Die FROST-Chroniken 2: Der letzte Magier - Juri Pavlovic - E-Book

Die FROST-Chroniken 2: Der letzte Magier E-Book

Juri Pavlovic

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Beschreibung

Yuriko Mandorak Doragon Zinnober Frost, Krötenmeister, Todesaustrickser, Freund der Drachen und Erfinder der legendären Feuersiegel, ist ein gefragter Mann. Gleich zwei Königreiche wollen ihn wegen Hochverrates vor Gericht stellen. Um sich und seinen Freund Frakis zu retten, muss Yuriko es mit einer Geheimorganisation aus Dunklen Zauberern aufnehmen. Eine Verbündete findet Yuriko ausgerechnet in der ungehobelten Heermeisterin von Abrantes. Doch Schwerter und Zauberei sind nicht genug, um das Unheil zu besiegen, das auf der Felseninsel Sturmwacht lauert. Gemeinsam werden sie die Welt retten – oder sich vorher gegenseitig in den Wahnsinn treiben Von Susanne Pavlovic ist im Abrantes-Zyklus erschienen: Das Spielmannslied Der Sternenritter Feuerjäger 1: Die Rückkehr der Kriegerin Feuerjäger 2: Herz aus Stein Feuerjäger 3: Das Schwert der Königin Die Herren von Nebelheim Drei Lieder für die Königstochter Die Frostchroniken 1: Krieg und Kröten Die Frostchroniken 2: Der letzte Magier 7 Sorten Schnee (in Vorbereitung)

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Der letzte Magier

Die FROST-Chroniken 2

Juri Susanne Pavlovic

Über die Autorin

Susanne Pavlovic ist Jahrgang 1972 und studierte Germanistin. Sie hat als Pferdepflegerin, Deutschlehrerin und Telefonfee gearbeitet, bevor sie den Schritt in die Selbständigkeit als Autorin wagte. Sie liebt Fantasy-Rollenspiele und ist der lebende Beweis dafür, dass chronisches Lampenfieber heilbar ist. Ihre Fantasyromane veröffentlicht sie im Amrûn Verlag

Content Notes

Kapitel 2: Depression, Suizidgedanken

Kapitel 8: Tod und Trauer; Verlust eines engen Familienmitgliedes

© 2023 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunsteinhttps://amrun-verlag.de

Umschlaggestaltung: Agentur Guter Punkt, München

Alle Rechte vorbehalten

ISBN Taschenbuch – 978-3-95869-167-4ISBN Hardcover 978-3-95869-166-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

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Kapitel 1

Der Krötenpalast

Yuriko Mandorak Doragon Zinnober Frost, Meister der Siegel, Krötenflüsterer, Feuerbeschwörer und Herzensbrecher, Bezwinger der Schicksalsschlange, Drachenreiter, Fluchlöser und Todesaustrickser, hatte die falsche Frau auf dem Schoß.

Sie war eine zauberhafte Schönheit, diese Blume, frisch wie ein Morgen im Mai, sie duftete verführerisch nach Puder und Rosenöl. Noch vor Monaten hätte er bereitwillig Herz und Geldbeutel für sie geöffnet und seine Hände mit ihren wunderbaren Rundungen beglückt.

Doch Anemone war nicht Florine, und so blieben Yurikos Hände traurig und sein Gemüt trüb, und er hatte ihr seinen Mantel um die Schultern gehängt, ungeachtet des Anblicks, dessen er sich selbst beraubte, weil sie hier, zwischen kalten Mauern und Gitterstäben, zu frieren begonnen hatte.

Anemone seufzte.

»Sie können mich hier nicht den ganzen Tag einsperren, oder? Ich hab nichts Falsches getan. Nur eine Abkürzung genommen.«

»Es ist nichts falsch daran, einen Mann glücklich zu machen«, bestätigte Yuriko. »Verwerflich ist es allerdings, dass er dich alleine weggeschickt hat. Er hätte dich begleiten müssen.«

»Es sind nicht alle so ritterlich wie du. Zeigst du mir nochmal deine Narbe?«

Yuriko schlug den Hemdkragen zurück. Anemone schauderte wohlig und berührte mit zarten Fingerspitzen das rote Narbengewebe über Yurikos Herz.

»Ein ganzes Dorf hast du gerettet«, sagte sie andächtig.

»Man tut, was man kann«, sagte Yuriko bescheiden. »Und ich kann eben eine Menge.«

»Kannst du uns nicht einfach hier rauszaubern? Ich wäre dir so dankbar, du machst dir keine Vorstellungen!«

Yuriko drückte ihr einen Kuss aufs Haar. Er hatte schon einige Fluchtpläne gedanklich durchgespielt, aber in allen brannte hinterher mindestens ein Straßenzug, und er war ja gerade erst nach Hause zurückgekehrt. Auf der anderen Seite war Anemones immerwährende Dankbarkeit – von der er sich sehr bildhafte Vorstellungen machte – mehr als verlockend.

»Ich werde sehen, was ich tun kann.«

Sachte schob er Anemone von seinem Knie und stand auf. Der Schmied, der auf der mageren Stroheinstreu seinen Rausch ausschlief, drehte sich murmelnd auf die andere Seite, als Yuriko einen großen Schritt über ihn drüber machte.

Yuriko stellte sich ans Gitter. »Wachtmeister Fontin? Auf ein Wort.«

»Ich lasse Euch nicht gehen«, sagte der Wachtmeister, ohne sich umzudrehen. Es war nichts los in der Wachstube, dennoch tat Fontin so, als sei er schwer beschäftigt, indem er zum wiederholten Mal den gleichen Papierstapel durchblätterte.

»Ich weiß«, sagte Yuriko geduldig. »Ich habe ein amtliches Siegel zerstört und darf erst hier raus, wenn der Erzeuger des Siegels sein Einverständnis gibt. Was niemals passieren wird.«

»Oder jemand eine Auslöse in Höhe von drei Goldschwänen für Euch hinterlegt.«

»Was ebenfalls nicht passieren wird. Aber hört mal, diese junge Dame hier ist völlig irrtümlich eingesperrt.«

»Wir haben sie im Sonnenviertel aufgegriffen. Da darf sie nicht anschaffen.«

»Das weiß sie, und sie wollte dort nicht anschaffen. Sie war auf dem Weg zurück ins Blumenviertel und hat den kürzesten Weg genommen.«

»Sie stand an der Ecke und hatte unziemlich die Röcke geschürzt. Ich habe es selbst gesehen.«

»Ach? Und hat der Anblick Euch gefallen?«

Der Kohlestift entglitt dem Wachmann, geriet auf dem Pult ins Rollen und fiel klappernd zu Boden. Yuriko lehnte sich gegen das Gitter und verschränkte die Arme.

»Das ist nichts, wofür ein Mann sich schämen müsste, mein Freund. Eine so reizende Blüte wie Anemone – man müsste doch tot sein, wenn sie einen nicht in Wallung versetzte. Und ihre Schwester Lilie genauso. Stimmt es eigentlich, dass Ihr eine Schwäche für die Rothaarigen habt?«

Fontin drehte sich zu Yuriko um. In seinen Augen glomm eine Mischung aus Furcht und Hass.

»Wusste ich’s doch«, sagte Yuriko heiter. »Wir sind uns im Blumentempel bereits begegnet, nicht wahr? Ach, Ihr erinnert Euch nicht? Ja, versteh ich. So viel holde Weiblichkeit, warum solltet Ihr da auf einen alten Zauberer achten.«

»Seid still«, zischte Fontin. Der Wachraum war leer, aber in der Nachbarzelle drängten sich ein paar Kneipenschläger und ein Taschendieb gegen das Gitter, um besser zu hören.

»Lasst sie gehen«, bat Yuriko. »Hm? Kommt schon, gebt Euch einen Ruck.«

Nervös drehte Fontin seinen Ehering am Finger. Dann fluchte er unfein und griff nach dem Schlüssel.

Anemone sprang auf und eilte ans Gitter.

»Du bist mein Held« hauchte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Yurikos Wange. Er atmete tief. Rosenöl und Puder. Ach.

»Mein Mantel«, sagte er. »Da ist noch mein Kröter drin. Du kannst ihn behalten. Also, den Mantel, nicht den Kröter.«

Die Gittertür schwang auf. Anemone ließ den Mantel von den Schultern gleiten. Der raue Stoff nahm ihr zartes Gewand mit. Eine lilienweiße Schulter kam zum Vorschein, der Ansatz ihrer zauberhaften Brüste.

»Mir ist ganz warm«, sagte sie, zwinkerte ihm zu und hielt ihm den Mantel hin. »Komm mich bald besuchen, ja?«

Mit wehem Herzen nahm Yuriko seinen Mantel an sich. Anemone winkte ihm zu und huschte durch den Spalt, den Fontin ihr offen hielt, dann schloss sich das Gitter hinter ihr. Der Schmied grunzte und drehte sich auf die andere Seite. In der Nachbarzelle pfiffen ein paar Männer Anemone hinterher.

»Hast du ihre Titten gesehen?«, fragte einer. »Der Kleinen würd ich gerne mal was ins Schatzkästchen stecken.«

»Wie sprichst du denn von einer Dame«, schalt Yuriko ihn und erntete Gelächter.

Er ließ sich auf die Bank fallen, die unter seinem Gewicht ächzte, und streckte die Beine aus. Padda setzte er sich auf den Bauch und faltete die Hände über dem Kröter.

Die Welt war schrecklich ungerecht. Florine war sicher inzwischen wach und hatte den Zettel gelesen, auf dem er ihr notiert hatte, er sei nur schnell Frühstück holen.

Das war vier oder fünf Glocken her. Am frühen Morgen hatte die Stadtgarde Yuriko in Frakis‘ Haus aufgegriffen. Er ärgerte sich immer noch, dass er nicht mit dem Alarm gerechnet hatte, der in das Siegel eingewebt gewesen war. Kraka war eben leider doch kein völliger Nichtskönner.

