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95 Anschläge – Thesen für die Zukunft E-Book

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Beschreibung

Der Thesenanschlag Martin Luthers im Jahr 1517 hat die Welt verändert. Doch was ist heute wichtig? Was sind unsere Überzeugungen? Friederike von Bünau von der EKHN Stiftung (Evangelische Kirche von Hessen und Nassau) und Hauke Hückstädt vom Literaturhaus Frankfurt haben ein anregendes Debattenbuch zu den Glaubens- und Lebensfragen unserer Zeit herausgegeben: 95 Stellvertreter unserer Gesellschaft formulieren jeweils ihren Thesenanschlag für die Zukunft. Die Beiträger kommen aus den Bereichen Politik, Kultur, Wissenschaft und Theologie, sie repräsentieren vielfältige Professionen und mehrere Generationen. Mit dabei sind unter anderem: Thea Dorn, Edgar Selge, Wolfgang Huber, Caroline Link, Wolfgang Thierse, Arno Geiger, Juli Zeh. Die von ihnen formulierten Thesen für die Zukunft geben einen Überblick über Haltungen, Wagemut, Innerlichkeit und Glaubenssätze der Gegenwart. So entsteht ein Austausch über Werte, Lebensformen, Dissonanzen und Stimmigkeiten in unserer Gesellschaft. Ein ebenso anregendes wie provokatives und unterhaltsames Buch. »Das Gegenteil von Freiheit ist Gesundheit.« Juli Zeh »Des Menschen würdig ist es, dem Tod nicht das letzte Wort zu lassen.« Wolfgang Huber »Die Diktatoren kommen wieder.« Peter von Matt »Die Energiewende ist billig zu haben. Und mit ihr der Weltfrieden.« Claudia Kemfert

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Seitenzahl: 256

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95 Anschläge – Thesen für die Zukunft

