bitte.« Dann brachte er seine Lippen nah an das Ohr der jungen Frau auf seinem Schoß. »Und steck mir eine Fischblase zu, bitte. Ein bisschen unauffällig.«

»Man weiß nie, was der Abend bringt«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. Ein schmales Päckchen wechselte aus ihrer Hand in seine und verschwand in Flores‘ Jackentasche.

Der junge Mann sah interessiert zu, wie die Glücklichmacherin mit einem kleinen, scharfen Messer dünne Scheiben von den getrockneten Pilzen abschnitt und sie sorgfältig zu Pulver mörserte. Mit einem Knochenlöffel gab sie etwas Wasser dazu und rührte eine dicke Paste an, die sie wiederum mit Tee aufgoss. Ein kleiner Luftbesen kam zum Einsatz, bis die Flüssigkeit hellbraun und schaumig aufgeschlagen war. Flores entlohnte sie großzügig, dann machte die Glücklichmacherin Platz auf seinem Knie und der junge Mann rückte näher. Flores schob ihm einen der winzigen Becher hinüber.

»Fühl dich eingeladen, wenn du möchtest.«

Der Fremde griff zu. Sie sahen sich an und tranken. Flores behielt den Schluck im Mund, bis der Schaum zusammengefallen war. Die Bitterstoffe des Trichterschirms zogen ihm die Innenseite seines Mundes zusammen. Er beobachtete, wie sein Gegenüber das Gesicht verzog und hustete.

»Der Geschmack ist es nicht, der einen glücklich macht, oder?«

Flores schluckte die Flüssigkeit. »Man kann lernen, ihn zu mögen. Flores vom Haus Tempeste ist mein Name. Und deiner?«

»Tristrant aus der Familie Fjall. Tempeste, dein Ernst? Das Haus Tempeste?«

Flores lachte. »Keine Aufregung, ich bin nur der unwichtige Sohn. Du bist zum ersten Mal hier?«

Die Pilze taten ihre Wirkung. Flores‘ Kopf wurde leicht. Die Müdigkeit verflog. Tristrant geriet ins Erzählen. Er war gerade seit ein paar Tagen volljährig und begierig darauf, alle Erfahrungen zu machen, die ihm bisher verwehrt gewesen waren. Seinen Schicksalsspruch hatte er frisch auf die Haut geschrieben bekommen, und er rollte stolz den Ärmel hoch, um ihn herzuzeigen.

»Diene den Deinen als guter Verwalter der Gaben, die du von der Hüterin überantwortet bekamst«, las Flores die verkrustete Tätowierung, die ein bisschen schief auf Tristrants Unterarm saß. »Das ist ein schöner Schicksalsspruch. Was machst du draus?«

»Unser Hirte meint, ich soll Verwalter werden. Steuereintreiber vielleicht. Aber ich denke, der Spruch sagt, ich soll meine Gaben verwalten, nicht das Geld anderer Leute. Meine Talente. Ich bin ein sehr guter Koch.«

»So oder so wirst du deiner Familie Ehre bringen«, sagte Flores. Tristrants Haut war weich unter seinen Fingerspitzen.

»Zeig deinen«, sagte Tristrant eifrig. »Ein Sohn des Hauses Tempeste hat sicher einen epischen Schicksalsspruch.«

Flores unterdrückte ein Seufzen.

»Episch, das wohl. Aber ...«

»Mach es nicht so spannend! Zeig her!«

Flores schob sich den Ärmel hoch. Tristrant las und schaute dann erstaunt zwischen Flores‘ Gesicht und seinem Arm hin und her.

»Der Lichtbringer? Das ist aus dem dritten Buch der Offenbarung.«

»Richtig.«

»Ich hab noch nie jemanden getroffen, der einen Spruch aus dem Buch der Offenbarung hat.«

»Es gibt eine Diskussion innerhalb der Kurie, ob das Buch der Offenbarung überhaupt zur Heiligen Schrift gehört. Die traditionelle Meinung sagt nein, weil es nachträglich hinzugefügt wurde. Aber in der Heiligen Schrift meiner Familie ist es enthalten, und die Hüterin hat mich damit bedacht.«

Tristrants Finger blieben auf Flores‘ Arm liegen. Flores legte seine Hand darüber, damit die Berührung noch ein bisschen anhielt.

»Hast du Angst davor, dass er in Erfüllung geht?«, fragte Tristrant leise.

»Manchmal«, sagte Flores. »Und manchmal hab ich mehr Angst davor, dass er nicht in Erfüllung geht. Ich habe sowieso kaum Möglichkeiten, meiner Familie Ehre zu machen.«

Tristrant nickte und seufzte.

»Dann doch lieber Koch.«

Sie tauschten einen Blick. Ein lange nicht gespürtes, flatteriges Gefühl breitete sich in Flores‘ Innerem aus. »Ich möchte schrecklich gerne mit dir tanzen.«

Tristrant war nicht nur ein begeisterter Tänzer. Er konnte auch küssen, auf eine unbeholfene, neugierige Art, weiche Lippen und Zähne, die gegen die von Flores klickten, und Hände, die sich in Flores‘ Haar verloren, Brust an Brust, Hüfte an Hüfte und atemloses Lachen, wenn sie sich in einer Drehung versehentlich auf die Füße stiegen.

»Ich bin nicht in allem gänzlich unerfahren«, verriet Tristrant und küsste Flores‘ Kinn. »Sag mir, ist dir das Geben lieber oder das Empfangen?«

Flores zog Tristrant enger an sich und vergrub die Finger in seinen weichen Haaren.