Er holte Frakis‘ Augengläser aus der Tasche und drehte sie zwischen den Fingern. Das rechte Glas war zersprungen. Da musste ein Reparaturzauber drüber, oder ein neues Glas eingesetzt werden, ehe Frakis damit wieder etwas sah.

Wenn er überhaupt noch in der Lage war, etwas zu sehen, mit oder ohne Augengläser.

Großer Krötengeist. Jetzt, wo Anemone ihn nicht länger ablenkte, hatte er viel zu viel Zeit, sich die schlimmsten Szenarien auszumalen. Die hatten doch alle seit Jahren nur drauf gewartet, Frakis zu fassen zu kriegen. War er leichtsinnig geworden? Hatte man ihn schlussendlich doch mit einem Mann erwischt?

Yuriko versuchte, sich vorzustellen, es sei ihm verboten, Frauen wunderbar zu finden. Sich ihnen zu nähern, sich mit ihnen zu vergnügen. Da konnte man sich doch gleich gepflegt aufhängen.

War Frakis jemals verliebt gewesen? Es beschämte Yuriko, dass er davon nichts wusste. Frakis, sein bester Freund, sein Wahlbruder, war immer sehr verschlossen gewesen, wenn es um dieses Thema ging. Kein Wunder. Er, Yuriko, hatte sich über viele Jahre benommen wie ein Trampel. All die Freundinnen seiner Freundinnen, mit denen er Frakis zu verkuppeln versucht hatte. Gut gemeint war eben nicht immer gut gemacht. Ein Wunder, dass Frakis noch ein Wort mit ihm sprach.

Wenn Frakis überhaupt noch in der Lage war, zu sprechen.

Großer, gütiger, allmächtiger Krötengeist.

Yuriko ließ den Kopf nach hinten gegen die kalte Wand sinken und schloss die Augen.

Schritte kamen von draußen rein.

»Hauptmann Berardi.« Fontins Stuhl scharrte über den Steinboden. »Melde gehorsamst, alles ruhig.«

»Habt ihr Frost?«, fragte eine kratzige Männerstimme.

»Yuriko Mandorak Doragon Zinnober, Meister der Siegel, Freund der Kröten, Feuerbändiger, Drachenreiter und Bezwinger der Schicksalsschlange«, sagte Yuriko, ohne die Augen zu öffnen.

»Jawohl«, meldete Fontin. »Der Kerl mit der Kröte.«

»Soll mitkommen, zur Befragung«, befahl Berardi.

»Meine Empfehlung wäre, ihn hier zu befragen«, sagte Fontin. »Ihn in den Gerichtspalast zu verbringen, birgt ein unnötiges Risiko. Er ist gefährlich.«

»Das bin ich hier drin auch«, warf Yuriko ein und blies eine kleine Feuerwolke vor sich in die Luft.

»Seht Ihr«, sagte Fontin.

»Hm«, sagte Berardi. »Schickt jemanden an die Arkania. Sie sollen einen Zauberunterdrücker zur Verfügung stellen.«

»Und habt Ihr schon eine Idee, wie Ihr mir den anbringen wollt?«, erkundigte sich Yuriko interessiert und öffnete nun doch die Augen. »Ich meine, ohne diese Wachstation in eine rauchende Ruine zu verwandeln.«

Fontin und Berardi sahen sich ratlos an.

»Ihr braucht mindestens drei oder vier Zauberer mit einem arkanen Dämpfungsfeld«, erklärte Yuriko. »Vielleicht einen, der meinen Geist beeinflussen kann. Einen mit einer Körperklammer, der muss aber schnell und beherzt handeln. Wenn alles gut läuft, sollte danach nicht mehr zerstört sein als ein, zwei Straßenzüge.«

»He, Wachmann«, rief der Taschendieb von nebenan. »Das habt Ihr nicht ernsthaft vor, oder? Hier sitzen lauter Unschuldige!«

»Schick nach der Arkania«, sagte Berardi. »Frost ist deren Problem.«

»Um welches Problem geht es denn, meine Herren?«

Yuriko riss es vom Bänkchen. Padda quakte ungnädig in seinem Zugriff. Mit zwei Schritten war Yuriko am Gitter.

»Flori!«

Sie lächelte ihr wunderbares, sanftes, heilendes Lächeln.

»Hallo, Yuri. Entschuldige bitte, dass wir so spät kommen.«

Er brauchte einen Moment, bis er den Mann an Florines Seite erkannte. Danilo. Ihr geschiedener Mann. Sein Vorgänger.

»In der Sache des Königreiches Zentallo gegen Yuriko Frost zeige ich an, der Rechtsvertreter des Bezichtigten zu sein«, sagte Danilo. »Wo darf ich unterschreiben?«

»Äh«, machte Fontin.

»Wart Ihr auf der Hauptwache?«, fragte Berardi.

»Längst«, sagte Danilo. »Der Vorwurf beläuft sich auf Verletzung eines amtlichen Siegels und Hausfriedensbruch, stimmt das mit Euren Unterlagen überein?«

»Ich hab da gewohnt, seit mein Haus abgebrannt ist«, sagte Yuriko laut. »Es ist doch kein Hausfriedensbruch, wenn ich da wohne!«

Florine trat ans Gitter und legte ihre behandschuhten Finger auf Yurikos Faust.

»Lässt du ihn bitte machen«, flüsterte sie. »Deshalb habe ich ihn doch benachrichtigt.«

Yuriko seufzte zitternd und biss sich auf die Unterlippe. »Tut mir leid wegen des Frühstücks.«

Florine lächelte. »Das holen wir nach. In einem der kurzen, kostbaren Augenblicke, in denen du mal nicht in Schwierigkeiten steckst.«

»Er muss hierbleiben«, sagte Berardi. »Er soll zu der Entführung in der Arkania befragt werden.«

»Ihr könnt ihn gerne in dieser Sache form- und fristgerecht vorladen«, widersprach Danilo. »Es gibt allerdings keine Handhabe, ihn deswegen seiner Freiheit zu berauben. Er steht nicht unter Verdacht.«

»Es gab den Vorwurf des Hochverrats«, widersprach Berardi. »Ich hatte die Akte auf meinem Schreibtisch!«

»Der Vorwurf ist entkräftet«, sagte Danilo. »Er hat ein Alibi. Der Nachweis der Abwesenheit vom Tatort nach Paragraph 46 Absatz 2 des Königlichen Rechts aus dem Jahr Achtsiebenunddreißig ist erbracht.«

»Hab ich hier nicht vorliegen«, sagte Berardi stur.

»Aber ich.« Danilo öffnete eine Tasche, die er unter dem Arm trug, und entnahm ihr einige Papiere, an denen amtlich aussehende Siegel baumelten. »Beglaubigte Abschrift. Generalhauptmann Sarasso wusste, dass Ihr ein sorgfältiger und gewissenhafter Diener der Stadt seid und einen Festgesetzten niemals ohne gründliche Prüfung auf freien Fuß setzen würdet.«

»Ich hab ein Alibi?«, fragte Yuriko erstaunt. »Aber ...«

Florines Finger schlossen sich fest um seine. Sie trat ans Gitter, bis die rauen Stäbe ihre Wange berührten.

»Ich war die ganze Nacht mit dir zusammen«, flüsterte sie. »Weißt du nicht mehr? Bis zum Morgengrauen.«

»Was?«, sagte Yuriko verwirrt. »Aber da hat Galina mich doch entf...«

Ein behandschuhter Finger legte sich auf seine Lippen. Dunkle Augen sahen ihn ernst und eindringlich an. Langsam sickerte die Erkenntnis ein.

»Du hast ...«

Florine nickte.

»Aber ... das muss dich deinen Ruf als unbescholtene Frau gekostet haben!«

Sie lächelte schmal. »Welchen Ruf habe ich als Geschiedene denn zu verlieren?«

»Flori«, sagte er hilflos. »Was hast du nur gemacht. Für mich.«

»Für uns. Ich hätte den Gedanken nicht ertragen, dass sie dich wegen Hochverrats verurteilen, sobald du zurück bist.«

»Was ist mit Galina? Sie hat kein Alibi.«

»Sie ist ein Mädchen. Niemand kommt auch nur auf die Idee, sie hätte etwas mit der Sache zu tun.«

Yuriko atmete auf, allerdings nicht für lange.

»Ist es das, was mit Frakis passiert ist? Eine Anklage wegen Hochverrats?«

»Nein. Oder, nicht ganz. Die Geschichte von Frakis erzähle ich dir, sobald wir dich hier raus haben.«

Inzwischen war vorne am Pult ein Papierkrieg ausgebrochen. Danilo holte immer mehr Dokumente aus seiner Tasche. Berardi blätterte und las und blätterte, während Fontin danebenstand und wichtig dreinsah. Yuriko versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Danilo Herko Lati, der Mann, den er die meiste Zeit seines Lebens bis zur Erschöpfung verachtet hatte, dabei war, ihn aus der Zelle zu pauken. Danilo hatte sogar einen Beutel dabei, aus dem er drei Goldschwäne abzählte.

Überhaupt sah er wohlhabend aus. Stiefel aus schimmerndem Leder, pelzverbrämter Mantel und silberne Knöpfe. Sein Einkommen als Gerichtsschreiber war immer ganz ordentlich gewesen, aber das sah aus, als hätte er sich im zweiten Anlauf reich verheiratet. Yuriko krümmte die Zehen in seinen löcherigen, abgelaufenen Schuhen. Zumindest seine fabelhaften Haare waren ihm geblieben, während Danilo eine spiegelnde Halbglatze zur Schau trug.

Schließlich seufzte Berardi und schob die Papiere zu einem Stapel zusammen. »Ihr könnt ihn mitnehmen. Aber er soll die Stadt nicht verlassen. Er bekommt eine Vorladung zur Befragung bezüglich des anderen Vorfalles. Wohin soll die zugestellt werden?«

Berardi drehte sich zu Yuriko.