Herausgegeben von Friederike von Bünau und Hauke Hückstädt

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortNicht weniger, als die Welt neu erzählenFrüher einmal begegnete der Mensch den Widrigkeiten des Lebens mit Mut oder Demut – heute genügt es, wenn er »Zumutung!« schreitMan darf sich etwas trauen!Gott ist nicht zu gebrauchenNur mit G’tt finde ich Frieden in mirUnsere Grundhaltung der Welt gegenüber muss sich ändern: An die Stelle des Sehens und Beherrschens sollte ein Hören und Antworten tretenPassivität ist schöpferisch!Muße vertragen wir nur als Mittel zum ZweckWir brauchen Kinder, die die Welt auf den Kopf stellen könnenPerspektivwechsel als Unterrichtsfach!Toleranz kann eine Tugend des Respekts, aber auch eine Beleidigung seinIntegration im Einwanderungsland Deutschland gestalten wollen heißt, sich darüber verständigen müssen, wer wir Einheimischen, wir Deutschen sind und sein wollenDer Islam gehört zu Deutschland: Eben deswegen muss er diskutiert, kritisiert und reformiert werdenDer Islam gehört noch nicht zu DeutschlandSchluss mit dem Selbstbetrug – Deutschland ist ein rassistisches Land!Die arabischen Länder müssen säkularisiert werdenDie Flüchtlingskrise ist nicht zu Ende, Einwanderung wird zum DauerzustandOffene Gesellschaften beziehen ihre Kraft nicht aus moralischen Geboten, sondern aus der Durchsetzung staatlicher OrdnungDer Staat ist der wichtigste Garant unserer Freiheit – und ihr größter WidersacherDemokratie muss wehrhaft sein, Toten hilft die Freiheit nichtWir müssen den Dummen mehr Macht gebenDemokratie ohne Bürgerwissen ist wie Fliegen ohne FlugtrainingPolitik ohne Leidenschaft ist und bleibt blutarmWenn die Kraft zu humanitärem, moralischem Handeln in westlichen Demokratien weiter nachlässt, ist China das Modell der ZukunftDie Demokratie wird mit demokratischen Mitteln abgeschafftDeutschland ist EntwicklungslandDie Energiewende ist billig zu haben. Und mit ihr der WeltfriedenÖkologie ist WeltbürgerbewegungUnser täglich Brot gib uns heute, oder doch lieber nicht!?Der Preis einer globalisierten Shareholder-Wirtschaft ist der Verlust von Verantwortung: eine asoziale WeltGott ist unberechenbarDie Globalisierung wird uns auseinandertreiben – wenn wir es nicht schaffen, sie zu gestaltenDie Verantwortlichen in der Wirtschaft sollten bei ihrem Tun nicht nur fragen, ob etwas legal ist, sondern auch, ob es legitim istDie Pflicht ist tot? Nein: Wir sollten uns gegenseitig moralisch in die Pflicht nehmenTugend, das beharrliche Arbeiten an sich selbst, muss das Ziel von Bildung seinVerführer profitieren von ReligionsverächternNur mit MINT wird aus Leere noch kein FreiraumLesen und Schreiben werden unwichtigLutherdeutsch statt Plastik-Jargon: Wir brauchen wieder Sprachschöpfer!Ohne Poesie vermag niemand zu sich und zu den anderen zu kommenImmer mehr Bestseller für immer weniger LeserDie Kritik befindet sich im rasenden StillstandLiteratur ist das Gegenteil von JournalismusOhne Leitmedien zerfällt die ÖffentlichkeitVerstehe deinen Gegner oder Sei lieb zu Eichhörnchen und JournalistenLügenpresse? Danke für den Weckruf: Nötig ist eine Reformation des journalistischen Selbstverständnisses!Anything goes? Dann schafft der Mensch sich abWir müssen uns vor der Automatisierung des Denkens überlegen, wie eine Gesellschaft ohne Erwerbsarbeit aussehen sollDer Mensch verliert sein Selbst-BewusstseinDem Generalisten gehört die ZukunftDie Internet-Verweigerung wird kommenEs ist an der Zeit, der Seele ein Comeback zu ermöglichen!Menschen werden mit Füßen geboren, nicht mit WurzelnDie Scholle ist nicht der Boden, auf dem wir stehenWir bekommen kein Zuhause mehr geschenkt, wir müssen es uns suchenDie Oper ist das Modell einer besseren WeltWo das Denken endet, beginnt das UnerhörteLuther ist der Begründer der KonzeptkunstEin Museum ist kein Ort, sondern eine Aufgabe in Verantwortung der ZivilgesellschaftBilderfluten, Shared Images, geliked oder nicht – all das ergibt noch kein BildWeniger ist mehrLeistungsgesellschaft zerstört LeistungssportErbarmt Euch Eurer!Wir. Dienen. Nicht nur DeutschlandNicht in der Logik der Schuldbegleichung, im Verzicht auf Vergeltung liegt die ZukunftStrafe soll strafen – nicht ausgrenzen und zerstörenDer Bischof von Rom ist unfehlbar!Die Verantwortung des Forschers hört nicht bei der Erkenntnis aufWissenschaftler sollen nicht Gott spielenJedes Gehirn kann lernenDer Mensch verabschiedet sich vom Tier als MitgeschöpfAuf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen – und dabei auch noch Spaß habenEmotion ist ein AccessoireEin Klick ersetzt das MitgefühlWer nach Wahrheit sucht, muss mit echten Menschen streitenWir brauchen Zweifel, um offen zu bleibenWir müssen die Sozialsysteme neu erfinden und uns auch – noch haben wir die WahlAutonomie durch Selbstüberwachung gewinnenDas Gegenteil von Freiheit ist GesundheitNicht »die anderen« haben Probleme mit der Gleichberechtigung, sondern hier fehlt zu oft der Mut, sie wirklich zu lebenHeilige Inklusion, verschone mein Haus, zünde lieber das Dach eines anderen an!Es kann nicht jeder vor die Tür treten, wie er willNeid ist ein krasser Lackmustest auf unsere Selbsteinschätzung und GesellschaftsordnungWer Gerechtigkeit will, muss Freiheit fordernEs gilt zu verteidigen, wofür Europa stehen muss: dass Menschen hier in Frieden und Freiheit leben könnenWer nicht zurückblickt, den bestraft das LebenDie Diktatoren kommen wiederDie Überwindung der Nationalstaaten ist Voraussetzung für Friede und DemokratieKeine Zukunft ohne die ferne Weisheit der AltenDie Kirche ist eine AufbewahrungsanstaltDie Volkskirche geht zugrunde, der Glaube bleibtIn Zeiten von Furcht und Schrecken stellt sich die Frage, worauf wir hoffen und woran wir glaubenDes Menschen würdig ist es, dem Tod nicht das letzte Wort zu lassenEs bleibt nur der KörperOhne Leben fahren wir nicht zur SeeDie AutorenDie HerausgeberDank

Vorwort

Wenn wir Gedanken verfassen, dann stapfen die Finger bedächtig über die Tastatur. Schieben uns die Ideen voran, dann ist es ein Rasen. Treibt uns Wut oder Entschlossenheit, wird es ein Hämmern. Der Künstler Christoph Niemann hat dafür – eigens für den Umschlag dieses Buches – ein Emblem gefunden.

Martin Luther hatte Tintenfass und Feder anstelle einer Tastatur. Sein Thesenanschlag im Jahr 1517 hat die Welt verändert. Bis heute hat sich das Motivgeflecht Reformation mit dem Anschlag von 95 Thesen dem Gedächtnis eingeschrieben. Die Reformation ist nicht Sache allein der evangelischen Kirche, sie hat eine weit darüber hinausgehende gesellschaftspolitische Bedeutung: Es entspricht ihrem Geist, wenn ganz unterschiedliche Menschen dieses Jubiläum zum Anlass nehmen, ihre eigenen Thesen zu formulieren. Über das, was sie beunruhigt, was ihnen in ihrem Beruf oder ihrem persönlichen Leben ein drängendes Anliegen ist, was sie verändert sehen möchten. Darüber nachzudenken, es in Worte zu fassen, zuzuspitzen, damit in die Öffentlichkeit zu treten und Verständigungen zu suchen – das war und bleibt der Antrieb der Reformation.