»Die Großzügigkeit des Hauses Tempeste ist legendär, wie du sicher weißt.«

»Dann werde ich davon ausgiebig Gebrauch machen.«

Später, als Tristrant längst eingeschlafen war, lag Flores wach. Draußen rüttelte der Wind an den Fensterläden. Durch die Ritzen roch es nach Schnee. Das Feuer im Kamin fiel schon zusammen, doch noch war es warm unter den Decken und Pelzen, die Laken verschwitzt, ein goldener Schimmer auf Tristrants Wangen. Sein Atem glitt über Flores‘ Brust, und Flores starrte auf die schwarze Tintenschrift, die seinen Arm überzog.

Dein Herz und dein Leben überantworte dem Lichtbringer, dein Blut benetze seine Haut, dein Stern verglühe, damit seiner auf ewig strahlt.

Als Kind hatte er sich den Lichtbringer herbeigeträumt, ein unsichtbarer Spielgefährte zuerst, groß, stark, wild, ein bisschen wie Janes. Später dann immer noch groß und stark, aber überhaupt nicht mehr wie Janes, mit behutsamen Händen und goldenem Flaum auf der Brust, mit einem strahlenden, gütigen Lächeln, das den dicksten Eispanzer zum Schmelzen brachte. Dieser Lichtbringer hatte ihn lange begleitet, und Flores hatte erst lernen müssen, andere, wirkliche Männer in diesem alles übergleißenden Licht zu erkennen.

Flores vergrub die Nase in Tristrants Haaren. Tristrant murmelte im Halbschlaf und schlang den Arm fester um Flores‘ Mitte. Flores war in Versuchung, Tristrant wiederzusehen, ihn mit nach Hause zu bringen, ihm sein Herz zu schenken, so Tristrant es wollte.

Dieses Herz, das dem Lichtbringer versprochen war. Der Schicksalsspruch lag mit ihnen im Bett, saß mit ihnen am Frühstückstisch, hing über ihnen wie ein Schwert, bereit zum finalen Schlag, und niemand wusste, wann der kam.

Flores sah, wie es enden würde, noch ehe es angefangen hatte.

»Wir müssen über Geld reden, Vater.«

Erza Tempeste winkte unwillig ab, aber Flores ließ sich nicht beirren. Er hatte sich mit dem dicken Haushaltsbuch bewaffnet, bereits auf der richtigen Seite aufgeschlagen, und legte es nun vor seinen Vater auf den Tisch.

»Wir haben im vergangenen Jahr mehr ausgegeben als eingenommen. Das dritte Jahr in Folge. Ich weiß, es ist dir wichtig, dass wir ein angemessenes Auftreten haben, aber so kann das nicht weitergehen.«

Erza seufzte, zog das Haushaltsbuch zu sich und begann zu blättern.

»Ich sehe nichts, was wir einsparen könnten. Wir müssen die Mauerbesatzung ausrüsten ... das Haus instand halten ... laufende Kosten decken ... Womöglich können wir am Winterstein sparen, was meinst du?«

»Den Winterstein haben wir vor Jahren an die Mailard abgetreten, Vater. Das hast du noch mit meinem Vorgänger entschieden.«

»Oh. Ja, richtig.« Erza verschränkte die Finger auf dem Buch.

»Wir könnten den Sommersitz aufgeben«, schlug Flores vorsichtig vor. »Wenn wir mal ehrlich sind, wir sind jedes Jahr nur ein paar Wochen dort, und dafür verschlingt er einen Haufen Geld.«

»Nein.«

»Vater ...«

»Ich habe das Haus für deine Mutter gebaut. Janes ist dort zur Welt gekommen, wir behalten es.«

Flores unterdrückte ein Seufzen. »Jawohl, Vater.«

»Lass den Hunden mehr Tran und Fett füttern. Weniger Fisch. Das ist billiger.«

»Das wird nicht viel ändern. Remis Erleuchtung war viel zu teuer, selbst wenn man die Geschenke gegenrechnet. Die uns ja im Übrigen auch Folgekosten bescheren. Was die blöde Eiskatze allein an Fisch wegfrisst ...«

»Die Eiskatze. Was haben die sich nur dabei gedacht.«

»Nichts, vermutlich, außer dass die ganze Stadt darüber sprechen wird.«

Erza lächelte resigniert und nickte.

»Was meinst du, machen wir eine Pelzjacke aus ihr?«, schlug Flores vor.

»Aus einem Geschenk? Das bringt sicher Unglück. Ich denke, irgendjemand lässt demnächst versehentlich die Käfigtür offen, und das Problem erledigt sich von selbst.«

»Elegante Lösung.«

»Noch etwas?«

Flores räusperte sich. »Ich möchte die Hohe Jagd ausfallen lassen. Ich weiß, du liebst die Jagd, aber wir hatten ja gerade erst ein großes offizielles Ereignis. Wenn wir Gallia und ihre Leute beauftragen, uns ein paar Schneekühe zu erlegen, ohne das ganze Brimborium, kommen wir viel billiger weg, haben Fleisch und können das restliche Geld in die Eisfischerei stecken. So kommen wir gut bis zum Sommer und können auch weiterhin Essen auf den Treppen verteilen.«

»Aber die Hohe Jagd ist Tradition«, sagte Erza. »Und als einem der Zwölf Häuser ist es an uns, Traditionen am Leben zu halten, das weißt du.«

»Wir werden anfangen müssen, Traditionen zu opfern, wenn das Haus Bestand haben soll.«

»Aber doch nicht die Hohe Jagd!«

Erza stand auf, griff nach seinem Stock und begann, vor seinem Schreibtisch hin und her zu gehen.