»Äh«, sagte der. »Mein Briefkasten ist abgebrannt. Vielleicht ... zu Zirkelmeister Fyr? Falls sich das mit dem Siegel erledigt hat ...?«

»Lasst das Schreiben an meine Adresse zustellen«, schlug Florine vor. »Florine Siome Soma, im Viertel am Südhang.«

Augenblicklich kippte die Stimmung. Fontin starrte Florine an, zwischen Grauen und Lüsternheit, während Berardi gewichtig nickte.

»So so, aha, nun ja, mir soll’s recht sein. Der Abschaum sammelt sich eben immer an der gleichen Stelle.«

»Oi«, sagte Yuriko erbost. »Nimm dich in acht, Freundchen, sonst brenne ich dir ein paar Löcher in die Uniform!«

»Yuri, bitte«, sagte Florine entschieden.

»Aber hast du nicht gehört ...«

»Ich habe gehört, und es ist mir egal. Können wir jetzt bitte gehen?«

Berardi nickte Fontin zu. Der nestelte an seinem Schlüsselbund und brauchte ewig, bis er endlich den richtigen ins Schloss geschoben hatte – vermutlich, weil er die ganze Zeit Florine anstarrte. Yuriko war kurz davor, den Wachmann zwölfmal versehentlich in seine Faust stolpern zu lassen, aber Florine ließ die abschätzigen Blicke an sich abperlen wie ein Seerosenblatt die Regentropfen. Yuriko warf sich seinen Mantel über und verstaute Padda in der Tasche, und dann war er wieder ein freier Mann und trat aus der muffigen Wachstube in die Mittagssonne.

»Uff«, sagte Florine. »Alle gütigen Götter. Danke, Danilo.«

»Du hast alles hervorragend vorbereitet und verschriftlicht«, sagte Danilo. »Ich musste nicht mehr tun als die Sache abzuwickeln.«

»Trotzdem hast du dir die Zeit genommen. Danke.«

Sie sah Yuriko an, und als der nicht gleich begriff, stieß sie ihm unsanft den Ellenbogen in die Seite.

»Au«, sagte der. »Äh. Ja, tatsächlich, Danilo, danke. Das war großzügig von dir.«

»Nichts zu danken.« Danilo strich sich ein wenig verlegen über die Glatze. »Wisst ihr was, ich denke, der Hauptmann hatte in gewisser Weise Recht. Es findet sich zum Schluss, was zusammengehört.«

»Ich passe gut auf sie auf«, versprach Yuriko. »Wir heiraten, und dann ist sie auch nicht länger bescholten. Und alles wird endlich gut.«

»Was das betrifft«, sagte Florine.

»Er weiß es nicht?«, fragte Danilo.

»Was weiß ich nicht?«, fragte Yuriko beunruhigt.

»Er weiß eine ganze Menge noch nicht, er ist seit gestern Abend erst zurück«, sagte Florine.

»Was weiß ich nicht?!«

»Sie hat einen Eintrag im Sittenregister«, sagte Danilo. »Ihr Zeugnis für dich hat ihr das eingebracht. Damit ist es ihr verboten, zu heiraten.«

»Was?!«

»Bitte nichts anzünden«, flehte Florine und hängte sich an seinen Arm. »Wir können dich nicht ständig aus dem Gefängnis holen.«

Yuriko knirschte mit den Zähnen und löschte seine Hand. »Na gut. Eine Katastrophe nach der anderen. Und zuerst Frühstück.«

Danilo verabschiedete sich mit Hinweis auf die fortgeschrittene Tageszeit und seinen vielen Pflichten und eilte davon. Florine vergewisserte sich ein letztes Mal, dass Yuriko nicht mit Feuerbällen um sich werfen würde, dann ließ sie ihn los.

Sie setzte sich in Bewegung, die Hände sittsam vor der Schürze verschränkt. Der Wind trieb ihr eine vorwitzige Haarsträhne unter der Haube hervor. Yuriko trabte neben ihr her und konnte nicht aufhören, sie anzusehen.

»Dein Ernst«, sagte er. »Wir können nicht heiraten?«

»Wir hätten auch nicht heiraten können, wenn sie dich wegen Hochverrates auf der Insel festgesetzt hätten«, sagte Florine ungerührt. »Macht es denn so einen großen Unterschied für dich?«

»Flori, ich wollte mein Leben lang nichts anderes als dich zu heiraten!«

Sie hielt inne und drehte sich zu ihm. Der Abstand zwischen ihnen schmerzte ihn, als hätte man ihm Arme und Beine abgetrennt.

»Hauptsache, wir sind zusammen«, sagte sie. »Wir und Frakis. Um ihn kümmern wir uns zuerst. Dann sehen wir weiter.«

»In Ordnung«, sagte er, immer noch vollständig aufgewühlt. Sie ballte eine zierliche Faust und stieß ihn vor die Brust.

»Du passt gut auf mich auf, ja? Denkst du wirklich, ich brauche einen Aufpasser?«

»Äh«, sagte Yuriko.

Sie machte ein paar Schritte. »Jetzt komm schon«, sagte sie über die Schulter. »Steh nicht rum wie ein Trottel. Wenn wir noch Schmalzgebäck wollen, müssen wir uns ranhalten.«

Eilig schloss er zu ihr auf.

»Ich glaube, du hast zu viel Zeit mit Galina verbracht«, sagte er verschnupft. »Du hast ihre rebellischen Sprüche aufgeschnappt.«

»Und wer da wohl was von wem aufgeschnappt hat«, sagte sie heiter und ließ ihn vor der Bäckerei einfach stehen.

***

Schmalzgebäck war allerdings kein Trost, als Yuriko schließlich erfuhr, was mit Frakis geschehen war.

»Auf der Insel«, sagte er fassungslos. »Sie haben ihn auf die Insel gebracht?«

»So ist es.« Auch Florine schien der Appetit vergangen, sie rührte in ihrer Teetasse und sah müde aus. Sonnenstrahlen fielen durchs Küchenfenster und ließen die silbrigen Strähnen in ihrem Haar glitzern.

»Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was man sich über die Insel erzählt ...«

»Das meiste stimmt. Aber er lebt. Wäre er ... hätte man mich benachrichtigt. Oder Danilo. Er ist sein offizieller Rechtsvertreter. Ich mache die ganze Arbeit, aber ich darf ja nicht vor Gericht auftreten.«

»Du machst ...?«

»Es gibt ein paar Dinge, die du nicht über mich weißt«, sagte sie. »Danilo brachte oft Akten mit nach Hause. Ich hab sie alle gelesen. Und Bücher, die er für mich ausgeliehen hat. Abschriften von Vorlesungen. Ich finde die Rechtswissenschaften außerordentlich faszinierend. Was sich inzwischen als Glücksfall herausstellt.«

»Warum hast du nie davon erzählt?«, fragte er überrascht.

Sie lächelte schmal. »Bei aller Liebe, aber du bist niemand, dem man ein Geheimnis anvertraut.«

»Oi. Ich kann schweigen wie ein Grab.«

»Sobald du in einem liegst, ja. Vorher nicht.«

Der Gedanke schmerzte: Nicht, dass sie Geheimnisse vor ihm gehabt hatte, sondern dass sie zusammen mit Danilo Geheimnisse vor ihm gehabt hatte.

Danilo mit seinen teuren Stiefeln und dem pelzverbrämten Mantel und der Festanstellung und dem Auftreten eines geachteten Mannes – eines Mannes, den man nicht einfach einsperrte, nur weil er versuchte, herauszufinden, was aus seinem Freund geworden war.

Er streckte die Hände nach Florine aus. Sie stand auf, kam um den Tisch herum und setzte sich auf sein Knie, und er hielt sie fest und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Sie küsste seinen Hals und schnupperte.

»Warum riechst du nach Puder?«

»Ich, äh. Da war eine, äh. Dame, die leicht bekleidet war ... und ich hab ihr meinen Mantel geliehen.«

»Eine leicht bekleidete Dame?«

»Ich hab nicht so genau hingeschaut. Ehrlich nicht. Du bist doch die Einzige für mich.«

»Du hast nicht hingeschaut, weißt aber, was sie anhatte? Oder – nicht anhatte?«

»Äh.«

Zu seiner Überraschung lachte sie und küsste seine Stirn. »Alles ist gut, Yuri. Ich wollte nur sehen, wie du dich windest.«

»Grausame Frau«, sagte er dumpf. Sie küsste seine Wange, seinen Mundwinkel, seine Lippen, verharrte dort, hielt sein Gesicht mit beiden Händen fest, legte mehr Leidenschaft in den Kuss. Verlangen sprang in ihm auf wie Flammen aus der Glut, er wollte diese Frau auf ihrem Küchentisch vögeln, bis ihnen beiden die Luft ausging, aber gleichzeitig wollte er wissen, was mit Frakis war. Er stöhnte frustriert und schob sie eine Handbreit von sich.

»Erst Frakis.«

Sie nickte und seufzte.