Wie tief also wirkt der Anschlag? Was sind heute Glaubenssätze? Wer kennt die Pluralität heutiger Überzeugungen? Auf wie viel reformatorische Kraft kann man gegenwärtig setzen? Das sind Fragen, die zu diesem Buch führten, für das sich eine kirchliche und eine weltliche Institution zusammengetan haben. Bei den Aufgaben der EKHN Stiftung und der Arbeit des Literaturhauses Frankfurt steht das Wort im Mittelpunkt, es ist keine Verhandlungsmasse.

Gemeinsam mit den Kuratoren wurden 95 Beiträger gewonnen, jeweils ihren Thesenanschlag für die Zukunft zu formulieren. Die »Anschläger« sind Stellvertreter unserer Gesellschaft, verschieden in Professionen, Herkünften und Generationen – ein Ausschnitt nur, zugleich ein Spiegel. Ihre Thesen geben einen Überblick über Haltungen, Wagemut und Innerlichkeiten, über etwas, das meist im Verborgenen bleibt: der Überzeugungshaushalt Deutschlands. Sein Zentrum wird in der Freiheit erkennbar.

 

Frankfurt im Februar 2017

Friederike v. Bünau

Hauke Hückstädt

EKHN Stiftung

Literaturhaus Frankfurt

Jagoda Marinić

Nicht weniger, als die Welt neu erzählen

Wer es heute noch wagt, eine These in die Welt zu setzen, müsste sich alles von ihr erhoffen. Einmal mehr daran glauben, dass sich Menschen bewegen lassen. Die Weltgeschichte ist eine Aneinanderreihung aufgehender und untergehender Reiche. Und die Geschichte jedes Einzelnen? Sie zu erzählen hieße nicht weniger, als die Welt neu erzählen.

In Zeiten wie diesen, in denen die einen nach Feierabend die Nachrichten von den anderen, die den Tag nicht überlebt haben, konsumieren, weil auch Nachrichten inzwischen goutiert werden, ohne eine Bewegung oder auch nur Regung auszulösen – in solchen Zeiten brennt eine Frage in mir, und ich habe Angst, dass ihr Feuer erlischt: Wird diese Menschheit je demokratisch?

Damals: Leaves of Grass, Walt Whitman. Ein Gedicht im Geist der Demokratie. Ein Lobgesang auf den Einzelnen, den Körper. Heute: So ein Grashalm macht noch lange keine Wiese. Was ist er wirklich wert? Wir haben doch Rasenflächen, um Löcher zu stopfen. Ein toter Körper ist nicht genug, um zu verzweifeln. Auch Zehntausende sind es nicht. Wäre Demut in Anbetracht der menschlichen Vergänglichkeit und Nichtigkeit angebrachter? Aber nein: Der Einzelne muss wieder geschützt werden vor den zahlreichen Wegen, die ihn in einem Kollektiv untergehen lassen. Die Machtlosen verschwinden in verbalen Migrationsströmen der anderen, die Machtgierigen in ihrem Traum von der Nation der Ihren. Was ist schon ein Mensch im Lauf einer solchen Weltgeschichte – dagegen die großen Nationen: Sie schreiben Geschichte. Und teilen uns auf in groß und klein. Wichtig und nichtig.

Es ist nicht die Zeit, um, wie damals, bei den ersten Thesen, zu Christen oder Nicht-Christen zu sprechen. Wir brauchen Bürger. Demokraten. Citoyens. Wie viele davon gibt es noch? Und: Warten sie auf 95 kurze Anleitungen zum reformierten Bürgersein, um sich in Bewegung zu setzen? Viele, die sich heute als Bürger bezeichnen, Staatsbürger, fassen den Begriff immer enger: Ich bin Bürger, du nicht! Ich bin Europäer, du nicht! Mein Leben wird gerettet, deins nicht. Für die zu rettenden Bürger werden große und kleine Visionen entworfen. Jede neue Autobahnbrücke wird als Vision gepriesen, jeder neue Fahrradweg, jedes neue Quartier. Was haben wir nicht an Zukunftsvisionen parat: Agenda 2020, Kulturhauptstadt 2025. Die Zukunft ist derzeit das Gespenst, das die Gegenwart korsettiert. Und die echte Zukunft auffrisst.

Unterdessen: Menschen, für die, ganz gleich, wie schlecht es ihnen geht, keine bürgerlichen Visionen heraufbeschworen werden. Hunger, Kriege, Katastrophen – das normale Leben dieser anderen. Ich will nicht mehr sagen müssen: Christen, tut dies, tut jenes! Bürger seid ihr. Der Traum von der Weltbürgerschaft, den universellen Menschenrechten, eine Vision von gestern, auch sie nur für wenige. Wie schafft man eine Gesellschaft, in der der Einzelne weiß, dass er nicht mehr und nicht weniger Weltbürger ist als andere? Immer mehr Reiche sind nicht Weltbürger, sondern Besitzer von Privatinseln, Privatstränden, vielleicht bald von einem Stück Himmel.

Wie wäre eine Welt, in der die Menschen nicht gestatten, dass jemand unser Meer aufkauft, die Erde verwertet, Wohlstand hortet und den sozialen Frieden raubt? Es braucht keine Halls of Fame. Es bräuchte Halls of Humanity – in denen Menschenleben erzählt werden, Geschichten unseres Daseins auf Erden, das ohnehin zu kurz ist. Zu verwundbar. Man müsste die Geschichten der wortlos untergegangenen Welten neu erzählen. Und mit jeder Geschichte entstünde das Bild einer neuen Zeit.