»Lass dir etwas anderes einfallen, Flores. Wir können unmöglich direkt nach Remis Erleuchtung anfangen, die Öffentlichkeit zu meiden. Die Leute werden munkeln, dass uns das Geld ausgeht.«

»Die Leute hätten ja recht, Vater.«

»Darauf kommt’s nicht an.«

Flores seufzte. »Ein weiterer sehr teurer Posten sind die Zuwendungen an die Kurie. Wenn wir die kürzen würden ...«

»Nein, aus dem gleichen Grund, weshalb wir auch die Hohe Jagd nicht absagen können.«

»Das heißt, ich soll sparen, aber so, dass es keiner merkt?«

»Richtig.«

»Das wird nicht möglich sein, Vater.«

Erza klappte das Haushaltsbuch zu und hielt es Flores hin.

»Du bist findig, mein Sohn. Ich habe dich nicht umsonst zum Haushaltsvorsteher gemacht. Dir wird etwas einfallen.«

»Aber die Zahlen ...«

»Wir reden später weiter, Flores. Ich habe viel zu tun heute.«

»Jawohl, Vater.«

Flores schob sich aus der Tür, das Haushaltsbuch im Arm.

In der Eingangshalle lief ihm Janes über den Weg, der gerade von draußen kam und sich die Eiszapfen von der Kapuze klopfte.

»Und? Wie lief es?«

»Nicht besonders. Er sieht ein, dass wir sparen müssen, aber er lehnt jede konkrete Maßnahme ab.«

Ein Diener eilte herbei, und Janes wurde die beiden oberen Kleiderschichten los.

»Du musst mit ihm reden, Janes. Auf mich hört er nicht.«

Janes seufzte und wartete, bis ein weiterer Diener zur Stelle war, um ihm aus den Stiefeln zu helfen.

»Du bist der Seneschall, Flores. Wenn er auf dich nicht hört, dann auf niemanden.«

»Ich bin nicht die Person in diesem Haushalt, die den meisten Einfluss auf ihn hat. Ich kenne nur die Zahlen am besten.«

Janes tauschte die Straßenstiefel gegen weiche Pelzschuhe.

»Ich versuche, mit ihm zu sprechen. Und du, beeil dich. Die Fuhrleute warten schon.«

»Ich komme.«

Janes nahm ihm das Haushaltsbuch ab und gelobte, es an seinen Platz zurückzulegen. Flores sprang in seine Stiefel, hüllte sich in Mantel und Umhang und zog sich den Schneeschal vors Gesicht. Er hatte schon den Türknauf in der Hand, als Janes ihm hinterherrief.

»Halte die Augen offen nach diesen Häretikern! Ich muss dem Rat Bericht erstatten.«

»Mache ich, Bruder.«

Das Mittagsläuten flutete durch die Straßen. Flores kontrollierte die Ladung auf den Schlitten. Die Hunde jaulten und warfen sich ins Geschirr. Flores ging ganz nach vorne, wo Nebel eingespannt war. Er sah prächtig aus, wenn auch ein wenig zottelig. Flores nahm sich vor, den Hund später zu bürsten. Er kraulte Nebel zwischen den Ohren, und der Rüde presste die breite Stirn gegen Flores‘ Bein. Flores begutachtete das Hundegeschirr – es war ordentlich gefettet, aber alt und dünn gescheuert. Über kurz oder lang musste ein neues her.

»Alles zu Eurer Zufriedenheit, Seneschall?«, fragte der Hundeführer. Flores nickte.

»Wie immer, Hanno. Danke.«

Flores bestieg den vordersten Schlitten und löste die Bremse. Nebel warf sich ins Geschirr, und die Meute stürmte los.

Das Klopfen der Pfoten auf dem festgetrampelten Schnee, das Knirschen der Kufen, der schneidende, klare Fahrtwind, das begeisterte Hecheln und Jaulen – wie sehr er das vermisst hatte! Während der Vorbereitungen für Remis Erleuchtung war er kaum noch nach draußen gekommen.

Flores lenkte die Hunde auf die Große Palaststraße, die Mittlere Rampe hinunter und quer über den Platz der Erleuchtung. Das war ein Umweg, aber Erza legte Wert darauf, das Wappen der Tempeste, das auf den Schlitten prangte, möglichst öffentlich zu zeigen. Großzügigkeit, die im Geheimen geschah, war schließlich keine.

Jenseits des Platzes der Erleuchtung wurden die Straßen schmäler und die Häuser niedriger. Qualm von feuchtem Torf waberte zwischen den Fassaden und beschmutzte den Schnee. Flores drosselte das Tempo der Hunde – auf diesen Straßen war wenig Platz zum Ausweichen, und er mit seinem Tross war nicht der Einzige, der das spärliche Tageslicht nutzte. Blut­suppe wurde aus einem dampfenden Kessel ausgeschenkt, ein Kufenmacher hatte die halbe Straße mit seinen Erzeugnissen vollgestellt, eine Fellgerberin pries ihre Waren an, Leute trugen gefrorenen Fisch vom Straßenmarkt nach Hause, dazwischen spielten Kinder im Schnee.