»Du weißt, dass sie ihm all die Jahre schon am Zeug flicken wollten. Er hat ihnen nur nie einen Anlass gegeben. Als ihr weg wart, mit Arkadis und dem Abrantiner, haben sie ihn mehrfach befragt, aber er wusste nichts oder verriet nichts. Schließlich durchsuchten sie sein Haus. Sie hatten keinen Beschluss dafür, sie brachen praktisch bei ihm ein, mitten in der Nacht.«

»Heilige Kröte.«

»Ja. Und sie fanden …«

»Den Brief, den wir aus der Poststelle gestohlen hatten.«

Sie lächelte zart. »Nein. Sie fanden nichts. Den Brief hatte er mir ein paar Tage zuvor übergeben. Vorsichtshalber.«

»Warum habt ihr den Brief nicht vernichtet?«

»Er ist der einzige Beweis, den wir für eine Verschwörung haben. Die abrantinischen und zentallinischen Zauberer gemeinsam gegen ihre Regierungen. Das ist doch groß. Dem darf man nicht in die Hände spielen, indem man Beweise vernichtet.«

»Wo ist der Brief jetzt?«

»Sag ich dir nicht.«

»Wenn man ihn bei dir findet ...«

Sie schüttelte den Kopf und legte ihm den Finger über die Lippen. »Ich habe Vorsorge getroffen.«

»Sie haben also nichts gefunden, ihn aber trotzdem eingesperrt?«

»Ich kann nur vermuten, was passiert ist. Ich habe ihn nicht mehr gesprochen seither. Die Anklage lautet auf Verbrechen wider die Natur. Ein Student der Arkania brachte zu Protokoll, Frakis habe sich ihm unsittlich genähert.«

»Was?!«

»Ein ganz junger Lehrling aus dem Zirkel der Illusionisten. Ich bin sicher, er hat den nie zu Gesicht bekommen. Der Junge lebte in ärmlichen Verhältnissen, ist aber in eine große Wohnung im Sonnenviertel gezogen, kaum dass Frakis weg war.«

»Das ist nicht zu fassen«, flüsterte Yuriko. »Ich brenne die alle nieder, und mit den Illusionisten fang ich an.«

»Du brennst gar nichts nieder. Was Frakis jetzt am wenigsten braucht, ist ein Yuri, der Dummheiten macht.«

Etwas in ihrem Blick brachte ihn zur Ruhe. Er öffnete die Fäuste und löschte die Flammen, die auf seinen Fingern entstanden waren. Sie nickte.

»Ich arbeite daran, ihn von der Insel zu holen und ihn ins Stadtgefängnis verlegen zu lassen«, fuhr sie fort. »Aber ich musste zuerst das Urteil anfechten. Zum Glück haben sie sich auf allen Ebenen eine Menge Formfehler erlaubt. Sie haben wohl nicht damit gerechnet, dass er einen Rechtsvertreter hat. Er hatte lebenslänglich, aber der Prozess wird jetzt neu aufgerollt.«

»Lebenslänglich«, flüsterte Yuriko.

Sie legte die Hand an seine Wange und küsste ihn zart. »Bisschen viel für dich, hm?«

»Allerdings«, sagte er. »Ich bin … ich meine, sie bringen ihn auf die Insel, für immer, und das ist so unvorstellbar schrecklich … wie kannst du so ruhig über all das reden?«

»Ich hatte meine Aufregung. Das alles ist passiert, kurz nachdem du weg warst. Aber irgendwann musste die Arbeit beginnen, und irgendwann musste ich wieder schlafen, denn müde und verzweifelt wäre ich ihm keine Hilfe gewesen.«

»Und jetzt? Was ist dein Plan?«

»Ich möchte gerne beweisen, dass die Anklage erfunden war und Bestechungsgelder geflossen sind. Wenn mir das gelingt, sollte er vom Haken sein. Das Gesetz bestraft nur Handlungen wider die Natur – nicht die Veranlagung an sich. Zumindest besteht die Hoffnung, dass die Richter dieser Sichtweise folgen. Also, wenn sie nicht bestochen werden. Ihr habt euch da wirklich einflussreiche Feinde gemacht.«

»Und alles ist meine Schuld«, sagte Yuriko verzagt. »Hätte ich Arkadis weggeschickt ... hätte ich Galina im Griff gehabt, dass sie sich nicht so befreundet. Spätestens als dieser Abrantiner auftauchte, hätte ich einen Schlussstrich ziehen müssen.«

»Du hast das Richtige getan. Du konntest nicht wissen, was daraus erwächst.«

»Sicher, dass Frakis das auch so sieht?«

»Ich bin sicher, er macht dir keinen Vorwurf.«

»Ich will das aus seinem eigenen Mund hören. Weißt du, es kann ja sein, dass die ganze Arkania sich gegen ihn stellt, aber es gibt einen Zauberer, den niemand auf der Rechnung hat.«

»Keine Dummheiten, Yuri! Versprich es.«

»Ich verspreche es.«

Dumm war der Plan nicht, der sich in seinem Geist formte. Gewagt vielleicht, halsbrecherisch und spektakulär. Er würde den Idioten von der Arkania zeigen, was echte Zauberei war.

Yuriko Mandorak Doragon Zinnober Frost der Fabelhafte war zurück, und er würde die Dinge in Ordnung bringen.

***

Eine Woche später befand er sich, wo er sich nie wieder hatte befinden wollen: auf einem Boot. Er hatte eine Tasche mit Lebensmitteln dabei und Florines Warnungen im Ohr. Sie war alles andere als begeistert gewesen von seinem Vorhaben, und das, obwohl er ihr nicht mal die Hälfte erzählt hatte. Er fragte sich, ob sie die zweite Hälfte ahnte. Er hatte sein Bestes gegeben, um sie abzulenken – auf dem Küchentisch und dann noch einmal im Bett wie die gesitteten Leute, die sie nicht waren – aber er hatte schon gelernt, dass sie ihren Kopf und den Rest ihres Körpers im fliegenden Wechsel beanspruchen konnte.

»Pass auf dich auf«, hatte sie gesagt. »Und mach nichts Dummes.«

Er verstand nicht, warum sie ihm das immer wieder einschärfte.

Das Boot schaukelte. Taue knarrten, das kleine Segel war zum Bersten gebläht. Die Bootsführer hatten alle Hände voll zu tun. Yuriko hielt sich im Bug und aus dem Weg, ebenso wie der bewaffnete Geleitschutz, den die Bootsmannschaft dabeihatte. Gelegentlich warfen sie misstrauische Blicke zu ihm hinüber. Es kam nicht alle Tage vor, dass Besucher verlangten, auf die Insel übergesetzt zu werden – vielmehr war es so selten, dass es nicht mal ein Gesetz dagegen gab.

Zwischen Nebelschwaden und Gischt kam die Insel näher – ein kantiger, schwarzer Brocken im Meer, überragt von zwei massiven Wachtürmen. Die vertrauten Umrisse, die man an klaren Tagen von Letis aus sehen konnte, wirkten aus der Nähe seltsam fremd. Die Insel war viel größer, als sie aus der Entfernung gewirkt hatte. Ringsum fielen die Felswände steil ins Meer ab. Wellen brachen sich donnernd und schleuderten Wolken von Gischt in den Himmel. Unweit des Westturmes ragte ein kleiner Steg ins Wasser, den die Mannschaft nun ansteuerte. Yuriko schirmte die Augen mit der flachen Hand und schaute nach oben, dorthin, wo die Türme Fenster hatten und etwas wie einen überdachten Umlauf, aber viel ließ sich bei den Wetterverhältnissen nicht erkennen.

Einer der Besatzung packte ein Horn aus und trötete laut hinein. Der Bootsführer schrie Befehle. Das Segel wurde eingeholt, Ruder ausgefahren. Es dauerte ein bisschen, dann erschienen zwei uniformierte Gestalten zwischen den Felsen und eilten hinaus auf den Bootssteg.

Eine Welle hob das Boot an und warf es gegen den Steg. Holz kratzte hässlich auf Holz. Yuriko stolperte vorwärts und fing sich am Bootsrand. Einer der Ruderer warf ein Seil, und ein Uniformierter fing es auf und verzurrte das Boot am Anleger.

»Scheißwetter«, sagte er statt einer Begrüßung.

»Herbststürme«, erwiderte der Bootsführer. »Wenn’s nach mir ginge, würden wir die hier über den Winter sich selbst überlassen. Wäre auch billiger.«

»Was habt ihr dabei?«

»Mehl, Schiffsbrot, zwei Fässer Trinkwasser. Die Sachen, die ihr für die Wachstube bestellt hattet. Und einen Besucher.«

»Tag zusammen«, sagte Yuriko freundlich.

Die Soldaten grinsten. »Was hat er angestellt?«, fragte der eine, dessen Gesicht von Pockennarben zerfurcht war.

»Nichts«, sagte der Bootsführer. »Er ist tatsächlich zu Besuch. Wir nehmen ihn wieder mit, wenn wir fahren.«

Die Soldaten sahen sich an.

»Besuch ist verboten«, sagte der Narbige.

»Irrtum«, sagte Yuriko. »Besuch ist eine Gesetzeslücke.«

Bevor die beiden Ordnungshüter sich noch mit Kopfzerbrechen übernahmen, kletterte Yuriko kurzerhand auf den Steg. Ihm war schlecht von der Schaukelei, aber er ließ es sich nicht anmerken.

»Äh«, sagte der kleinere der beiden Soldaten. »Wie ist die Verfahrensweise? Müssen wir Personalien aufnehmen?«

»Es gibt keine Verfahrensweise, Holzkopf!«, schimpfte der andere. »Besuch ist nicht vorgesehen!«

»Und dennoch bin ich hier«, sagte Yuriko aufgeräumt. »Keine Sorge, ich falle niemandem zur Last.«

»Personalien sind nie verkehrt«, beschloss der Pockennarbige. »Also – Name?«

»Yuriko Mandorak Doragon Zinnober Frost bin ich, Siegelmeister und Freund der Kröten, Feuerbändiger, Drachenreiter, Weltreisender, Bezwinger der Schicksalsschlange und Todesaustrickser, gefürchtet von meinen Feinden und geliebt von allen anderen, insbesondere der holden Weiblichkeit.«

Die Soldaten sahen sich an.

»Irgendwas mit Frost«, sagte er eine.

»Muss genügen«, sagte der andere.

Yuriko seufzte. »Egal. Ich bin hier, um Frakis Svalur Fyr zu sehen. Wohin muss ich?«

Jemand schob ihm von hinten etwas Kantiges in die Kniekehlen. Er machte einen Schritt.

»Macht Euch nützlich oder steht zumindest nicht im Weg rum«, knurrte einer der Ruderer und lud einen Sack auf der Kiste ab. Yuriko tat wie ihm geheißen und entfernte sich.

»Ihr müsst warten, bis wir das Gitter öffnen«, sagte der kleine Soldat. »Immerhin ist das hier ein Gefängnis.«

Am Ende des Stegs ging ein schmaler Felsenpfad in zwei Richtungen. Der eine Abzweig führte augenscheinlich zum Turm, der andere verschwand zwischen steilen Felszacken landeinwärts. Yuriko folgte ihm um zwei Biegungen bis zu einem Felsentor, in das ein mächtiges Gitter eingelassen war. Zu beiden Seiten ragten die Felswände haushoch oder höher in den Himmel.