Thea Dorn

Früher einmal begegnete der Mensch den Widrigkeiten des Lebens mit Mut oder Demut – heute genügt es, wenn er »Zumutung!« schreit

Zwei Ahnherren hat das Abendland, das später zum »Westen« wurde: Prometheus und Jesus. Der eine stahl den Göttern das Feuer, um es den Menschen zu bringen, und wurde so zur Ikone aller Rebellion. Der andere befolgte Gottes Willen, ließ sich aus Menschenliebe ans Kreuz nageln und wurde so zur Ikone allen Erduldens. Ihre Dynamik, Schönheit, ja: Erhabenheit bezog die westliche Zivilisation daraus, dass sie sich nie entscheiden konnte, welchem ihrer beiden Ahnherren sie folgen sollte: demjenigen, der sie anstachelte, ihren Erfindergeist aufs Kräftigste anzuspannen und Werkzeuge zu erfinden, mit deren Hilfe es ihr gelang, sich mehr und mehr gegens Schicksal und seine Schläge zu immunisieren? Oder demjenigen, der predigte, dass der Mensch keinen größeren Irrtum, keine größere Sünde begehen könne, als seinen Eigenkräften zu vertrauen, und sich stattdessen ganz der Gnade Gottes anvertrauen solle?

Auf den ersten Blick könnte man meinen, der hohle, zum Platzen geblähte Egoismus unserer Tage sei das Ergebnis davon, dass in diesem Wider- und Wettstreit der Weltbezüge die Prometheischen seit den Tagen der Aufklärung einen Sieg nach dem anderen einfahren, während die Jesus-Anhänger bloß mehr rührende Rückzugsgefechte führen. In Zeiten, in denen der Mensch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt auftrumpfender beweist, was er alles vermag – Zum Mond fliegen! Bald schon zum Mars! Schwindsucht und Kinderlähmung besiegt! Bald auch den Krebs! Warum nicht gleich die Sterblichkeit? –, kämpft jede Lehre, die sagt: »Mensch, was bist du außer einem großen Nichts!«, auf verlorengehendem Posten.

Bei Aischylos wird Prometheus für seinen Feuerdiebstahl an den Kaukasus gekettet. Und selbstverständlich hebt der sogleich an, seine »schmähliche Fess’lung« zu verfluchen. Doch bald schon mischen sich leisere Töne ins Wutgeschäum, erkennt er, dass er dieses sein Verhängnis tragen muss – »so leicht« er kann. Und wenn Hermes ihm am Schluss ins Gesicht sagt: »Du wärest unerträglich, wenn du glücklich wärst«, fällt dem Titanen nichts mehr außer »Weh mir!« ein.

Lässt sich aus diesem »Weh mir!« etwas lernen, obgleich kein Mensch und keine Gesellschaft in der Geschichte rückwärtswandern kann? Ich denke ja: Wenn der prometheische Geist des Sich-wichtig-Nehmens zur durchgängigen Alltagshaltung verkommt, sind unerträgliche Zeitgenossen das Resultat. Kindische Kleingeister, die Tag und Nacht die Reklamationsstelle anrufen, um sich zu beschweren, was ihnen das Leben da wieder Unzumutbares vor die Füße geworfen hat. Verzogene Narzissten, deren Verzogenheit noch befeuert wird, wenn am anderen Ende der Leitung nur mehr Rechtsanwälte und Sozialarbeiter sitzen, die sie darin bestärken, sich vom Schicksal bloß nichts bieten zu lassen.

Nein, auch ich möchte nicht, dass es kaltschnäuzige Hermesse sind, die uns in unseren Verzweiflungszuständen antworten. Aber wie schön wäre es, eine Stimme zu vernehmen, die uns in aller Ruhe sagen würde: »Herr, gib mir die Kraft, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit, das Unabänderliche zu ertragen und die Weisheit, zwischen diesen beiden Dingen die rechte Unterscheidung zu treffen.«

Christoph Markschies

Man darf sich etwas trauen!

Von der Reformation des 16. Jahrhunderts führen keine schnurgeraden Linien in den demokratischen Verfassungsstaat unserer Tage. Und doch verblüfft mich immer wieder, was sich Menschen, die damals vom Geist des Evangeliums angesteckt waren, lange vor Einführung des demokratischen Verfassungsstaates schon getraut haben. Und ich finde, dass wir uns heute eine Scheibe davon abschneiden können.

Luther steht 1521 in Worms vor den Granden von Reich und Kirche, vor Kaiser, Kurfürsten und Bischöfen. Er wird zunächst befragt, ob die vor ihm liegenden Schriften von ihm geschrieben sind – und bittet erst einmal um Bedenkzeit, obwohl die Antwort klar sein sollte: Es sind seine Schriften. Tags darauf danach erneut befragt und ob er seine Schriften widerrufen wolle, differenziert er zunächst zwischen polemischen und wissenschaftlichen Texten aus seiner Feder. Dann aber beruft er sich auf sein Gewissen, verweigert den Widerruf und handelt damit wiederum nicht so, wie man von ihm erwartete und erwarten durfte. Wie kühn, wie frech – da traut sich einer etwas, weil er seinem Gewissen folgt! Ein kleiner Professor einer frisch gegründeten Reformuniversität riskiert ein offenes Wort vor den Mächtigen seiner Zeit. Mich erinnert solche Kühnheit vor den Mächtigen des sechzehnten Jahrhunderts immer ein bisschen an Fritz Teufel, der 1967 dem Berliner Richter, der ihn bittet, sich zu erheben, erwidert: »Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient«.