Sie näherten sich der Stadtmauer. Schemenhaft im trüben Mittagslicht bewegten sich die Wachleute auf den Zinnen. Die gigantischen Flügel des Drachentors schimmerten im Dämmerlicht wie flüssiges Blei. Das Relief des Ritters auf dem linken Türflügel zog Flores immer noch in seinen Bann, obwohl er es schon ungezählte Male betrachtet hatte. Wie er den Schild erhoben hielt, auf dem die Zeit das Wappen seines Hauses unkenntlich gemacht hatte. Als könne er mit diesem einzelnen Schild und seinem unerschütterlichen Glauben die ganze Stadt schützen. Die stolze Haltung. Wie er das Schwert gegen den Drachen führte, der auf dem rechten Türflügel lauerte, das Maul aufgerissen, Flammen stoben aus seinen Nüstern, gigantische Schwingen und Klauen und ein schlangenartiger, dornenbewehrter Leib, so schön wie grauenerregend.

Wachleute kurbelten das Tor auf. Es knirschte und ächzte, schob Schnee beiseite und öffnete den Blick in die Leere – ein weißgraues Einerlei aus Schnee und Himmel, verlockend und beängstigend zugleich. Flores spürte durch die Leinen, wie die Hunde vor Aufregung zitterten. Doch sein Ziel befand sich nicht irgendwo da draußen, sondern direkt hinter dem Tor – dort, wo schiefkrumme Hütten sich an die Mauer drängten, als begehrten sie Einlass.

Sie passierten das Tor, und Flores bremste die Hunde ab. Auf den Treppen war es eng. Die Schlitten passten gerade so durch die Gassen, die sich wirr zwischen den Hütten zogen. Hinter Flores stieß einer der anderen Hundeführer ins Horn.

Vorsichtig lenkte Flores die Hunde die äußere Rampe hinunter und bremste gleichzeitig, damit der Schlitten das Gespann nicht überholte. Die Ebene lag endlos vor ihm, Himmel und Horizont zu einem fahlen Grau verschmolzen, ein eisiger Hauch kam von dort wie schläfriger Atem.

Am Fuß der Treppe hielt Flores den Schlitten an. Sofort war er umringt. Der beißende Geruch mangelnder Hygiene machte sich breit. Die Leute drängelten, Hände streckten sich nach ihm aus. In so manchem Gesicht waren die verräterischen dunklen Flecken der Verderbnis zu sehen. Vielen fehlten in viel zu jungen Jahren die Zähne, und Alte traf man auf den Treppen ohnehin kaum.

»Es ist genug für alle da«, sagte Flores laut, obwohl das eine Lüge war. »Bitte bildet eine Reihe und haltet euch von den Hunden fern.«

Der Geleitschutz verlieh seiner Bitte Nachdruck, und Flores pfiff die Soldaten zurück, wenn sie die Leute zu unfreundlich angingen.

Sie begannen abzuladen: Blöcke gefrorener Milch, auf handliche Größe zurechtgesägt, gefrorenen Fisch, gesalzene Seekuh, Walfett und Tran. Das Verteilen ging routiniert und war schnell beendet. Flores vermied es, den Blicken der Bedürftigen zu begegnen, während er die Gaben verteilte. Es beschämte ihn, dass er gesund und stark war, dass er sich nicht mit Erfrierungen unter löcherigen Handschuhen quälen musste, dass er noch alle Zehen besaß und heute Nacht in einem bequemen Bett schlafen würde. Dass Remi wohlgenährt, warm und behütet war, während hier die Leute nicht wussten, wie sie ihre Kinder durch den langen Winter bringen sollten.

»Wir sind fertig, Seneschall«, sagte Hauptfrau Adelis und stand stramm. »Warten auf Euer Kommando.«

Die Reihen hatten sich gelichtet, aber immer noch standen da Bedürftige mit leeren Händen und hoffnungsvollen Augen. Zu viele. Und hätte Flores alle Vorratskammern der Tempeste geleert, hätte es nicht gereicht.

»Wir kommen wieder«, versprach Flores. »Ich werde die übrigen Häuser bitten, sich zu beteiligen. Mit einer gemeinsamen Anstrengung kommen wir über die Runden.«

»Wir? Es gibt kein Wir. Nur uns und Euch.«

Die Stimme kam von einer jungen Frau mit trotzigem Gesicht und zerlöcherter Kleidung, die gefährlich nahe, aber völlig unbeeindruckt bei den Hunden stand. Ihre Haut war ungewöhnlich hell, noch heller als die von Flores, und der Wind zupfte dunkles Haar unter ihrer Kapuze hervor.

»Hättet Ihr ein echtes Interesse an unserem Wohlergehen, würdet Ihr uns die Eisfischerei gestatten. Solange Ihr das nicht tut, glaube ich Euch keines Eurer schönen Worte.«

Die junge Frau pflanzte die Stiefel in den Schnee und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Soldatin aus Flores‘ Gefolge wollte sie ergreifen, doch Flores schüttelte den Kopf.

»Und du bist ...?«

»Auriane von den Treppen. Erste Sprecherin des Lichts.«

»Häretikerin!«, fluchte Adelis. Flores machte einen Schritt auf die junge Frau zu.

»Auriane, du hast völlig recht. Aber ich kann nicht mehr tun als Lebensmittel einzusammeln und euch hier auf den Treppen zu versorgen. Die Eisfischerei ist ein Privileg der Stadt.«

»Zu der wir nicht gehören.« Auriane maß Flores mit Blicken. Ihre Unerschrockenheit erstaunte ihn.