In einer Felsnische befand sich eine Vorrichtung – Zahnräder, über die mächtige Ketten liefen, und eine Kurbel, vermutlich, um das Tor zu bewegen. Yuriko blinzelte nach oben. Man musste fliegen können, um von hier zu entkommen – oder einen findigen Zauberer zum Freund haben.

Auf der anderen Seite des Gitters setzte sich der Pfad fort und verschwand nach einigen Schritten um eine Felsnase. Nichts wuchs hier, nichts lebte hier, nur hoch oben wurden die Möwen vom Wind herumgeworfen.

Hinter Yuriko ertönten Schritte. Die Bootsbesatzung schleppte die Fracht zum Gitter und stapelte sie auf dem schmalen Weg.

»Sicher, dass Ihr das wollt?«, fragte der Bootsführer. »Sind lauter Schwerverbrecher da drin.«

»Keine Sorge«, sagte Yuriko. »Ich weiß mich zu wehren.«

»Was das betrifft«, sagte der Bootsführer. »Zauberei wirkt nicht auf der Insel.«

»Natürlich nicht. Arkanes Dämpfungsfeld. Ich hab mich informiert.«

»Dann ist’s ja gut. Wenn Ihr das Horn hört, beeilt Euch. Wir werden nicht lange warten.«

»Ist gut.«

Der Bootsführer gab einem seiner Ruderer ein Zeichen. Der hängte sich an die Kurbel. Ein metallisches Ächzen und Knacken ertönte, dann hob sich das Gitter. Yuriko bekämpfte einen Anflug von Unsicherheit. Dieses Gitter würde sich gleich hinter ihm schließen. Was, wenn der Versorgungstrupp einfach ohne ihn heimfuhr? Wie lange konnte er von Padda getrennt bleiben? Der saß bei Florine, im Warmen, weit entfernt von Gefahr und tödlichem Salzwasser. Yuriko wollte tauschen.

Er rief sich zur Ordnung. Wie musste sich Frakis erst gefühlt haben, als er vor diesem Gitter stand, unschuldig verurteilt, ohne Hoffnung auf Rettung.

Etwa auf Kniehöhe fuhr das Gitter sich fest. Die Bootsleute schoben die Kisten darunter durch und rollten die Fässer hinterher. Yuriko bekam einen Getreidesack in die Hand gedrückt, ließ sich auf die Knie nieder und krabbelte unter dem Gitter hindurch. Direkt hinter seinen Fersen rumpelte das Gitter nach unten. Yuriko setzte den Getreidesack ab und kam auf die Füße.

»Und jetzt?«, fragte er. Doch die Bootsleute auf der anderen Seite des Gitters hatten sich schon zum Gehen gewandt.

»Oi!«, rief er ihnen hinterher. »Wie finde ich meinen Freund?«

»Keine Sorge«, rief einer über die Schulter. »Die finden Euch!«

Yuriko umklammerte das Gitter. Wenn das hier gutging, war es kühn und heldenhaft. Wenn nicht, war es vermutlich seine letzte Dummheit.

Der Wind sprang ihm kalt ins Gesicht. Ohne darüber nachzudenken, rief er das Feuer in sich wach und fühlte sich gleich darauf, als würde sein Innerstes über einen Schleifstein gezogen. Er krümmte sich und stöhnte. Große Kröte. Der Arkanunterdrücker.

Ein Scharren und Flüstern hinter ihm. Yuriko richtete sich auf und drehte sich um. Gestalten kamen den Felsenpfad entlang, die Yuriko auf den ersten Blick an die Untoten der Knochenfrau erinnerten, die sie in seinem Haus beschworen hatte – hagere menschliche Wesen in zerlumpten Kleidern, graue Gesichter, schütteres, strähniges Haar, knotige Gelenke. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit eilten sie auf ihn zu.

Yuriko schluckte. Irgendwie war sein Plan viel fabelhafter gewesen, als er noch in Florines warmer, gemütlicher Küche daran gefeilt hatte.

Die Inselbewohner stürzten sich auf die Kisten, rissen die Deckel auf, grapschten gierig nach dem Brot. Einer versuchte, den Mehlsack wegzuschleppen, war aber zu schwach.

Yuriko hatte noch nie Menschen in so erbärmlichem Zustand gesehen. Ein Wunder, dass sie sich überhaupt noch bewegten. Das Grauen schnürte ihm die Kehle zu. So ging der Staat also mit seinen Verbrechern um. Er hatte seine Befürchtungen entwickelt, als er gehört hatte, wie selten das Versorgungsboot fuhr, aber das hier sprengte seine Vorstellungskraft. Und Frakis …

Jemand schubste ihn unsanft, und er sah sich mit einer knochigen Faust konfrontiert, die einen Stein hielt.

»Vergehen«, sagte der Mann mit dem Stein.

»Wie bitte?«, fragte Yuriko irritiert.

»Vergehen«, wiederholte der mit dem Stein. »Was du gemacht hast.«

»Ich? Äh – ach so, nein! Ich bin kein Verurteilter. Ich bin Besucher. Ich suche jemanden namens …«

»Verarsch mich nicht«, sagte der mit dem Stein finster. »Hier gibt es keine Besucher.«

»Würdest du mich mal aussprechen lassen«, sagte Yuriko ungehalten.

»Ich nehme seine Stiefel«, sagte einer, der hinter dem Mann mit dem Stein aufgetaucht war. Eines seiner Ohren war so verkrüppelt, dass es aussah wie eine faltige Warze.

»Einen Dreck nimmst du«, sagte der mit dem Stein. »Du nimmst, was übrig ist, wenn ich mit dem fertig bin.«

Yuriko sah sich um. Er fühlte sich eingekreist, was vermutlich daran lag, dass er eingekreist war. Steine waren die Waffe der Wahl, so der erste Eindruck. Einer hatte etwas, das aussah wie ein Brett von einer Kiste, in dessen Ende man Nägel geschlagen hatte.

»Erst essen wir ihn«, sagte der mit dem Brett. »An dem ist richtig was dran. Nicht wie Sergo. Der war nur Haut und Knochen.«

Der Gefangene hob sein Brett. Die Nägel daran waren stumpf und rostig. Yuriko ballte die Fäuste und machte einen Schritt vom Gitter weg, um Bewegungsfreiheit zu erlangen.

»Können wir bitte Frieden halten«, sagte er laut. »Das wäre besser für alle Beteiligten. Und wenn ihr mich esst, kann ich mich nicht für euch einsetzen, wenn ich wieder draußen bin.«

»Er glaubt wirklich, er kommt hier wieder raus«, stellte ein zahnloser Glatzkopf fest.

»Gib mir deine Stiefel«, forderte der mit dem Warzenohr.

»Nein«, sagte Yuriko. »Hört mal, ich bin auf der Suche nach …«

Er riss den Arm hoch und wehrte einen Schlag ab. Seine Faust kollidierte unsanft mit dem Brett, am hinteren Ende glücklicherweise, wo es keine Nägel hatte. Etwas knackte – Holz oder das Handgelenk des Gefangenen – Letzteres, wie Yuriko dessen Aufheulen entnahm.

Als wäre eine Schleuse geöffnet, stürzten die mageren Gestalten voran. Den Steinkämpfer ließ Yuriko in die Faust laufen. Zwei weitere kegelte er mit dem Mehlsack von den Füßen. Wenn die Frakis auf die gleiche Weise empfangen hatten …

»Habt ihr ihm was getan, ihr Dreckskerle? Ich mach euch Feuer unter dem Hintern!«

Sein Feuer brandete an und wurde vom Arkanverstärker ausgelöscht. Yuriko krümmte sich vor Schmerzen. Ein harter Schlag in den Nacken brachte ihn auf die Knie. Seine Wirbel knirschten. Dann ein Gewicht, das ihn nach vorne warf, der betäubende Geruch eines sehr ungewaschenen Menschen, knochige Hände, die sich um seinen Hals legten. Yuriko ließ sich nach hinten umfallen, wälzte sich mit seinem Angreifer im Geröll, wurde ihn endlich los und trat nach Warzenohr, der versuchte, ihm die Stiefel auszuziehen. Yuriko strampelte und mühte sich, auf die Füße zu kommen, doch die Steine rutschten unter ihm weg. Gesichter waren über ihm – flusige Bärte, verfilzte Haare, Zahnlücken und Pockennarben und Ausschlag. Füße traten nach ihm. Jemand zerrte an seinen Haaren. Yuriko schlug wüst um sich, gewann immerhin genug Freiheit, um sich auf die Knie aufrichten zu können. Dann traf etwas sehr Hartes seine Schläfe. Sterne platzen vor seinen Augen. Ein warmes Rinnsal lief ihm über die Wange. Er schüttelte den Kopf, benommen, auf allen vieren, Steine bohrten sich in seine Handflächen, ihm war schlecht. Jemand sprang ihm ins Kreuz und riss ihn um. Gejohle und anfeuernde Rufe wurden laut. Sein Kopf wurde hart gegen den Boden gestoßen. Hände zerrten an seinen Kleidern.

Hemd. Sie durften ihm keinesfalls das Hemd zerreißen. Wenn sie ihm das Hemd zerrissen, war alles umsonst.

Yuriko stieß einen wortlosen Kampfschrei aus, brachte seine Hände und Knie unter sich, stemmte sich hoch, schüttelte ein paar der Gestalten ab, schlug um sich, versuchte, Gesichter zu treffen, trat einem in den Bauch, dass es ihn gegen das Gitter schleuderte, aber es kamen immer neue nach.

Und dann plötzlich nicht mehr.

Keuchend senkte Yuriko die Fäuste und spie Blut aus. Seine Gegner wichen zurück, zehn oder zwölf an der Zahl, und da kam einer den Pfad entlang, er trug noch seine Gelehrtenroben, fleckig und zerrissen und verblichen, er tastete sich vorsichtig voran und blinzelte kurzsichtig.