Natürlich trennen Martin Luther und Fritz Teufel Welten. Aber von den Menschen, die im 16. Jahrhundert vom Geist des Evangeliums getragen und bewegt waren, kann man lernen, nur seinem Gewissen verpflichtet zu sein und sich in solcher Freiheit etwas zu trauen. Nur dem Gewissen verpflichtet frei zu leben, hat Menschen im 20. Jahrhundert geholfen, in schwierigen politischen Umständen bei ihren Prinzipien zu bleiben und gradlinig zu handeln. Nur dem Gewissen verpflichtet frei zu leben, hat Menschen im 20. Jahrhundert geholfen, sich vor den Machthabern etwas zu trauen – ich denke beispielsweise an die Angeklagten vor dem Volksgerichtshof, die im August 1944 ganz ruhig und präzise ihre Sache vertreten, obwohl Hitlers Blutrichter Freisler sie mit allen Mitteln einzuschüchtern und niederzubrüllen versucht.

Natürlich geht es nicht darum, sich nur irgendetwas zu trauen. Bloß eine dicke Lippe riskieren ist kein Wert an sich. Wenn man gar wie Fritz Teufel glaubt, gegen den demokratischen Staat mit Waffengewalt Widerstand leisten zu müssen, dann ist das kein Aufstand des Gewissens, sondern eine durch Ideologie in die Irre geleitete Fehleinschätzung. Die Parole »Tut um Gott’s willen etwas Tapferes«, die auf den Schweizer Reformator Ulrich Zwingli zurückgeht, kann – wie alle großen Worte und Ideale – missbraucht werden. Aber man kann von den Frauen und Männern der Reformation lernen, dass man sich, wenn man die Sache nur recht überlegt hat, durchaus etwas trauen darf, auch wenn »der Haufe« die Sache ganz anders sieht. Und sich gelegentlich etwas trauen muss, wenn die Freiheit zu denken und zu handeln in einer Gesellschaft nicht verlorengehen soll.

Johann Hinrich Claussen

Gott ist nicht zu gebrauchen

Bemerkenswert ist dieses Ungleichgewicht: Werden großen Wirtschaftsunternehmen skandalöse Fehler oder Missbrauch nachgewiesen, erregt sich die Öffentlichkeit kurzfristig über sie, doch auf die immense Empörung folgt für sie wenig. Ob Volkswagen oder BP, DFB oder ADAC – ihre Kunden oder Mitglieder bleiben ihnen treu, von spontanen Ausreißern abgesehen. Das kann man als Beleg dafür nehmen, dass es den »mündigen Konsumenten« eben doch nicht gibt. Einleuchtender ist, dass die Konsumenten genau wissen, was sie brauchen: Autos und Fußballspiele zum Beispiel. Gegenüber dem hohen Gebrauchswert solcher Güter verblassen offenbar ihre zweifelhaften Produktionsbedingungen.

Anders ergeht es den Kirchen. Werden ihnen Rechtsverletzungen oder institutionelle Fehler nachgewiesen, die ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen, treten viele Menschen aus ihnen aus, um nie zurückzukehren. Ist das ungerecht? Es ist eher ein Zeichen dafür, dass diese Menschen die Kirche nicht mehr brauchen. Das mag man beklagen oder ungerührt zur Kenntnis nehmen – je nach weltanschaulicher Lebensposition. Vielleicht aber kann man daraus einen theologischen Gedanken entwickeln.

Wie alles verspricht auch der Glaube einen Nutzen. Er kann der Gesellschaft ein ethisches Fundament geben, die Kultur inspirieren, die Nachbarschaft zusammenführen, dem Familienleben Stabilität verleihen, die persönliche Lebensführung orientieren. Doch anders als bei Konsumgegenständen wie einem Auto oder Fußballspiel stellt sich dieser Nutzen nicht ein, wenn man ihn direkt anstrebt. Er ergibt sich nur, wenn man von ihm absieht, wenn man ihn für nichts gebrauchen will, sondern – in ihm aufgehend – den eigenen Willen zurückstellt. Der Glaube rechtfertigt sich nicht über seinen Gebrauchswert, sondern indem er einleuchtet. Und er leuchtet nur dann ein, wenn er gängige Wahrnehmungen und Erwartungen durchkreuzt. Er ist ein Licht, das zunächst blendet.

Gott ist so wenig zu gebrauchen, wie er zu fassen ist. Er ist alles in allem, und dennoch zeigt er sich nicht als das große Ganze, sondern »in der Gestalt seines Gegenteils« (Luther). Er ist alles und nichts. Er ist der Sinn des Sinns, indem er Sinnvermutungen durchkreuzt. Er ist der Grund, indem er zugleich der Abgrund ist. Er ist weniger die Antwort, nicht die Auflösung der Lebensrätsel, sondern als Geheimnis der Welt ist er die große Frage. Ohne ihn würde nur das sein, was ist. Durch den Glauben erst kommt der Widerspruch in die Welt – der Widerspruch gegen das, was ist, gilt, herrscht und zu erwarten ist.