»Skadi, die Hüterin, hat euch den Platz auf den Treppen zugewiesen und uns den in der Stadt ... und sie hat uns die Fürsorgepflicht auferlegt. Wir kommen ihr nach, so gut wir können.«

»Und hier beginnt das Übel!« Auriane ballte die Faust. Aus dem Augenwinkel sah Flores, wie Adelis zum Schwert griff. »Du hast doch gar kein Interesse daran, dass es uns dauerhaft besser geht! Du brauchst die Armen, damit du deinen Schicksalsspruch erfüllen kannst! Zu wem wärst du denn großzügig, wenn es uns nicht gäbe?«

»Es ist nicht mein Schicksalsspruch«, wandte Flores ein. »Ich bin nur mit der Ausführung betraut. Und die Hüterin ...«

»Geh mir weg mit deiner Hüterin! Die Hüterin ist nur für die Reichen! Schau sie doch an, die Basilika und die Kathedralen und Bibliotheken und die fetten Geweihten!«

»Gebt nur das Zeichen, und ich haue sie nieder, wo sie steht!«, knurrte Adelis.

»Ich bin sicher, sie würde ihre Kritik angemessen vortragen, wenn sie nicht so hungrig wäre«, beschwichtigte Flores.

»Ich bin nicht käuflich mit Milch und Walfett«, sagte Auriane. »Ich vertrete die Unzufriedenen. Die Armen. Diejenigen, die du eigentlich vertreten solltest, Sohn der Tempeste.«

»Ich kann versuchen, den Antrag auf Eisfischerei im Rat zu platzieren«, versprach Flores ohne viel Hoffnung. »Mein Bruder hat vielleicht ein offenes Ohr.«

Auriane kam an ihn heran. Schwerter wurden gezogen, doch sie wich nicht.

»Wir sterben hier, Adelskind. Schau uns doch an. Die Verderbnis holt jede Nacht welche von uns. Wir brauchen Goldene Milch und genug zu essen für alle. Wenn Skadi uns auf die Treppen gesetzt hat und dich ans Herdfeuer, musst du deiner Verpflichtung nachkommen.«

»Ich versuch’s«, sagte Flores verzweifelt. »Ich habe nur nicht sonderlich viel zu entscheiden.«

»Versuch es härter«, sagte Auriane. »Wir haben sonst niemanden, der für uns eintritt.«

»Bei Skadis Güte, ich verspreche es.«

Auriane nickte.

Flores stieg auf den Schlitten und löste die Bremse. Zwischen den Hütten war es zu eng zum Wenden, also lenkte er das Gespann hinaus auf die Ebene und spielte für einen kostbaren Augenblick mit dem Gedanken, die Hunde einfach in die Leere laufen zu lassen.

In einem weiten Bogen lenkte er das Gespann zurück und ließ sich von der Stadt verschlucken.

»Hast du etwas zu berichten?«, fragte Janes ihn beim Abendessen. »Machen die Häretiker sich bemerkbar?«

Flores zögerte und nahm einen Schluck Goldene Milch.

»Nein«, sagte er schließlich. »Es ist alles wie immer auf den Treppen.«

Flores brauchte Tage, bis es ihm gelang, sich für eine Weile von seinen Pflichten loszusagen. Als die Gelegenheit sich endlich bot, stürzte er sich in Jacke, Mantel und Umhang, sprang in seine Stiefel und rannte zu den Hunden.

»Ist etwas passiert?«, fragte Hanno erschrocken.

»Nein«, keuchte Flores. »Hab nur etwas zu erledigen. Schnell, bevor wieder jemand kommt und etwas von mir will.«

Hanno half, die Hunde anzuspannen. Das Tageslicht war schon beinahe vergangen, zarte Schneeflocken puderten das struppige Fell. Flores sprang auf den Schlitten und gab Nebel das Zeichen.

Auf den Straßen war Betrieb. Flores konnte die Hunde nicht so rennen lassen, wie sie gerne gewollt hätten. Vorsichtig lenkte er das Gespann über den Platz der Demütigen und die Rampe hinauf in Richtung Basilika. Rund um ihn ragten die Häuser in den Himmel, Stein und Schnee und Lichter, Türme, kühn geschwungene Brücken, und über allem die riesige Statue der Hüterin, die mit Schild und Speer diesen Flecken im unendlichen Eis gegen alle Unbill verteidigte.

Flores grüßte sie ehrerbietig, dann lenkte er die Hunde in die Straße zur Ewigen Einkehr und bremste vor dem Anwesen der Espegant.

Die Hunde übergab er einem Bediensteten, klopfte sich dann den Schnee von den Schultern und stieg die Stufen zu dem mächtigen Portal hinauf.

»Flores, Seneschall im Haus Tempeste«, stellte er sich der Türwache vor. »Ich bin hier, um die Herrin Esmee zu sprechen.«

»Euer Besuch ist nicht angekündigt«, sagte die Wächterin kühl.

»Die Gelegenheit bot sich mir nicht«, erklärte Flores. »Ich hoffe einfach, dass die Herrin ein wenig ihrer kostbaren Zeit erübrigen kann.«

»Was ist denn Euer Begehr?«

»Mein Begehr ist, die Herrin Esmee zu sprechen und den Grund meines Besuches mit ihr persönlich zu erörtern.«

Die Wächterin musterte Flores von Kopf bis Fuß, und Flores lächelte dagegen an.

»Hintenrum, zum Dienstboteneingang«, wurde er schließlich beschieden. »Wartet dort.«

Die Wächterin verschwand ins Haus und schloss das Portal vor Flores‘ Nase. Flores stieg die breiten Stufen hinunter, orientierte sich ums Haus herum und fand schließlich die Pforte in der Mauer, die ihn durch die Stallungen zum rückwärtigen Eingang brachte.