»Lasst ihn in Ruhe«, befahl Frakis.

Allgemeines Nicken. Steine wurden fallengelassen. Man wich ihm aus, wo er ging. Ganz offensichtlich wollte niemand ihm in die Augen sehen.

»Verschwindet«, sagte Frakis, und die Männer stoben davon. Zurück blieb Yuriko, verdattert und blutend, den Rücken am Gitter.

»Du bist also zurück«, sagte Frakis.

»Ja«, sagte Yuriko. »Ich, äh. Was – was ist hier gerade passiert?«

»Ich habe mir Respekt verschafft.«

»Das sehe ich, aber ...«

»Du bist nicht als Verurteilter hier, oder? Sag bitte, dass sie dir nicht auch irgendwas anhängen konnten.«

»Nein. Ich bin Besucher.«

Frakis trat an ihn heran. Ein flaumiger, schneeweißer Bart bedeckte seine untere Gesichtshälfte und ließ ihn ganz fremd wirken, aber er sah den Umständen entsprechend wohlbehalten aus. Eine Zentnerlast fiel Yuriko von der Seele. Er zog Frakis an sich, und der Freund versank geradezu in Yurikos Armen, er war noch dünner und zerbrechlicher als ohnehin schon.

»Alles wird gut«, sagte Yuriko, den Tränen nah. »Jetzt wird alles gut.«

Frakis hüstelte und tippte Yuriko auf die Brust. Der lockerte seinen Zugriff, und Frakis holte Luft. Sein Gesicht sah seltsam leer aus ohne die –

»Augengläser!« Yuriko holte das hölzerne Kästchen aus der Tasche, in dem er die kleine Kostbarkeit transportiert hatte, holte die Augengläser heraus und hielt sie Frakis hin. Der nahm sie entgegen und betrachtete sie erstaunt.

»Ich hab sie reparieren lassen«, erklärte Yuriko. »Arkan. Ich habe so schnell niemanden gefunden, der eine neue Linse schleift. Ich hoffe, der Kollege hat nicht gepfuscht.«

Frakis setzte die Augengläser auf und blinzelte. »Wunderbar«, sagte er. »Was für eine Wohltat. Danke, Yuri.«

Sein Blick ging umher und blieb an den Vorräten hängen, die am Gitter verstreut lagen. Er griff nach einem trockenen Schiffsbrot, zerschlug es geübt auf einem Stein, sammelte die Brocken auf und begann zu essen. Noch nie hatte Yuriko den Freund so gierig über Essbares herfallen sehen. Frakis war immer ein sparsamer, wählerischer Esser gewesen. Ein paar Monate auf einem Fels änderten offenbar alles.

Yuriko sah sich um, ob noch jemand zwischen den Felsen lauerte, und beugte sich dann zu Frakis. »Ich habe einen Plan«, flüsterte er. »Wenn ich gehe, nehme ich dich mit.«

»Du weißt, dass du hier nicht zaubern kannst?«

»Muss ich nicht. Ich habe vorgesorgt. Ich habe ein Siegel auf dem Hemd, das ...«

»Nicht hier, Trottel! Die Steine haben Ohren!«

Yuriko verstummte.

»Komm mit«, sagte Frakis. Er nahm einen Brocken Schiffsbrot an sich und ging davon, den steilen Pfad hinauf ins Landesinnere. Yuriko folgte eilig.

Zu beiden Seiten versperrten Felswände die Sicht. Zottiges, scharfkantiges Gras klammerte sich büschelweise in Spalten und Nischen. Lose Steinchen lösten sich unter Yurikos Stiefeln. Gras, Fels und Möwen. Und nichts anderes als das für drei Monate. Seine Kehle wurde eng, wenn er darüber nachdachte. Frakis, sein Frakis mit dem Weinkeller und den liebevoll gepflegten alten Möbeln und der Privatbibliothek im Wohnzimmer, mit dem scharfen Verstand und der zerbrechlichen Gesundheit. Frakis, der sich auf dem Weg zum Bäcker einen Sonnenbrand holen konnte. Der immer eine Schicht Kleidung mehr trug als andere, weil er so verfroren war. Frakis, hier, schutzlos, monatelang, während er, Yuriko, sich lustig in der Weltgeschichte herumtrieb.

»Hör auf«, sagte Frakis vor ihm.

»Ich mach doch gar nichts«, sagte Yuriko. Seine Stimme klang gequetscht.

»Du steigerst dich rein. Ich höre das an deinem Atem.«

»Ich finde es ein bisschen gruselig, wie gut du mich kennst.«

Frakis warf ein flüchtiges Lächeln über die Schulter. »Siebenundvierzig Jahre, mein Bester.«

Der Weg machte eine Biegung und schnitt eine Felsmulde. Hier, im Windschatten, waren Behausungen errichtet, die Yuriko zuerst gar nicht als solche erkannte: Mauern aus aufgeschichteten Steinen, gräsernes Flechtwerk, Lumpen und Sackleinen und Bretter, die zu niedrigen Dächern zusammengefügt waren. Die meisten dieser Unterstände ließen sich nur im Kriechgang betreten. Alles sah aus, als könne ein Gewittersturm es dem Boden gleichmachen. Ein paar Gefangene kauerten dort und sahen zu ihnen hinüber, wandten dann aber rasch den Blick ab. Einer machte die abergläubische Abwehrgeste gegen den bösen Blick.

Frakis ging an der ärmlichen Siedlung vorbei, bis der Weg sich zwischen Felsbrocken verlor. Zu Yurikos Linken öffnete sich eine ebene grasbewachsene Fläche, vielleicht vier oder fünf Schritt breit, bevor das karge Land abriss und sich ins Meer stürzte. Die Luft war voller Salz. Wind riss an seinem Zopf. Letis lag hinter ihm, dem Blick durch Felsen entzogen. Vor ihm erstreckte sich das endlose Meer, darüber ein Himmel, der auf dem Wasser lag wie Blei, und dahinter irgendwo, eine Woche Schiffsreise entfernt, Abrantes.

Frakis wandte sich nach rechts und suchte sich vorsichtig seinen Weg eine steile Abbruchkante hinunter. Dann schlüpfte er durch einen Felsspalt und war verschwunden. Yuriko zog den Bauch ein, ließ alle Luft aus den Lungen strömen und quetschte sich hinterher.

Die Engstelle war zum Glück schnell überwunden. Dahinter öffnete sich eine kleine Höhle, so niedrig, dass Yuriko kaum aufrecht stehen konnte, und kaum drei Schritte tief.

Frakis machte eine einladende Geste. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim.«

»Große Kröte, Frakis, das ist alles so schlimm.«

»Und für mich erst. Setz dich.«

Yuriko kam der Aufforderung nach. Ihm gegenüber ließ Frakis sich auf dem blanken Boden nieder.

Beim zweiten Betrachten zeigte die Höhle Spuren ihres Bewohners: ein paar Lumpen, ordentlich gefaltet, im hinteren Bereich, wo die Decke kaum mehr als einen halben Schritt hoch war. Reste eines Feuers, kleine Knochen, die an Fäden hingen und sich raschelnd aneinander rieben, wenn der Wind durch den Eingangsspalt blies. Zeichen an den Wänden, mit Ruß gemalt. Sie sahen entfernt aus wie Siegel, aber dann doch nicht.

»Warum hatten die anderen Gefangenen solche Angst vor dir?«, fragte Yuriko. »Ich meine, ich bin glücklich, dass sie dich in Ruhe lassen, aber wie hast du das hingekriegt?«

»Es ist nicht das erste Mal, dass mein Äußeres den Menschen Angst macht«, sagte Frakis achselzuckend. »Vor allem den abergläubischen. Aber nachdem wir nicht wissen, wie viel Zeit wir haben, lass mich erst deinen Plan hören.«

Yuriko streifte Mantel und Jacke ab und zog sich das Hemd über den Kopf. Er breitete es auf dem Fels aus, Rücken nach oben, und strich es glatt. Interessiert beugte Frakis sich darüber.

»Das ist ein Endloser Raum«, stellte er fest. »Warum hast du einen Endlosen Raum auf dem Hemd?«

»Weil ich dich darin von der Insel schmuggeln werde«, sagte Yuriko stolz.

»Nicht dein Ernst«, sagte Frakis. »Der Endlose Raum ist nicht zum Transport von Personen gedacht.«

»Vielleicht nicht, aber er eignet sich trotzdem hervorragend dafür.«

Frakis strich mit den Fingerspitzen über die feinen braunen Linien.

»Das ist keine Tinte – das ist eingebrannt. Was ist das für ein Zauber?«

»Feuersiegel. Meine eigene, einmalige Erfindung. Der größte Vorteil ist, dass ich nicht von vorne anfangen muss, wenn ich mich vermalt habe. Ich kann einfach das Feuersiegel korrigieren und es dann im Ganzen anbringen, wenn’s stimmt.«

»Faszinierend.« Frakis lächelte flüchtig. »Welche Anstrengung du unternimmst, um dein Leben bequemer zu machen.«

»Und nicht nur das. Ich kann es werfen. Stell dir mal vor, ich kann Dinge siegeln und muss sie dazu nicht anfassen! Also, wenn ich es dann mal beherrsche. Ich übe noch.«

»Das ist wahrlich beeindruckend. Trotzdem – wenn dies ein ganz normaler Endloser Raum ist …«

»Du kannst bedenkenlos einsteigen. Wir haben es mehrfach erprobt.«

»So? Und wie ist es da drin?«

»Besser als hier, das kannst du mir glauben.«

Frakis beäugte zweifelnd das Hemd.