Ob man einen solchen unbrauchbaren Glauben an einen Gott, der nicht zu fassen ist, gebrauchen kann, muss jeder selbst für sich entscheiden – egal ob die Kirchen, die ihn verkündigen, sich als nützlich erweisen oder als unglaubwürdig erscheinen.

André Herzberg

Nur mit G’tt finde ich Frieden in mir

Ich missioniere nicht. Ich bin Jude, noch dazu kommunistisch aufgewachsen. Erst mit meiner Familie – also erst seit einigen Jahren – lebe ich so, dass ich Rituale einhalte, ein Gebet laut spreche, ohne rot zu werden. Ich bete nicht oft. Meist danke ich ihm, wenn es mir, durch sein Eingreifen, besser als erwartet geht. Aber ich denke oft an ihn, sogar auf dem Klo, auch wenn ein Rabbiner mir einmal gesagt hat, auf dem Klo solle ich nicht an ihn denken, aber da ich dort Ruhe habe und allein bin, passiert es eben. In der Synagoge dagegen fällt es mir schwer, ich bin zu abgelenkt und habe Angst, die anderen könnten mich für einen Scharlatan halten.

Immer wieder hat es in meinem Leben wunderbare Zufälle gegeben, die ich mir nicht erklären konnte. Irgendwann hatte ich den Mut, sie nicht mehr Zufall, sondern Seinen Plan zu nennen. Seitdem ist mein Wohlbefinden stetiger geworden. Allein war es schwer, durch meine Nächsten, denen ich es auch sagen kann, ist er in mir zu einer größeren Selbstverständlichkeit geworden.

Am nächsten bin ich G’tt wohl auf der Bühne mit meinen Liedern, leider meist in Trauer oder Wut. Ich singe oder spreche nicht von ihm, das wage ich nicht, aber wenn ich einen guten Tag habe, dann spüre ich ihn in mir, und das teilt sich meinem Publikum mit.

Manchmal erzähle ich auch meinen Kindern von ihm. Sie sind mein unbestechlichstes Publikum. Und sie sind Zukunft. Ich überlasse es aber ihnen, ob sie G’tt in ihr Herz lassen oder nicht. Sie bekommen ihn als Angebot, als Tröster, der in den Augen ihres Teddys auftaucht, als Geschichte und Geschichten. Das muss reichen. Wenn sie sich trauen, anderen von G’tt zu erzählen, oder gar zu sagen, ich bin jüdisch, dann ist das schon mehr, als ich als Kind wagte. Mir versprachen Eltern und Lehrer ein kommunistisches Paradies. Inzwischen denke ich, die Gegenwart ist gut genug, wenn es nicht viel schlechter wird, ist es großartig. Falls ich aber doch ein Paradies nach meinem Tod erleben sollte, muss meine evangelische Frau auch einen Platz bekommen, sonst bleibe ich draußen.

Vielleicht wage ich in Zukunft irgendwann doch einmal, offen von ihm zu singen, nein, nicht Klezmer, ich bin Rockmusiker. Meist mache ich mir kaum Gedanken über meine Zukunft, nur vor Gebrechlichkeit, Krankheiten und Schmerzen habe ich Angst. Auch auserwählt will ich nicht sein, mein Leben ist auserwählt genug.

Schade, dass es lange gedauert hat, bis ich ihn offen in mein Leben ließ, bis ich Worte für ihn hatte. Es war aber auch ein langer Weg von meiner Kindheit, den Versprechungen meiner Eltern, vom Laufband, das uns in eine kommunistische Zukunft bringen sollte, bis heute. Deshalb versuche ich, bescheiden zu sein.

Hartmut Rosa

Unsere Grundhaltung der Welt gegenüber muss sich ändern: An die Stelle des Sehens und Beherrschens sollte ein Hören und Antworten treten

Das Programm der Moderne zielt darauf ab, individuell und gemeinsam unsere Weltreichweite zu vergrößern: Welt unter Kontrolle zu bringen und verfügbar zu machen. Wir tun das mit den Mitteln der Wissenschaft, die versucht, weiter hinaus in das Universum zu spähen und tiefer hinein in die kleinsten Partikel der Materie. Mit den Mitteln der Technik, welche natürliche Prozesse kontrollierbar und Naturkräfte nutzbar macht; mit Hilfe einer Wirtschaft, die verspricht, uns die Mittel zur individuellen Verfügung über eine immer größere Vielzahl an Weltausschnitten und Möglichkeiten an die Hand zu geben, und mit den Methoden einer politischen und rechtlichen Steuerung, welche alle Aspekte des Lebens regulierbar zu machen versucht.