Hier ließ man ihn immerhin rein. Er streifte Handschuhe und Kapuze ab und wärmte sich die Finger am Feuerbecken. Eine der Köchinnen war ihm entfernt bekannt, Tia war ein paarmal mit ihr Eisstockschießen gewesen, und er tauschte ein paar belanglose Floskeln über das Wetter mit ihr, während er wartete.

Die Herrin Esmee ließ sich Zeit mit ihrer Entscheidung. Flores fragte sich schon, ob man ihn vergessen hatte, als schließlich ein Bediensteter auf ihn zu kam.

»Die Herrin ist gerne bereit, die hochwerte Dame oder die Herren des Hauses Tempeste zu empfangen, um über jegliches Thema zu sprechen. Morgen Vormittag käme ihr gelegen. Vielleicht klärt Ihr das mit Eurer Herrschaft ab und überbringt eine Nachricht.«

»Meine Herrschaft ist sehr beschäftigt, deshalb schickt sie ja mich. Und es dauert auch nicht lange.«

»Wenn sie Euch schickt, kann’s ja nicht so wichtig sein. In diesem Fall wird die Herrin ihre Zeit sicher lieber sinnvoll nutzen.«

Flores seufzte und nestelte sich in seine Handschuhe.

»Danke trotzdem.«

Das Haus Corage war das nächste auf der Liste. Dort ließ man ihn in der Kälte warten, bevor man ihn schließlich beschied, dass alle Damen und Herren leider unabkömmlich waren.

Das Haus Ire ließ ihn zumindest nicht warten, sondern jagte ihn direkt unter Beschimpfungen vom Gelände.

Im Haus Chastel wurden gerade neue Truppen vereidigt. Der Hof war voller Leute, eine Midarchin predigte, während zwei Arkanisten die Waffen segneten.

Flores wollte sich gerade unbemerkt zurückziehen, als er seinen Namen hörte.

»Flores! Was machst du denn hier?«

Der dritte Sohn aus dem Haus Chastel. Er eilte auf Flores zu, fasste ihn bei den Schultern und zog ihn an sich.

»Regis. Schön, dich zu sehen.« Flores zog sich den Schal vom Gesicht und tauschte einen flüchtigen Kuss.

»Du weißt, dass sie alle drauf warten, dass wir unsere Verlobung bekanntgeben?«, sagte Regis. »Das haben wir Tante Amie zu verdanken. Es ist schon fast beleidigend, wie dringend sie mich im Hafen der Ehe sehen will.«

»Und das sogar mit einem Bastard«, sagte Flores, dem die Beleidigung aus dem Haus Ire noch als bitterer Nachgeschmack auf der Zunge lag.

»Ein Tempeste-Bastard immerhin«, sagte Regis und blinzelte ihm zu. »Aber du bist vermutlich nicht hier, um die Einzelheiten unserer Verlobung zu besprechen, richtig?«

»Richtig. Ich bin hier, um zu betteln. Mein Haus versorgt die Siedlung auf den Treppen mit milden Gaben, das ist der Schicksalsspruch meines Vaters. Aber das Elend dort wird immer größer, und wir allein können keinen echten Unterschied machen. Deshalb will ich versuchen, die Unterstützung der zwölf Häuser zu bekommen.«

»Der Schicksalsspruch deines Vaters ist es, das Elend auf den Treppen zu beenden?«, fragte Regis verständnislos. »Das wäre aber seltsam konkret.«

»Nein. Der Spruch lautet, Milde zu üben und arme Seelen in seinem Glanz wandeln zu lassen.«

»Aber das tut er doch mit den Hilfslieferungen?«

»Ja, aber es ist nicht genug. Ich weiß nicht, ob du mal auf den Treppen warst, aber dort wohnen wirklich viele Leute. Das ist wie ein ganzes Stadtviertel.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Regis und wirkte aufrichtig verwirrt. »Und wenn ihr nur einen Sack Makrelen im Jahr liefern würdet, würde er seinen Schicksalsspruch erfüllen. Er sagt ja nichts über die Menge.«

»Es geht nicht um den Schicksalsspruch meines Vaters, sondern um die Leute auf den Treppen«, erklärte Flores, »und man kann doch mildtätig sein, auch wenn die Hüterin das nicht vorgesehen hat?«

»Du bist seltsam«, sagte Regis, »und du gefällst mir viel besser, wenn dein Mund andere Sachen tut, als zu reden.«

Regis schob ihn sachte gegen eine Mauer und begann, ihn zu küssen. Für ein Weilchen machte Flores mit, aber in seinem Kopf waren zu viele Gedanken, er wollte nicht recht in Stimmung kommen, und außerdem stand noch das Haus Paragon auf seiner Liste. Vorsichtig schob er Regis von sich.

»Ich hab nicht so viel Zeit«, murmelte er. »Allein schon bis ich alles ausgezogen habe.«

Regis seufzte. »Ein andermal, wenn du mehr Zeit hast, und dann lasse ich dich gar nicht erst zu Wort kommen.«

Regis begleitete ihn noch zum Schlitten. Die Hunde hatten inzwischen Wasser und einen Eimer Fischabfälle bekommen und sangen vor Begeisterung, dass sie wieder laufen durften. Für einen Augenblick war Flores versucht, nach Hause zu fahren und sich bei Tia zu verkriechen, aber dann sah er wieder Auriane vor sich und hörte ihre Stimme: »Versuch es härter«, und so bog er ab zu den Himmelssäulen, ließ die Hunde die Rampen hinauf und Prachtstraßen entlang rennen, bis der Schnee ihm in den Augen brannte, und hielt schließlich vor dem Anwesen der Paragon. Es leuchtete wie ein Zauberpalast und war üppig beflaggt mit dem Familienwahrzeichen – für andere Häuser ein festlicher Aufzug, für das Haus Paragon ein gewöhnlicher Werktag.