»Du warst also in einem Endlosen Raum und bist ihm wieder entkommen?«

»Ich nicht, aber Galina und Arkadis. Ich musste die beiden aus der Sklaverei befreien und aus einer Stadt schmuggeln.«

»Sklaverei?«

»Lange Geschichte. Und die Sklaverei ist erst der Anfang. Warte, bis du von Arkadis und dem Drachen gehört hast, und davon, wie ich alleine ein ganzes Dorf, wenn nicht vielleicht sogar die Menschheit gerettet habe. Und dabei beinahe gestorben wäre!«

»Zumindest der letzte Teil scheint nicht gelogen.« Frakis zeigte auf Yurikos Narbe. »Ich habe mich schon gefragt, woher die kommt, aber es war nur eine unwichtige unter tausend wichtigen Fragen.«

»Ich lüge nie. Ich schmücke aus.«

Frakis nickte, immer noch unentschlossen.

»Angenommen, uns gelänge die Flucht. Was dann? Wohin mit mir? Ich kann ja schlecht einfach wieder in mein Haus einziehen.«

»Och, da gibt es eine Menge sehr einleuchtender Möglichkeiten.«

»Du hast über diesen Teil des Plans noch nicht nachgedacht.«

»Hrm.«

»Yuri.«

»Was hast du zu verlieren? Was werden sie mit dir machen, wenn sie dich schnappen? Dich für den Rest deines Lebens auf die Insel sperren? Merkst du was?«

»Und dich dazu, als mein Helfer.«

»Ich kann dich sowieso hier nicht alleine lassen. Wenn du bleibst, bleibe ich auch.«

»Du hast sie doch nicht alle«, sagte Frakis, aber er lächelte dabei.

»Es gibt eine einzige unbekannte Größe in meinem fabelhaften Plan«, sagte Yuriko.

»Der Arkanunterdrücker.«

»Genau. Ich nehme an, er hindert den Arkanfluss. Zumindest hat es sich vorhin so angefühlt, als ich auf mein Feuer zugreifen wollte. Das meiste Arkanum fließt beim Siegelmalen, nicht beim Benutzen. Deshalb können ja auch Unbegabte ein Siegel anwenden. Aber …«

»… wir werden es erst wissen, wenn wir es ausprobieren.«

»Genau.«

Sie sahen sich an.

»Wenn ich daran denke, dass ich heute Abend hier weg sein könnte«, sagte Frakis zögernd. »Etwas zu essen hätte … warmes Wasser … ein Bett …«

»So viel du willst, von allem.«

»Du holst mich raus, sobald wir in Sicherheit sind?«

»Frakis.«

»Entschuldige. Dumme Frage. Natürlich tust du das.«

Frakis beugte sich zu Yuriko, legte ihm eine kalte Hand in den Nacken, presste seine Stirn gegen die von Yuriko. Dann nickte er, holte tief Luft und stürzte sich kopfüber in den Endlosen Raum.

Es gab kaum ein Rascheln, kaum ein Erzittern im Arkanum, dann war er verschwunden. Für einen Augenblick starrte Yuriko verdattert auf sein Hemd, dann raffte er es an sich und schlüpfte hinein. Jacke und Mantel darüber, und eilig presste er sich durch den schmalen Eingang nach draußen. Er suchte den Felsenpfad und eilte ihn abwärts.

Diesmal blieb er nicht allein. Wie Geister erschienen die Gefangenen zwischen den Felsen, beobachteten seinen Weg, kletterten ihm in gebührendem Abstand hinterher. Frakis‘ Drohung schien noch zu wirken, aber Yuriko war nicht sicher, wie lange noch. Er passierte das Lumpendorf in der Felsmulde. Mehr Gefangene schlossen sich ihm an. Es war eine schweigende Prozession. Yuriko ließ die Schultern sacken, gab sich ein sicheres Auftreten, ging zügig, rannte aber nicht. So musste sich ein Hirsch fühlen, der von einem Wolfsrudel eingekreist wurde. Er folgte einer Biegung des Pfades, stieg über eine Felsstufe hinunter und hatte das Gitter vor sich. Die Vorräte waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. An ihrer Stelle stapelten sich am Gitter einige leere Kisten und zwei leere Fässer.

Yuriko umfasste die Gitterstäbe und spähte hinüber zum Anleger. Das Boot schaukelte dort verlassen am Seil. Blick über die Schulter. Warzenohr war ihm am nächsten, er kauerte zwischen zwei Felsen, die lückenhaften Zähne gebleckt, und starrte zu Yuriko hinüber. Weitere Männer hatten sich zwischen den Felsen positioniert. Wollten sie einen Ausbruch wagen, wenn das Gitter sich hob? Aber wohin? Mindestens einer der Türme beherbergte Soldaten. Wollten sie versuchen, das Boot zu kapern? Yuriko wurde mulmig. Wie weit reichte die Ar­kan­sperre? War er außerhalb, wenn er es bis zum Boot schaffte?

Er wartete. Der Wind brachte Fetzen von Gischt, die sich kalt auf sein Gesicht legten. Er sehnte sich nach Padda. Wie von selbst griff er in die Tasche, aber natürlich war da kein Kröter, und das war gut so, schließlich stellte Salzwasser eine lebensbedrohliche Gefahr für Kröten dar. Trotzdem war Yuriko plötzlich entsetzlich einsam.

Endlich erschienen Gestalten auf dem Pfad, der vom Turm kam: die Bootsmannschaft und einige Soldaten, die augenscheinlich leere Kisten und Fässer dabei hatten.

»Oi!«, rief Yuriko hinüber. »Ihr könnt mich rauslassen! Ich bin fertig.«

Der Bootsführer nickte ihm zu. Nicht passierte. Yuriko rüttelte am Gitter.

»Erst das Horn«, krächzte Warzenohr. »Wir müssen weg vom Gitter. Wer das Horn hört und am Gitter bleibt, wird erschossen.«

Die Mannschaft räumte die Fracht ins Boot, während der Bootsführer bei den Soldaten stand und plauderte. Das dauerte, und Yuriko trat von einem Fuß auf den anderen.

Endlich setzte einer der Soldaten das Horn an und trötete hinein. Das Gitter krachte und ruckte an. Die Gefangenen wichen zurück. Einer Eingebung folgend, zog Yuriko seine Stiefel aus und hielt sie Warzenohr hin. Der riss die Beute an sich und stieg sofort hinein. Die Stiefel waren ihm wesentlich zu groß, aber das schien ihn nicht zu stören. Er nickte Yuriko zu, grinste zahnlückig und schlurfte davon.

Sobald der Spalt breit genug war, kroch Yuriko unter dem Gitter hindurch in Freiheit. Der Bootsführer warf einen Blick auf seine nackten Füße und zog ein Gesicht.

»Durchsucht ihn«, sagte der Soldat.

»Warum?«, erkundigte sich Yuriko. »Was sollte ich von der Insel mitnehmen? Einen Stein? Eine tote Möwe?«

»Gar nichts, wenn Ihr wisst, was gut für Euch ist«, sagte der Soldat.

Es folgte eine Prozedur, wie Yuriko sie schon beim Aufbruch über sich hatte ergehen lassen müssen: Er musste seinen Mantel ausziehen und auf links drehen, die Taschen ausleeren und zulassen, dass man ihn am ganzen Leib abklopfte, sogar seinen Zopf hieß man ihn entflechten und hielt sich längere Zeit mit dem runenverzierten Zopfband auf.

»Es ist nur zur Zierde«, versicherte Yuriko ein ums andere Mal. »Was sollte es schon können? Ja, ich bin ein Zauberer, jeder weiß das, aber was sollte ich gegen Eure vorzügliche Arkan­sperre schon ausrichten?«

Schließlich nickte der Kommandant.

»Nehmt ihn wieder mit«, sagte er. »Aber das war der erste und einzige Besuch, lasst Euch das gesagt sein. So ein Aufwand.«

Yuriko nickte fromm und flocht seinen Zopf neu.

Die Bootsmannschaft hatte inzwischen die leeren Kisten und Fässer geholt und an Bord verstaut. Das Gitter knarrte fürchterlich, als es sich wieder senkte.

Yuriko kletterte ungeschickt ins Boot, bemüht, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Das Tau wurde gelöst, die Ruder ausgefahren. Eine Welle hob das Boot an und trug es von der Insel weg. Yuriko umklammerte die Reling, bemühte sich um Gelassenheit. Die erste, höchste Hürde war geschafft.

Sein inneres Feuer wärmte ihn wieder, und sofort stieg auch seine Zuversicht. Alles würde gut werden. Seine schlaue Florine würde Frakis‘ Unschuld beweisen, er bekäme sein Haus und seinen Posten zurück, und vielleicht erkannte dann auch jemand, wie er, Yuriko, sich ununterbrochen und aufopfernd für das Gute in der Welt einsetzte, und belohnte ihn mit einem hübschen Haus und einem großzügigen Ruhegehalt. Den Posten als Zirkelmeister konnte Kraka behalten, wenn es nach Yuriko ging. Der hatte ohnehin nichts als Arbeit gemacht.

Der Wind griff ins Segel und schob das Boot voran. Es begann zu regnen. Letis duckte sich an den Hang. Die hohe kupferne Kuppel des Arathron-Heiligtums in der Altstadt sah aus wie eine Blase auf schlammigem Wasser.

Sie fuhren in den Hafen ein. Der war voller Schiffe und Fischerboote. Ein Hochseesegler trug die abrantinische Flagge. Die Ruderer manövrierten das Boot zwischen den größeren hindurch bis zu einer Anlegestelle am östlichen Rand der Mole. Eilig ging Yuriko von Bord.

»Danke fürs Mitnehmen«, sagte er heiter. »Gehabt Euch wohl!«

Zügig machte er sich davon. Halb rechnete er damit, dass jemand ihn aufhielte, spürte schon das Feuer in den Fingerspitzen kribbeln, aber Schritt für Schritt entfernte er sich vom Wasser, tauchte in eine Gasse, die stadteinwärts führte, bog ein paarmal ab, immer noch völlig unbehelligt, blieb bei einem Gemüsehändler stehen und kaufte eine Tüte Pflaumen, um zu sehen, ob jemand ihm folgte, aber niemand nahm Notiz von ihm. Die Leute zogen sich gegen den Regen ihre Kapuzen ins Gesicht und schauten auf den Boden, um Pfützen auszuweichen.