Für uns Einzelne heißt dies: Wir träumen davon, immer mehr und immer größere Weltausschnitte in unserer Reichweite zu haben. Mit dem Fahrrad kommt dem Dorfkind das Nachbardorf in Reichweite, mit dem Moped die Kleinstadt und mit dem Auto die Großstadt – mit dem Flugzeug dann die ganze Welt, die ihm auf mediale Weise auch das Smartphone in die Hand- oder Hosentasche bringt: Wer über ein solches Gerät verfügt, hat alle seine Freunde und Bekannte, alles Weltwissen, alle Daten- und Kommunikationsströme, alle digitalisierten Töne und Bilder stets in Reichweite. Mit Hilfe der neuen biotechnischen Möglichkeiten vermögen wir es schließlich sogar, viele unserer Körperprozesse und unsere emotionalen Vorgänge unter Kontrolle zu bringen.

Weltreichweitenvergrößerung ist das institutionelle, strukturelle und kulturelle Programm der Moderne. Das Weltverstummen aber ist seine Kehrseite: Die in Reichweite gebrachte und verfügbar gemachte Welt wird zur schweigenden Welt, sie spricht nicht zu uns, sie berührt uns nicht mehr, und wir vermögen sie umgekehrt nicht zu erreichen. Es schläft kein Lied mehr in allen Dingen. Burnout heißt der Zustand, in dem die Welt kalt, leer, starr und schweigend vor uns liegt, und in dem wir uns auch selbst als tot, bleich, leblos wahrnehmen, in dem der Resonanzdraht zwischen uns und der Welt nicht mehr vibriert. Die in sich gekrümmte, in sich selbst gefangene, nicht mehr antwortfähige Seele: So beschreibt Martin Luther den Zustand der Sünde.

Unser Leben gelingt nicht dort, wo wir uns Welt verfügbar machen, sondern dort, wo wir sie zum Sprechen bringen und wo wir sie zu hören vermögen. Dort entsteht Resonanz: Etwas da draußen rührt etwas in uns an, und etwas in uns antwortet darauf. Dann verwandeln sich Subjekt und Welt. Dann erfahren wir Glück. Resonanz widersetzt sich aber der Logik und Mechanik der Reichweitenvergrößerung: Sie lässt sich nicht erzwingen und instrumentell einsetzen, sie lässt sich nicht zielstrebig steigern und akkumulieren, ihr eignet etwas Unverfügbares. Wer sich auf sie einlässt, macht sich verwundbar und verletzlich, er oder sie muss bereit sein, sich berühren und transformieren zu lassen ohne zu wissen, was am Ende einer solcher Begegnung steht und wo sie hinführt. Qualitätskontrolle und Optimierung, Effizienzsteigerung und Beschleunigung unterminieren die Bedingungen für resonantes In-der-Welt-Sein. Langfristig haben sie zur Folge, dass wir keine Stimme außer uns mehr zu hören vermögen und schließlich auch keine eigene Stimme mehr hörbar machen können.

Eine bessere Zukunft ist möglich, aber sie setzt voraus, dass wir den Grundmodus unseres In-der-Welt-Seins zu ändern vermögen: Wer hörend in die Welt gestellt ist und zu antworten vermag, wird ein nachhaltiges Naturverhältnis entwickeln und muss keine Mauern und Zäune bauen, um sich die rufende Welt vom Leib zu halten. Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, meinte einst Friedrich Nietzsche. Schläft ein Lied in allen Dingen beginnt das Schlüsselgedicht der Romantik. Es ist an der Zeit, die existentielle Wahrheit dieser Beobachtungen als etwas zu begreifen, das weit über den Bereich der schönen Künste hinausgeht und auf die letzte, die umgreifende Wirklichkeit als solche zielt.

Edgar Selge

Passivität ist schöpferisch!

Passivität hat einen schlechten Ruf.

Wir denken bei diesem Begriff an Müdigkeit und Desinteresse. Als engagierte Zeitgenossen fühlen wir uns verantwortlich für den Zustand der Welt, der Natur, für das, was wir nachfolgenden Generationen überlassen; und da diese Verantwortung mehr ist, als wir tragen können, kann uns zuweilen eine richtige Wut packen auf unsere Passivität, als sei sie an allem schuld.

Aber schuld am Unglück der Welt ist, wie Pascal sagt, unsere Unfähigkeit, ruhig in unserem Zimmer sitzen zu bleiben – also eher unsere Unruhe als unsere Ruhe. Unsere Schwierigkeiten liegen nicht darin, genügend Aktivität und Engagement zu entwickeln, sondern eher darin, uns ruhig in einem reinen Wahrnehmungszustand auszudehnen. Ein Zustand, der eine Verweigerung, eine Provokation sein könnte gegenüber dem immer präsenten Druck, nicht zu genügen, nicht genügend Anstrengung aufzubringen. Ein Zustand, der einen anderen Blick ermöglicht, einen Blick ohne Handlungszwang. Einen Blick, der uns erlaubt, wirklich zuzulassen, was wir wahrnehmen und uns als Teil eines Ganzen zu fühlen. Eine Situation so aushalten, wie sie nun mal ist. Die Dinge geschehen lassen und nichts hinzufügen. Das ist gar nicht so leicht. Denn offenbar laufen wir durchs Leben mit einem aufgespannten Schirm von Standpunkten. Würden wir ihn zusammenklappen, wären wir wieder frei für Eindrücke. Frei für absichtsloses Finden.