Ein letztes Mal übergab Flores die Hunde an eine Bedienstete und erklomm die Stufen zum Portal.

»Flores, Seneschall im Haus Tempeste. Falls die junge Herrin etwas Zeit erübrigen könnte, wäre ich dankbar.«

Der Wächter verschwand nach drinnen, und noch ehe Flores kalte Füße bekommen konnte, tat sich die Tür wieder auf und eine strahlende Gersande erschien.

»Flores! Das ist aber schön! Komm rein! Bjalla, nimm dem Herrn den Mantel ab, ja? Was verschafft mir die Freude deines Besuches? Ach, egal, komm erst mal mit, es gibt etwas, das du unbedingt sehen musst!«

Flores gab seinen Mantel ab und folgte Gersande gehorsam. Zu seiner Überraschung nahm sie ein Licht und führte ihn durch eine schmale Tür und steile Stufen hinunter in den Keller.

»Ich bin hier, weil ich dich um etwas bitten möchte«, setzte er an, doch sie winkte ungeduldig ab.

»Ja, ja, gleich. Zuerst muss ich dir etwas zeigen.«

Die Treppe endete in einem engen, niedrigen Raum. Gersandes Licht geisterte über die unebenen Wände. Tausend Jahre oder länger mochte es her sein, dass beharrliche Hände diesen Stein bearbeitet hatten. Sitznischen zu beiden Seiten verrieten, dass dieser Keller nicht entstanden war, um Pelze und ungeliebte Zeremonialgeschenke aufzubewahren, sondern um Idalirer Volk vor Drachenangriffen zu schützen. Flores schauderte. Was immer die Stadt heute heimsuchte, war nur ein schwaches Echo dessen, was die Ahnen zu erdulden gehabt hatten.

Im hinteren Teil des Raumes waren Regale beiseite gerückt worden. Die Wand bestand nicht aus gewachsenem Stein, sondern aus sorgfältig gemauerten Quadern. In der Mitte klaffte ein Loch, durch das der Beginn einer weiteren Treppe sichtbar wurde.

»Wir haben ja immer gedacht, die Mauer schließt unseren Keller gegen den der Nachbarn ab«, erklärte Gersande begeistert. »Doch kürzlich kam durch Zufall raus, dass die Nachbarn gar keinen Keller haben! Deshalb haben wir die Mauer aufbrechen lassen, und siehe da!«

»Der Fluchttunnel«, erinnerte sich Flores. »Du hattest ihn auf Remis Erleuchtung kurz erwähnt.«

»Und es wird noch besser«, sagte Gersande stolz. Sie raffte die Röcke und kletterte durch das Loch. »Kommst du?«

»Ist das nicht gefährlich?«

»Ach was! Ich war schon hundertmal hier unten!«

Gersande entfernte sich mit dem Licht. Um nicht im Dunkeln zu stehen, stieg Flores über die Mauerreste und folgte Gersande nach unten.

»Wir hatten zwei Historiker da, die haben alles ausgeleuchtet und abgemalt, aber sie hatten keine Ahnung, was sie damit anfangen sollten«, berichtete Gersande. »Jetzt recherchieren sie in der Bibliothek der Kurie. Ich bin so gespannt, was dabei rauskommt!«

Die Treppe endete. Ein schmaler, niedriger Gang führte in absolute Schwärze. Flores schluckte Unbehagen und schloss zu Gersande auf. Kaum ein Dutzend Schritte später hielt sie an und hob das Licht.

Der Gang endete an einer Wand, die von einem Relief bedeckt war. Die Hüterin in der Mitte war unverkennbar, bewehrt mit Speer und Schild. Um Skadi herum waren die Wappen der Zwölf Häuser angeordnet – die gekreuzten Rosen der Paragon ganz oben, Mailard und Esfort daneben, und da, an Skadis Speerspitze, das Wappen des gehörnten Hundes. Tempeste. Die Spitze des Horns endete in einer Vertiefung, die ihrerseits die Form eines Schilds hatte.

Und da war noch ein dreizehntes Wappen, das Flores völlig unbekannt war – ein Kreis, umgeben von Flammen, die einen feurigen Schweif bildeten, wie ein feuriges Geschoss oder ein Komet. Flores hatte Abbildungen von fallenden Sternen in Büchern gesehen, aber wem gehörte dieses Wappen und was machte es in Gersandes Keller?

»Was ist das für eines?«, fragte Flores ratlos und tippte darauf.

»Keine Ahnung«, sagte Gersande strahlend. »Und auch nicht, was die Wappen der Zwölf in unserem Keller machen. Es ist so spannend!«

»Habt ihr versucht, ob es dahinter weitergeht?«

»Falls du eine Geheimtür vermutest – wir haben gesucht, aber keinen Mechanismus gefunden. Und mit Gewalt wollen wir nicht vordringen. Der Midarch meinte, es sei ein schlechtes Omen, ein Abbild der Hüterin zu zerstören.«

Flores betastete die kleine Vertiefung im Tempeste-Wappen. Sie war innen sehr glatt und filigran gemeißelt.