Yuriko trabte an.

Er erreichte Florines Haus und hatte kaum geklopft, als sie ihm auch schon öffnete. Sie hatte Padda auf der Schulter und war schön wie nie. Er nahm sie in die Arme und küsste abwechselnd sie und Padda, was bei dem Kröter auf deutlich wenig Gegenliebe stieß. Mit dem Fuß schubste er die Tür hinter sich zu.

»Hast du ihn gesehen?«, fragte Florine ohne Umschweife. »Wie geht es ihm?«

»Das kannst du ihn gleich selbst fragen«, sagte Yuriko. »Er wird ein heißes Bad brauchen. Und zu essen. Viel. Am besten, wir bringen ihn nach oben.«

»Er ist bei dir? Aber wie …? Haben sie ihn freigelassen? Moment. Nein. Sie haben ihn nicht freigelassen. Du hast …«

Sie folgte ihm die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Schon unterwegs streifte er sich Mantel und Jacke ab und ließ beides achtlos fallen. Florine hinter ihm bückte sich danach und folgte ihm ins Schlafzimmer, wo sie ihm seine Sachen vorwurfsvoll hinhielt. Er nahm sie, warf sie aufs Bett und streifte sich das Hemd ab.

»Mach ruhig weiter«, sagte sie. »Aber vielleicht sagst du mir vorher noch kurz, was mit Frakis ist.«

»Ich hab ihn rausgeschmuggelt.« Yuriko breitete das Hemd auf dem Boden aus. »Im Endlosen Raum. Wie Galina.«

Er streckte den Arm bis zur Schulter in den Endlosen Raum, tastete herum und stellte sich Frakis vor, so lebhaft er konnte. Eine kalte, knöcherne Hand packte zu. Yuriko zog, und zwischen Bett und Schrank erschien Frakis, am ganzen Leib zitternd, seine Augengläser waren mit Raureif beschlagen.

»Alle gütigen Götter«, flüsterte Florine.

Frakis war kaum bei Bewusstsein. Seine Zähne schlugen aufeinander, sein Blick irrte ziellos herum. Yuriko nahm ihn vorsichtig hoch, legte ihn ins Bett und deckte ihn zu.

»Tee«, sagte Florine. »Es ist noch welcher von vorhin da.«

Sie rannte nach unten. Yuriko blieb bei Frakis, saß am Bettrand und wärmte seine eiskalten Hände. Langsam ließ das Zittern nach.

Dann war Florine zurück und hielt Yuriko eine Tasse hin. Er blies vorsichtig Feuer darüber, bis der Tee sich erwärmt hatte, dann stopften sie Frakis Kissen in den Rücken und halfen ihm, sich aufzurichten. Yuriko führte ihm die Tasse zum Mund, und Frakis trank gierig.

»Du hast ausgeschmückt«, krächzte er. »Es war schlimmer als die Insel. Wie lange war ich da drin?«

»Nur für den Weg. Nicht länger als zwei Glocken insgesamt.«

Frakis hustete. »Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Buchstäblich. Hallo, Florine. Wie schön, dich zu sehen.«

Sie nickte. Yuriko sah ihr an, dass sie mit den Tränen kämpfte. Sie setzte sich auf die Bettkante und nahm Frakis in den Arm. Ihre Schultern zuckten. Yuriko legte ihr die Hand auf den Rücken, und sie seufzte tief und zitternd.

»Was jetzt?«, sagte Frakis nach einer Weile und machte sich vorsichtig los. »Hierbleiben kann ich unmöglich. Viel zu riskant. Sobald auffällt, dass ich fehle, werden sie hier zuerst suchen. Und sie werden Yuri suchen.«

»Mich? Wieso?«

»Weil sie zwei und zwei zusammenzählen können, im Gegensatz zu dir.«

Yuriko schwieg betreten. Frakis streckte die Hand nach ihm aus.

»Danke, dass du für mich da bist, mein Katastrophen­zau­ber­er.«

»Wie lange wird es dauern, bis sie bemerken, dass du fehlst?«, fragte Florine.

Frakis hob die Schultern. »Schwer zu sagen. Es ist nicht unüblich, dass jemand verschwindet – sich zu Tode hustet, in eine Felsspalte fällt, sich im Meer ertränkt. Aber auch den Inselbewohnern wird auffallen, dass ich verschwunden bin, direkt nachdem ich Besuch hatte. Wenn wir Pech haben, machen sie Meldung. Ich schätze, alles in allem sollten wir uns nicht länger als einen halben Tag in Sicherheit wiegen.«

»Der Krötenpalast«, sagte Yuriko, einer Eingebung folgend. »Dort bist du so sicher wie sonst nirgends.«

»Vorerst«, sagte Frakis. »Ich werde sicher nicht den Rest meines Lebens dort verbringen. Da hätte ich gleich auf der Insel bleiben können.«

»Ein Schritt nach dem anderen«, sagte Florine. »Der Krötenpalast ist gut. Inzwischen entwickeln wir einen Plan. Yuri – kommst du bitte mal mit mir nach draußen? Dauert nicht lange.«

Verwundert folgte er ihr in den oberen Flur. Sie zog die Schlafzimmertür sachte zu, drehte sich dann zu ihm um, holte aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Er war so überrumpelt, dass er nicht einmal versuchte, den Schlag abzuwehren.

»Au! Wofür war die? Ich habe nichts gemacht!«

»Die war dafür, dass du mir deine Pläne unterschlagen hast«, sagte Florine finster. »Ich hatte die Befürchtung, dass du etwas im Schilde führst, aber ich wollte bis zum Schluss an den ehrlichen, aufrichtigen Yuri glauben!«

»Aber bin ich doch! Ich hab dir nicht alles erzählt, damit du dir keine Sorgen machst!«

»Du hast über meinen Kopf hinweg Dinge entschieden, die uns beide betreffen.«

»Um dich zu beschützen!«

»Du hast mich immer für voll genommen. Seit wir miteinander schlafen, nicht mehr. Warum?«

»Aber ich nehme dich für voll! Hier … und hier …« Er legte Hand an, um ihr zu zeigen, an welchen Stellen er sie für besonders voll nahm. Sie sah ihn an. Er ließ die Hände sinken.

»Du hörst besser auf, mich beschützen zu wollen, sonst endet das mit uns schneller, als es angefangen hat.«

»Es tut mir leid, Flori.«

Sie nickte. »Ich mache ihm etwas zu essen. Hoffentlich braucht er keinen Arzt. Ich habe noch eine Kräutermischung gegen Husten. Die brühe ich ihm auf.«

Sie ging nach unten. Yuriko sah ihr hinterher. Er war nicht sicher, ob sie seine Entschuldigung angenommen hatte – und was er falsch gemacht hatte, war ihm auch nicht ganz klar.

Frakis grinste schwach, als Yuriko zurück ins Schlafzimmer kam.

»Hat sie dir eine geklatscht, sag mal?«

»War ein Missverständnis«, brummte Yuriko. Frakis lachte und hustete gleichzeitig.

»Oh, Zeuge sein zu dürfen, wie diese junge Liebe erblüht.«

»Frauen sind kompliziert. Davon verstehst du nichts.«

Yuriko setzte sich auf die Bettkante. Frakis ergriff seine Hand. Er wirkte krank und zerbrechlich, aber sein Blick hinter den Augengläsern war ruhig und klar und scharf wie immer.

»Sie hätte dich nie erhört, wenn Danilo sie nicht verlassen hätte«, sagte Frakis. »Das hat sie mir selbst gesagt, kurz nach deiner Abreise. Sie liebt dich, wie sie mich liebt. Weil wir uns an eine Zeit ohne einander kaum erinnern können. Und du hast ein paar … Qualitäten, denen sie sehr zugeneigt ist. Aber ich weiß nicht, ob dir das reicht. Du hast eine Frau verdient, für die du mehr bist als eine Notlösung.«

Yuriko sah hinunter auf seine Hand. Sie kam ihm riesig vor, eine Bärenpranke im Vergleich zu Frakis‘ zarten Fingern.

»Ich hab mich das auch schon gefragt. Aber ich bin lieber Floris Notlösung als der Hauptgewinn für eine andere. Die meiste Zeit denke ich einfach nicht drüber nach.«

Frakis nickte. »Pass auf dein Herz auf, Yuri.«

Kurz darauf kam Florine zurück mit einem Tablett voller Essen – Brot und Frühäpfel und Geräuchertes und Suppe von gestern, die Yuriko mit einem zarten Feuerstrahl erwärmte. Frakis fiel völlig ausgehungert darüber her. Mit wehem Herzen sah Yuriko zu, wie sein Freund aß. Das war also das gepriesene und ach so menschliche Rechtssystem von Zentallo. Er hatte Lust, ein paar Gerichtsgebäude niederzubrennen.

Später half er Frakis in den Badezuber und wachte über ihn, damit er nicht im Zuber einschlief und ertrank. Er beriet mit Florine, woher sie frische Kleidung für Frakis bekämen. Sie wagten es nicht, sein Haus zu betreten, falls es bewacht würde. Das Siegel an der Haustür hatte man vermutlich ohnehin erneuert, nachdem Yuriko es gebrochen hatte. Also ging Yuriko mit Florines Geld in der Tasche zum Altkleiderhändler und besorgte das Nötigste. Er war immer noch barfuß und bereute inzwischen, seine Stiefel auf der Insel gelassen zu haben, denn der Kleiderhändler hatte keine, die ihm passten, sondern nur einen unerschöpflichen Vorrat an abgedroschenen Witzen über Leute, die auf großem Fuß lebten. Yuriko hatte nichts dagegen, barfuß zu sein, aber man wurde auf der Straße so komisch angeschaut.

Eigentlich konnte ihm das egal sein. Er würde ohnehin nicht mehr oft durch diese Straßen gehen. Er würde sich mit Frakis im Krötenpalast verkriechen und ihn irgendwann aus der Stadt schaffen.

Und dann?