Ich suche nicht, ich finde – lautet Picassos fundamentaler Eingangssatz seiner ästhetischen Gedankensplitter. In unserem Alltag könnte das heißen, uns auf unser Gegenüber einzulassen, ohne Beurteilung und Interpretation. Es wäre die Bereitschaft, unser Gegenüber zu spiegeln und zu fühlen. Ein Vorgang, der beiden Seiten viel Kraft geben kann.

Auch für unseren Körper könnten wir auf dieser Ebene des Fühlens ein Bewusstsein finden, ein Gegengewicht zum dominanten Verstand, der uns gängelt, als gäbe es keinen Körper. Ein Körperbewusstsein, das subversiv wirkt und Qualitäten wie Intuition und Erinnerung fördert.

In meinem Beruf, als Schauspieler auf der Bühne und vor der Kamera, führt dieses Körperbewusstsein immer wieder zu Momenten vollkommener Offenheit gegenüber dem Partner und dem Publikum. Momenten, die mich den direktesten, unmittelbarsten Ton finden und die vorgegebene Situation gewissermaßen auf Messers Schneide spüren lassen. Und damit die Voraussetzung für Spontaneität schaffen.

Auch das Nichts kann auf diese Weise gefunden, gefühlt und ausgehalten werden. Es ist die Einübung in das Sterben und in den Tod. Es geht um die Entdeckung der Unendlichkeit in einer Welt scheinbar gleichbleibender Widersprüche. Wenn wir die Dinge geschehen lassen, begeben wir uns auf eine Entdeckungsreise.

Passivität ist schöpferisch!

Franz-Peter Gillig

Muße vertragen wir nur als Mittel zum Zweck

Die Zeit steht still; wir ruhen in uns, sind konzentriert, achtsam und im richtigen Rhythmus. Wir spüren, wie das Leben »eigentlich« ist: friedlich, einfach, strömend, geordnet, gut: Wir sind im Modus der Muße. Muße ist Geschehenlassen, ist Dankbarkeit, ist Glück – und damit etwas für Träumer, die sich keine Sorge machen (müssen) um die Zukunft. Denn dabei kann uns die Muße nicht helfen, eher stört sie uns beim Vorankommen, sie hindert uns an der Betäubung unserer Angst.

Fortschritt braucht Fokussierung auf das Wesentliche, braucht Entscheidungsfreude, Durchsetzungsvermögen und ein gewisses Maß an Aggressivität. Wir können nicht auf alles und jeden Rücksicht nehmen. Fortschritt braucht Synchronisierung, die sich, wie bei einem Uhrwerk, einer inneren Unruhe verdankt, und Deadlines. Die Konkurrenten schlafen nicht, und Stillstand ist Rückschritt, der uns abhängt.

Muße ist da nur Sand im Getriebe, sie hemmt, wirft uns auf uns selbst und überhaupt zurück; Reflexivität, Zweifel oder gar Selbstzweifel halten den Verkehr auf, verschlechtern den cw-Wert unserer Performance, hindern uns, uns selbst in den Griff zu bekommen und bei der Stange zu halten.

Jesus’ Mahnung, »blickt auf die Vögel des Himmels: Sie säen nicht und ernten nicht und heimsen nicht in Speicher«, ist uns keine Hilfe. Sie verkennt unsere Sorgen um Verarmung, Verwelkung und Verendung. Muße lässt uns mit uns und unseren Gedanken allein, bewahrt uns nicht davor, in den Abgrund zu schauen, in die Kälte des Universums, die uns frösteln lässt bei dem Gedanken, dass wir womöglich gar nicht gemeint sind.

Und so schlagen wir, wenn wir nicht gerade am Projekt Fortschritt arbeiten, die Zeit tot, durch Geschäftigkeit, Ablenkung, Betriebsamkeit und Konsum. »Alles Unglück der Menschen«, schrieb Blaise Pascal, »kommt daher, dass sie es nicht verstehen, in Ruhe in einem Zimmer zu bleiben.« Na ja, das mag vielleicht sein, aber irgendwie müssen wir schließlich unsere Angst betäuben.

Muße brächte demgegenüber Unabhängigkeit, Autonomie und Freiheit. Aber dazu fehlt uns das Gefühl der Getragenheit, das Urvertrauen. Wir fürchten Freiheit und Verantwortung (Erich Fromm), davor müssen wir bewahrt werden, wie uns der Großinquisitor in Dostojewskis Brüder Karamasow lehrt. Muße ist gefährlich.

Und so wursteln wir uns durch. Aber gänzlich ohne Muße geht es auch nicht: ein Glas Rotwein am Abend, ein Konzert, eine schöne Wanderung, vielleicht auch ein Wochenende im Kloster, eine Wellnesskur, ein Kreativkurs. Muße, in homöopathischen Dosen genossen, erscheint uns gut, zumindest dann, wenn sie sich einfügt in unser Leben, wenn wir sie beherrschen, wenn sie uns für den neuen Anlauf stärkt, noch besser zu werden (respektive höher, schneller, weiter zu gelangen).

Muße ist gut, wenn sie uns dienlich ist, wenn wir sie kultiviert und domestiziert haben: Aus dem wilden Panther haben wir einen Bettvorleger gemacht, der uns davor bewahrt, beim Aufstehen kalte Füße zu bekommen.

Andrea Stoll