»Fehlt hier irgend etwas?«, vermutete er.

»Wenn, dann wissen wir nicht, was«, sagte Gersande seufzend. »Ich bin gespannt, ob die Historiker etwas ans Tageslicht bringen. Willst du nicht bei euch nachsehen, ob ihr etwas Ähnliches habt? Stell dir vor, alle Zwölf hätten einen solchen geheimen Durchgang!«

»Wir haben nicht mal einen Keller«, sagte Flores. »Der nächste Drachenschutzraum ist unter dem Platz der Demütigen, soweit ich weiß. Aber keine Ahnung, wo der Eingang ist.«

»Schade«, sagte Gersande. »Vielleicht frage ich bei den anderen Häusern. Wir werden doch nicht die Einzigen sein, die einen Keller haben. Übrigens, worum wolltest du mich bitten?«

Sie traten den Rückweg an, und Flores setzte Gersande sein Anliegen auseinander. Zumindest begriff sie schneller als Regis, dass es nicht nur um Erzas Schicksalsspruch ging, sondern vor allem um die Leute auf den Treppen. Mit konkreten Zusagen hielt aber auch sie sich zurück.

»Ich frage meine Eltern«, versprach sie. »Aber es wäre schon besser, wenn die Bitte von deinem Vater oder deinem Bruder käme. Ich meine, du weißt, wie sie sind.«

»Ja«, sagte Flores und erlaubte sich ein kleines Seufzen. »Ich weiß, wie sie sind. Alle miteinander.«

»Tut mir leid, was das Haus Ire mit dir gemacht hat.«

»Du kannst ja nichts dafür. Und ich bin’s gewohnt.«

»Warum hast du es überhaupt bei ihnen versucht?«

»Weil sie so reich sind, Gersande. So reich. Und ich hatte gehofft, deren Haushofmeister zu erwischen. Wir haben mal ein Schlittenrennen zusammen gewonnen, und er hätte bestimmt ein gutes Wort für mich eingelegt. Aber er war nicht da, und dann ist es ziemlich schnell eskaliert.«

»Ach, Flores.«

»Ist nicht schlimm. Wenn du bei deinen Eltern vorsprichst, genügt mir das völlig.«

Gersande versicherte ihm erneut, sich für die Sache einzusetzen. Dann schlug irgendwo im Haus ein nachdrücklicher Gong, und Gersande verabschiedete sich eilig und stürmte davon. Flores holte sich seinen Mantel, zog sich den Schneeschal vor den Mund und ließ auf dem Weg nach draußen die abfälligen Blicke der Dienerschaft an sich abgleiten.

»Du hast was gemacht?!«, schrie Janes. »Du warst bei wem? Und hast was gemacht?!«

»Du warst einfach schon sehr lange nicht mehr auf den Treppen«, sagte Flores ruhig. »Sonst wüsstest du, wie nötig es war, es wenigstens zu versuchen.«

Sie hatten nicht einmal gewartet, bis er die Stiefel ausgezogen hatte. Sie hatten ihn in der Halle abgefangen, Janes, Birka und Erza. Lisanne kletterte auf dem Treppengeländer herum, aber alle waren so mit Flores‘ Maßregelung beschäftigt, dass niemand sie zur Ordnung rief. Tia hatte sich unauffällig am Durchgang zur Küche postiert. Flores hatte gerade einmal einen Blick mit ihr wechseln können, ehe das Standgericht ihn ereilt hatte.

»Die ganze Stadt spricht darüber!«, behauptete Birka.

»Das bezweifle ich«, wagte Flores einzuwerfen.

»Die falschen Leute sprechen über die falschen Dinge«, sagte Erza. »Du spinnst irgendwelche Ränke, um deinen Bruder aus dem Rat zu vertreiben. Tempeste hat kein Geld mehr. Du willst dich mit Gersande verloben, und das ist noch das Harmloseste.«

»Ich will mich nicht mit Gersande verloben.«

»Solltest du vielleicht«, warf Birka ein. »Dann wärst du zu etwas nütze, und allein von dem, was sie mit in die Ehe brächte, könnten wir zehn Winter überstehen.«

»Gersande nimmt doch keinen Bastard«, sagte Janes, und Flores war kurz davor, ihn mit seinen Pelzhandschuhen zu schlagen. Er atmete tief durch. Er hatte doch genau das kommen sehen. Was regte er sich auf?

»Du hättest es besser wissen müssen«, sagte Erza finster. »Warum hast du so einen Aufruhr beschworen? Auf eigene Faust, gütige Hüterin, hinter unserem Rücken!«

»Ich finde es einfach schwierig, zu wissen, dass die Leute auf den Treppen verhungern, während wir hier im Überfluss leben.«

»Überfluss, was denn für ein Überfluss?«, ätzte Birka.

»Schaust du dich mal um? Soll ich dich mal mit auf die Treppen nehmen, damit du den Unterschied siehst?«

»Schrei mich gefälligst nicht an!«

Flores schwieg und biss sich auf die Lippe.

»Vielleicht lassen wir dich eine Weile nicht mehr auf die Treppen, wenn das Thema dich so belastet«, sagte Janes. »Nicht dass du uns noch zum Häretiker wirst.«

»Das ist nicht dein Ernst, Janes. Ich habe den Leuten dort ein Versprechen gegeben!«

»Und was ist das schon wert?«

Erza stieß seinen Stock auf den Boden, dass es knallte.